13. Kapitel

»Lieben – das heißt,
Seele werden wollen in einem anderen.«

FRIEDRICH SCHLEIERMACHER

Die nächsten Wochen vergingen viel zu schnell. Der erste Schnee fiel früh – bereits im Oktober war es Winter geworden, ganz untypisch für diese Gegend. Noch immer wussten sie nicht, was Coco war.

Damontez hatte sie nach dem Versuch, ihn mit seiner Schwäche schachmatt zu setzen, zwei Tage lang in Einsamkeit gefangen gehalten. Auf seine Frage hin, wie viel Zeit vergangen sei, antwortete sie ihm mit »Eine Woche«.

Vor drei Jahrhunderten hatte Pontus von einem alten Spiegelblutjäger etwas über einen fragwürdigen Test erfahren, der ein Spiegelblut als solches auswies. Doch die Grausamkeit dieses Experimentes ließ ihn dieses Wissen vor Damontez geheim halten. Bei dem Test wurden dem Opfer so viele Sinne wie möglich blockiert. Je schneller es halluzinierte, desto wahrscheinlicher war es ein Spiegelblut, da die Engelsinne sich gegen diese Blockade mit Bildern, Farben und Tönen zur Wehr setzten. Einmal war er Zeuge einer solchen Blockade geworden. Er hatte bereits vorher gewusst, dass der arme Tölpel ganz sicher ein begnadeter Aufschneider, aber bestimmt kein Spiegelblut war. Drei Tage hatten ihn die Seelenlosen mit Stille, Bewegungslosigkeit und Dunkelheit gequält, doch nichts war passiert. Am Ende hatten sie ihn aufgeschlitzt wie ein Stück Vieh und sein Blut geteilt. Diese dunklen Kreise waren ihm nie eine wirkliche Hilfe bei der Suche nach einem Spiegelblut gewesen. Sie selbst und ihre Methoden ekelten ihn an und schon bald hatte er ihnen den Rücken gekehrt.

Aber der Verlust für das Gefühl von Zeit und Raum – genau das war Coco in dem Verlies passiert. Isolation war in einem gewissen Sinne mit einer Blockade vergleichbar, und somit konnte es ein Beweis für ihre wahre Natur sein.

Mit dieser Strafe hatte Damontez es endgültig geschafft, sie einzuschüchtern, sie hielt den Kopf mittlerweile so selbstverständlich unten, dass sich sein Magen verknotete, wenn er sie betrachtete. Sie hatte Damontez ihr Blut auf dem Silbertablett serviert, sich damit aber wahrscheinlich auch von ihrer größten Angst befreit: die Angst, er würde von ihr trinken. Er hatte widerstanden, jetzt hatte sie Gewissheit, dass er es konnte. Vielleicht fügte sie sich deswegen.

Pontus umschritt Wache haltend die Wehrmauer des Sanctus Cor und dachte an das Mädchen. Sie veränderte Damontez. Sie veränderte alle. Als wehte der süße Duft des Aliquid Sanctum bereits durch die Gänge des Sanctus Cor und tauchte sie in gelbes Sonnenlicht. Sogar die Vampire schienen freundlicher, es gab weniger unnützes Machtgerangel mit den Lichtträgern. Sie war wie eine wunderbare Melodie, die einen so unmittelbar traf, dass einem der Mund offen stehen blieb. Nach den ersten Tönen wollte man weinen vor Ergriffenheit. Sie war ein Wunder, er konnte nur glauben, dass sie existierte, solange er sie ansah. Und immer wieder ließ er den Atem zu, der von ganz alleine kam. Jedes Mal war es, als feierte er einen Triumph über das Leben, das er so hasste.

Damontez selbst blieb stets in ihrer Nähe, überwachte sie eifersüchtig und hielt die Vampire von ihr fern.

Pontus hatte kaum Gelegenheit, sich unbemerkt in ihr Verlies zu schleichen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Damontez hatte ihr nach dem missglückten Training ein Treffen mit ihm grundsätzlich verboten – es war ohnehin gegen die Regeln. Pontus musste sich überwiegend damit begnügen, sie aus der Ferne zu beobachten, aber er sah die Veränderung in Damontez’ Gesicht, auch wenn er sie gut vor ihm verbarg: eine tiefe, wahrhaftige Sehnsucht in seinem düsteren Blick, die seine Züge weicher machte und alte Strukturen aufbrach.

Mit Dorians Tod schien alle Zuversicht aus ihm gewichen zu sein. Jahrelang hatte er das Sanctus Cor nicht verlassen. Als die Seelenlosen dann anfingen, die Clans der Angelus zu bekriegen, riss ihn das aus seiner Lethargie. Es war verrückt, mitunter dachte er, Damontez wollte im Kampf sterben. Und das, obwohl er in all den Jahrhunderten zuvor so sehr darauf geachtet hatte, diese eine Seele zu bewahren. Was Damontez in dem Königshaus der Cozalus erlebt hatte, mochte er sich nicht ausmalen. Wie lange er Remos Schuld getragen hatte, wie lange er nach den alten Traditionen bestraft worden war – für Taten, die der junge Remo-Eliano begangen hatte … Nachdem Remo sich für die Seite der Seelenlosen entschieden hatte, lag es an Damontez, die Seele zu schützen. Wie schwierig mochte es gewesen sein, den düsteren Leidenschaften der anderen Seelenhälfte zu trotzen? Unvorstellbar – bei Coco kam es ihm jetzt allerdings zugute.

Damontez sprach nie über seine Vergangenheit und so konnte Pontus nur glauben, was ihm in all den Jahren zugetragen worden war. Das meiste natürlich von den Lichtträgern Roms, die nach dem ein oder anderen Gläschen Wein sehr gesprächig wurden.

Für Damontez war es so gut wie unmöglich, Freundschaft zu empfinden. Gute Gefühle mussten monumentalen Charakter besitzen, um bis in die andere Seelenhälfte vorzudringen. Erst dann war ein Halbseelenträger fähig, diese wirklich wahrzunehmen. Das bedeutete aber auch, dass beide Seelenbrüder dieses Gefühl teilten. Genau das war bei Dorian passiert und genau deswegen war er jetzt tot.

Pontus hatte Damontez kennengelernt, als er Dorian zu ihm brachte. Er erwähnte seinen Auftrag – der damals noch nicht den grausamen Zusatz enthalten hatte –, ließ aber seine Unsterblichkeit außen vor. Damontez selbst zeigte sich überrascht und erfreut, denn weder er noch Remo hatten je damit gerechnet, ein Spiegelblut zu Gesicht zu bekommen. Er nahm Pontus in seinen Clan auf, sie wurden Weggefährten. Als Dorian dann starb, gab sich der Halbseelenträger ein anderes Versprechen: Das Leben des nächsten Spiegelblutes über das seiner Seele zu stellen. Er hatte nicht ablehnen können, als Pontus ihm Coco anvertraute.

Während er seine Runden über den schneebedeckten Wehrgang zog, schmerzte ihn die Ironie von Cocos Schicksal: Ihre Angst vor Spiegeln und Dämonen hatte sie vermutlich genau zu dem gemacht, was sie heute war.

Ein helles Lachen riss Pontus aus den Gedanken. Verdammt! Was machten Coco und Shanny ganz allein im Westhof? Wenn jetzt ein feindlicher Lichtträger der Raumkrümmung hier auftauchte? Shanny war Novizin, außerdem trug sie noch nicht einmal eine Diamantsonne bei sich. Mit einem Satz sprang er von der hohen Wehrmauer direkt in den Hof und schritt eilig an dem rechten Flügel des Hauptturms vorbei. Um die Mädchen besser im Blick zu haben, blieb er im dunklen Schatten des Turms stehen. Die beiden formten Schneebälle mit bloßen Händen und bewarfen sich gegenseitig damit. Weiße Flocken sammelten sich in ihren Haaren und glitzerten im Licht der alten Laternen. Sein Blick strich zwischen den Mädchen hin und her. Shanny war eine der wenigen Lichtträgerinnen, die er mochte und der er vertraute. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass die zwei etwas Verbotenes taten, konnte aber keinen Grund für sein Misstrauen entdecken – außer dass Shanny eine Lichtträgerin der Illusion war. Seine Augenbrauen wanderten angesichts dieses letzten Gedankens nach oben, doch er griff nicht ein. Warum auch, es war schön, Coco so ausgelassen lachen zu hören. Er setzte noch einen Schritt nach, um sie besser sehen zu können. Die Mädchen warfen sich rücklings in die weiße Pracht, bewegten Arme und Beine, dann sprangen sie auf und begutachteten die Figuren, die ihre Körper im Schnee hinterlassen hatten. Coco wirkte so unbeschwert.

Unwillkürlich legte er eine Hand zwischen die Schlüsselbeine. War es das Wissen, sie eines Tages für seine Sterblichkeit töten zu müssen, das ihn diese Zuneigung spüren ließ? Wäre es anders, wenn Cheriour ihm nie diese Bedingung gestellt hätte? So lebendig, wie sie mit Shanny gerade die Flocken aufwirbelte, kam es ihm vor, als wäre es unmöglich, dieser Anweisung Folge zu leisten. Wie warm sich seine Lungen anfühlten, wenn er Luft holte. Als entfachte der Atem eine sanfte Glut in ihm – einem Dämon der Kälte.

Coco wandte den Kopf in seine Richtung, als hätte sie die Anwesenheit eines Vampirs gespürt. Sekundenlang hielt sie wie versteinert inne, dann hob sie die Schultern, lachte erleichtert, bückte sich und schob Schnee in ihre Hände. Sie trug nur ein hauchdünnes Shirt, das jetzt am Rücken komplett durchnässt auf ihrer Haut klebte, Jeans und braune Lammfellstiefel. Weder Handschuhe noch Jacke. Er müsste allein deshalb schon einschreiten, weil sie sich völlig unterkühlte.

»So, Shanny!« Der Schneeball lag in ihrer Hand und sie rannte auf die blonde Lichtträgerin zu. »Der Treffer von vorhin schreit nach Rache!« Sie warf daneben und kicherte.

»Hey – wie fühlt sich Schnee in Spiegelsicht an?«

Coco blieb stehen. »Du meinst für mich als Synästhetikerin?«

Shanny lächelte feinsinnig. »Oder so!«

Coco drehte sich einmal um sich selbst. »Schnee, als Ziffer eine Null, kristallfarben natürlich, er ist wie eine zur Ruhe gekommene Sehnsucht, die das Herz immer noch brennen lässt. Wie Himmelsscharen, die dich in den letzten Schlaf singen, aber leise«, sie legte einen Finger auf die Lippen, »so leise … nur die Engel können es hören. Schnee schmeckt nach Silber. Nach Trauer, Tod und Ewigkeit.«

»Halleluja«, meinte Shanny trocken. »Lass das bloß nicht Damontez zu Ohren kommen.«

»Ich bin kein Spiegelblut. Das mit dem Schnee weiß doch jedes Kind. Und es ist mir egal, was Mr. Senk-den-Blick-vor-mir-Coco-Marie dazu sagt.«

Sie imitierte so gekonnt seine Stimme, dass Pontus in seinem Versteck beinah lauthals gelacht hätte. Er fragte sich gerade, wo Damontez wohl steckte, als er ihn im Schatten der westlichen Wehrmauer stehen sah. Er ließ sie also doch nicht aus den Augen! Das hätte er sich ja denken können. Und Coco war scheinbar völlig ahnungslos, sonst hätte sie ihn eben sicher nicht so spöttisch nachgeahmt. Vampire verschmolzen mit der Dunkelheit und das menschliche Auge war nicht imstande, die Kontur der Kältedämonen von den Schatten zu trennen.

Leider war Damontez seine eigene Anwesenheit auch nicht entgangen. Mit wenigen Sprüngen wechselte er von den Mädchen unbemerkt die Seite und blieb neben Pontus an der Mauer des Hauptturms stehen. Fragend hob er eine Augenbraue, sagte aber nichts. Lange Zeit standen sie einfach nur nebeneinander und beobachteten das dunkelhaarige Mädchen, das jetzt die Arme ausbreitete und durch den Schnee segelte, als könnte es in die Freiheit fliegen.

»Es ist schwer, sie nicht gern zu haben«, sagte Pontus irgendwann so leise, dass es nur Damontez hören konnte. »Du lässt sie allein?«

»Shanny glaubt, ich sei außer Haus. Ich vermute, sie wollte ihr ein wenig Abwechslung verschaffen. Sie sollte sie eigentlich nur ins Bad führen.«

»Dann hört Shanny nicht auf dich«, stellte Pontus fest. »Denkt sie an die Gefahr eines Raumkrümmers?«

»Das ist unwahrscheinlich.«

»Aber nicht unmöglich.«

»Ich spreche mit ihr.«

Wieder hingen ihre Blicke auf dem Mädchen. Sie drehte sich im Schnee und hob die Arme Richtung Himmel. Dicke Flocken wirbelten um sie herum, hüllten sie in ein Kleid aus weißem Eis. Sie lächelte, doch etwas in ihren Augen verriet Pontus auch ihre große Trauer. So vieles hatte sie schon in diesem kurzen Leben begraben müssen.

»Ich glaube, es liegt daran, dass sie ihr Spiegelbild nicht kennt«, sagte Pontus nach mehreren Minuten. »Alles, was sie sagt und tut, ist wahrhaftig, es entspringt ihrem Inneren. Sie hat nicht gelernt, sich zu verstellen. Sie weiß nicht um ihre Wirkung.«

Damontez’ Kopf fuhr zu ihm herum. »Ich wusste gar nicht, dass du das Spiegelblut studierst«, bemerkte er dann leicht herablassend, jedoch auch ein wenig misstrauisch.

»Das brauche ich gar nicht. Es ist einfach so. Schau sie dir doch an!«

»Das tue ich.«

»Sie ist wie ein Kind.«

»Nun, verglichen mit deinem Alter ist sie das wohl auch.«

»Verglichen mit deinem ebenso. Aber das meinte ich nicht. Sie ist so … unschuldig.«

»Sie mag dir kindlich erscheinen, weil sie sich noch an Dingen erfreuen kann, an denen du seit Jahrhunderten das Interesse verloren hast. Andererseits hat sie jahrelang die Verantwortung für ihren Onkel getragen und davor für ihren Bruder. Und das ganz allein. Sie ist schneller erwachsen geworden als andere.«

Pontus starrte Damontez sprachlos an. Bislang hatte er nicht gewusst, wie viele Gedanken sich der Halbseelenträger über Cocos Vergangenheit gemacht hatte. Er musste ihm widerwillig recht geben.

»Cristin kam vorhin aus Glasgow zurück«, sagte Damontez jetzt zusammenhanglos. »Er hat Gerüchte gehört.«

»Gerüchte?« Pontus wandte sich nur ungern von Coco ab. Das Wort Gerüchte ließ all seine Alarmglocken schrillen.

»Vidan und Adis erzählen überall herum, ein Mädchen hätte Kjells Seele gespiegelt.«

»Solange sie nicht wissen, wo es ist …«

»Sie vermuten es bei dir. Und da du meinem Kreis angehörst, glauben sie natürlich, es wäre im Sanctus Cor.« Er versuchte, emotionslos zu klingen, aber Pontus hörte seine Besorgnis heraus. »Zwei weitere Gruppen Spiegelblutjäger ziehen seit Tagen durch Glasgow. Eine davon weiß, dass ich ein Mädchen unter meine Obhut gestellt habe, und sie haben richtig kombiniert, nämlich dass es eben dieses besondere Mädchen ist, von dem Vidan und Adis erzählen.«

»Vielleicht sollte ich mit Coco den Clan verlassen?«

»Es ist zu gefährlich, Coco irgendwo anders hinzubringen. Hier ist sie vorerst sicher. Niemand wird in Zeiten wie diesen das Castle von Remo Cozalus Seelenbruder angreifen, wenn er keinen zwingenden Beweis dafür hat, dass das Mädchen ein Spiegelblut ist.«

»Dann werden sie erst einmal herausfinden wollen, ob die Gerüchte der Wahrheit entsprechen«, sagte Pontus nachdenklich.

Damontez nickte und wandte seinen Blick wieder Coco zu. »Vielleicht sind es ja nur Gerüchte. Vielleicht ist sie keine Spiegelseele.«

»Haben deine Tests etwas ergeben?«

»Mit dem Lichtspeer stellt sie sich so ungeschickt an, dass ich jedes Mal Angst habe, sie bricht den Diamanten ab oder spießt sich selbst damit auf. Oder mich – und sei es nur aus Versehen.«

»Es braucht Zeit. Arbeitest du auch an ihrer Spiegelsicht?«

Damontez nickte und schob grimmig den Unterkiefer vor. »Sie lügt mich an, aber ich kann ihr leider nicht das Gegenteil beweisen. So viel dazu: Sie verstellt sich nicht! Und ich habe ihr auch das Toben hier draußen nicht erlaubt!«

Noch ehe Pontus etwas anfügen konnte, trat Damontez aus seinem Versteck heraus und schritt bedrohlich auf die beiden Mädchen zu. Wäre er an Cocos Stelle, hätte er sich bei Damontez’ plötzlichem Erscheinen zu Tode gefürchtet. Damontez unterschied sich zwar äußerlich nicht von anderen Vampiren, doch die gespaltene Seele hinterließ ihre eigene Signatur. Für Vampire war sie nicht ganz so schwer zu ertragen wie für Menschen, außerdem setzte mit der Zeit ein leichter Gewöhnungseffekt ein – so wie wenn man zu lange verpesteter Luft ausgesetzt war. Aber da waren immer noch die leeren, schwarzen Augen …

»Habe ich dir erlaubt, den Innenhof zu betreten, Coco-Marie?« Trotz der Ruhe lag eine unüberhörbare Drohung in seinen Worten. Es war schmerzlich zuzusehen, wie ihr Strahlen erlosch und sie sich bei seinem Anblick zusammenkrampfte, versuchte, sich noch kleiner zu machen, als sie war.

»Du hast es nicht verboten«, antwortete sie leise und senkte den Blick auf ihre Füße. Hatte die Kälte sie zuvor nicht zittern lassen, jetzt bebten ihre schmalen Schultern. Natürlich wusste sie, dass er ihr Herumtoben im Schnee niemals geduldet hätte. Und sicher fragte sie sich auch, was er wohl alles mitgehört hatte.

»Alles, was ich dir nicht ausdrücklich erlaube, ist ab dieser Sekunde verboten, verstanden?«

»Ja«, flüsterte sie.

»Wiederhole es!«

»Alles«, rief Coco in dem Moment so laut, dass sich ein paar Lichtträger auf der Wehrmauer umdrehten. Trotzig reckte sie ihr Kinn ein wenig nach oben: »Alles, was du mir nicht ausdrücklich erlaubst, ist verboten. Aber weißt du was, es ist mir völlig egal!« Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte mit um sich geschlungenen Armen von ihm fort.

Pontus konnte es nicht fassen. Warum widersetzte sie sich schon wieder? Seine Kiefer mahlten, als er auf Damontez’ Reaktion wartete – die folgte natürlich prompt. Mit einem langen Sprung schnitt er ihr den Weg ab.

Der Schlag auf ihre linke Wange beförderte sie sofort in den Schnee. In der Dunkelheit ballte Pontus die Fäuste.

Es reicht! Ich kann nichts für das dämliche Versprechen, dass du dir selbst gegeben hast! Und sie auch nicht!

Damontez packte Coco am Oberarm und zerrte sie auf die Beine. Kein Laut kam über ihre Lippen. Pontus konnte zusehen, wie sich das Schluchzen in ihrer Kehle staute. Als Damontez erneut die Hand hob, schnellte er wie von einer Schleuder geschossen nach vorne und riss Damontez mit sich, noch ehe er ein weiteres Mal zuschlagen konnte. Sie flogen zehn Meter durch die Luft und prallten ineinander verkeilt an der Wehrmauer ab. Pontus packte Damontez an den Schultern, wollte ihn auf den Boden zwingen, aber dieser bekam seinen Kopf zu fassen. Damontez’ Stirn krachte gegen sein Nasenbein und für den Bruchteil einer Sekunde sah er nachtblaue Flecken zwischen den Schneeflocken, vermischt mit dem Blut, das ihm aus der Nase spritzte. Keinen Wimpernschlag später begrub Damontez ihn unter sich.

»Alles, was ich will, hast du gesagt«, knurrte er durch zusammengebissene Zähne. »Misch dich nicht ein! Sie ist in meiner Obhut, nicht in deiner!«

»Du willst, dass sie dich hasst!«, zischte Pontus zurück. »Du willst, dass nicht dasselbe passiert wie bei Dorian!«

Der Zorn in seinem Herzen kochte fast über, als er daran dachte, wie hilflos Coco vor Damontez gestanden hatte. Mit einem kräftigen Stoß vor die Brust beförderte er Damontez von sich. Sie rollten durch den Schnee. Pontus erlangte einen kurzen Sieg und nagelte Damontez unter sich fest.

»Aber du brauchst sie dafür nicht mehr weiter zu drangsalieren. Dein Ziel hast du längst erreicht.« Er wischte sich über die blutende Nase und bemerkte wieder einmal erstaunt, dass er trotz aller Unsterblichkeit verletzlich war.

Im selben Augenblick stemmte sich der Schwarzhaarige unter ihm in die Höhe und katapultierte ihn meterweit durch die Luft. Er krachte erneut auf das schneebedeckte Pflaster. Ehe er sich aufrichten konnte, zog ihn Damontez an der Kehle nach oben und verpasste ihm einen solchen Kinnhaken, dass sein Kieferknochen splitterte und er komplett die Orientierung verlor.

Damontez’ rechter Fuß fixierte seine Schulter am Boden. Die Schattenaugen sahen unheilvoll auf ihn herab. Der Blick jagte sogar ihm einen Schauder durch die Adern. Jedes Mal war es, als würde sich die Welt verdunkeln.

»Halte. Dich. Raus!«

»Nicht, wenn du sie so quälst!« Pontus blieb liegen, obwohl er sich hätte befreien können. Seine Kräfte standen denen von Damontez in nichts nach und er galt nicht umsonst als unbesiegbar, was er natürlich seiner Unsterblichkeit verdankte. Aber dieses Geheimnis kannte niemand, noch nicht einmal der Halbseelenträger, und Pontus war stets auf der Hut, gab sich ihm gegenüber lieber einmal schwächer, als sich zu verraten. Und wenn er jetzt weiter Damontez’ Wut schürte, würde es am Ende wieder Coco abbekommen. »Sie ist weder Vampirin noch Lichtträgerin. Du weißt ja noch nicht einmal, ob sie ein Spiegelblut ist. Sie kann sich mit nichts gegen dich zu Wehr setzen.«

»Sie gehorcht mir nicht. Wie soll ich für ihre Sicherheit garantieren, wenn sie tut und lässt, was ihr gefällt«, fuhr Damontez ihn zornerfüllt an, nahm den Fuß von seinem Oberkörper und sank neben ihn in die Hocke.

Pontus überfiel bei seinen Worten plötzlich eine ganz andere Vermutung. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er ihn.

»Du willst sie auch hassen«, stellte er nachdenklich fest und warf Coco einen kurzen Blick zu. Sie war vor den beiden in den angrenzenden Nordhof zurückgewichen. Er konnte es ihr nicht verdenken, wenn er sich Damontez betrachtete. Infolge seines Zorns hatte er sich komplett verwandelt: bläulich schimmernde Haut, geschärfte, silberne Klauen, Reißzähne und nicht zuletzt die Verbreiterung der Stirn über den Augenbrauen, die bei vielen wie ein königlicher Stirnreif anmutete.

Er selbst sah wahrscheinlich nicht anders aus. Wie mussten diese Zeichen auf das Mädchen wirken? Ihr Gesicht war so weiß wie Schnee, während sie sich jetzt blind an der Wehrmauer entlangtastete.

»Du willst sie hassen«, sagte er noch einmal und sein Atem stob die Schneeflocken vor seiner Nase durch die Luft. Seine eigenen Worte fielen ihm ein: Es ist schwer, sie nicht gern zu haben.

»Seit wann ringst du nach Atem wie ein Mensch?«

Damontez sah immer noch feindselig aus; kein Wunder! Immerhin hatte er ihn angegriffen und versucht, sein Nachtschattenherz vor ihm zu beschützen. Wären sie Feinde, hätte Damontez das Recht, ihn zu töten. Niemand durfte sich ungestraft zwischen ein Mädchen und ihren Herrn stellen, es sei denn, das Mädchen forderte einen Vampir durch Blickkontakt dazu auf.

»Tue ich das?«

Damontez antwortete nicht, sondern beugte sich nah zu ihm herab. »Ich muss ihr Blut nehmen!« Seine Stimme klang dunkel und um Gleichgültigkeit bemüht.

»Was?« Pontus’ Lungen füllten sich vor Schreck erneut mit Luft. Er sollte aufstehen, um auf Augenhöhe mit Damontez zu sein, aber die Worte ließen ihn auf dem Eis verharren.

»Es muss sein. Die Umstände lassen mir keine Wahl. Die halbe Nacht habe ich darüber nachgedacht.« Keine Emotion, nichts.

»Warum?«, keuchte Pontus auf. »Ich denke, sie zeigt keinerlei Kräfte, ihr Blut wird dich nicht mächtiger machen als Remo oder Faylin.«

»Darum geht es nicht. Die Gerüchte sind nur der Anfang. In weniger als einer Woche verlangen sie bestimmt, das Mädchen in meiner Obhut zu sehen. Sie werden Coco-Marie fragen, wie es ist, den Nachtschatten im Herz zu tragen, den Tod gesehen zu haben. Wenn sie wirklich mein Blutmädchen wäre, müsste sie es wissen! Von der ersten Stunde an. Falls sie ihnen diese Frage nicht beantworten kann, verfestigt das ihr Misstrauen. Was das bedeutet, muss ich dir nicht erklären, oder?«

Pontus wurde es ganz elend ums Herz. »Dann bringen wir sie fort. Ich könnte mir ihr …«

Damontez schüttelte nur den Kopf. »Nein.« Die Ruhe in seiner Stimme verriet seine Kompromisslosigkeit. »Du tust gar nichts. Hier ist sie sicher. Noch!«

Aber ich bin unsterblich! Und es ist auch meine Aufgabe, sie zu schützen. Zumindest so lange, bis der Fluch gebrochen ist.

»Vielleicht können wir … musst du denn unbedingt …« Pontus verstummte, da er die Notwendigkeit von Damontez’ Vorhaben einsah. Er hatte recht. Könnte Coco nicht auf diese Frage antworten, würde die Tarnung auffliegen. »Ja«, stimmte er dann zu, »du musst.« Er kam sich vor wie ein Verräter.

Die Hände des Halbseelenträgers gaben seine Schultern frei. Pontus schloss die Augen. Er hätte es Coco gerne erspart. Ausgerechnet Damontez sollte derjenige sein, der ihr Blut nahm. Als hätte sie nicht sowieso schon genug Angst vor ihm. Oder bist du eifersüchtig, weil er ihr den Nachtschatten zeigen darf und nicht du? Du willst ihr Blut doch auch! Und wie du es willst. Du würdest dafür töten, wenn du ehrlich bist. Ginge es nicht um deine eigene unsterbliche Haut, würdest du dich nicht zurückhalten …

»Und wann?«

»Je eher, desto besser.« Damontez war aufgestanden und blickte auf ihn herab. Oh Gott, er hasste es, wenn er ihn so düster anstarrte, als wäre kein Funken Gefühl in ihm. Dann sah er genauso aus wie sein Seelenbruder Remo.

Pontus schluckte und richtete sich zum Sitzen auf. »Sie wird es nicht verkraften, wenn du sie einfach aus heiterem Himmel damit überfällst. Wenn du ihr den wahren Grund nicht nennen willst, gib ihr eine andere Erklärung. Deklariere es als Strafe oder Konsequenz für ein Verhalten, irgendetwas, das es nicht wie Willkür oder Begehren erscheinen lässt.« Es war eine Sache, sein Blut anzubieten, um einem anderen seine Schwäche vorzuführen, eine andere, es unfreiwillig lassen zu müssen, um die eigene Schwäche demonstriert zu bekommen.

»Den Grund gibt sie mir gerade. Einen besseren Zeitpunkt wird es so schnell sicher nicht mehr geben.« Damontez nickte Richtung Tor – im nächsten Augenblick nahm er Anlauf und sprang auf die Wehrmauer.

Spiegelblut
titlepage.xhtml
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_000.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_001.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_002.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_003.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_004.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_005.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_006.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_007.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_008.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_009.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_010.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_011.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_012.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_013.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_014.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_015.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_016.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_017.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_018.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_019.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_020.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_021.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_022.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_023.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_024.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_025.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_026.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_027.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_028.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_029.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_030.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_031.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_032.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_033.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_034.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_035.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_036.html
CR!WW9S4P4KC50Z3AV23N0SJQM3VBP2_split_037.html