6. Kapitel

»Jetzt schauen wir in einen Spiegel
und sehen nur rätselhafte Umrisse,
dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.«

1 KORINTHER 13, VERS 12

Langsam drückte ich die schwere Tür mit den Handballen auf und blieb mit klopfendem Herzen stehen. Vor mir erstreckte sich ein weitläufiger Saal, lang und hoch, wie ein Kirchenschiff. Spitzbogenfenster mit bunten Glasmalereien säumten die beiden Längsseiten. Ganz kurz schweifte mein Blick an den Gemälden entlang, erfasste flüchtig die feierlichen Farben, aber nicht die Bilder.

Ein dunkelblauer Teppichläufer kleidete den Mittelgang aus und führte zu einem Altar am anderen Ende. Damontez stand so unbeweglich daneben wie eine Skulptur aus weißem Carrara-Marmor. Seine Augen sahen von dieser Entfernung aus wie finstere Höhlen. Alles in mir schrie nach Flucht. All mein Mut, meine Kampfbereitschaft verlor sich in seiner Gegenwart, als wäre ich nie stark gewesen.

»Komm her zu mir!«

Seine Aufforderung klang streng, und ich wagte nicht, mich zu widersetzen. Zögerlich lief ich mit gesenktem Kopf auf ihn zu, betrachtete die am Boden tanzenden Muster der Fensterbilder: schillernde Punkte, als würden sie auf einer zitternden Wasseroberfläche schwimmen.

Ich hätte nicht aufblicken müssen, um zu wissen, dass ich genau vor ihm stand. Die Intensität seiner furchtgebietenden Aura ließ meine Hände schweißnass werden und mein Herz rasen. Ich hasste meine Feigheit. Und ich hasste ihn, weil er meiner Angst nichts entgegensetzte: kein Lächeln, keinen beruhigenden Blick, kein aufmunterndes Wort – nichts, das seine Präsenz erträglicher machte. Was willst du von mir? Innerlich schrie ich, aber kein Ton kam über meine Lippen.

»Du wirst dich im Sanctus Cor verhalten, wie es sich für ein Mädchen in der Obhut eines Vampirs gehört«, sagte Damontez jetzt und seine Stimme klang, als erlaubte er keine Unterbrechung.

In der Obhut? Hallo?

»Du tust alles, was ich verlange. Bedingungslos. Wenn ich spreche, hörst du aufmerksam zu. Du sprichst nur nach Aufforderung. Du stellst Fragen nur nach Aufforderung. Dein Blick bleibt am Boden, es sei denn, ich fordere dich auf, etwas anderes zu tun. Wenn wir zusammen unterwegs sind, läufst du einen Schritt seitlich versetzt hinter mir. Rechts. Sind andere Vampire zugegen, sprichst du überhaupt nicht und hältst Kopf und Blick gesenkt. Stelle ich dir in ihrem Beisein eine Frage, antwortest du mir mit einem Blinzeln: einmal für Ja, zweimal für Nein. Nur dafür darfst du den Kopf heben. Soweit verstanden?«

Einen schrecklichen Moment lang suchte ich vergeblich ein Lachen oder Augenzwinkern in seinem Gesicht, irgendetwas, das mir sagte, er erlaubte sich nur einen schlechten Scherz mit mir. Aber seine Miene war eisern und blieb es. Zwanzig Sekunden später schloss ich endgültig jedes Missverständnis aus, blinzelte verwirrt, rieb die Hände an der Jeans, griff in den Stoff und ballte die Fäuste, um ein aufbegehrendes Zittern zu unterdrücken.

»Ob du das verstanden hast, will ich wissen!«

Mein Entsetzen ließ mich schweigen, auch wenn ich jetzt wohl eine Antwort hätte geben dürfen. Ich zwinkerte auf den Boden, einmal, zweimal, ich träumte nicht, seine Worte waren schreckliche Realität. Ich sah an ihm vorbei auf die Fensterbilder, ohne sie wirklich wahrzunehmen, zählte stattdessen die einzelnen Scheiben, aus denen sie zusammengesetzt waren.

»Ich wiederhole meine Frage jetzt zum dritten und letzten Mal: Hast du das verstanden?«

»Ja.« Ich hatte bislang nicht gewusst, welche große Kraft ein so kleines Wort kosten konnte.

Er quittierte meine Antwort mit einem kurzen Kopfnicken. »Möchtest du etwas fragen?«

Ja, ob du sie noch alle beisammenhast! Laut sagte ich: »Was, wenn ich diese dämlichen Regeln nicht befolge?« Ich würde das nicht schaffen, allein mein Stolz schrie schon jetzt dagegen an wie ein Kesselflicker. Den Blick am Boden, immer – das konnte er nicht verlangen!

»Dann werde ich mir eine Konsequenz überlegen, die dafür sorgt, dass du es tust.«

Mit anderen Worten: Er würde mich bestrafen. Wie könnte das aussehen? Ich starrte auf meine Fußspitzen und hielt mich gerade noch rechtzeitig davon ab nachzufragen, was er sich unter Konsequenz vorstellte. Ich entschied mich, es erst einmal nicht wissen zu wollen.

»Willst du noch etwas sagen?«

In mir rangen Verzweiflung und Stolz, das Atmen fiel mir schwer, aber es lag nicht an Damontez’ Aura. Ich schüttelte mit brennenden Wangen den Kopf und kam mir unendlich gedemütigt vor. Seit wann waren überhaupt Menschen, oder speziell Mädchen, in der Obhut von Vampiren?

Bitte, er kann das doch nicht ernst meinen …

»Ein Spiegelblut erkennt man an drei Fähigkeiten«, begann Damontez jetzt, und es war wohl mein Part aufmerksam zuzuhören. Ich starrte auf eines der Fensterbilder und versuchte, das saure Gefühl in meinem Magen zu unterdrücken, das dort gärende Blasen bildete. Als er eine längere Pause machte, sah ich ihn fragend an. Er betrachtete mich eine Weile, so lange, bis ich den Fehler selbst bemerkte und meinen Blick nach unten nahm. Dabei biss ich mir so fest auf die Zunge, dass sie fast anfing zu bluten.

»Spiegelblut, Spiegelseele, Engelskind. Diese drei Namen werden synonym verwendet. Jeder davon steht für eine Fähigkeit.«

Ich spürte seinen grauenvollen Blick auf meinem Scheitel.

»Warum nennt man ein Spiegelblut auch Spiegelseele?« Es war keine Frage an mich, er setzte die Antwort sofort nach: »Weil ein Spiegelblut die verlorenen Seelen der Nefarius aus dem Heiligtum der Engel spiegeln kann. Genauer gesagt, spiegelt es die Liebe, das, was eine Seele ausmacht.«

Ich schloss die Augen, das war nicht verboten. Erinnerungsblitze an Kjell und den Sommer in Paris zuckten hinter meinen Lidern vorbei.

»Nur die Seelen der Nefarius kannst du spiegeln. Die eines Angelus ist dort, wo sie sein sollte – in seinem Körper. Aber wenn ein Angelus leidvoll tötet, wird er zu einem Nefarius.«

Ich hielt die Augen geschlossen. So war es besser, so musste ich wenigstens nicht ständig auf den Saum seiner dunklen Hose starren.

»Wird ein Nefarius getötet, stirbt dieser Vampir seelentot.« Dem letzten Wort verlieh Damontez ein unheilvolles Gewicht.

Seelentot, das hörte sich schrecklich an. Trotzdem tat ich so, als wäre es mir egal, und malte mit meinem Zeh eine Blume auf den Teppich.

»Sieh mich an!« Er klang ungeduldig, und ich gehorchte sofort. Insgeheim freute ich mich über seinen Ärger. Ich hatte ihn provoziert, ohne eine Regel zu brechen. Im nächsten Moment wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan. Seine Höhlenaugen zogen mich in einen endlosen Tunnel, bis mir plötzlich sein innerer Sturm durch die Schwärze entgegenwehte.

»Kennst du die drei Fähigkeiten eines Spiegelblutes bereits?«

»Nein.« Mein Hals war wie ausgedörrt. Bitte, hör auf, mich so anzusehen …

»Pontus hat mir berichtet, dass du etwas über Kjell wusstest, das er ansonsten hütet wie sein verwundbares Herz vor einem Diamantspeer. Das könnte ein Hinweis auf die Fähigkeit Nummer eins sein.« Er begann, mich zu umrunden. Ich kam mir umzingelt vor, bedroht von allen Seiten.

»Vielleicht«, presste ich durch die Zähne hervor, »habe ich nur richtig geraten, Intuition oder so.« Verdammt, ich wollte alles sein, nur kein Spiegelblut. Ich würde ihn täuschen, austricksen, hintergehen, um ihn davon zu überzeugen, dass ich nur ein verrückter Freak mit ein paar Visionen zu viel war. Ich konnte nicht hier bleiben und seine unmenschlichen Regeln befolgen, nur weil ich ein Mädchen in der dämlichen Obhut eines Vampirs war. Und gerade eben hatte ich ohne Aufforderung gesprochen.

»Pontus war anderer Meinung.« Er schien es mir durchgehen zu lassen. »Hast du dazu etwas zu sagen?«

»Vielleicht hat Pontus vorher ein paar Andeutungen gemacht«, behauptete ich einfallslos. Wenn ich nur gewusst hätte, was genau Pontus Damontez gesagt hatte. Pontus hatte vor Kjell für mich gelogen. Kurz zuvor hatte Kjell den Begriff Spiegelseele erwähnt. Das hatte ich mir gemerkt, da es mir so merkwürdig vorgekommen war. Daraus konnte ich schließen, dass Kjell nicht erfahren sollte, was ich war, wenn ich es war. Aber wieso?

»Halte. Mich. Nicht. Zum. Narren.« Die Worte knallten wie Rutenhiebe über meine nackten Oberarme. Er stand zu meiner Linken. Seine Lippen waren ein dünner Strich, die undurchsichtigen Augen schmal. Ich senkte den Blick freiwillig, schlang beide Arme um mich und überlegte, was er mir schlimmstenfalls antun könnte. Er hatte mich zwar völlig in der Hand, aber er konnte mich nicht töten. Er brauchte mich. Ob er mein Blut trinken würde, um mich zu bestrafen?

»Kommen wir zu der Bezeichnung Engelskind. Ein alter Name, der kaum noch geläufig ist. Engelskind deshalb, weil ein Spiegelblut mit den Sinnen der Engel verbunden ist, es ist spiegelsichtig.« Damontez war vor mir stehen geblieben, und ich schielte vorsichtig nach oben. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Kennst du den Gesang von Farben? Den Geschmack von Zorn und Kummer?« Die Schwere in seiner Stimme irritierte mich, er klang fast traurig. Ganz kurz meinte ich, silbernen Schnee zu riechen. »Weißt du, welche Düfte Wörter haben? Hast du jemals gefühlt, wie weich Freundschaft auf den Fingerspitzen kribbelt, könntest du sie berühren? Kannst du alles beseelen – siehst du es mit den Sinnen der Engel?«

»Mit den Sinnen der Engel?«, wiederholte ich betroffen, ohne seine Frage zu beantworten. Hier war ich, ich, die den Geschmack des Himmels suchte, seit ich neun Jahre alt gewesen war und Finan mir diese Frage gestellt hatte. Ich, die ich Zorn auf der Zunge geschmeckt hatte wie eine Schwertklinge, wie einen Triumph über meine Angst vor den Spiegeln; und ich, die die Nacht aus Pontus’ Blut gekostet hatte, gleich einer flüssigen Essenz aus Kakao und Maulbeere, und mich seitdem danach sehnte, mehr davon zu bekommen. Spiegelsichtig, schön, dass es ein Wort dafür gab und ich nicht verrückt wurde. Ja, ich war spiegelsichtig. Daran hatte selbst ich keine Zweifel. Doch ich antwortete nur: »Keine Ahnung, was du meinst. Warum sollte denn Zorn einen Geschmack haben?« Ich schraubte meinen Blick beharrlich am Boden fest und versuchte, ein möglichst unschuldiges Gesicht aufzusetzen.

»Die Spiegelsicht ist eine Fähigkeit, die auch manche Menschen haben können, allerdings nie in dem vollen Ausmaß wie ein Spiegelblut. Man nennt solche Menschen Synästhetiker. Die Spiegelsicht ist eine der weniger aussagekräftigen Merkmale, aber«, sagte er und umfasste mein Kinn, um meinen Blick zu heben, »sie muss vorhanden sein. Eine Spiegelseele sieht mit den Augen der Engel, sofern sie das möchte. Erst nach und nach lernt sie, die beiden Welten voneinander zu trennen.« Am liebsten hätte ich seine Hand weggeschlagen. Sein energischer Griff schmerzte an meinem Kiefer. »Ein Spiegelblut kann Farben blind erfühlen.«

»Ich bin dann wohl keins«, murmelte ich und zog krampfhaft meine Schultern zusammen. Ich wich ihm aus, er hatte nicht verlangt, dass ich ihn ansehen musste. Mein Blick fiel auf eines der Glasmosaike auf der linken Seite. Das Gemälde zeigte einen majestätischen Engel mit gewaltigen, weißgoldenen Flügeln. Sein Antlitz war despotisch, nicht sanft; sein flammendes Silberschwert blitzte im Glanz eines Himmelsstrahls und durchtrennte etwas sehr Filigranes, das aussah wie Blattgold. Zu seinen Füßen kniete ein weinendes Mädchen. Ihr Gesichtsausdruck war verstört und unter ihr glänzte das Mosaik rot, rot wie Blut. Das Schlimmste war jedoch das blanke Entsetzen in ihren Augen über das, was geschehen war. Was war geschehen? Das Bild war wichtig, ich wusste nicht, wieso ich das dachte, vielleicht weil Damontez mich so lange gewähren ließ. Irgendwann merkte ich, dass auch er in das Kunstwerk versunken zu sein schien. Auf eine düstere, morbide Art war es wunderschön. Es erzählte von Schuld und Sühne.

»Möchtest du mir etwas sagen?« Er gab mich frei.

»Ich bin kein Spiegelblut«, brachte ich nur hervor. Aber es hörte sich nicht wie eine Feststellung an, sondern wie eine verzweifelte Bitte.

»Ich bekomme es heraus, Coco-Marie.« Sein Blick signalisierte mir seine absolute Bereitschaft dazu. Er sagte: Ich werde suchen, mit allen Mitteln, und was immer du versteckst, ich werde es finden.

Er schenkte mir nichts, kein freundschaftliches Wort, kein Lächeln, keine Wärme. Außerdem hatte er meinen vollen Vornamen benutzt, den ich hasste und geheim hielt, seit ich denken konnte. Ich wollte gar nicht wissen, wie er ihn herausbekommen hatte. Mir genügte allein die Tatsache, dass! Damit demonstrierte er mir, wie viel er in der kurzen Zeit, die ich bei ihm war, schon über mich wusste. Vielleicht hatte er ja sogar mit Eloi gesprochen. Diesmal zwang ich mich, seinen Blick zu erwidern: Das werden wir ja sehen!, signalisierte ich ihm mit einem Zorn, der in meinem Mund hätte funkeln müssen.

Er runzelte ärgerlich die Stirn, bevor er fortfuhr: »Die dritte und geläufigste Bezeichnung ist Spiegelblut.«

Ich zog die Augenbrauen hoch und konnte mich nicht zurückhalten: »Ist ja kaum zu glauben.« Eins-zwei-drei-vier … die Luft um mich herum funkte, als stünde sie unter Hochspannung. Mein Lachen war ein Reflex, die Hände vor dem Gesicht eine Angewohnheit aus meinem alten Leben. Angst flutete durch meine Adern und in meiner Mitte entfaltete sich ein gleißendes Origami zu einem silberglatten Transparent, das mich innerlich blendete wie Sonnenlicht. Das Flüstern begriff ich nur mit meinem Gefühl:

Lebst du immer noch von Einsamkeit zerfressen auf deinem Schloss? Sie sagen, kein Laut, kein Lachen dringt nach außen. Schützt du unsere Seele noch, wie mein Vater es verlangte? Wer ist SIE?

Keuchend hielt ich mir die Hände vor die Augen, im irrsinnigen Glauben, die Helligkeit könnte aus mir herausdringen und mich verraten. Ich stolperte rückwärts und stieß an eine der Stuhlreihen, die links und rechts des Mittelgangs aufgestellt waren. Mit dem Hintern zuerst landete ich auf dem Boden, das Transparent zog sich zusammen wie eine Ziehharmonika aus Glanzpapier. Spiegelseele, flüsterte eine Stimme in mir. Die erste Fähigkeit.

Spiegelblut
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