10 Allein

Obwohl 1968 ein trauriges Jahr für Coretta war, merkten die Menschen bald, dass sie es dank ihrer persönlichen Stärke gut bewältigte. Die Menschen, die Coretta nahe standen, wussten, wie fest ihr Glaube an Gott war. Sie hatte den starken Wunsch, Martins und ihrer Berufung weiter zu folgen, und konzentrierte sich auf die Projekte, mit denen sich Martin vor seinem Tod beschäftigt hatte. Ihre erste Sorge galt allerdings ihren Kindern, und den größten Teil ihrer Zeit verbrachte sie damit, sich um sie zu kümmern. Deshalb wählte sie sehr sorgfältig aus, an welchen Projekten sie sich persönlich beteiligen wollte.

Anfang Januar 1968 hatte Martin Luther King jr. einige Treffen mit den Führern der weißen appalachischen, hispanischen, puertoricanischen, indianischen und afroamerikanischen Gemeinden gehabt. Das Ziel war, die Armen von Amerika in die Hauptstadt der Vereinigten Staaten zu bringen. Martin hoffte, dass das amerikanische Volk den Kongress dazu zwingen würde, Gesetzentwürfe zur Behebung des Armutsproblems vorzulegen. Martin nannte diese Aktion Poor People’s Campaign. Nach seinem Tod im April 1968 tauften Mitarbeiter der SCLC das Gelände in Washington, auf dem die Teilnehmer der Aktion campten, in Resurrection City („Stadt der Auferstehung“) um.

Die Poor People’s Campaign war Martins Versuch, die Armut in Amerika zu beenden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte vor allem die Mittelklasse von der Bürgerrechtsbewegung profitiert. Die Rechte, in der Innenstadt essen zu gehen, ungehindert zu reisen, bessere Kleider zu kaufen und ein Haus zu erwerben – all das waren zwar wichtige Rechte, aber völlig außerhalb der Reichweite der frustrierten Armen. Wozu sollten diese Rechte gut sein, wenn man nicht das Geld besaß, um all das zu tun? Kings lang geplante Kampagne sollte das tiefer liegende Problem der Armut thematisieren.

Am 2. Mai 1968 gab Coretta von dem Motelbalkon aus, wo ihr Mann erschossen worden war, das Startsignal für den Marsch der Poor People’s Campaign von Memphis nach Washington. Zusammen mit A.D. King, der ein Jahr später bei einem Badeunfall ums Leben kam, enthüllte sie eine Gedenktafel und sagte: „An dieser Stelle, wo mein Ehemann sein Leben gelassen hat, sichere ich dem Werk, das er so großmütig angefangen hat, meine ewige Unterstützung zu. Sein Vermächtnis wird uns an den Punkt bringen, wo jedes Gotteskind eigene Schuhe hat.“

Den Anfang des Marschs bildete ein Maultierwagen, der dem Gefährt ähnelte, auf dem Kings Sarg durch die Straßen von Atlanta gezogen worden war. Ungefähr 1.000 Menschen nahmen an dem Marsch teil. In den ersten Reihen gingen Abernathy und seine Frau Juanita, Mitarbeiter der SCLC, Reres Lopes Tüerina, eine Amerikanerin mexikanischer Abstammung aus New Mexico, und Linda Aranayndo, eine Indianerin. Die Menge marschierte durch die Slumgebiete und sang „We shall overcome“ („Wir werden siegen“), das Lied der gewaltfreien Bürgerrechtsbewegung, und lud andere ein, sich der Demonstration anzuschließen. Von einigen kleineren weißen Gruppen wurden die Demonstranten verspottet.

Als sie die Stadtgrenzen erreichten, stiegen die Teilnehmer der Kampagne in Busse, die sie nach Marks/Mississippi brachten. Dort schlossen sich andere dem Zug an, und es ging weiter nach Washington.

Die Kampagne sollte am 11. Mai 1968 beginnen und am 24. Juni 1968 beendet werden. Die Zeitspanne wurde um eine Woche verlängert, weil ein Maultierwagen sich verspätete. In diesem Zeitraum wurden arme Amerikaner aus allen Teilen des Landes mit Bussen, Maultierwagen und Zügen nach Washington, D.C., gebracht. Eine der größten Gruppen startete in Chicago mit dem Bus. In jeder Stadt, in der der Bus anhielt, schloss sich ein zusätzlicher Bus an. Es waren insgesamt 17 Busse, als die Gruppe aus Chicago in Washington, D.C, eintraf.

Während der Poor People’s Campaign reiste Coretta mehrmals von Atlanta nach Washington, D.C. Die Menschen benannten die Kinderbetreuung der Poor People’s Campaign nach ihr: Coretta Scott King Daycare.

Noch einmal stellte Coretta King Pastor Abernathy als neuen Vorsitzenden der SCLC vor. Abernathy begann seine Rede anlässlich der Poor People’s Campaign mit kraftvollen Worten, die die Menschen aus den verschiedenen Städten vereinigten.

Der Poor People’s Campaign gelang es, den Blick der Nation auf die Not der armen Amerikaner zu lenken. Für eine neue Generation der Armen können wir heute viel von der Ausrichtung und dem Vorgehen der Kampagne lernen, um die Regierung und das Volk auf die grundlegende Ungerechtigkeit von Armut hinzuweisen.

Anfang Juni flog Coretta nach Kalifornien, um Ethel Kennedy nach dem Tod ihres Mannes Robert Kennedy zu trösten. Er war an dem Abend bei einem Anschlag getötet worden, als er die Vorwahlen in Kalifornien gewonnen hatte. Seltsamerweise wurde Coretta gerade am Tag von Kennedys Beerdigung, als sie im Gottesdienst saß, davon unterrichtet, dass James Earl Ray, der Hauptverdächtige für den Mord an Martin, in England gefangen genommen worden war.

Als Ray sich später schuldig bekannte und ein Verfahren dadurch unnötig wurde, brachte Coretta zum Ausdruck, dass die Familie als Erstes mit Erleichterung darauf reagiert hatte, dass sie diese schrecklichen Tage nicht noch einmal vor Gericht durchleben musste. Coretta wusste nicht, wie das Urteil lauten würde, aber im Geist der Gewaltfreiheit wollte sie Ray nicht in den Tod schicken.

Inmitten ihres Verlustes und ihrer Not äußerte Coretta kein bitteres Wort. Sie folgte wirklich dem biblischen Gebot und hielt auch die andere Wange hin.

Coretta ließ sich von der Trauer nicht bremsen. In den Jahren nach dem Tod ihres Mannes wurde sie auf vielfache Weise gewürdigt: Ihr wurde die Ehrendoktorwürde Doctor of Humane Letters (Doktor der Literaturwissenschaften) der Boston University verliehen. Sie war die erste Frau, die in der historischen St. Paul’s Cathedral in London predigen durfte und sie erhielt als Erste den Frances Blanshard Fellowship Award der Yale University. In Italien wurde ihr 1969 der San Valentin Award verliehen. Sie reiste nach Indien und Jamaica, um posthume Auszeichnungen für Martin entgegenzunehmen.

Coretta zog sich eine Zeit lang nach New England zurück, um ihre Memoiren, Mein Leben mit Martin Luther King, zu schreiben. Ihr Buch wurde 1969 veröffentlicht. Eine überarbeitete Ausgabe erschien 1993.

Die Welt sah, welchen Glauben, welche Sehnsucht und welche Entschlossenheit Coretta besaß. Bei einer Umfrage 1968 wurde sie unter den weltweit am meisten bewunderten Frauen an fünfter Stelle genannt.

Anfang Mai 1969 reiste Coretta zur Unterstützung von Abernathy und der SCLC nach Charleston/South Carolina, um den streikenden Mitgliedern der überwiegend schwarzen Gewerkschaft für Krankenhauspersonal beizustehen. Der Gewerkschaft gehörten 500 Leute an, alles unstudierte Kräfte, die im staatlichen Krankenhaus von Charleston beschäftigt waren. Die Streikenden waren überwiegend Frauen, staatlich geprüfte Krankenschwestern, Hilfsschwestern, Reinigungskräfte, Küchen- und Wäschereipersonal, dazu kamen einige Krankenpfleger, Küchenhelfer und sonstige Bedienstete.

In der Stadt herrschte eine angespannte Stimmung. 1.000 Männer der Nationalgarde und 400 Polizisten patrouillierten durch die Straßen. Die Polizeikräfte und die Nationalgarde waren angefordert worden, nachdem die Stadt behauptet hatte, Afroamerikaner würden randalieren und Steine in Schaufensterscheiben werfen.

Coretta wurde von einer Autokolonne von 150 Wagen am Flughafen von Charleston empfangen. Sie war der Einladung der SCLC-Ortsgruppe von Charleston gefolgt und war nun zuerst einmal daran interessiert, Abernathy im Kreisgefängnis zu besuchen. Er war zusammen mit 500 anderen Afroamerikanern verhaftet worden, weil sie an vorherigen Protestmärschen zur Unterstützung der Streikenden teilgenommen hatten.

Coretta verbrachte ungefähr 45 Minuten bei Abernathy und ging dann zur Emmanuel African Methodist Episcopal Church, wo sie vor 7.000 Zuhörern eine Rede hielt. Nur ein Drittel von ihnen hatte in der Kirche Platz. Für die anderen wurde die Rede mit Lautsprechern nach draußen übertragen.

Viele Leute zeigten sich überrascht, dass es Coretta gelang, die Afroamerikaner in Charleston so stark gefühlsmäßig anzusprechen. Wie sie es auch schon früher getan hatte, drückte Coretta ihren Verdruss darüber aus, dass sie bisher nie im Gefängnis gewesen war. Sie erklärte, ihr Mann sei der Meinung gewesen, dass die Kinder zu jung seien, um das zu verstehen. Als sie nun versucht hatte, ihre Kinder darauf vorzubereiten, dass sie nach Charleston und möglicherweise ins Gefängnis gehen würde, hatte Marty geweint: „Jetzt habe ich bald keinen Papi und keine Mami mehr.“

Von diesem Moment an war es offensichtlich, dass die Menschen Coretta folgen würden, egal, zu was sie sich entschloss. Als sie den drei Kilometer langen Protestmarsch zum Krankenhaus von Charleston und zurück zur Emmanuel Kirche anführte, säumten Afroamerikaner die Straßen. Einige von ihnen schlossen sich der Demonstration an. Manche von ihnen versuchten, den Saum ihrer Kleider zu berühren. Die Nationalgarde und die Polizei kamen dicht heran, aber sie zögerten, Coretta zu verhaften. Sie beobachteten, wie Coretta sich auf das heiße Straßenpflaster kniete, um zu beten.

Man erzählt sich, dass ein Mann in Chicago an diesem Tag sagte, er habe nie an irgendwelchen Protestmärschen teilgenommen und er habe sich immer von den Südstaaten ferngehalten. Aber wenn Coretta verhaftet oder in irgendeiner Weise schlecht behandelt würde, dann würde er das erste Flugzeug nach Charleston nehmen, das er bekommen könnte. Er sagte ausdrücklich, er würde nicht dasitzen und zusehen, wie Martin Luther Kings Witwe schlecht behandelt würde.