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Die schreienden Sterne

»... Also rief Kernios den Schatten des Waisenknaben zu sich und sagte, wenn jemand im düsteren Kerniou um ihn weine, dürfe er gehen ... Zoria gab ihm Hände aus Eichenholz, damit er auf seiner Flöte spielen konnte.«

Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder

Schau, was sie gemacht haben.

Barrick regte sich, versuchte die Augen aufzumachen, aber es fruchtete nichts. Das tiefschwarze Dunkel war einfach. Ich kann nichts sehen!

Du musst mit den Augen der Feuerblume schauen. Ynnirs Stimme. Ich fürchte, dies ist das letzte Mal, dass ich mit dir sprechen kann — es wird immer schwerer ...

Barrick bewegte sich auf etwas zu — kein Licht, aber ein Weniger-Dunkel, eine Gestalt, die sich selbst zu erschaffen schien, indem sie sich dem Dunkel widersetzte. Sie stand ruhig vor ihm, das Geweih ein Dickicht, das kein Ende zu haben schien.

Sterbe ich jetzt auch?

Noch nicht. Der mächtige Hirsch senkte kurz den Kopf, wie um zu äsen. Aber niemand — nicht mal die Götter, wie es scheint — dauert über das Buch hinaus. Und das hier wird eine der seltsamsten Seiten ... Plötzlich hob das Tier den Kopf, als hätte es etwas gehört. Komm. Folge mir Schau, was sie gemacht haben!

Der Hirsch sprang davon, und wenn Barrick auch von dem Grund, über den das Tier lief, nichts erkennen konnte, klang es doch, als wäre da unter seinen Hufen realer Boden aus Gras, Blättern und Zweigen. Barrick rannte hinterher.

Was wer gemacht hat?, rief er.

Die Kurzlebigen. Deinesgleichen — große und kleine. Siehst du? Schau, wie sie einen Weg durchs Dunkel gefunden haben!

Sie rannten jetzt beide durch eine schwarze Leere, durchloht von Feuerströmen. Die Flammenausbrüche erfolgten einer nach dem anderen, mächtige Eruptionen schierer Energie, die sich gleißend dahinwälzten und zu Hitze zergischteten, bis die Erde selbst bebte und barst.

Was ist das, Herr?

Die Sterblichen haben Feuer entfesselt, um einen Feuergott zu bekämpfen, sagte Ynnir, während sie zusahen, wie der Feuersturm anschwoll und sich ausbreitete, wie das Gestein zersprang und einstürzte. Krummlings Feuer nennt es sich. Siehst du? Die Macht des Feuers ist die Macht der alles verwüstenden Zeit selbst, aber hier ist die Verwüstungskraft der feurigen Zeit zu einem einzigen Punkt verdichtet, zu einem Moment der Zerstörung, den wir jetzt in seiner ganzen Großartigkeit sehen. Schau! Aus nichts als pulverisierter Erde haben die Sterblichen Flammen gemacht und den Erdgrund aufgebrochen.

Aber warum? Wollen sie den Trickster und sein Feuer ersticken?

O nein. Sie haben Größeres vor. Sie haben das Feuer erweckt, um den Erdgrund zu zertrümmern, und wenn der Erdgrund zerfällt — da, schau!

Und als der Stein des Midlanfels barst und zusammenstürzte, als die Serie der Flammeneruptionen Wand um Wand der Funderlingsmysterien zum Einsturz brachte — da brach schließlich das Meer herein.

Der Wasserherr mag ja schlafen, aber er ist immer noch mächtig!, rief Ynnir. Was vermag das Feuer des Trickstergottes zu vernichten? Das Wasser Menschenkind — das tiefe, kalte Wasser des gewaltigen Ozeans!

Der gigantische lodernde Gott war kaum in dem Felskamin verschwunden, als aus der riesigen Öffnung in der Kavernendecke ein gewaltiges Donnergetöse erscholl. Im ersten Moment dachte Vansen, es wäre wieder das Wut- und Triumphgebrüll des Gottes, noch verstärkt durch den Hall des senkrechten Schachts, doch zugleich bebte die Erde, und um ihn herum gerieten die rundgeschliffenen Steine des Inselufers ins Rutschen und Rollen.

Vansen stemmte sich auf Hände und Knie empor und kam dann mühsam in den Stand. Jetzt regnete es Steine von den Höhlenwänden, zuerst nur kieselgroße, dann jedoch Brocken, so groß wie sein Kopf, und gleich darauf noch mächtigere. Ein Felsstück von der Größe eines Trosswagens krachte ins Meer der Tiefe, und eine silberne Fontäne, so hoch wie die äußere Burgmauer, spritzte empor.

Irgendwo müssen uns die Götter auslachen, dachte Vansen. Zosim der Trickster steigt an die Oberfläche, während wir Menschen, hilflos hier unten gefangen, von herabstürzenden Steinen erschlagen werden.

Das Donnergrollen wurde noch lauter. Die Erde bebte noch heftiger. Vansen kam ins Taumeln, als die Insel unter ihm schwankte wie eine Hängebrücke, doch schließlich erreichte er Prinz Barrick. Er hoffte, dass das Erdbeben bald aufhören würde, aber es ging immer weiter, allenfalls noch heftiger — es war, als stünde er auf dem Fell einer Trommel, die jemand schlug. Gleichzeitig wurde die Luft um ihn herum immer dicker und schwerer; sie drückte ihm auf die Augen und machte ihm Ohrensausen.

»Hoheit! Barrick! Ich habe nicht ... die Kraft ... Euch zu tragen ...! Wacht auf!«

Vansen schleifte den Prinzen ein paar Schritte in Richtung Boot, aber er konnte sich kaum auf den Beinen halten, und seine Arme waren taub. Er fühlte, wie Barrick sich unter seinen Händen leise regte.

»Was ...?«

»Es bricht alles zusammen, Hoheit — die ganze Kaverne stürzt ein. Wenn wir es in einen der Gänge schaffen ...«

Barrick riss sich aus Vansens Griff los. »Nein!« Er wälzte sich auf den Bauch und kroch dann los, so schwerfällig wie eine Schildkröte. »Nein, das ... das Boot. Wir müssen ... ins Boot.«

»Hoheit, das ist doch Wahnsinn«, rief Vansen. »Es kann uns niemals schützen — manche Steinbrocken sind hausgroß!«

»Vansen, ich ... gebiete Euch nicht als Prinz, ich ... bitte Euch als Freund. Ins Boot!«

Barrick kletterte mit letzter Kraft über die Schilfbündelwand ins Boot, lag dann zwischen König Olin und dem schwarzhaarigen Mädchen, so bleich und still, als ob sein Herz stehengeblieben wäre. Vansen krabbelte neben ihn.

»Was auch passiert, haltet sie fest«, sagte Barrick, die Augen geschlossen und so totenblass wie sein ermordeter Bruder in jener Nacht. »Haltet meinen Vater fest und lasst ihn nicht los. Er hat es verdient ... nach Hause zu kommen ...«

Und dann ergoss sich der erste mächtige Schwall Meerwasser in die Letzte Stunde des Ahnherrn hinab. Der Schwall wurde zur Sturzflut, einer einzigen jadegrünen Wassersäule, als ob das gesamte Iridische Meer aus einem Rieseneimer auf sie herabgekippt würde. Als die Wand von Grün auf sie zukam, hatte Vansen für einen Moment die bizarre Vision von einem darin gefangenen Jüngling, der wie geschmolzenes Silber glomm und leuchtete, während ihn die Macht des Wassers beutelte. Vansen grub eine Hand so tief wie möglich zwischen die Schilfbündel des Boots und schlang dann den anderen Arm um König Olins leblosen Körper.

Die rasende Welle brach über sie herein und verwandelte die Welt in lautlose Jade. Blasen schwebten vor Ferras Vansens blinzelnden Augen, leuchtend wie vom Firmament gefallene Sterne. Das Schilfboot schnellte an die Oberfläche empor, und kurz konnte er Luft in seine Lunge saugen, doch das Gefährt wurde vom tosenden Wasser umhergeworfen wie ein Holzspan. Vansen konnte nicht einmal den Kopf heben, um sich umzuschauen — er konnte überhaupt nichts anderes tun, als Olin festzuhalten und sich am Boot festzuklammern, vor Schmerz brüllend, weil ihm die gewaltigen Kräfte die Arme auszukugeln drohten. Wieder krachten sie gegen Stein, und das kleine Boot legte sich auf die Seite, wurde dann von dem dahinrasenden Grün ausgespien, gedreht, emporgehoben und erneut umhergeworfen. Abermals schlugen sie gegen eine Wand. Vansen meinte Barrick rufen und prusten zu hören. Wieder begrub sie das Grün, sie wurden herumgewirbelt wie ein Blatt in einem mächtigen Strudel. Tief drunten glomm und schwelte etwas noch immer, doch unter der Last von so viel Wasser erstarben selbst die Flammen des Gottes.

Aufwärts und hinaus. Überschlag — er klammerte sich fest, ohne zu wissen, in welche Richtung er fiel. Wieder hinab, wieder empor und ausgespuckt. Wasser beutelte ihn wie ein Hund eine Ratte. Vansen schloss die Augen und hielt fest.

Briony versuchte gerade wieder aufzustehen, als der erste mächtige Schauder durch den Stein unter ihren Füßen lief und sie mit solcher Wucht wieder umwarf, dass sie fast über die Wegkante rollte. Ein Grollen wie von einem schrecklichen Sagenungeheuer stieg aus der Tiefe empor; selbst die Elementargeister kippten vor Überraschung in der Luft seitwärts ab.

Das Grollen aus der Tiefe war jetzt ein immer weiter anschwellender Donner. Ein heulender Windstoß fuhr den mächtigen Kamin hinauf, und der heiße Luftschwall wehte Briony von der Wegkante weg und blies die Elementargeister auseinander wie fliegende Lumpen. Die Kreatur mit dem glimmenden Stein, die, die sich Kessel des Schattens nannte, schwebte, gerade außer Brionys Reichweite, über dem Abgrund; jeden Moment würde sie das Fieberei zertrümmern, um das Fiebergift freizusetzen.

»Nein!«, rief Briony, während der Erdgrund unter ihren Händen und Knien bebte und die Schattenkreatur das gespenstische Ding hob.

Eine Gestalt stürzte vorwärts und reckte sich von der Wegkante nach dem Elementargeist. Im letzten Moment, ehe sie ins dunkle Nichts fiel, bekam sie das schwebende Etwas zu fassen, hielt fest und rang mit dem substanzlosen Schwarz, als wäre Kessel des Schattens eine Riesenfledermaus. Es war Kayyin, und einen Moment lang sah es so aus, als würde sein Gewicht die Kreatur mit hinabreißen, aber das schwarze Etwas war zu stark — es hob Kayyin empor, bis seine Füße über dem Nichts baumelten. Plötzlich stürzte eine zweite Gestalt an Briony vorbei — das Mädchen Willow. Mit einem Schrei wie von einem verängstigten Kind sprang sie nach Kayyins Beinen, bekam sie zu fassen und klammerte sich daran fest. Kessel des Schattens war überrascht. Entsetzt sah Briony alle drei einen Moment schwanken und dann samt dem Fieberei ins Dunkel stürzen. Die anderen beiden Elementargeister schwebten über den Abgrund hinaus, wie um nachzusehen, was ihrer Gefährtin widerfahren war, und verschwanden dann so plötzlich, als wären sie nie da gewesen.

Zitternd krabbelte Briony an die Wegkante, spähte ins Dunkel hinab und fragte sich, ob sie es merken würde, wenn das Gift kam — war es wie Rauch, wie Tempelweihrauch?

Etwas drang den Kamin empor, etwas Gewaltiges. Der Luftschwall, den es vor sich hertrieb, presste Briony das Haar an den Kopf, aber sehen konnte sie nur eine brodelnde Fläche, die im Dunkel näher kam.

Wasser. Das riesige Loch füllte sich mit Wasser, das schnell stieg. Kayyin und das Mädchen und selbst das Fieberei waren darin verschwunden, und in wenigen Augenblicken würde die brodelnde Flut auch Chert und sie verschlingen, und sie würden darin treiben, bis ihre Knochen auf den Grund sänken. Briony kroch zu der Stelle an der Felswand zurück, wo der kleine Mann noch immer darum rang, auf die Beine zu kommen. Sie setzte sich neben ihn, um auf das Ende zu warten; sie wollte beten, wusste aber nicht, zu wem. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde das Tosen leiser; das Wasser stieg immer noch, aber offenbar nicht mehr so schnell. Briony kroch wieder an die Wegkante, hielt die Fackel hinaus und sah zu, wie das schäumende Wasser stieg, wie es Ebene um Ebene schluckte, bis es schließlich zu ihrer Verblüffung nur ein paar Dutzend Fuß unter ihr zum Stillstand kam.

»Wasser«, sagte sie und versuchte noch immer zu verstehen, was sie da sah.

Chert war neben sie gekrochen. »Felsriss und Firstenbruch«, sagte er. »Wir haben es geschafft. O Ahnen, wir haben es geschafft ...«

»Und dieses Fieberei ist ins Wasser gefallen und nicht zerbrochen«, sagte sie langsam. »Es sinkt jetzt auf den Grund.«

»Seid Ihr sicher?«, fragte Chert und spähte ins Dunkel hinab, als könnte er es dort schwimmen sehen. »Woher wollt Ihr das wissen?« »Wenn es zerbrochen wäre, wären wir jetzt ja wohl tot.«

Aber Chert war plötzlich abgelenkt. »Prinzessin? Seht Ihr sie?«

»Was? Wen?«

»Da unten.« Doch da, wo er hinzeigte, sah Briony gar nichts — es war zu weit weg und zu dunkel. »Keiner von ihnen rührt sich, aber es sind vier, die in einem Boot liegen.«

»Wovon sprecht Ihr?« Sie konnte in dieser Düsternis nicht so gut sehen wie ein Funderling, und ein Boot vermochte sie nicht zu entdecken, doch als sie hinabstarrte, war da in der Tiefe des Wassers ein grünes Glimmen; es wurde größer — stieg empor. Kurz sah sie wie im Traum etwas ganz und gar Unmögliches — eine riesige, glühende, menschenförmige Gestalt, die sich durch endlose Massen brodelnden Wassers emporkämpfte. Dann wurde die Gestalt langsamer. Das Leuchten ließ nach, erstarb fast ganz, und die gigantische menschenförmige Gestalt zerfiel in trüb flackernde Stücke. Im nächsten Moment war das Wasser wieder vollkommen dunkel. Es war ein Traum gewesen, eine Vision, weiter nichts. Briony schüttelte verwirrt den Kopf »Seht Ihr das Boot immer noch? Sind da wirklich Leute drin?«

»Ja. Wenn ich mit meinem Seil zu ihnen hinunterkomme, können sie vielleicht ein paar von Euren Fragen beantworten. Wenn sie noch leben natürlich.«

»Das halte ich für unwahrscheinlich.« Briony starrte auf das Boot hinab, das sie nicht sehen konnte. Was war da los? Und vor allem, was war dort unten in der Tiefe geschehen? Mit ihrem Vater und ihrem Bruder? Mit dem Autarchen? Das Wasser brodelte immer noch; Wellen schlugen gegen die Wände des riesigen Lochs. Wie konnte das jemand überlebt haben? »Barmherzige Zoria, ist außer uns noch jemand am Leben?«

Doch Chert war schon auf der Suche nach etwas, woran er sein Kletterseil befestigen konnte.

Chert sah außergewöhnlich düster drein, als er wieder heraufkam, nachdem er einem der Überlebenden ein Seil umgebunden hatte, und er wollte keine von Brionys Fragen beantworten, während sie die erste Person aus dem Boot heraufzogen, ein schlankes junges Mädchen mit der dunklen Haut und dem dunklen Haar einer Südländerin; sie war kalt und leblos. Als sie sie gerade losgebunden hatten, kamen die ersten Syanesen den Pfad herab. Eneas habe sie geschickt, erklärten sie Briony, und der Prinz sei nicht weit hinter ihnen. Mit ihrer Hilfe hatten sie die zweite Person schneller geborgen, und noch ehe sie sie losbanden, war Briony klar, dass sie den Leichnam ihres Vaters vor sich sah.

Während sie weinend auf Olins kalter Brust lag, zogen die Soldaten die letzten beiden Personen aus dem Boot empor. Ihr Bruder Barrick wurde neben ihren Vater gelegt; dann, während sie mit wachsendem Entsetzen auf sein bleiches, regloses Gesicht hinabblickte, wurde der letzte Bootsinsasse geborgen. Er kämpfte sich selbst aus den Seilschlingen, kam mit wackligen Schritten auf sie zu und fiel dann auf die Knie, schwankend wie ein von Äxten gekerbter Baum, kurz bevor er fiel.

»Auf Euer Geheiß, Prinzessin, bringe ich Euch Euren Bruder zurück. Ich glaube ... ich glaube, er lebt noch ...«

Ferras Vansen verdrehte die Augen und kippte ihr ohnmächtig vor die Füße.