5. Kapitel
»Die Welt hat nie eine
gute Definition
für das Wort Freiheit gefunden.«
ABRAHAM LINCOLN
Ich blinzelte gegen die Dämmerung an. Weshalb hatte ich Angst? Wieso raste mein Herz so sehr? Warum war es so kalt? Ich suchte an der Decke nach etwas Vertrautem, nach den drei Astlöchern in dem hellen Holz, die ein gleichschenkliges Dreieck über meinem alten Sofa bildeten. Doch da war nichts. Noch nicht einmal Holz. Und ich hatte auch keine Kerzen in gusseisernen Halterungen in meiner neuen Wohnung …
Wo bin ich?
Ich setzte mich auf und rang nach Luft. Bleiche Prinzen mit Augen wie eine Gottesfinsternis, ihre Aura der Albtraum aller Dämonenjäger! Damontez Aspertu!
Die Erinnerung an die letzten Stunden kehrte zurück und mit ihr das Entsetzen, über alles, was geschehen war. Das Amulett, Lester, mein Gott … er war tot! Drohte mir das gleiche Schicksal? Aber Pontus hatte mir Schutz versprochen.
Mühsam kam ich auf die Beine, taumelte, weil mir immer noch ein wenig schwindelig war. Irritiert blinzelte ich in das Dämmerlicht. Die Mauern waren nicht verkleidet, der kleine Raum kreisförmig wie ein Turmzimmer: ein Verlies! Bei dem Gedanken beschleunigte sich mein Atem, Panik wallte durch meine Adern und trieb mir Schweißperlen auf die Stirn. Ich sah nach oben – nur Dunkelheit, ich konnte keine Decke erkennen. Auch keine Fenster, nur eine schwere Holztür! Mit vor Kälte tauben Beinen ging ich darauf zu, drückte ängstlich die Klinke herunter. Abgeschlossen! Ich lehnte mich gegen das Holz, legte die Hände vor das Gesicht, während die Wahrheit an der Wand herumschlich wie eine Katze und in meinem Kopf einen schrecklichen Refrain spielte:
Ich bin gefangen. Ich komme hier nicht raus. Ich bin gefangen. Ich komme hier nicht raus …
Außer mir und der Matratze, auf der ich geschlafen hatte, befand sich nichts in diesem Raum und schon nach wenigen Minuten wurde die Stille ohrenbetäubend laut. Um mich aufzuwärmen und das grauenvolle Bild von Lester aus meinem Kopf zu bekommen, tigerte ich an der Wand entlang und fütterte meinen Verstand mit Fragen:
Ob Damontez dieser Freund war, dem Pontus das Versprechen gegeben hatte? Und was hatte er gemeint mit – die meiner Art? Wie hatte er mich genannt: Spiegelblut? Fast wie ein Pferd, Vollblüter, Unverschämtheit! Was war ein Spiegelblut? Hatte es vielleicht etwas mit meinen seltsamen Visionen zu tun: mit der Rue de Turin, der Hitze und dem Gefühl, die Sonate nicht nur zu hören, sondern auch in Farben zu sehen? Konnte man Töne überhaupt sehen? Und wieso hatte Pontus’ Blut geschmeckt wie die Nacht? Seit wann hatte die Nacht einen Geschmack? Verlor ich womöglich den Verstand? Das mit Finan früher, das war gewesen, was es gewesen war: ein Spiel! Wonach schmeckt Hoffnung? Welchen Klang hat Eifersucht? Ich hatte es mir nur vorgestellt und nicht wirklich gefühlt so wie heute!
Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, aber der enge Raum schien meine Gedanken ebenso einzuschränken wie meine körperliche Freiheit. Was zum Schluss, als ich alles gedacht und selbst Eloi vermisst hatte, übrig blieb, war die Angst, nicht zu wissen, was mit mir geschehen würde. Als irgendwann die Tür aufflog, war ich beinahe erleichtert.
Meine Augen sahen ihn, aber ich erfasste ihn nicht. Ich konnte nicht sagen, wie groß er war oder welche Farbe sein Haar hatte, es war, als fehlte mir jeder Vergleich.
Die Luft, die er mit sich herein trug, war so still! Ich konnte kaum mehr atmen. Meine Furcht blitzte wie ein gleißender Sonnenfänger, es fing an wie bei Kjell, doch diesmal behielt ich die aufsteigenden Worte für mich:
Er ist mein Freund, so wie er dein Freund ist. Deine Begierde ist meine Begierde. Erinnerst du dich an die Zeit, als wir fast noch Kinder waren? Das Mädchen mit dem hellen Blut, rot wie Granatapfelsaft, hast du gesagt …
Speichel sammelte sich in meinem Mund, mein Herz flimmerte, von einem zarten Verlangen erfüllt, das ich nicht kannte. Es war herb wie saure Johannisbeeren und prickelte meine Kehle hinunter, als inhalierte ich Kohlensäure.
Was ist das? Es fühlt sich an, als würde sich in mir ein Transparent aufspannen.
Blut sackte mir in die Beine, und ich landete auf den Knien. Ich versuchte, ihn zu fokussieren, aber ich begriff ihn nicht.
»Steh auf und atme!« Jemand zog mich am Oberarm in den Stand.
»Atme!«
Ich atmete und atmete und atmete und bekam trotzdem zu wenig Sauerstoff. Alles in mir verschwamm: meine Vergangenheit, Finan, Eloi, die Geschichten über die Halbseelenträger, sogar ich selbst. Von oben sah ich auf die Schemen eines dunkelhaarigen Mädchens herab, ohne es wirklich zu kennen. Ich hörte, dass Pontus und Damontez miteinander sprachen, mit mir sprachen, aber das Mädchen schüttelte nur immer wieder den Kopf.
»Wie alt bist du?«
Das Mädchen hob abwehrend die Hände.
»Welche Fähigkeiten hast du bereits? Antworte!«
»Gib ihr kurz Zeit, sich an deine Nähe zu gewöhnen. Sie ist ganz verstört.«
»Du hättest mir sagen können, dass es ein Mädchen ist!«
Schweigen und Stille. Er wartete tatsächlich, und langsam ließ das Gefühl der Verwirrung nach, ich glitt in meinen Körper zurück, wie wenn man aus einer Narkose erwacht. Ich blinzelte angestrengt und musste mich zwingen, nicht noch einmal die Luft anzuhalten: Damontez war nicht nur atemberaubend schön, sondern auch jung. Er schien mir sogar jünger als Pontus. Sein schwarzes, schulterlanges Haar glänzte wie indische Seide. Es fiel in ein Gesicht, das Stolz trug wie eine Maske. Ich zwinkerte noch einmal, der Raum bekam wieder Konturen, ebenso meine Gedanken. Nur wer ich selbst war, hatte ich vergessen oder vielleicht nie gewusst.
»18«, stammelte ich völlig aus dem Zusammenhang heraus. Ich spürte keine Kälte, so wie ich sie bei Kjell und den anderen Vampiren gefühlt hatte. Aber irgendetwas zerrte an ihm, riss an ihm wie ein Sturm, rüttelte ihn durch und hob ihn fast aus den Angeln. Und äußerlich diese aufgeladene Stille, als könnte das, was den Sturm im Inneren hielt, jederzeit zerreißen. Halbseelenträger – war das sein Erbe?
»Nenn mir einen Grund, wieso ich annehmen sollte, dass sie ein Spiegelblut ist.« Seine Augen waren schwarz, vollständig dämonisch schwarz, ohne Pupille. Sie waren es, die mir am meisten Angst machten. Er sah mich grimmig an, so als wäre ich nicht nur ein ungebetener Gast, sondern sein persönlicher Feind.
Pontus antwortete ihm in einer Sprache, die für mich den Charme einer Gebrauchsanweisung hatte. Damontez’ Augenbrauen wanderten nach oben, er starrte mich weiter an wie ein Historiker, der eine Reliquie katalogisieren wollte. Unwillkürlich hielt ich erneut die Luft an, als könnte ich zu viel seiner Aura in mich aufnehmen.
Er lächelte spöttisch und wischte sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht, als wäre es schmutzig. Ganz kurz wirkte er menschlich. »Doch das ist nur eine der drei Fähigkeiten, es ist kein Beweis – atme, hab ich dir gesagt! – Pontus, du weißt, was wir unlängst besprochen hatten.«
Ich hörte mich Luft einziehen und fragte mich gleichzeitig, welche Zeitspanne unlängst bei den Vampiren einnahm. Es konnten hundert Jahre, aber auch nur zwei Monate sein.
Ich griff nach den Rändern meiner Kapuze und zog sie mir weit über den Kopf. So konnte ich mich wenigstens ein bisschen vor Damontez’ Gestarre in Sicherheit bringen und ihn selbst genauer betrachten. Er trug eine schwarze Leinenhose, dazu ein schlichtes, schwarzes Hemd mit Manschettenknöpfen – was für ein Hohn, es sah aus wie von Armani! Die obersten Knöpfe standen offen und gaben makellos weiße Haut frei.
»Es wird sich nicht wiederholen!«, sagte Pontus.
Damontez lief einen Halbkreis vor mir ab. Trotz seines inneren Kampfes war jede seiner Bewegungen beherrscht, verriet große Kraft und noch größere Kontrolle. Ich würde ihm im Ernstfall nichts entgegensetzen können. Unauffällig schob ich mich ein bisschen in Pontus’ Richtung. Er strahlte immer noch diese eigenartige Vertrautheit aus, die mich völlig für ihn einnahm. Vielleicht lag es an seinem Blut? Aber das Gefühl, ihn zu kennen, hatte mich schon in der U-Bahn überkommen.
»Du wirst es anders machen als das letzte Mal.« Pontus hörte sich an, als wollte er Parolen deklamieren.
»Tatsächlich?« Damontez kam ganz nah an mich heran. Sein Gesicht war oval und ebenmäßig, doch in seiner Gesamtheit streng, fast drakonisch, mir fiel eine blassblaue Kontur um die Lippen auf, die ihm einen Hauch Unnahbarkeit verlieh.
Ich machte instinktiv einen weiteren Schritt hin zu Pontus. »Das funktioniert aber nur, wenn du mir alle Freiheiten mit ihr lässt!«
Welche Freiheiten? Er sieht aus, als hätte ich bei ihm nichts zu lachen!
»Das verspreche ich!« Pontus nahm den Kopf nach unten und schloss kurz die Augen, ein Zeichen der Ergebenheit.
Was? Bist du verrückt?
»Oh, es wird vielleicht schwieriger werden, als du denkst.« Mir gefiel der Blick, den Damontez Pontus zuwarf, überhaupt nicht.
»Alles, was du willst!« Wieder Kopf nach unten, Augenschließen.
»Es ist meine Bedingung, ansonsten kannst du es vergessen.« Er wandte sich an mich: »Ich habe mich dir gar nicht vorgestellt«, sagte er langsam, jedes Wort einzeln betont, als wäre ich begriffsstutzig oder er nicht wirklich geübt darin, Konversation zu betreiben. »Damontez Aspertu.« Er streckte mir die Hand entgegen, seltsam verdreht, so dass seine Handfläche nach oben zeigte.
»Coco Lavie«, flüsterte ich. Ich konnte seine Geste schlecht ignorieren. Ich schob meine Hand nach vorne, legte sie auf seine und griff zögerlich die Finger. Sie waren nicht so kalt wie Pontus’, dennoch hatte ich das Bedürfnis, sofort loszulassen.
Bitterkeit überzog sein Gesicht wie zäher Sirup. »Gewöhn dich an meine Nähe, du wirst viel Zeit mit mir verbringen. Verbringen müssen, je nachdem, wie du es sehen willst.«
»Ich will nicht hierbleiben«, wisperte ich erstickt. »Ihr könnt mich doch nicht einfach so einsperren.«
Damontez’ ungerührter Blick war Antwort genug. Natürlich konnten sie. »Du bleibst im Sanctus Cor, bis ich zweifelsfrei weiß, ob du ein Spiegelblut bist.«
»Was ist ein Spiegelblut?«, fragte ich vorsichtig.
»Das erfährst du noch.« Er sah mich an, als würde ich zu viele Fragen stellen.
»Aber ich muss in meine Wohnung, ich muss Miete bezahlen, ich muss arbeiten und zu Eloi … man wird mich vermissen!«
»Um die Miete werde ich mich kümmern. Du hast im Moment ganz andere Probleme.«
»Ich bleibe nicht hier!« Ich gab meiner Stimme jenen festen Klang, den ich von Mädchen kannte, die nervigen Anwärtern eine Abfuhr erteilten. Meine Worte entlockten Damontez nicht einmal ein Zucken um die Mundwinkel.
»Ich werde mit dir arbeiten, um herauszufinden, was du bist«, sagte er schlicht, als hätte er meinen Einwand gar nicht gehört. So als wäre ich die Besonderheit von uns beiden und nicht er mit seiner halben Seele. Vielleicht stimmte das ja auch gar nicht.
»Und wenn ich kein Spiegelblut bin?«
»Bist du frei.«
»Dauert es lange, bis du das herausgefunden hast?« Ich wollte genervt klingen, aber das Zittern in meiner Stimme verriet mich.
»Das kommt darauf an, ob du gut mitarbeitest.«
»Und wenn ich es bin?«, fragte ich leise, jetzt vollkommen verunsichert, weil er schon derart feste Pläne für meine Zukunft geschmiedet hatte.
Er kam näher auf mich zu, hob mein Kinn mit den Fingerspitzen, so dass ich ihm in die Augen schauen musste. Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten, doch ich sah das, was die Geschichten über die Halbseelenträger erzählten: eine Welt ohne Licht wie eine Finsternis ohne Hoffnung, gottverlassen und kalt. Ein Stück Blindheit, vor der ich solche Angst hatte. Meine Lider sanken herab.
»Sieh mich an!« Sein Daumen bohrte sich in meine Kinngrube und zwang meinen Kopf mit Nachdruck immer weiter nach oben. Die Spannung schmerzte in meinem Nacken, ich balancierte auf den Zehenspitzen. Als ich es nicht mehr aushielt, gab ich ihm nach.
»Wenn du ein Spiegelblut bist, gehören deine Kräfte den Dämonen.«
Meine Knie zitterten. Tränen rannen meine Wangen hinunter, zogen eine feuchte Spur über meinen Hals bis zu den Schlüsselbeinen.
»Damontez …«, protestierte Pontus im Hintergrund.
»Alles, was ich will, hast du gesagt!«, hörte ich ihn knurren. Die Haut um seine Nasenflügel schimmerte bläulich wie die eines Erfrierenden. Wie bei Kjell, erinnerte ich mich.
»Bete, dass du kein Spiegelblut bist!«, sagte er dann nach einer halben Ewigkeit und ließ mich ruckartig los.
»Sollte ich tatsächlich irgendwelche Kräfte haben, gehören sie mir«, flüsterte ich und krallte meine Finger verzweifelt in mein Sweatshirt.
Er antwortete nicht. Abschätzend betrachtete er mich von oben bis unten, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schwieg dann aber doch.
»Vielleicht kannst du ihr ein anderes Zimmer geben, eines, das weniger aussieht wie ein Kerker«, sagte Pontus jetzt. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Damontez schüttelte den Kopf. »Du hast selbst gehört, dass sie nicht hierbleiben will. Sie wird versuchen zu fliehen. Wo wäre sie also besser aufgehoben? Außerdem weißt du genau, wieso sie hier unten sein muss.« Er wandte sich an mich: »Du musst dich unserem Tages- und Nachtrhythmus anpassen. Jetzt ist es Mitternacht. Du wirst noch ein paar Stunden wach bleiben, erst danach darfst du schlafen. Hast du mich verstanden?«
Ich nickte nur, für Widerspruch viel zu eingeschüchtert.
»Gut. Morgen Abend beginnen wir mit einer kleinen Einführung in unsere Geschichte – und vor allem mit den Regeln, die im Sanctus Cor für dich gelten.«
»Welche Regeln?«, fragte ich schwach.
In Damontez’ Gesicht erschien ein feines Lächeln, das Triumph in Pontus’ Richtung hieb wie eine Peitsche. »Ganz besondere Regeln. Das erfährst du morgen.«
Mit diesen Worten ließen sie mich zurück.
Die nächsten 18 Stunden verbrachte ich allein. Dreimal kam Damontez zu mir und wies mich wortlos auf eine winzige Toilette gegenüber meines Kerkers. Auch wenn mich sein Erscheinen jedes Mal zu Tode erschreckte, war ich erleichtert, dass er dieses menschliche Bedürfnis nicht vergaß. Aus dem rostigen Wasserhahn trank ich mehrere Hände voll Wasser und ignorierte meinen knurrenden Magen. Ich würde ihn um nichts bitten. In den dazwischenliegenden Stunden meiner Einsamkeit durchlief ich das ganze Repertoire an Gefühlen, zu denen ein Mensch fähig war.
Ich ließ all meine Erinnerungen an Finan aufleben. Ich verfasste gedanklich Briefe an Eloi, warf ihm die vielen Weihnachtsfeste ohne Tannenbaum und Geschenke vor, hasste ihn dafür, dass er meinen Hamster Zarastro hatte verhungern lassen, als ich im Landschulheim gewesen war. Stundenlang hatte ich Küchenschränke inspiziert und Kommoden durchwühlt, war unter Betten und Tischen herumgerutscht, bis Eloi ihn wortlos aus der Mülltonne fischte und mir die Wahrheit gestand. Und trotz allem, was er getan oder nicht getan hatte, vermisste ich ihn schrecklich. Ich vermisste den Eloi, der nicht aus jeder Pore nach Alkohol stank, der für mich kochte, wenn ich aus der Schule kam, und der mich Puce nannte, wenn er mir zeigen wollte, dass er mich gern hatte. Trotz aller Widersprüchlichkeiten liebte ich ihn, vielleicht weil er der Einzige war, den ich lieben konnte.
Als sich zum vierten Mal die Tür öffnete, stand nicht Damontez vor mir, sondern ein blasses Mädchen mit heller Haut. Pflaumenförmige Ringe, die mich an Leichenflecken erinnerten, zogen sich rund um ihre Augen. Fast hätte ich geglaubt, dass das Mal auf ihrer Stirn hervorquellende Adern wären, aber als ich einen unsicheren Schritt auf sie zuging, erkannte ich das Siegel in schwachen Ansätzen. Sie war eine Lichtträgerin, keine Vampirin.
»Ich bin Shanny«, sagte sie monoton, genauso gut hätte sie sagen können: Es schneit.
»Coco«, erwiderte ich ebenso unbeteiligt. Ich fragte mich, ob sie absichtlich unhöflich oder einfach nur zurückhaltend war.
Sie balancierte ein Glas Wasser und ein Stück Brot auf einem mittelalterlichen Servierbrett, das viel zu schwer für sie schien.
»Etwas zu essen und zu trinken für dich. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich musste Damontez daran erinnern.« Sie lächelte flüchtig. »Nach dem Frühstück darfst du in den Waschraum.«
Ich nickte ihr einen kurzen Dank zu, nahm ihr das Tablett ab und setzte mich damit im Schneidersitz auf die Matratze. Sie selbst blieb im Türrahmen stehen und beobachtete mich schweigend.
Ich hasste es, beim Essen angestarrt zu werden, schon in der Schule hatte ich mich zum Lunch immer allein in eine Ecke verzogen. Mein knurrender Magen gewann jedoch die Oberhand.
»Morgen kannst du mit uns essen, wenn du gut mitarbeitest, sagt Damontez.«
Ich hielt mitten im Kauen inne. »Mit euch?«
»Mit uns Lichtträgern.«
Mein Herz machte einen freudigen Hüpfer bei der Aussicht, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Aber wieso waren überhaupt Lichtträger in Damontez’ Castle? Ich hatte mich bereits über Milos Anwesenheit bei Kjell gewundert. So wie ich Eloi verstanden hatte, kämpften die Lichtträger gegen die Vampire und nicht für sie, es sei denn …
»Bist du, seid ihr … auch gefangen?«, erkundigte ich mich vorsichtig. Sie sah so mitgenommen aus, die Augenringe schrien geradezu nach Blutarmut. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Damontez auch Lichtträger hier einsperrte. Außerdem – wer blieb schon freiwillig bei jemandem wie ihm?
»Nein!« Das klang energisch, energischer als ihre gesamte Gestalt vermuten ließ. Ihr strohblondes Haar war zu zwei dünnen Zöpfen geflochten, die bis über die Schultern fielen. Alles an ihr schien dürr: Finger, Hals, Statur. Sie war vielleicht fünf Zentimeter größer als ich, höchstens einen Meter siebzig, wog aber sicher zehn Kilo weniger.
»Ist außer mir noch jemand eingesperrt?«, fragte ich bitter.
»Du bist nicht eingesperrt, nicht wirklich!«
»Gott sei Dank«, spottete ich sarkastisch, »und ich dachte schon, ich würde bei Wasser und Brot in einem Verlies sitzen.«
Shannys Mundwinkel zogen sich nach oben. Das Lächeln machte sie hübsch, auch wenn sie mir etwas seltsam vorkam. »Du bist witzig«, sagte sie dann nur, mehr nicht, keine Erklärung, wieso ich ihrer Ansicht nach nicht eingesperrt war, obwohl ihr doch die Realität geradezu einen Kinnhaken verpassen musste.
»Was machen Lichtträger bei Vampiren? Ich dachte, ihr jagt Dämonen?«, wollte ich wissen.
»Du meinst die Ursprünglichen? Die gibt es sogar heute noch. Das sind Dämonenjäger, die sich weder den Nefarius noch den Angelus anschließen. Sie töten alle Vampire.«
»Nefarius? Angelus?« Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
»Die Nefarius sind seelenlose Vampire. Nefarius stammt aus dem Lateinischen und bedeutet gottlos. Die Angelus besitzen ihre Seele noch, den Namen kannst du dir sicher selbst ableiten – Engel. Mehr dazu wird dir Damontez erklären. Aber die Lichtträger spalten sich nun mal auch in diese zwei Lager. Um es auf den Punkt zu bringen: die Guten und die Bösen.«
»Und ihr seid die Guten?«, fragte ich mit leichtem Spott.
Shanny nickte lächelnd. »So in etwa. Wir helfen den Angelus, die Menschen vor den Nefarius zu schützen. Damontez’ Clan gehört zu den Angelus.«
»Und was trinken die Angelus?«, erkundigte ich mich schnell. Solche Sachen sollte man wissen, wenn man bei ihnen in einem Verlies festsaß.
»Menschliches Blut – und natürlich das anderer Vampire.«
»Menschliches Blut?« Meine Stimme fiel. Ich schob den Teller mit dem restlichen Baguette zur Seite.
»Ja, manchmal. Sie bezahlen dafür. Sehr gut sogar, aber es gibt auch Angelus, die jagen und hinterher das Gedächtnis ihrer Opfer löschen.«
Mir wurde schlecht. Unwillkürlich griff ich mir an die Kehle. Ob man mein Blut auch schon genommen hatte, ohne dass ich es wusste? Oder noch nehmen würde …
Shanny lächelte beruhigend. Mir fiel auf, dass sie wunderschöne hellbraune Augen hatte. »Dein Blut werden sie vorerst nicht anrühren, keine Sorge.«
Vorerst?
»Ist Pontus noch hier?« Ein paar Krümel von mir abklopfend stand ich auf. Ich musste ihn sehen. Ein Teil von mir sehnte sich unnatürlich und auf unerklärliche Weise nach ihm und seinem Engelsgesicht.
Shanny nickte nur.
»Wieso hat er mir nicht das Essen gebracht?«
»Es war Damontez’ Wunsch, dass ich dich begleite.«
»Und du tust immer, was er sagt?«, fragte ich herausfordernd. »Müssen die Lichtträger ihm gehorchen? Was macht er sonst mit euch?« Meine Stimme überschlug sich fast.
»Jeder macht, was er sagt.« Ihre Miene verriet in keinster Weise, was sie davon hielt. »Es ist eine Frage des gegenseitigen Respekts. Lichtträger und Vampire sind hier gleichgestellt. Sie akzeptieren einander. Wir haben uns dem Clan angeschlossen, also gehören wir dazu. Die Befehle erteilt trotzdem Damontez. Vampire haben strikte hierarchische Regeln. Wenn wir in dieser Gesellschaft leben wollen, müssen wir uns anpassen.«
Sie musterte mich von oben bis unten und lächelte dann: »Komm jetzt! Ich bringe dich ins Bad. Dort sind auch saubere Klamotten für dich.« Ihr Blick an mir herab stärkte nicht unbedingt mein Selbstvertrauen. »Aber du gehst vor mir, damit ich sehe, was du tust.«
»Nicht gefangen, ja?« Ich ging an ihr vorbei und war ganz kurz versucht, meine Kräfte mit ihr zu messen, ließ es allerdings, weil ich das Siegel auf ihrer Stirn nicht kannte. Wer einen Gegner angreift, sollte zumindest seine Fähigkeiten kennen. Außerdem war sie nicht wirklich der Feind!
Die Gänge des Kellergewölbes unterschieden sich in dem düsteren Licht der wenigen Fackeln nur durch ihre Länge und die Form der Spinnennetze in den Mauernischen. Ohne Hilfe hätte ich mich in diesen Katakomben hoffnungslos verlaufen. Als Shanny mich eine steinerne Wendeltreppe hinaufwies, zählte ich in alter Gewohnheit die Stufen: 211.
»Das Sanctus Cor liegt knapp 250 Meter vom Loch Lomond entfernt. Ich zeige dir den Innenhof, damit du wenigstens weißt, wo du bist. Hier!« Sie kickte sich ihre Schuhe von den Füßen. »Zieh sie an! Draußen ist es bitterkalt. Fast wie im Winter.«
Ich schlupfte dankbar in ihre ausgetretenen Sneakers, meine Ballerinas lagen wohl noch irgendwo in Kirklee. Auf ihre Geste hin öffnete ich die Holztür vor mir. Das Erste, das mir auffiel, waren die Diamantspeere, die durch die Nacht glitzerten, als würden Sterne vom Himmel fallen. Beinah ehrfürchtig blieb ich stehen und vergaß für einen Augenblick sogar meine Angst. Die Schemen der Lichtträger auf der Wehrmauer waren in der Dunkelheit kaum zu erkennen, dafür blitzten die Spitzen ihrer Waffen umso heller.
»Sie sagen, je dunkler die Zeit, desto heller das Licht«, sagte Shanny leise. »Je gefährlicher die Tage, desto mehr Lichtträger stellen sie auf.«
Mein Blick glitt an der zinnengekrönten Mauer entlang, auf der die Lichtträger so regungslos verharrten wie die Scots Guards vor dem Buckingham Palast. Wir standen in einem von vier Innenhöfen. Es gab eine breite Zufahrt, die in das Atrium mündete und definitiv von Vampiren bewacht wurde. Als sich einer von ihnen zu mir umdrehte, wandte ich schnell den Blick ab.
»Wieso ist die Zeit gefährlich?«, wollte ich wissen.
»Früher gab es nur wenige Seelenlose. Sie wurden von den regierenden Angelus dominiert. Doch Zeiten ändern sich. Jetzt sind es ebenso viele Seelenlose – und sie wollen die Herrschaft. Komm!« Sie fasste mich leicht am Arm und führte mich direkt auf das Herzstück des Castles zu. Der eckige Hauptturm ragte über sieben Stockwerke in die Nacht. Zwei Flügel spannten sich von ihm zu der quadratischen Wehrmauer. Die Mauer selbst besaß vier gotische Ecktürme und umgab das Schloss wie einen Rahmen.
»Was will Damontez von mir?«, fragte ich leise.
»Es steht mir nicht zu, dir das zu sagen. Das muss er selbst tun.«
»Und was ist ein Spiegelblut?«
»Es ist eine Legende in der Historie über die Engel und Dämonen. Mehr erfährst du von ihm persönlich. Schau dir das Castle gut an. Das Sanctus Cor wird lange Zeit so etwas wie dein zweites Zuhause sein.«
Ich brauche kein zweites Zuhause, wenn ich noch nicht einmal ein erstes habe, lag es mir auf der Zunge zu sagen, aber ich verkniff es mir.
Wir betraten den Hauptturm durch einen doppeltürigen Eingang, der in ein großräumiges Foyer mündete. Castles wurden oft zu Hotels umfunktioniert, das hatte ich mal im Geschichtsunterricht gelernt. Später gingen sie dann in Dämonenbesitz über, das hatte mein Lehrer vergessen zu erwähnen.
Der obere Teil des Schlosses war nicht wesentlich heller als der Kerker. Dicke Vorhänge hingen wie bodenlange Schleppen vor den Fenstern – die einzigen Lichtquellen waren die achtarmigen Kronleuchter, deren dunkelblaue Kerzen flackerten wie Königslichter. In Anbetracht des roten Teppichläufers gab ich Shanny ihre Schuhe zurück, die mir mindestens zwei Nummern zu groß waren. Das Gewebe des Teppichs war weich und samtig, und die goldenen Paspeln kitzelten mich an den nackten Sohlen. Wir kamen durch einen weitläufigen Herrensaal mit antikem Holzboden und einem doppelten Kamin. Ohrensessel und Massivholztische luden zum Verweilen ein und versprachen Behaglichkeit. Wenn ich Damontez davon überzeugen könnte, dass ich nicht bei der erstbesten Gelegenheit fliehen würde, bekäme ich vielleicht ein Zimmer im Hauptturm. Angesichts des umstellten Castles ehrte es mich beinah, dass er mir überhaupt eine Flucht zutraute.
»Schlafen Vampire bei Tag?« Möglicherweise könnte ich fliehen, wenn sie sich in ihre Särge betteten.
»Sie schlafen niemals.«
Super!
»Kennst du viele?«
Ihr schmaler Schwanenhals zog sich zusammen, als würgte sie die Wahrheit hinunter. »Genug, um es zu beurteilen!«, sagte sie dann entschieden. »Und jetzt geh, Damontez ist nicht sonderlich geduldig. Und wenn er schlechte Laune hat, ist er ungenießbar.«
»Wie ist er sonst so?«, fragte ich leise und betrachtete intensiv meine Finger, als wäre die Antwort nicht so wichtig.
»Das lässt sich nicht einfach so nebenbei beantworten. Find es raus.«
»Ich will nicht so lange bleiben, um es herauszufinden.«
»Ja, sicher nicht. Aber du hast keine Wahl. Nicht bei ihm.«
Es gab keinen Spiegel. Das war das Erste, das mir an dem großräumigen Badezimmer auffiel. Nach der herrlich heißen Dusche zog ich an, was man mir auf einem Hocker sorgfältig gefaltet hingelegt hatte. Kakifarbene Unterwäsche, Jeans und ein schlichtes schwarzes Oberteil mit Rundhalsausschnitt. Schuhe oder Socken sah ich nicht. Ich sparte mir das Föhnen und kämmte meine Haare lediglich mit den Fingern durch. Im Geiste plante ich meine Flucht: Informationen über das Castle sammeln, einen Geheimgang entdecken und beim höchsten Sonnenstand einfach abhauen – okay, ich hatte den Orientierungssinn eines Lemmings, aber so schwer konnte es gar nicht sein. Als ich auf den Flur trat, war ich um eine Hoffnung reicher.
»Passen dir meine Klamotten?« Shanny warf mir ein scheues Lächeln zu.
»Es geht. Das Shirt sitzt etwas eng oben.« Ich zupfte nervös an dem Saum herum. Ich vermisste meine Kapuze.
»Ich bringe dich jetzt zu Damontez.« Wieder ein Lächeln, diesmal leicht mitleidig.
Ich nickte ergeben, es würde sich ja nicht vermeiden lassen. Shanny lotste mich durch einen unrestaurierten Gang zurück in den finsteren Keller. Meine Angst vor der Dunkelheit war wie ein Trauma aus einem anderen Leben, wie ein Phantomschmerz, für den es keinen Anlass mehr gab. Ich konnte nur hoffen, dass Damontez regelmäßig die Kerzen in meinem Verlies auswechseln würde.
»Besitzt er wirklich nur eine halbe Seele?«, fragte ich Shanny, während wir die Treppe hinabstiegen. Ich begann wieder zu frieren, ich hätte meine Haare doch föhnen sollen.
Sie antwortete nicht sofort. Erst als ich vor einer massiven Eichentür stehen blieb, sagte sie: »Ich spüre keine Seelen. Ich kann auch nicht zwischen beseelten und seelenlosen Vampiren unterscheiden, wenn ich ihnen begegne. Ich erkenne es allein an ihrem Verhalten. Pontus behauptet, du seist ein Spiegelblut. Also solltest du es am besten wissen.«
»Wissen es alle? Ich meine, warum ich hier bin?« Irgendwie machte es mich nervös, vielleicht etwas zu sein, von dem ich noch nicht einmal wusste, was es war.
Shanny schüttelte den Kopf. »Nein. Nur die engsten Vertrauten von Damontez und Pontus sind eingeweiht.«
»Du gehörst dazu?«, fragte ich leicht fassungslos. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein so junges Mädchen wie Shanny zu einer solchen Stellung in dem Clan gekommen war.
Aber sie nickte nur und wies mit ihrer Hand auffordernd zur Tür: »Damontez wartet nicht gern.«
»Ja«, flüsterte ich, plötzlich von einer schrecklichen Furcht ergriffen. »Ich weiß.« Ich griff ins Leere, als ich meine Kapuze suchte, strich mir stattdessen über die feuchten Haare und holte tief Luft.