8. Kapitel
»Düfte sind wie die Seelen
der Blumen,
man kann sie fühlen,
selbst im Reich der Schatten.«
JOSEPH JOUBERT
Als Damontez gesagt hatte, ich dürfte mich in der Gegenwart anderer Vampire nur mit Blinzeln verständig machen, hatte ich glatt vergessen, dass auch Pontus ein Vampir war. Umso schlimmer war es für mich, als ich Pontus plötzlich in der Heiligen Halle gegenüberstand. Ich wollte freudig auf ihn zustürmen, froh, Damontez nicht mehr alleine ausgeliefert zu sein, doch dieser hielt mich am Arm zurück. Mit einem einzigen Blick machte er mir klar, wo mein Platz war, und zog mich mit einer achtlosen Bewegung hinter sich wie ein räudiges Tier. Er würde für Pontus keine Sonderregel gelten lassen.
Als ich Pontus’ fragenden Blick auf mir spürte, saßen meine Tränen lockerer als in all den Stunden zuvor. Meinen Kopf unten zu halten, kostete keine Kraft, es kam mir vor, als hätte Damontez mir einen Schlag ins Genick verpasst.
»Was genau soll das werden, wenn es fertig ist?«, hörte ich Pontus mit einer Stimme fragen, an der man Messer hätte schärfen können.
»Ich habe sie unter meine Obhut gestellt. Alles, was ich will, hast du gesagt.« Es lag Trotz in Damontez’ Worten, und obwohl er ihn gut mit Überheblichkeit kaschierte, entging er mir nicht.
»Das sind die Methoden der Seelenlosen!«, antwortete Pontus geringschätzig.
»Und ich dachte immer, es sei ein Märchen. Ich habe es dir ja schon angedeutet: Es könnte schwieriger werden, als du denkst.«
»Aber nicht auf diese Art, verdammt, nicht so, Damontez!«
»Securum est!«
»Securum estne? Sicher? In nomine dei – du hast doch den Verstand verloren … Coco …« Pontus flüsterte mit mir. »Hey, Coco!« Das Band der Vertrautheit wollte meinen Blick aufrichten, aber ich wagte es nicht, mich Damontez’ Anordnungen zu widersetzen. Sonst dürfte ich Pontus vielleicht gar nicht mehr treffen. Leider war es mir unmöglich, mich ihm verständlich zu machen.
»Was hast du mit ihr gemacht?« Pontus klang entrüstet. Obwohl er sich lautlos bewegen konnte, hörte ich seine Schritte. Wahrscheinlich wollte er mir zeigen, dass er da war, nah bei mir.
»Hast du ihr etwas mitzuteilen, geschieht das durch mich. Und ebenso wird sie sich über mich dazu äußern.«
Ich schielte nach oben, ohne den Kopf zu heben, so konnte ich ein bisschen was erkennen, doch es stach wahnsinnig in den Augenhöhlen. Sie fixierten sich starr. Sie schienen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegeneinander abzuwiegen und zu verhandeln, einzig mit ihren Blicken, vielleicht auch mit ihren Erinnerungen. Sie mussten sich gut kennen. Gestern hatte Pontus Damontez noch alle Freiheiten zugesichert, aber da hatte er noch nicht gewusst, dass diese Freiheiten meine eigenen zunichtemachten.
»Ich möchte mit ihr unter vier Augen sprechen«, sagte Pontus dann nach einer Weile. Mit dieser Aussage akzeptierte er sämtliche Bedingungen von Damontez und versuchte gleichzeitig, eine Ausnahmesituation zu schaffen.
»Du weißt, dass das gegen die Regel ist. Kein Vampir darf allein mit dem Mädchen eines anderen sprechen. Und antworten darf sie dir sowieso nicht!«
»Sie ist nicht dein Mädchen!«, spie Pontus ihm vor die Füße.
»Sie steht unter meiner Obhut.«
»Du hast keine Ahnung von Menschen. Von Mädchen schon gar nicht. Hilf ihr ein bisschen bei der Eingewöhnung. Lass mich mit ihr reden! Mir vertraut sie.«
»Wenn du darauf bestehst: Fragen wir sie doch einfach, ob sie auch will. Möchtest du ihn treffen, Coco-Marie?« Damontez sah mich über seine Schulter hinweg von oben herab an. Er wusste, dass ich es wollte, wieso fragte er mich? Um mich absichtlich zu demütigen oder um zu testen, ob ich mich an diese Regel erinnerte? Ich bekam den Kopf kaum hoch, um ihn anzusehen, blinzelte deutlich, einmal. Meine Augen brannten so sehr. Ich ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder und ließ den Kopf sinken.
»Sie möchte. Leider hat sie sich heute nicht an alle Regeln halten können, vielleicht klappt es ja morgen besser.«
Noch ein Schlag in meinen brennenden Nacken.
»Okay, dann eben morgen.« Pontus gab sofort nach. Was immer sie vorhin verhandelt hatten, er hatte verloren oder kapituliert. »Ich werde ihr trotzdem nachher ein paar Sachen vorbeibringen, egal, was du dazu sagst.«
Bitte, geh nicht weg, geh nicht weg …
»Meinetwegen, aber nicht länger als eine Minute.«
»Damontez, ich bitte dich, ich bitte dich für sie, nicht für mich …«
»Vergiss es! Ich habe mich entschieden.«
»Es tut mir leid, Coco.« Als ich den Kopf ein wenig höher nahm, sah ich sein Ehrfurcht einflößendes Engelsgesicht mit den eisblauen Augen und fragte mich, wie ich je vor ihm hatte Angst haben können. Weil Damontez gerade nicht in meine Richtung blickte, traute ich mich noch weiter und formte mit den Lippen ein stummes: Hol mich hier raus!
»Streng dich morgen an!« Pontus schenkte mir ein kleines Lächeln. »Vielleicht darfst du dann auch Zeit mit den Lichtträgern verbringen.« Er wollte mir Mut machen und es rührte mich, dass es im Sanctus Cor überhaupt jemanden gab, der sich um mein Wohl sorgte. Aber meine Freude währte nur kurz, da Damontez an Pontus’ Lächeln gemerkt hatte, dass ich ihn angesehen haben musste. Sein Kopf fuhr herum, schneller als mein Blick sank. Noch bevor mich der harte Schlag in den Nacken taumeln ließ, hörte ich Pontus fassungslos »Damontez!« rufen. Es war nicht nur die Wucht des Schlags, die mich nach vorne schleuderte, sondern mein absolutes Unvorbereitetsein darauf. Dieses Mal war das Brennen eine rein anatomische Angelegenheit, der Schmerz zog sich von meinem Genick in Flammen hoch auf den Hinterkopf. Ich fand mein Gleichgewicht wieder und blieb ganz ruhig stehen. Ich würde nicht weinen, es tat nicht so weh, als dass Tränen nötig wären. Es war eher die bittere Erkenntnis, dass er auch vor körperlicher Gewalt nicht zurückschreckte, die mir zusetzte.
»Das hast du meinetwegen getan!« Pontus’ Stimme war eine einzige Anklage. »Das schaue ich mir nicht länger an!« Ich hörte deutlich an seinen fremdländischen Flüchen, dass er Richtung Ausgang unterwegs war. Kurze Zeit später knallte die Tür.
Damontez’ Schweigen knisterte über meine Haut wie ein Stromschlag. Ich stand einfach nur da, atmete ein und aus und befahl mir, keine Schwäche zu zeigen. Mehr nicht. Irgendwann schritt er davon, ich wie sein Schatten hinter ihm her. Er brachte mich in das Verlies zurück. Bevor er ging, verbot er mir zu schlafen und drohte damit, es zu kontrollieren.
Ich rollte mich auf der Matratze zusammen und versuchte, mich zu entspannen. Aber das Turmverlies war kühl, es zog durch die zerfressenen Steine, und ich begann nach wenigen Minuten in dem dünnen Shirt fürchterlich zu frieren.
Als Pontus in der Tür stand, saß ich zusammengekauert an der Wand, mit klappernden Zähnen und vor Kälte zitternd, und tat nichts anderes mehr, als stupide auf die Mauer zu starren und ab und zu meine Hände anzuhauchen. Ein Blick auf ihn reichte aus, um mich trocken aufschluchzen zu lassen.
»Meine Güte, Coco«, seufzte er und kam auf mich zu. Erst jetzt sah ich, dass er einen ganzen Stapel Sachen mitgebracht hatte. Er legte eine Daunendecke auf die Matratze, stellte eine Wasserflasche daneben, meine Tasche …
»Wo hast du die denn gefunden?«, fragte ich leise. Ich sah an ihm vorbei zur Tür, um mich zu vergewissern, ob Damontez ebenfalls mitgekommen war.
»Er hat uns eine Minute gegeben.« Er hatte meinen Blick bemerkt. »Sie lag noch im Kirklee-Tunnel. Ich habe sie entdeckt, als ich den Lichtträger geborgen habe. Wir dürfen niemals Spuren hinterlassen, von denen die Menschen auf unsere Existenz schließen könnten. Auch keine Toten.«
Lester. Ich musste schlucken und schob den Gedanken an ihn weit weg.
»Hier!« Er legte mir etwas Weiches, Dunkelblaues auf den Schoß. »Ich dachte, du könntest ihn gebrauchen, um dich ein bisschen vor Damontez zu verstecken.« Er zwinkerte mir zu, aber er entschuldigte sich sofort, als er sah, wie ich zusammenzuckte.
Mit kalten ungeschickten Fingern faltete ich es auseinander und lachte auf, während Tränen in meine Augen schossen – es war sein Kapuzenpullover aus der U-Bahn. Meinen eigenen würde ich vermutlich so schnell nicht wiederbekommen. Ich blickte zu ihm hoch. Es war mir in diesem Augenblick, als hätte ich noch nie ein so wertvolles Geschenk bekommen, mal davon abgesehen, dass ich seit Finans Tod sowieso keine Geschenke mehr erhalten hatte. Das letzte, an das ich mich erinnerte, war der kleine Plüsch-Kranich zu meinem elften Geburtstag, für den Finan fünf Monate gespart hatte. Eigentlich hatte ich mir den weißen Schwan gewünscht, aber Finan hatte es wohl verwechselt.
Ich taumelte nach oben. »Pontus.« Ich schluchzte seinen Namen mehr, als dass ich ihn aussprach, fiel ihm einfach entgegen und schlang beide Arme um ihn, den Pullover fest mit der rechten Hand umklammert. Dann begann ich zu weinen.
»Er hat gesagt, ich dürfte nicht sprechen, wenn ein anderer Vampir dabei ist«, presste ich mühsam hervor.
»Ich weiß.«
»Und ich darf dich nicht ansehen, wenn er dabei ist.«
»Ich weiß.«
»Und ich darf nur reden und antworten, wenn er es mir erlaubt, und ich … ich muss meinen Blick am Boden halten …«
»Ich weiß, Coco. Ich kenne die Regeln.«
»Aber das ist menschenunwürdig.«
»Ja, das ist es.«
»Müssen sich die Lichtträgerinnen in seiner Gegenwart genauso verhalten?«
Pontus schüttelte den Kopf, seine Haare kitzelten mich an den Schläfen. »Nein!«
Ich schluchzte noch einmal auf, wir hatten nur eine Minute, ich wollte sie nicht mit Tränen vergeuden. »Verliert er bei solcher Unmenschlichkeit nicht auch seine Seele, oder zumindest seine Hälfte?«
»Nein, er tötet dich damit ja nicht. Es tut mir leid, Coco. Meine Aufgabe lautete, das Spiegelblut zu einem Halbseelenträger zu bringen.«
»Dann bring mich zu Remo!«, sagte ich trotzig.
»Gravius morte!« Er packte meine Schultern, stellte mich eine Armeslänge vor sich hin und sah mich entsetzt an. »Remo ist der Königssohn von Edoardo Cozalu aus Rom, einer adligen Vampirfamilie, die zu den Beseelten gehört. Remo hat sich allerdings von seiner Familie abgewandt und sich seine eigenen Untertanen gesucht. Allesamt seelenlos! Das Register ihrer Gräueltaten benötigt zusätzliche Buchstaben.«
»Wieso ist Damontez so zu mir?«
»Er möchte diesmal alles richtig machen!«
Diesmal? »Aber er macht alles falsch!«
»Das kommt auf den Blickwinkel an, aus dem du es betrachtest.«
»Ich betrachte seit Neustem alles nur noch von unten«, sagte ich und verzog mein Gesicht zu einer Grimasse. Gegen meinen Willen musste ich lachen, als ich Pontus’ leichtes Lächeln sah.
»So gefällst du mir schon besser. Halte dich an die Regeln, dann wird er dir auch bald mehr erlauben.«
»Aber … er hat mich geschlagen!« Ich meinte, immer noch seine fünf Finger im Genick zu spüren, als ich die Worte hervorstieß. Ich war vor Eloi geflüchtet, um der Opferrolle zu entkommen.
»Das war meinetwegen! Er ist wütend auf mich, weil ich dich zu ihm gebracht habe. Hat er dir gesagt, dass er und Remo ihre Seele nur gemeinsam verlieren können?«
»Nein!«
»Damontez schützt diese Seele, indem er den dunklen Leidenschaften von Remo widersteht. Wären sie beide wie Remo, wäre die Seele bereits verloren.«
Ich wollte etwas anfügen, doch plötzlich stand Damontez neben uns. All die Sicherheit, die Pontus mir gegeben hatte, erlosch unwiederbringlich. Mit einem zittrigen Seufzen trat ich einen Schritt von dem Blonden weg, hin zu Damontez, dann hinter ihn, dort senkte ich den Blick. Wenigstens kam er so nicht in den Triumph meines verweinten Gesichts. Er beachtete mich gar nicht, sondern sah nur die Sachen durch, die Pontus mitgebracht hatte.
»Das iPad hat keine Netzverbindung hier unten«, erklärte Pontus, als Damontez den Inhalt der Tasche inspizierte. Dieser nickte flüchtig und schüttelte mit einer Hand die Decke aus. Lächerlich, als hätte Pontus im Inneren etwas für mich versteckt. Schließlich wandte er sich zu mir um.
»Den Pullover!« Er griff danach, da ich zu lange zögerte und ihn umklammerte wie einen Schatz. Es tat fast körperlich weh, ihn in den Händen von Damontez zu sehen. Wieder schüttelte er daran herum, als könnte Pontus heimlich einen geheimen Fluchtplan irgendwo eingenäht haben. Er wendete ihn, drehte ihn, ohne fündig zu werden. Ich hatte das Gefühl, dass er sich absichtlich Zeit ließ, weil er spürte, wie wichtig er für mich war.
»Da!« Achtlos warf er ihn mir zu, und ich drückte den Stoff wie ein Kissen an mein tränennasses Gesicht. Die Baumwollfasern trockneten meine feuchten Wangen und ich fühlte Trost auf meiner Haut, als würde Pontus mit den Fingern darüberstreichen. Hast du jemals gefühlt, wie weich Freundschaft auf den Fingerspitzen kribbelt, könntest du sie berühren?
Ich bin mir sicher, deine halbe, verfluchte Seele weiß überhaupt nicht, was Freundschaft ist!
Mit einem »Nicht schlafen! Ich komme später noch einmal und sehe nach dir«, verließ er mit Pontus das Zimmer.
Der Kapuzenpulli fiel bis knapp oberhalb meiner Knie und war herrlich warm. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf, stopfte meine Haare nach hinten und fühlte mich wieder ein bisschen wie ich selbst: ein Fancy-Freak, der sich in Glasgows Straßen herumtrieb, allein, und danach in der virtuellen Welt untertauchte. Mir kam es vor, als wäre das bereits eine Ewigkeit her. Ich fuhr das iPad hoch und freute mich darüber, dass Pontus so clever gewesen war, es vorher aufzuladen. Mit der Decke auf den Beinen und dem iPad auf dem Schoß klickte ich meine Lieblingsoper Turandot an. Nessun dorma – Keiner schlafe – ich fand, es gab kein passenderes Lied zu diesem Zeitpunkt. Ich stellte die Arie auf Wiederholen. Der Anfang lautete übersetzt aus dem Italienischen: Keiner schlafe! Keiner schlafe! Auch du, Prinzessin, in deinem kalten Zimmer …
Ich wickelte die Decke komplett um mich herum, lehnte mich an die Mauer und lauschte der Version von Pavarotti. Ich merkte nicht, wie meine Augen zufielen … Dilegua, o notte! Tramontate, stelle! Tramontate, stelle! All‘alba vincero – Oh Nacht entweiche, und jeder Stern erbleiche, jeder Stern erbleiche, damit der Tag entsteh …
Gab es überhaupt so etwas wie eine Seele? Und wenn ja, was war ihr Wesen? Hatte eine Seele eine Mitte – wie teilte man sie? Und wie vereinte man sie wieder? Dafür war ich doch hier, oder? Ich war so müde …
Ich riss die Augen auf. Damontez stand vor mir – ich war eingeschlafen und hatte ihn nicht reinkommen hören, jetzt war seine plötzliche Anwesenheit wie ein Blitz, der mit dem Donner zusammenfiel. Er hatte etwas um die Hand geschlungen, das ich nicht erkannte.
»Steh auf!«
Das tat ich, wenn auch ein wenig unbeholfen. Ich legte das iPad neben mich, zerrte an der Decke und kam auf die Füße.
»Runter mit der Kapuze!«
Hab ich ein Glück, dass du nicht »Runter mit den Klamotten« gesagt hast, dachte ich mit einem Anflug von Sarkasmus und schob die Kapuze mit beiden Händen so würdevoll wie möglich nach hinten. Mein innerlicher Spott über die Situation verpuffte in dem Moment, als ich sah, was er von seiner Hand abwickelte.
»Dreh dich um!«
Ich atmete tief durch und wandte das Gesicht zur Wand.
Aber ich habe Angst im Dunkeln, ich kann nicht atmen, wenn es stockfinster ist … ich kann vielem ausgeliefert sein, aber nicht der Dunkelheit … bitte …
Er band mir das Tuch um die Augen, und ich wusste nicht, was ich mehr hasste, ihn oder die plötzliche Blindheit. Ich spürte, wie er die Knoten an meinem Hinterkopf setzte. Eins-zwei-drei. Er stand so dicht hinter mir, dass der Stoff seines Hemdes an Pontus’ Pullover rieb. Ich musste mich zwingen, stehen zu bleiben. Als er fertig war, fasste er mich an den Schultern und drehte mich wieder zu sich. Vor Angst bekam ich keine Luft.
Ich bin blind … ich kann nichts sehen. Ich bin tot! Hab keine Angst, Finan, ich bin doch jetzt da, ich halte deine Hand, bitte, weine nicht …
»Die Augenbinde bleibt, wo sie ist, verstanden?«
»Ja.« Bitte lass mich fragen, was du vorhast!
»Die rechte Hand nach vorne!«
Nein!
»Die rechte Hand nach vorne!«
Weine nicht …
Verdammt, wieso mussten meine Finger dabei so zittern. Es ist doch nur ein Tuch!
»Handfläche nach oben.«
Ich drehte meine Hand, wartete und hasste ihn.
»Was ist das?« Er legte etwas in meine Finger. »Antworte!«
Der Gegenstand war für die kleine Größe schwer, die Oberfläche kühl und glatt. Ich umschloss ihn leicht, um ihn besser zu spüren. »Ein – ein Stein, glaube ich.«
»Was für ein Stein?«
»Ich weiß es nicht!« Ich bin blind.
»Farbe?«
Erst jetzt begriff ich, dass es ein Test zur Spiegelsicht war. »Ich kann ihn nicht sehen, ich weiß es nicht!« In meinen Ohren spielte ein Ton, der definitiv nicht zu Turandot gehörte. Ein zarter Akkord hüpfte mitten durch Pavarottis kräftiges Nessun Dorma.
Plötzlich war er hinter mir, drückte meine Finger mit seinen um den Stein, nicht besonders fest, aber bestimmt. »Farbe, hab ich gesagt. Streng dich an!« Meine Hand blieb in seiner.
Oh verdammt! Am besten tat ich so, als würde ich raten.
»Blau!« Ich gab mir Mühe, enthusiastisch und überzeugt zu klingen, und betete, dass er nicht bemerkte, wie sehr ich schwitzte. Das war eine idiotische Idee – der kleine Stein schwamm bereits in einer Lache.
»Falsch.« Seine Finger griffen um meine Faust wie eine fleischfressende Pflanze, die sich jederzeit schließen konnte. »Welches Problem hast du?«
»Ich habe Angst«, flüsterte ich. »Ich kann mich nicht konzentrieren.« Ich durfte ihm auf gar keinen Fall verraten, dass ich die Farbe des Steins kannte, denn sonst hätte er mir eine der drei Kräfte zweifelsfrei nachgewiesen. Pontus hatte eine weitere bezeugt und so wären es schon zwei.
Er ließ meine Hand los, blieb aber dicht hinter mir stehen. »Farbe?«
»Ich habe mehr Angst vor der Dunkelheit, als davor, dass du mir die Finger brichst.«
Plötzlich war da ein warmer Wind in der bedrohlichen Stille seiner Aura. Er streichelte meine Haut, weich und dunkel wie Seide, die aus dem Schatten der Nacht gemacht war. Er trug das Mondlicht in sich und den Glanz von silbernen Sternen, die zerbrechlicher waren als Schneeflocken. Sie schneiten vor einem schwarzen Horizont, vor einer Linie aus Schmerz. Ich blinzelte hinter der Augenbinde, als ich erkannte: Es war gar kein Wind. Es war ein Duft. Der Duft von Mondwind und Silberschnee. Aber er gehörte nicht zu dem orangefarbenen Opal in meiner Hand, sondern zu Damontez!
»Farbe?«
»Es ist ein grüner Turmalin«, behauptete ich überzeugend.
»Du fürchtest dich vor der Dunkelheit?«
Ich schwieg und ärgerte mich, eine meiner größten Schwächen eingestanden zu haben. Ich hatte ihn um ein Druckmittel reicher gemacht.
»Ich denke, wir werden diese Art Test öfter machen. So lange, bis du keine Angst mehr hast und dich besser darauf einlassen kannst.«
»Es ist ein Turmalin, und er ist grün«, beharrte ich auf meiner Lüge.
Er nahm mir den Stein ab und löste schweigend die Knoten des Tuches. Ich hätte zu gerne gewusst, ob ich mit meiner Vermutung richtig gelegen hatte, aber er verriet es mir nicht.
Er ging ohne weitere Worte und ließ mich mit einer ganz anderen Erinnerung zurück. Eine Erinnerung, die keiner Spiegelsicht entsprang, höchstens der meiner eigenen kindlichen Seele.
»Das hier fühlt sich seltsam an.« Finans Finger wanderten bedächtig über den Saum meines neuen Kleides. Ich hatte ihm vorher viele Dinge aus dem Park angeschleppt, nachdem wir beschlossen hatten, unser altbewährtes Ferienspiel »Wer spürt was?« zu spielen, bei dem ich immer wieder gegen ihn verlor.
»Rate!«
»Es gehört zu deinem Kleid, aber es ist nicht wie der Stoff.«
»Richtig.«
»Es kitzelt an den Fingerkuppen, aber es juckt und kratzt auch.«
Ich kicherte und zog ihm den Spitzensaum aus den tastenden Händen.
»Hey, Coco, komm schon. Was ist das?«
»Es heißt Spitze!«
»Spitze? Beschreib es mir!« Er griff in die Luft in meine Richtung, und ich legte ihm die Spitzenbordüre zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Sie ist weiß.«
»Wie die Wolken und die Milch?«
»Ja. Wie Wolken und Milch. Und unsere Frühstücksteller. Und der Schnee im Winter und die Schwäne im Teich. Und sie ist ganz fein gehäkelt. Es gibt auch Spitze aus anderen Stoffen, doch diese ist gehäkelt oder gestrickt, ich weiß es nicht genau.«
»Und weiter?«
»Sie hat ein Muster, es wiederholt sich immer wieder.«
»So wie das hervorstehende Muster auf den Fliesen im Bad?«
»Ja, ähnlich, aber kleiner.«
»Wozu braucht man sie?«
»Sie macht Kleider schöner. Prinzessinnen haben oft Spitze an ihren Gewändern. Tischdecken haben auch manchmal Spitze.«
»Wie ist sie noch?«
»Sonst nichts.« Ich schüttelte den Kopf, doch das konnte er nicht sehen. Finan war schon blind zur Welt gekommen. Und natürlich reichte es ihm nicht.
»Wenn sie einen Geschmack hätte, wie wäre er?«
»Vanille mit Keksen«, sagte ich prompt. »Und riechen tut sie auch so. Aber auch ein bisschen nach diesem Weihnachtsgewürz.« Ich schnipste mit den Fingern. »Anis, ja Anis.«
»Und wenn Spitze ein Lied wäre? Wie würde es klingen?«
»Hm.« Ich überlegte kurz, dann antwortete ich: »Nach der Königin der Nacht. Die mit der hohen Stimme und dem ewig langen Lied.«
»Die von Mamans CD, die Eloi so grässlich findet? Die Zauberflöte von Mozart?«
»Ja. Genau die.«
»Ich glaube, ich mag Spitze!«, meinte Finan grinsend, legte sich auf den Rücken und starrte blind in den Himmel. »Coco?«
»Finan?«
»Du bist die beste Schwester der Welt.«
Ich riss ein Büschel Gras ab und bewarf ihn lachend damit. »Du hast ja auch nur eine!«
»Du kannst mir die Dinge so beschreiben, als könnte ich sie sehen. Mit meinem inneren Auge, wie es Eloi nennt.« Er schüttelte sich gespielt theatralisch und das Gras flog in alle Richtungen. Dann wurde er ganz ernst: »Und wenn Spitze nun ein Gefühl wäre?«
»Vielleicht wäre sie Freude oder Glück«, antwortete ich und half ihm, das Gras von seinem T-Shirt herunterzulesen.
»Ja«, sagte er nachdenklich und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Er liebte die Sonne auf seinen geschlossenen Lidern. »Vielleicht aber auch ein bisschen wie Stolz.«
Er sagte es, ohne zu wissen, was gehäkelte Spitzenbordüren waren, ohne die Textur zu sehen, nur durch den Geschmack von Vanille, Keksen und Anis, das Kitzeln des Garns und den Gesang der Königin der Nacht. Er sortierte Spitze in seine ganz eigene Welt ein, eine Welt, die keinen Horizont kannte, weil er Grenzen nicht sah. Er spürte sie mit seinem Körper, doch seine innere Welt war frei. Er verwunderte mich nicht zum ersten Mal. Immer wieder erfasste er … die Seele der Dinge. Ich dachte an unser Spiel und richtete mich kerzengerade auf, erstaunt oder vielmehr erschüttert über diesen letzten Gedanken. War Finan ebenfalls ein Spiegelblut gewesen? Das bessere Spiegelblut?
Es ist wieder Frühling. Ein Strauß Blumen. Honig und Hyazinthen. Ich hätte es fast vergessen.
Hatte sein Blut oder er selbst, als er im Sterben lag, die Seele des Vampirs aus dem Heiligtum der Engel reflektiert? War das möglich? War dieses Spiegeln der Liebe auch ein Teil der Verlockung, von der Damontez gesprochen hatte?
Ich schüttelte langsam den Kopf. Es war, als würde sich meine eigene Vergangenheit auflösen und neu zusammensetzen. Ich hatte mit meiner Vermutung, dass der Mann im Spiegellabyrinth ein Dämon war, immer recht gehabt. Aber Finan, ein Spiegelblut? Spiegelsichtig, ja, Spiegelseele, wahrscheinlich. Doch was war mit dieser Reflexionskraft … Mir fiel die Wahrheit buchstäblich wie Schuppen von den Augen: Deswegen hatte er das Spiegelamulett bekommen. Ein Spiegelamulett für ein Spiegelblut! Aber was konnte Papa schon darüber gewusst haben? Und was hätte Finan mit dem Amulett anfangen sollen?
Ich kuschelte mich Schutz suchend in die Daunen, das iPad wieder auf dem Schoß, und lehnte meinen Kopf an die Wand. Ich starrte an die hohe Turmdecke und erkannte einen Gitterrost. Seine Einfassungen verschwanden hinter den alten Steinen. Ursprünglich war dort bestimmt einmal eine Luke zum Herablassen einer Leiter gewesen. Dahinter lag irgendwo der Himmel.
Finan.
Ich musste Eloi erreichen und herausfinden, was er wusste. Sollte das Medaillon wirklich Papa gehört haben, musste dieser ebenfalls ein Teil der Geschichte sein. Eine Geschichte, die jetzt auch meine war, und der ich entkommen musste, bevor mich die Lichtträger, Engel und Vampire in ihre Legenden über die Halbseelenträger mit aufnahmen und ich für immer darin eingeschlossen wäre. Ich musste Pontus recht geben: Ich war ganz sicher ein Spiegelblut, ich zweifelte nicht daran, ich wusste nur nicht, warum. Aber wenn Damontez das herausfand, wäre ich hinter den Spiegeln gefangen wie in einem Raum ohne Wände, der nur innere Grenzen besaß. Manche nannten das Schicksal.