18. Kapitel
»Es gibt keine
gefährlichere Waffe als den Willen,
selbst das schärfste Schwert kommt ihm nicht
gleich.«
DSCHUANG DIS
Glasgow erschien mir wie eine Stadt aus einem anderen Leben. Bekannte Gebäude blitzten im Licht der Laternen, zogen an mir vorbei, aber blieben schemenhaft und unwirklich, als sähe ich sie durch die Augen eines Fremden. Die Kolonne aus schwarzen Limousinen hatte Faylins Residenz am Rande des Nobelviertels in einer Dreiviertelstunde erreicht. Nach einer strengen Kontrolle am Haupttor fuhren wir in ein Rondell ein, dessen Mitte ein Fontänenbrunnen mit drei Überlaufbecken bildete. Allein das Becken war so groß wie unsere alte Wohnung.
Damontez hatte mir erlaubt, während der Fahrt aus dem Fenster zu sehen – und nur dorthin, denn mir gegenüber saß Pontus. Ich unterdrückte den inneren Zwang, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, ich konnte froh sein, dass ich den Kopf nicht senken musste. Beim Anblick der zartgelben Stuckfassade des Palasts konnte ich allerdings gar nicht mehr anders, als nach draußen zu starren. Sämtliche Strömungen der abendländischen Architektur, von Versailles bis hin zu den Sakralbauten Italiens, vereinten sich in diesem Schloss. Es erstreckte sich u-förmig um den Innenhof und wurde von allen Seiten scharf bewacht.
»Der Bau ist sicher nicht das, was du aus Schottland kennst«, erklärte Damontez mir jetzt. »Faylin hat sich dieses Palais, wie er es nennt, über die Dauer einer einzigen Generation bauen lassen. Einer menschlichen Generation wohlgemerkt. Er hat sich die renommiertesten Künstler dafür ausgewählt.«
»Wahnsinn«, entwich es mir einfach. Schnell schlug ich die Hand vor den Mund. Damontez wusste, wie aufgeregt ich war, und verlor kein Wort darüber.
»Ja, Wahnsinn«, wiederholte er nur. Aus seinem Mund klang es wie ein Fremdwort.
»Faylin behauptet, der Ballsaal hätte das zweitgrößte Deckenfresko der Welt. Es stellt die Geschichte der Engel und Dämonen dar, von ihren Anfängen bis hin zu der heutigen Zeit. Bedauerlicherweise wirst du es dir nicht betrachten können.«
Ja, wirklich bedauerlich! Ich liebte Wand- und insbesondere Deckenmalereien. Aber mehr als den Fußboden und die neuste Schuhkollektion würde ich heute nicht zu sehen bekommen.
Der Wagen kam zum Stillstand. Ich raffte mein bodenlanges Kleid nach oben, stieg mit Damontez’ Hilfe aus und blieb hinter ihm stehen. Die kalte Nachtluft und die Angst, die ich während der Fahrt erfolgreich verdrängt hatte, ließen mich frösteln. Damontez wartete, bis sich alle Lichtträger und Vampire um uns versammelt hatten, erst dann betrat er den überdachten Weg zum Schlosseingang. Es musste ein imposantes Bild sein: Bis auf die wenigen Vampirinnen trugen sie alle schlichte, nachtblaue Kleidung und die Vampire darüber die schwarzen Roben der Lamiis Angelus. Am Saum und in Höhe der Hüfte war der feine Stoff mit silbernen Zeichen bestickt, die ein bisschen aussahen wie Siegel.
Eine Allee aus feindlichen Lichtträgern fasste den breiten Weg zum Schloss ein wie eine Gartenhecke. Die Enden ihrer auf den Boden gestützten Diamantsonnen erinnerten mich an die bevorstehende Gefahr. Ich atmete einmal kräftig durch, dann betrat ich hinter Damontez die Eingangshalle.
Die Bösartigkeit, die mir im Inneren entgegen strömte, zwang mich beinah in die Knie. Ich war auf die aufwühlende Wirkung, die diese geballte Seelenlosigkeit auf mich ausübte, nicht vorbereitet. Ich krallte die Hände in mein Kleid und schluckte trocken. Der Halsreif saß so eng, dass meine Kehle schmerzte. Mindestens zwanzig Nefarius standen Spalier und der Gang hindurch fühlte sich an wie ein Spießrutenlauf. Mittendrin blieben wir auch noch stehen.
Floskeln wurden getauscht. Worte auf Latein. Die eisigen Auren griffen wie mit Fingern nach mir. Schlagartig wurde mir klar, dass es diese bitterkalte Ausstrahlung war, die mir den Seelenverlust zeigte. Sie ging weit über die normale Kälte eines Angelus hinaus. Ich konzentrierte mich auf das schwarz-weiße Karomuster des Bodens und begann unwillkürlich, die Kästchen zu zählen.
Eins, zwei, drei, ich habe Angst, vier, fünf sechs, was, wenn etwas schiefgeht, sieben, acht, neun, ich will hier raus, zehn, elf, zwölf, ich bin kein Spiegelblut …
»Keine Angst, Coco. Es passiert dir nichts.«
Das war Damontez. Seine Stimme klang so beruhigend, dass ich mich zwingen musste, ihn nicht anzusehen. Außerdem hatte er mich wieder Coco genannt. Ich begriff dadurch zwei Dinge gleichzeitig. Erstens: Meine Angst war berechtigt. Zweitens: Ich war bei ihm sicher.
Jemand kam auf uns zu. »Guten Abend, Damontez.« Den schmeichlerischen Worten nach schien die Vampirin ihn zu kennen. »Faylin erwartet euch bereits im Ersten Konferenzsaal. Er gestattet dir, drei Lichtträger deiner Wahl und die drei ranghöchsten Vampire mit in die Besprechung zu nehmen. Diese Regel gilt für alle, ihn und seinen Clan eingeschlossen.«
»Und was ist mit meinem Blutmädchen?« Er klang wenig erfreut.
»Faylin will sie noch vor dem Ball sehen, nachdem er so viel von ihr gehört hat.« Ein kalter Schauer krabbelte über meine Haut, als sie mich von oben bis unten musterte.
»Sie bleibt bei mir, die ganze Zeit über!«
»Mädchen dieses Status dürfen der Konferenz nicht beiwohnen.« Sie lachte so selbstgefällig, dass ich ihr am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. »Aber das weißt du doch selbst.«
»Wir werden sehen«, gab er grimmig zurück. Er forderte Igor, Cristin, Leaves und außerdem Myra, James und Logan auf, ihn zu begleiten. Dann nannte er noch Pontus’ Namen.
»Nur drei Vampire«, erinnerte sie ihn.
»Pontus bleibt bei Coco-Marie«, sagte er kurz angebunden, »falls sie tatsächlich nicht der Konferenz beiwohnen kann.«
»Wie du wünschst. Aber die Mädchen sind bei uns in besten Händen.«
Ihr roter Reifrock schaukelte wie ein Boot über sanfte Wellen, als sie uns durch das Schloss führte. In meiner Angst nahm ich nur Bruchstücke des Fußbodens auf: schwarzer Marmor, Kirschholzparkett, Wachen in Lederstiefeln, ein himmelblauer Läufer …
Nach wenigen Minuten öffneten sich zwei weit schwingende Türen.
»Faylin – Damontez Aspertu!«, machte sie auf uns aufmerksam, dann trat sie zur Seite, um uns einzulassen.
Es war totenstill. Ich lief hinter Damontez her, krampfte meine Finger zusammen; wie nebenbei fiel mir am Widerhall meiner Schritte auf, wie groß der Saal sein musste. Die fremden Blicke brannten auf meiner Haut wie Salzsäure. Es kam mir vor, als stünde ich einer Armee toter Könige gegenüber. In diesem Moment war ich mir sicher, diese Nacht nicht zu überleben.
»Damontez, schön dich wiederzusehen, noch schöner, dass du sie mitgebracht hast. Was wäre ein Ball solchen Anlasses ohne unsere Schmuckstücke, nicht wahr?«
Faylin. Er war mit jedem Wort näher gekommen und stand jetzt unmittelbar rechts von mir. Instinktiv machte ich einen Schritt hin zu Damontez, was zur allgemeinen Erheiterung beitrug. Ich versuchte, das Gelächter zu ignorieren, und starrte intensiv auf Faylins Schuhe aus geschmacklosem Schlangenleder. Seine Hose war dunkelgrün, und er trug wie die Angelus eine knielange Robe über der Kleidung, nur war seine silbern und nicht dunkelblau. Blutrote Siegelstickereien zierten das untere Drittel des Stoffs, weiter traute ich mich nicht zu sehen.
Es war so schrecklich beängstigend, nicht zu wissen, was vor sich ging, welche Blicke sie tauschten. Ich umschlang mich mit den Armen, zwang mich, ruhig weiterzuatmen.
»Oh, ich glaube, sie fürchtet sich ein wenig. Hat sie denn Grund dazu?«
Das war eine andere Stimme. Irgendetwas in mir versetzte mich in höchste Alarmbereitschaft.
»Sag du es mir, Draca«, konterte Damontez.
Draca. Draca und Leslie! Ich spitzte die Ohren, um nichts, noch nicht einmal das Ungesagte, zu verpassen.
»Du scheinst misstrauisch. Oder wieso sonst hast du ihr einen Blutschutz verpasst?«
Das war wieder Faylin. Seine Stimme klang harmlos, fast schon schmierig. Ich machte mir geistig ein Bild von ihm. Seine Haare waren mit Gel pomadisiert und zurückgekämmt, er schien eitel und auf Äußerliches bedacht. Und noch etwas irritierte mich. Seine Ausstrahlung war nicht so kalt wie die von Draca, der plötzlich links neben mir stand.
»Eine reine Vorsichtsmaßnahme, nachdem ich deine Gästeliste studiert hatte. Ich weiß um die Blutwetten.«
Faylin lachte. »Nun, ich verstehe deine Sorge. Und dein Mädchen ist wahrhaftig noch schöner, als man sagt. Es wird interessant sein zu sehen, wer sie heute Abend für sich gewinnen will.«
»Ich verachte diese Wetten«, erwiderte Damontez kühl.
»So wie alle Lamiis Angelus. Wobei du ja noch nicht einmal ganz zu ihnen gehörst, nicht wahr?«, sagte Draca jetzt nicht ohne provozierenden Unterton. »Aber wenn du ihr ein guter Lehrmeister warst, besteht ja auch keine Gefahr.«
Mein Kopf wurde so abrupt nach oben gezogen, dass ich es kaum schaffte, rechtzeitig die Augen zu schließen. Mein Kinn stach an der Stelle, wo Dracas Finger lagen und mein Magen rutschte irgendwo in Richtung meiner Knie.
»Braves, braves Nachtschattenherz«, flüsterte Draca, fast ein wenig ärgerlich.
Ein Raunen brandete durch den Saal wie eine Flutwelle, von vorne nach hinten und wieder zurück.
»Sie ist schön wie die Sünde, und doch trägt ihr Blut das Bouquet der Unschuld. Man könnte meinen, sie sei eine Weltwandlerin.«
Seine Worte gingen in einem bedrohlichen Knurren unter. Noch nie hatte ich einen so furchterregenden Laut gehört.
»Lass sie los, oder ich töte deine seelenlose Hülle, bevor du Armandorma flüstern kannst!« Damontez schlug Dracas Hand gerade so fest nach unten, dass ich nur leicht taumelte.
Sekundenlang war es totenstill, bis Faylin in Gelächter ausbrach. Es hatte etwas Entrückendes und vollkommen Wahnsinniges an sich. Ich stellte mir vor, wie er über das kleine Engelmädchen hergefallen war, und ballte die Fäuste.
»Ich sehe, es wird eine interessante Nacht, Brüder.«
»Es wird eine kurze Nacht für die, die ihr zu nahe kommen«, antwortete Damontez scharf. »Und ich besitze nur einen Bruder.«
Faylin wies unsere Begleiterin an, mich hinauszubringen, und Pontus schloss sich uns wie selbstverständlich an.
Faylin hielt ihn zurück. »Kein Vampir kommt in das Zimmer, in dem die Mädchen warten. Amybella wird bei ihnen bleiben, außerdem haben wir Lichtträger an allen Türen.«
»Dann werde ich ebenfalls an einer der Türen warten.« Niemand hielt Pontus auf, als er das Zimmer mit langen Schritten durchmaß. Als er die Tür schloss, hob ich den Kopf und legte mir die Hände in den schmerzenden Nacken. Vor mir reihten sich zwölf Mädchen in schillernden Kleidern auf Stühlen aneinander wie eine bunte Perlenkette, eines blasser als das andere. Ein Platz in der Mitte war noch frei.
»Setz dich und schweig«, wies mich die Vampirin harsch an. Mit ihrer voluminösen blonden Mähne, dem aufgebauschten Kleid und den zusammengekniffenen Lippen sah sie aus wie die sitzengelassene Stiefschwester von Cinderella.
»Damontez und kein anderer Vampir ist hier, ich kann reden, so viel ich will«, gab ich patzig zurück, setzte mich aber trotzdem auf den mir zugewiesenen Stuhl.
»Du bist im Palais weniger als ein Gast und überhaupt nur noch am Leben, weil du Damontez Aspertu gehörst«, belehrte sie mich. »Du solltest dich den Regeln des Hausherren unterordnen, wenn dir etwas daran liegt, dass auch alle anderen ungeschriebenen Gesetze eingehalten werden.«
Ich seufzte renitent, blieb jedoch still. Ich wollte Damontez keinen Ärger machen. Es würde mich, ihn und all seine Lichtträger unnötig gefährden. Schweigend ließ ich meinen Blick über die Mädchen gleiten, die mit gesenkten Köpfen auf ihre Füße starrten – wie zerbrechliche Porzellanpüppchen saßen sie da, ohne Willen und mit unlebendigeren Mienen als ihre Herren. Welche davon wohl Leslie war? Ich suchte eine Ähnlichkeit mit Shanny, vielleicht war es ja sogar ihre Cousine oder ihre Schwester, aber es war schwierig, das von der Seite zu beurteilen. Noch dazu hatte ich ein anderes, viel dringenderes Problem.
»Ich muss auf die Toilette«, sagte ich laut.
Cinderellas Stiefschwester murmelte etwas Lateinisches, das wie eine Verwünschung klang.
»Komm mit«, seufzte sie dann nur. Erst jetzt entdeckte ich die dritte Tür, zu der sie mich führte.
»Ich gehe nicht ohne Pontus!«
»Mach dich nicht lächerlich! Meinst du, irgendjemand würde vor dem Ball versuchen, Hand an dich zu legen?«
Da hatte sie fraglos recht. Sie würden sich kaum selbst um den Spaß bringen. Außerdem war Faylin viel daran gelegen, dass ich am Leben blieb, wenn ich ein Spiegelblut war.
Amybella wies mich in ein Bad, das so groß war wie ein Hamam, und ließ mich allein.
Obwohl sie gegangen war, sah ich nicht auf. Es konnten Spiegel an Plätzen hängen, an denen ich sie nicht erwartete. Sieben Jahre hatte ich widerstanden, ich würde den Abend nicht dazu verschwenden, meine Kräfte zu schwächen. Vielleicht wäre es mir eines Tages nur mit ihnen möglich, ein halbwegs normales Leben zu führen. Abgesehen davon hatte ich Damontez, als er mir die Regeln für diese Nacht erklärt hatte, mein Wort darauf gegeben.
Ich zog gerade mein Kleid wieder zurecht, als vor der Tür ein leises Surren ertönte. Ein Wechsel von Hell-dunkel-Reflexionen drang durch den Türschlitz. Ich stolperte rückwärts an die Wand zurück, als ich mich sowohl an das Geräusch als auch an den Farbwechsel erinnerte. Ein Raumkrümmer! Milo? Zusammen mit Remo und Kjell? Die Reflexionen drehten sich langsamer, fast wie der Flügelschlag einer zum Stillstand kommenden Windmühle. Hier in der engen Toilette säße ich in der Falle.
Ohne nachzudenken, stürmte ich in die weiß gekachelten Vorräume. In dem Moment riss die Luft gleich einer Erdspalte auf. Aus den Augenwinkeln sah ich eine Gestalt, die ihr entstieg wie einer Gruft. Noch ehe ich schreien konnte, legte sich eine Hand auf meinen Mund, ein Arm schlang sich um meine Hüften. Ich rammte meinen Ellbogen nach hinten und hörte einen unterdrückten Aufschrei.
»Hör auf, Coco!«
Während ich erneut nachsetzte, wich meine Angst. Die Stimme kannte ich gut. Ich blieb ganz still, die Hand auf meinem Mund wurde zurückgezogen, ebenso löste sich der Arm, der meine Taille umklammerte. Die Hände vor das Gesicht geschlagen drehte ich mich um.
»Eloi«, wisperte ich halb entsetzt und halb glücklich. Ich musste träumen. Das konnte nicht sein. »Was machst du hier? Wie kommst du hierher?«
Die letzte Frage beantwortete sich natürlich von selbst, denn ich kannte sein Stirnsiegel und hatte die Raumkrümmung eben mit eigenen Augen gesehen.
»Hab gehört, du bräuchtest Hilfe«, sagte er mit schiefem Grinsen und im nächsten Moment drückte er mich so fest und liebevoll an seine Brust, wie ich es mir in all den Jahren gewünscht hatte.
»Eloi …«
Ich hatte so viele Fragen, aber ich konnte ihn nur anstarren. Er sah so jung aus, nein, er war jung, gerade 33 Jahre alt, doch zum ersten Mal konnte ich es wirklich sehen. Seine Haut war glatt, das Gesicht nicht aufgedunsen und er trug sein dunkelblondes Haar armeekurz und wirkte mit dem grünen Shirt wie ein Soldat auf Heimurlaub. Ich wollte mit ihm fliehen, jetzt gleich, um dieser Welt für immer zu entkommen. Aber Eloi schien in dieser Umgebung zu unwirklich und meine Flucht konnte unmöglich so leicht sein.
»Von wem weißt du, dass ich hier bin?«, fragte ich, als er einen Schritt zurück machte. Ich ließ meine Hände auf seinen Unterarmen liegen, als fürchtete ich, er wäre tatsächlich nur eine Illusion.
»Einer von Faylins Männern. Er sagte, ein Halbseelenträger hätte dich in seiner Gewalt und heute sei eine gute Gelegenheit, dich zu befreien. Ich wusste ja, dass du in Gefangenschaft warst, dieser Pontus kam zu mir …«
»Einer von Faylins Männern?« Misstrauen breitete sich in mir aus. »Aber wieso kommst du dann nicht durch die Tür?«
»Es sind nur wenige eingeweiht. Außerdem soll es für alle aussehen, als hätte dich ein Raumkrümmer von Remo entführt.«
»Und woher wusstest du, wo ich war? In dieser Toilette?«
»Ein Visionär, ein Seher.«
»Ein Seher?«
»Ein Lichtträger, der eine mögliche Zukunft sehen kann. Meist taugen sie nicht viel, doch dieser hatte recht.«
»Das ist eine Falle, Eloi! Sie wollen mich von Damontez weglocken. Wer immer sich das ausgedacht hat, er meint es ganz sicher nicht gut mit uns. Wo sollst du mich hinbringen?«
»In ein angrenzendes Gebäude, nicht sehr weit weg, zu mehr reicht es auch noch nicht, was meine Fähigkeiten angeht.«
Ich ließ ihn los. »Dann kannst du uns also nicht nach Amerika oder sonst wohin bringen?«, fragte ich und versuchte, ihm zuliebe tapfer zu klingen. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich in meiner Fantasie frei gewesen.
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Noch nicht.«
»Und ein paar Mal in kleinen Abständen? Wir könnten in die Stadtmitte und von dort …« Meine Stimme überschlug sich vor Aufregung.
»Nein«, unterbrach er mich. »Ich schaffe den Raumsprung gerade zweimal hintereinander. Wenn ich Glück habe dreimal, aber das kann mitunter auch schiefgehen.«
»Was hat man dir versprochen?«
»Deine Freiheit«, sagte er so traurig, dass mein Herz schwer wurde.
»Und was erwartet man als Gegenleistung?«
»Ich soll meine Fähigkeiten zukünftig Faylins Clan zur Verfügung stellen. Raumkrümmer sind rar, immer noch.«
»Du musst gehen«, flüsterte ich verzweifelt. »Ohne mich! Sie würden mir niemals die Freiheit schenken. Und dich würden sie töten, weil du zu viel weißt.«
»Wenn es tatsächlich eine Falle ist, töten sie mich sowieso, egal, ob ich mit dir oder ohne dich zurückkomme.«
»Aber du bist ein Raumkrümmer! Wähle einen Ort vor dem Palast, wo sie dich nicht vermuten, und flieh! Bitte, Eloi!«
»Nein«, sagte er bestimmt und schüttelte den Kopf. »Ich bin schon einmal geflohen, Coco. Damals habe ich meine eigenen Leute im Stich gelassen. Ich laufe nie mehr davon.«
Seine Hände hingen hilflos in der Luft, als wüsste er nicht, was er mit ihnen anstellen sollte. Es waren dieselben Hände, die mich geprügelt hatten, aber jetzt war keine Zeit, um Vergangenes aufzuarbeiten.
»Was weißt du über das Spiegelamulett von Papa.« Wenn ich eines bei Damontez gelernt hatte, dann war es zu unterscheiden, was wichtige und was unwichtige Fragen waren.
»Über das Amulett von Henri? Nicht besonders viel.« Das Thema machte ihn sichtlich nervös, außerdem log er. Er mochte jetzt trocken sein, aber seine Gestik hatte sich nicht verändert. Dieses Kratzen an der Stirn war verräterisch und schmerzlich vertraut.
»Die Zeit der Halbwahrheiten ist vorbei, Eloi! Wir stehen in einer Toilette im Schloss des bösartigsten Vampirs dieser Erde. Ich kann nicht fassen, dass du wirklich hier bist, aber ich möchte es gerne glauben. Ich möchte wirklich gerne glauben, dass ich nicht der Illusion eines Lichtträgers unterliege. Du hast mir jahrelang Märchen erzählt. Jetzt will ich die Wahrheit.«
Eloi seufzte und hielt einen Moment inne, indem er vorgab, Geräuschen von draußen zu lauschen. Dann drängte er mich in die Toilettenkabine und schloss uns ein.
»Als ich mich ein paar Ursprünglichen anschloss, war ich fünfzehn«, begann er schließlich. »Schon damals bin ich gerne um die Häuser gezogen und hab ein bisschen viel getrunken. Bei einem nächtlichen Streifzug lernte ich Louis kennen, einen Studenten aus Paris, vier Jahre älter als ich, ziemlich cool, mit Lederjacke und eigener Harley. Er hatte dieses seltsame Tattoo zwischen den Augenbrauen und tat mächtig geheimnisvoll, fragte mich, ob ich mit ihm und seinen Kameraden besondere Abenteuer erleben wollte. Wollte ich natürlich. Mit fünfzehn will keiner ein normales Leben. Ich ging mit ihm, ließ alles hinter mir. Alles war besser als gewöhnlich.«
Wie paradox! War es doch das, was ich mir am meisten wünschte! Er hatte mir nie davon erzählt. Und meine Maman hatte es nicht gekonnt, weil ich noch zu klein gewesen war.
»Sie bildeten mich aus. Ich eignete mich für Raumkrümmung. Mein Engel hieß … ich hab’s vergessen, was mit N … keine Ahnung. In diesem Jahr lernte ich auch Amanda kennen, ein Mädchen aus den Staaten. New York, glaub ich. Louis und die anderen behaupteten, sie schützen zu müssen. Einer sagte mir, sie sei ein Spiegelblut. Mon dieu, was weiß denn ich, es wurde viel getuschelt, aber es gab wenig offizielle Fakten, die behielten sich ein paar der Anführer vor. Sie besaß dieses Spiegelamulett. Sie gefiel mir. Eines Tages nahm ich sie heimlich mit zu Claire und Henri. Ein Fehler. Mein größter.«
»Wieso?«
»Sie verliebte sich in deinen Vater. Allerdings war dein Vater damals schon fest mit deiner Mutter liiert, sie hatte also keine Chance. Ich kann es ihr nicht verdenken, war ein verdammt hübscher Kerl, dieser Henri.« Er schüttelte den Kopf. »Amanda und ich gingen zurück nach Paris, jagten Dämonen, beschützten sie vor den Halbseelenträgern.«
»Damontez und Remo.«
»Ihre Namen kannte ich nie. Man sagte, sie würden die Spiegelseelen suchen, um den Fluch zu brechen. Würden ihnen schreckliche Dinge antun.«
»Es geht so!« Ich glaube, er bekam gar nicht mit, was ich sagte, so verloren stand er da mit seiner Vergangenheit. Als wäre sie ein Freund aus alten Zeiten, für den er kaum noch Worte fand und der ihn heute so einsam machte.
»Unser Orden wurde überfallen. Es musste einen Verräter gegeben haben. Sechzig Nefarius mitsamt ihren Lichtträgern überwältigten uns – wir waren höchstens zwanzig.« Er atmete ruhig, aber tiefer, wie immer, wenn er versuchte, sich zu beherrschen. »Sie umstellten uns, als wollten sie ihr eigenes Jüngstes Gericht über uns abhalten.«
»Und dann?«, fragte ich, als er länger schwieg. Amybella wartete vor der Tür und würde sicher bald ungeduldig werden.
»Sie zerrten Amanda aus dem Kreis, stachen ihr die Diamantsonne mitten ins Herz. Einer trank das Blut, das über ihren Oberkörper floss, ein anderer füllte es sogar in eine Phiole ab. Sie entwaffneten uns, danach pickten sie uns einzeln aus dem Kreis, der Rest wurde in Schach gehalten.«
»Einzeln …«
»Wer den Kampf länger als eine Viertelstunde überlebte, wäre frei, versprachen sie uns. Jeder bekam drei Gegner. Es schaffte nicht einer. Aber sie hatten alle ihren Spaß – dabei zuzusehen, wie wir nacheinander starben, wie sich gestandene Männer vor Angst in die Hose machten.« Schweiß glänzte auf seiner Stirn. »Horreur, Coco, c’ etait la plus grande horreur … schon nach einer Viertelstunde standen wir knöcheltief im Blut unserer Freunde. Es war … terrible. Wir konnten nichts anderes tun, als zu warten, bis wir an der Reihe waren. Alle starben.« Er fuhr sich über die Augen, als wollte er die Bilder fortwischen.
»Wie bist du entkommen?«
Er senkte den Kopf. »Raumkrümmung. Es ist mir nur dieses einzige Mal wirklich geglückt.«
»Du bist geflohen?«
Er nickte. »Bin nicht stolz drauf. Ich war einer der Letzten, die sie sich vorgenommen hatten. Die Jüngeren kamen zuletzt dran. Ich war ja erst siebzehn.«
Jünger als ich heute! Mein Gott, Eloi …
Er lachte hart, strich sich über den fast kahlen Schädel. »Ich konnte nur noch einen Einzigen retten. Lester Hamlin, den Namen werde ich nie vergessen.«
Lester? War das etwa mein Lester? Er hatte doch etwas über das Medaillon gewusst! Aber für diese Fragen blieb keine Zeit.
»Hatte einer der Vampire, die euch angegriffen haben, gelbstichige Haare und ein kalkweißes Gesicht?«, flüsterte ich und dachte an Finan. Wenn sie Amanda nicht für sich wollten, dann spräche alles dafür, dass es dieselben gewesen waren, die damals auch meinen Bruder getötet hatten. Spiegelblutjäger, die eine Spiegelseele sofort töteten.
»Sie hatten alle ein kalkweißes Gesicht.« Eloi lachte nicht. »Bis auf die Lichtträger. Und blond waren auch einige.«
»Du musst verschwinden. Jetzt!«
»Aber dann wirst du das Blutmädchen von Damontez bleiben. Und dieser Pontus …«
»Pontus ist ein Freund. Mach dir keine Sorgen. Und Damontez ist nicht unser Feind, er beschützt mich heute vor Faylin!« Ich fühlte mich erschöpft von der Grausamkeit seines Berichtes.
»Wirklich?« Eloi runzelte die Stirn, so ganz wirkte er nicht überzeugt von meiner Theorie.
»Wirklich«, bekräftigte ich. »Und jetzt geh! Amybella wird bestimmt gleich nachsehen kommen.«
»Wieso hast du mich nach dem Amulett gefragt, Coco?«
»Einfach nur so.« Ich wollte ihn nicht noch mehr beunruhigen.
»Sie haben Amanda gefragt, wie sie sterben will …«
Ich sah ihn nur mit großen Augen an. Ich wollte die Einzelheiten nicht hören, aber es schien, als müsste er sie erzählen, um Frieden zu finden.
»Ob sie ihr die Diamantsonne von hinten oder von vorne durchs Herz stoßen sollen …«
Ohne es zu wollen, flüsterte ich: »Was hat sie gesagt?«
Er legte sich die Hände auf die Ohren, das war schon Antwort genug, er hörte ihre Worte noch heute. »Von vorne.«
Sein Gesicht verzog sich in einer Qual, die ich nicht kannte, die ich noch nie gesehen hatte. Es war kein Schreien und kein Heulen und beinhaltete doch beides ohne Ton. »Sie hat es ganz leise gesagt, ohne zu weinen, es wurde so … calme, terriblement calme … so verdammt still. Ich glaube, wir alle haben aufgehört zu atmen, wussten, was passieren würde, und hofften wie kleine Kinder auf ein Wunder. Sie war doch ein Spiegelblut, angeblich gesegnet von den Engeln. Wie konnten sie es zulassen?«
Ein neues, tiefes Verständnis für ihn und seine Geschichte erfüllte mein Herz mit Wärme, trotz all dieser furchterregenden Details. So eine innige Zuneigung hatte ich in all den Jahren nicht mehr für ihn empfunden. Das letzte Mal nach Finans Begräbnis, als er meine Hand genommen hatte und wir wortlos über den Kies durch das Eingangsportal nach Hause gegangen waren. Wer den Tod teilte, war immer verbunden. Jetzt hatte er einen weiteren mit mir geteilt, den Tod des Mädchens, das er geliebt hatte.
»Ich flüchtete zu deinen Eltern, im sicheren Glauben, all das hinter mir zu lassen. Als dein Vater plötzlich mit diesem Amulett ankam, hat es mir fast den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich habe es sofort wiedererkannt.«
»Wer hat es ihm gegeben?«
»Er sagte, er hätte es in einem Trödelladen gekauft. Der Besitzer sei ein junger, blonder Mann gewesen. Soll ein bisschen wie Papageno ausgesehen haben, dieser grässliche Vogelmensch aus der Zauberflöte, der immer so leutselig auf seiner behämmerten Panflöte spielt.«
»Papageno …« Ich dachte an den Engel vor den Katakomben. »Was wollte Henri damit?«
»Hat ihm spontan gefallen. Ich habe ihm gesagt, er soll es wegschmeißen. Hat er natürlich nicht gemacht. Ich habe ihn gefragt, wo der Laden ist. Es kam mir zu rätselhaft vor. Er beschrieb mir den Weg, aber als ich einen Tag später dorthin fuhr, hatte er bereits dichtgemacht.«
»Hat er das Medaillon je geöffnet?«
Eloi nickte. Er zeigte ein Lächeln, das, wenn es nur gekonnt hätte, all seine Verfehlungen in der Vergangenheit aufgezehrt hätte. »Du kannst mich nicht sehen, aber dennoch bin ich hier. Du kannst nicht fliehen, du bist ein Teil von mir. Euer Zwillingsgedicht.«
Ich musste schlucken. »Dieser Text stand in dem Amulett?«
Das Amulett eines Spiegelblutes! Und ich hatte stets geglaubt, es handelte von Finans und meiner Verbundenheit, ja vielleicht sogar von seiner Blindheit. Immer hatte ich die ersten Zeilen gesprochen: Du kannst mich nicht sehen, aber dennoch bin ich hier. Und Finan den Rest. An was erinnerte es mich jetzt? Was konnte man nicht sehen und war doch immer bei einem? Vor wem konnte man nicht davonlaufen? Einer Seele? Oder einer halben? Ich musste an Damontez und seine andere Seelenhälfte denken. Nie konnte er ihr entkommen, fühlte, was sie fühlte. »Stand sonst noch etwas darin?«
»Das hat er mir nicht gesagt.« Eloi zuckte mit den Schultern. »Ich habe es ihm gestohlen und aus dem Haus geschmuggelt. Es war mir unheimlich, es musste verschwinden.«
»Vielleicht hat er es gefunden und zu einem Notar gebracht«, überlegte ich laut. »Möglicherweise hatte er Angst, es wieder zu verlieren. Aber es könnte ja auch sein, dass die Engel dafür sorgen, dass ein Spiegelblut das Amulett bekommt.« Ich schüttelte den Kopf. »Du hast mit niemandem über Paris gesprochen?«
»Doch, mit dir, wenn ich betrunken war. Nüchtern hatte ich nie den Mut dazu. Wieso fragst du ausgerechnet jetzt nach diesem Amulett, Coco?«
»Bist du bald fertig?« Drei harte Schläge ließen die Holztür beben.
»Mir ist schlecht, es dauert noch ein bisschen«, rief ich nach draußen. Es war nicht einmal gelogen. Ob sie Elois oder meinen Herzschlag durch die Tür hindurch hören konnte? Oder unsere Stimmen? Falls ja, warum kam sie nicht herein? War sie eine Mitwisserin des Komplottes? Wartete sie nur darauf, dass ich verschwand, um an einem anderen Ort ins Verderben zu rennen?
»Wieso hast du mich nach dem Amulett gefragt?«, zischte Eloi jetzt leise durch die Zähne.
Ich musste es ihm sagen. Jahrelang hatte er geschwiegen, um mich vor der Wahrheit zu schützen, aber letztendlich konnte niemand der Realität davonlaufen, ohne das Rennen zu verlieren.
»Ich fürchte, ich bin ein Spiegelblut. Ich glaube, Finan war auch eines.«
Er sah aus, als habe ich ihm gerade mein Todesurteil verlesen oder ihm erklärt, das nächste Kamikazeflugzeug der al-Qaida zu fliegen. Er sank auf den Toilettensitz und stützte den Kopf in die Hände. »Oh mein Gott, Coco, nein …«
»Kam dir Finans Tod nie seltsam vor?«
»Coco …« Er hob den Blick. Angst lief über seine Züge wie Tinte, wenn man einen Füllhalter in Wasser taucht.
»Bitte Eloi, beantworte einfach meine Frage! Wir haben keine Zeit!«
»Mir kam schon der Tod deiner Eltern seltsam vor«, sagte er dumpf. »Ich bin mit euch aus Frankreich nach Schottland zu einem alten Freund geflohen. Als Finan starb, wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Das Amulett blieb verschwunden, ich versuchte, zu vergessen. Deine Phobie vor den Spiegeln, die Dinge, die du im Labyrinth gesehen hast … das machte mir Angst. Aber ich wollte dich aus allem raushalten und wusste gleichzeitig, dass ich es dir eines Tages sagen müsste.«
Ich fasste in drei Sätzen zusammen, was ich mittlerweile wusste. Eloi nickte, als fügten sich erst jetzt nach so vielen Jahren die Scherben seines Lebens zu einem Ganzen.
Wieder hämmerte Amybella an die Tür. »Wenn du in einer Minute nicht draußen bist, komme ich rein!«
»Ich muss zurück. Geh, Eloi! Versuche das Castle von Damontez zu finden. Es liegt am Loch Lomond.«
»Wenn Finan auch ein Spiegelblut war, dann gibt es vermutlich eine Gruppe Vampire, die nur deinen Tod will, nicht deine Kräfte.« Elois Finger durchwebten die Luft mit Siegeln.
»Ich weiß!« Ich stand schon an der Tür, die Klinke in der Hand, als sich die ersten Wirbel der Raumkrümmung zeigten.
»Coco, Finans Tod war nicht deine Schuld. Ich habe dich … ich hab es dir nie gesagt …« Sein Blick raste auf mich zu wie ein brennender Pfeil. »Pass auf dich auf!« Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, als wollte er sagen: Puce, tout ira bien! Floh – so hatte er mich an seinen guten Tagen immer genannt.
»Und du auch auf dich, Eloi!«, flüsterte ich. Heute war ein guter Tag, was ihn und mich betraf. Eloi war heute in meinen Augen ein anderer geworden. Dadurch war auch meine Vergangenheit eine andere geworden. Ich war nicht mehr länger die lästige Nichte, die man durchbringen musste, weil sie eben zur Sippschaft gehörte, sondern die Nichte eines Lichtträgers, der ursprünglich einmal für eine gute Sache gekämpft und viel zu jung schon die Grausamkeit der anderen Seite am eigenen Leib erfahren hatte – und letztendlich daran gescheitert war.
Ich konnte an Amybellas Gesicht nicht ablesen, ob sie von dem Plan gewusst hatte. Leise setzte ich mich wieder auf meinen Platz und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das Gespräch mit Eloi immer noch aufwühlte. Nervös scharrte ich mit meinen hohen Schuhen über den Parkettboden, was mir einen strafenden Blick von Amybella einbrachte. Ich beugte mich ein wenig vor und legte den Kopf auf die Seite, so dass ich die Gesichter der Mädchen sah. Sie ignorierten mich komplett. Das Mädchen rechts neben mir trug ein karamellfarbenes Spitzenkleid mit langen Trompetenärmeln. Einzelne kupferfarbene Strähnen ihrer Hochsteckfrisur schlängelten sich um die Rüschen des Ausschnitts. Ich stieß sie mit den Ellbogen leicht in die Rippen. Sie reagierte nicht, fast als würde sie mit offenen Augen schlafen.
»Leslie«, zischte ich und gab vor, einen Hustenanfall zu bekommen.
Keine Antwort.
Dafür wandte ihre Nachbarin mir den Kopf zu und schoss einen giftigen Blick in meine Richtung. Ihre Haut war so durchscheinend, dass man sämtliche Adern sah. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und die schmalen Lippen waren trockener als Pergamentpapier. Mit dem unguten Gefühl, sie alle in Schwierigkeiten zu bringen, richtete ich mich wieder auf. Ganz sicher würde ich während des Balls herausfinden, wer Leslie war. Ob sich mir jedoch die Möglichkeit bieten würde, ihr Shannys Nachricht zu überbringen, war fraglich; ich könnte nur mit ihr sprechen, wenn keiner der Vampire in der Nähe war. Wieso hatte Shanny nicht Damontez darum gebeten? Oder sollte er es nicht erfahren? Warum hatte er Shanny nicht mitgenommen? Mein Kopf war voller unbeantworteter Fragen.
Was mir aber am meisten zusetzte, war die Ungewissheit, wer von dem Komplott mit Eloi gewusst hatte. Den Auftrag konnte nur Faylin selbst gegeben haben, vermutlich als unbekannte Größe im Hintergrund. Er hätte mich einfach verschwinden lassen. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass auch Amybella davon gewusst haben musste. Es war nicht schwierig, sich bei der Planung darauf zu verlassen, dass jedes der Blutmädchen irgendwann in der Nacht das Bad aufsuchte. Nur der Zeitpunkt war entscheidend. Man konnte es Eloi schnell übermittelt haben. Aber wer war eingeweiht und wer nicht? Und existierte ein zweiter Plan, falls der erste scheitern würde? Ich presste die Hand auf den Magen. Jetzt war mir richtig übel. Und diese blöde Obhut machte es unmöglich, Damontez etwas davon zu sagen.