38

Besuch aus dem Totenreich

»Als der Waisenknabe beim Hause des Aristas anlangte, hatte das Sonnenstück seine Hände zu Asche verbrannt. Er gab das Sonnenstück seinem Freund und sank tot vor dessen Füße.«

Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder

Es ging alles erstaunlich schnell.

Briony, der Tempelhund und der syanesische Ritter Stephanas schlichen über den hügeligen Friedhof, nur im Licht des zunehmenden Mondes, der gerade so hell schien, dass Briony den schwächeren Lichtschein, der aus dem Eingang zur Eddon-Gruft fiel, gar nicht bemerkte, bis sie schon fast darin standen.

Angst und Wut packten sie. Was hatte Hendon in ihrer Familiengruft zu suchen?

Als sie gerade die Syanesen mit einem Handzeichen stehenbleiben hieß, stolperten zwei Soldaten in dunklen Umhängen, offenbar in einer Art Ringkampf begriffen, die Grufttreppe herauf

»Die Toten ...!«, keuchte der eine; er konnte vor Angst kaum sprechen. »Er will sie zurückholen ...!« Schließlich konnte sich der panische Soldat von dem anderen losreißen, der ihn wohl hatte aufhalten wollen. Er rannte über den Friedhof und verschwand im Dunkeln. Der andere Soldat starrte ihm mit geweiteten Augen nach, musste dann aber etwas anderes gehört haben. Er senkte seinen Speer und näherte sich zaghaft der Stelle, wo Briony und Eneas' Soldaten hinter einer Steingruft kauerten.

»Wer da?« Seine Stimme zitterte. »Heraus, im Namen des Reichshüters!«

Einer von Tollys Männern also. Briony nickte dem Soldaten mit dem Bogen zu. Noch im Aufstehen schoss er den Pfeil ab. Hendon Tollys Wachposten blickte verdutzt auf den schlanken Holzschaft, der zitternd in seinem Bauch steckte, klappte dann zusammen und fiel lautlos um.

Briony führte Stephanas und den anderen Syanesen die Stufen hinab. Zu ihrer Überraschung war die vordere Gruftkammer, wo ihr Großvater, ihre Mutter und ihr Bruder ruhten, leer; nur die Särge dieser und anderer Eddons jüngerer Zeiten standen an ihren Plätzen. Aus der inneren Gruftkammer aber drangen Stimmen — erstaunlich laute Stimmen. Sie sah Stephanas und den Soldaten an und legte sich den Zeigefinger an die Lippen.

»Das Kind«, flüsterte sie. »Denkt daran: Es gilt um jeden Preis das Kind zu retten.«

Leise passierten sie den Durchgang zwischen den Gruftkammern. Als sie mit gezückten Waffen ins Licht der Innengruft traten, erkannte Briony mehrere Gestalten: Die erschreckendste war ein Mann mit einem langen Messer, der gerade im Begriff schien, den kleinen Prinzen auf einem improvisierten Altar zu töten, doch noch ehe sie ein Wort sagen konnte, schoss der syanesische Bogenschütze dem Mann mit dem Messer einen Pfeil in die Brust. Der Mann drehte sich erstaunt um sich selbst und sackte dann zu Boden, während sein Langdolch klirrend über den Steinboden hüpfte.

Hendon Tolly reagierte fast so schnell wie der Bogenschütze. Noch ehe der Mann mit dem Messer auf dem Steinboden der Krypta aufschlug, hatte Tolly das schwere Buch, das er in der Hand hielt, auf den Bogenschützen geschleudert und ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. Hendons Schwert fuhr zischend aus der Scheide. Auch Briony zog ihr Schwert, aber Hendon hatte nicht vor, sich dem Zweikampf mit einem bewaffneten Gegner zu stellen. Seine schlanke Klinge schnellte vor wie die Zunge einer silbernen Schlange und hing, fast ohne zu zittern, über dem kleinen Alessandros, der jetzt weinte, ein seltsam alltägliches Geräusch an einem so unheimlichen Ort.

»Oho!«, sagte Tolly, dessen geweitete Augen im Licht der Wandfackeln glänzten. Er trat noch näher an den kleinen Prinzen heran, die Klinge nur wenige Zoll vor den Augen des Säuglings. »Welch interessanter Abend das doch geworden ist!«

»Hört nicht auf irgendwelches Gerede«, hatte Shaso Briony immer eingeschärft, meist dann, wenn er sie gerade auf diese Weise dazu gebracht hatte, ihre Deckung zu vernachlässigen. »Das ist entweder Dummheit Eures Gegners oder ein Ablenkungsmanöver. Konzentriert Euch auf das, was Ihr tut.« Briony versuchte sich daran zu halten, obwohl sich beim Anblick dieser grinsenden Fratze ihre Hand so fest um den Schwertgriff schloss, dass es wehtat.

Briony war noch nie in der sechseckigen inneren Gruftkammer mit den engen Sargnischen und dunklen Ecken gewesen — einem Gelass, das jetzt, selbst wenn man von den alten Särgen absah, brechend voll wirkte. Außer ihr und den beiden Syanesen standen da noch Hendon, einer seiner Wachsoldaten und eine dunkelhaarige Frau, offenbar eine Geisel. Bei genauerem Hinsehen erkannte Briony die Gronefelder Edelfrau Elan M'Cory, die Gailon Tollys Tod so tief getroffen hatte. Tollys zweiter Lakai, der Mann mit dem Dolch, lag bäuchlings in einer kleinen Blutlache. Aber Hendons Schwert über der Kehle des kleinen Prinzen übertrumpfte jeden zahlenmäßigen Vorteil, den Briony besitzen mochte.

Und das war Hendon offensichtlich klar. »Zurück, Briony, oder ich töte das Kind. Ihr bekommt mich nicht, ohne Klein-Alessandros zu verlieren. Ich nehme Euren Bruder gern mit, wenn ich gehe«, sagte er lachend.

»Ist denn gar kein Anstand in Euch?«

Er schüttelte den Kopf »Diese Konversation ist sinnlos. Ihr würdet mich nie verstehen, und wenn Ihr so lange lebtet wie die Zwielichtler. Geht langsam rückwärts aus der Gruft. Lasst mich die Tür verriegeln, wie ich es von Anfang an hätte tun sollen, dann könnt Ihr tun, was Euch beliebt.« Wieder lachte er auf »Meinetwegen holt Euch einen Rammbock!«

»Nein. Nie und nimmer. Ich lasse das Kind nicht hier bei Euch.«

»Ich dachte mir schon, dass Ihr stur bleibt. Typisch für euch selbstgefällige Eddons!« Hendon nickte langsam und sah zu ihren Soldaten hinüber. »Wie ich sehe, habt Ihr die Syanesen mitgebracht.« Tolly hob spöttisch eine Augenbraue. »Was natürlich heißt, Ihr habt Euch an Jung-Eneas verkauft.« Er quittierte ihren Gesichtsausdruck mit erstaunt aufgerissenen Augen. »Ach nein? Wirklich nicht? Nun, dann vielleicht an den alten Mann selbst. Ist es das? Hat Olins Tochter sich dem tattrigen König von Syan hingegeben, um ihr Volk zu retten? Wie edelmütig!«

Sie musste ihre gesamte Kraft aufbieten, um Hendons Provokationen zu ignorieren. Außerdem verursachte ihr das Geschrei des kleinen Alessandros allmählich Kopfschmerzen. »Stephanas«, sagte sie schließlich, »schickt Euren Mann zu Prinz Eneas, er soll ihm sagen, wir halten Hendon Tolly in meiner Familiengruft fest.«

»Nein!«, rief Hendon Tolly warnend. »Wenn er auch nur einen einzigen Schritt in Richtung Vorkammer macht, steche ich diesem Kind ein Auge aus. Dann taugt der kleine Prinz immer noch für meine Zwecke, aber er wird umso lauter schreien.«

»Hund! Ist das Euer Begriff von Ehre? Ein Kind zu bedrohen?«

Hendon Tolly lachte, ein so schallendes Lachen, dass es nur echt sein konnte. »Ehre? Was für ein kindischer Unsinn! Glaubt Ihr wirklich, solche Dinge kümmern mich?«

»Götter! Ihr seid Abschaum, Tolly. Und selbst wenn Ihr mich zwingt, stundenlang hierzubleiben — irgendwann wird Eneas mich suchen. Hier kommt Ihr nicht hinaus.«

Das schien Hendon zu amüsieren. »Ach, wirklich? Tja, schade.«

Briony wollte seine Selbstsicherheit erschüttern, ihn irgendwie von dem Kind weglocken. »Ja, Euer Kopf liegt praktisch schon auf dem Richtblock — und danach wird sich der Scharfrichter Eure verräterische Familie vornehmen. Ich werde den Palast von Gronefeld eigenhändig einreißen und Euren Bruder und Eure Mutter ans Tageslicht zerren wie das kriechende Ungeziefer, das sie sind ...«

Tolly nickte. »Wenn Ihr das tut, werdet Ihr unsere Mutter wohl noch dort finden, aber was meinen Bruder Caradon betrifft — das ist eine komische Geschichte.« Er lachte. »Anscheinend ist er in letzter Zeit ein bisschen kopflos ...«

»Beim Trigon, Hoheit!«, rief Stephanas aus. »Vergeudet keine Worte mehr auf diesen Feigling. Wir sind in der Überzahl!«

»Nein, Stephanas ...«, setzte Briony an.

»Sie hat recht, junger Mann«, sagte Tolly grinsend. »Ihr mögt zwar überlegen scheinen, aber ihr seid nur zwei Männer und eine Frau — noch dazu zwei Syanesen. Noch nie waren ein paar verweichlichte Butterfresser in der Lage, einen Markenländer zu schlagen ...!«

»Maulheld!« Zu Brionys Entsetzen sprang Stephanas auf Tolly zu und hieb mit dem Schwert nach dessen Klinge, um sie von dem hilflosen Kind wegzuschlagen, doch Tolly tat nur einen Schritt zur Seite, und seine schmale Klinge schnellte empor. Stephanas stolperte, richtete sich wieder auf und machte noch zwei stockende Schritte, wodurch er Briony die Sicht auf Hendon Tolly verstellte. Stephanas ließ sein Schwert fallen, seine Knie knickten weg, und er sackte zu Boden. Aus seiner einen Augenhöhle strömte Blut. Sofort wandte Hendon sich wieder dem Säugling zu ... aber der Behelfsaltar war leer.

»Was...?« Er sah Briony und stutzte. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, das diesmal jedoch wenig überzeugend geriet. »Guter Trick, Mädchen. Ihr Eddons seid verdammt hartnäckig, das muss man euch zugestehen. Und jetzt lasst den Blödsinn und gebt mir das Kind!«

Alessandros war erstaunlich schwer und schrie und strampelte obendrein. Briony erhob ihr Schwert und bewegte sich langsam so im Bogen, dass sie nicht nur zwischen Tolly und der Tür zu stehen kam, sondern auch zwischen ihm und dem zweiten Syanesen, der mit großen, schockierten Augen Stephanas' letzte Atemzüge verfolgte.

»Nehmt das Kind«, befahl sie dem jungen Soldaten. »Schnell!«

»Nein!« Hendon machte einen Schritt auf Briony zu, aber sie trat einen Schritt zurück und erhielt den Abstand aufrecht. »Nehmt das Kind, verflucht!«, fauchte sie den Tempelhund an. »Nehmt es und lauft zum Palast. Das ist der Sohn des Königs! Bringt ihn in Sicherheit!«

Der Soldat streckte die Hände aus, starrte aber Tolly an wie ein Kaninchen die Schlange. Briony drückte ihm Alessandros in die Arme und seufzte förmlich auf, als der junge Soldat das Kind endlich hatte. »Lauft, sagte ich — los!«

Hendon schien etwas sagen zu wollen, führte dann aber plötzlich einen heimtückischen Stoß — und wenn Briony ihre Klinge nicht schon so gehalten hätte, dass sie mit einer Bewegung aus dem Handgelenk Tollys Attacke parieren konnte, hätte er sie durchbohrt. Wieder und wieder stieß er zu, so schnell, dass sie nur zurückweichen, zwischen Tolly und der Tür bleiben und sich durch unablässiges Parieren schützen konnte.

»Lauft!«, schrie sie.

Endlich reagierte der Syanese. Im Nu war Brionys letzter Soldat mit dem Kind aus der inneren Gruftkammer verschwunden. Erst als Briony seine Schritte auf der Ausgangstreppe hörte, atmete sie auf. »Das Kind ist jetzt vor Euch sicher, Hendon.«

»Miststück.« Jetzt grinste Tolly nicht mehr. »Dafür werdet Ihr einen langsamen Tod sterben. Und letztlich taugt Euer Blut genauso gut für mein Opfer wie seins ...« Er wandte sich an seinen Wachsoldaten, der immer noch Elan M'Cory festhielt. »Lasst die Hure da los. Helft mir mit diesem Mannweib von Prinzessin.«

Ein wenig zu viel Nachdruck in seiner Stimme warnte sie. Briony wandte den Blick gerade noch rechtzeitig von Elan und dem Soldaten, um Tollys nächstem Überraschungsangriff entgehen zu können.

Er trieb sie rasch zurück, ließ sie aber nicht zum Ausgang der inneren Gruftkammer gelangen, sondern drängte sie auf seinen Wachsoldaten zu. Noch während ihr die Gefahr bewusst wurde, hörte sie einen verblüfften Schrei. Sie riskierte einen kurzen Blick und sah, dass Elan M'Cory dem Soldaten auf den Rücken gesprungen war und ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzte. Der Soldat schrie und fluchte, während er sie abzuschütteln versuchte.

Die Ablenkung gab Briony die Möglichkeit, an dem Soldaten und Elan M'Cory vorbei bis an die Wand der sechseckigen Gruftkammer zurückzuweichen, wobei sie gleichzeitig versuchte, Hendon jenseits des in der Raummitte postierten Bleisargs zu halten. Briony erkannte, dass er sie in eine ausweglose Position manövriert hatte und Elan M'Cory rasch von dem Soldaten im tollyschen Eber-und-Speer-Wappenrock überwältigt werden würde. Dann wären sie zwei gegen eine. Sie machte eine Doppelfinte und führte dann einen schwungvollen Hieb nach Hendons Kopf, dem er mühelos auswich, aber sie hatte aufgepasst, dass sein nächster Stoß nicht ihren ungedeckten Leib traf. Als Hendon einen Schritt zurück machte, um neu anzusetzen, zog Briony mit einer überraschenden Drehung dem tollyschen Wachsoldaten die Klinge quer durchs Gesicht. Der Mann ließ sein Schwert fallen und griff sich an die blutende Mund- und Wangenpartie, während sie ihren langen Yisti-Dolch aus dem Gürtel riss und ihm die schmale Klinge durchs Kettenhemd tief in den Leib trieb.

Der Mann strauchelte, gab gurgelnde Geräusche von sich und fiel dann auf den Bleisarg.

»Da habt Ihr Euer Blutopfer oder was auch immer das werden sollte, Hendon«, sagte sie, während sie, den Leichnam zwischen sich und ihm, wieder zu Atem zu kommen suchte. »Jetzt wird es mir ein Vergnügen sein, Euch diesem Mann zu Kernios hinterherzuschicken.«

Tollys Kiefermuskeln waren angespannt. »Ihr habt einiges gelernt.«

Er vollführte eine Finte, dann einen Stoß und sofort einen zweiten, der als der eigentliche Treffer gedacht war und es beinah auch geworden wäre. Sie war bereits müde, während Hendon noch nicht einmal schwerer atmete. Er war nicht groß, aber sehr kräftig, mit Muskeln wie geflochtene Peitschenschnüre. »Hat Euch das Shaso beigebracht, oder war es Euer neuer Liebhaber Eneas?«, fragte er. »Ich habe Shaso töten lassen, nur damit Ihr's wisst. Auf meinen Befehl wurde dieses Nest von schwarzen Verrätern in Landers Port niedergebrannt. Ein Jammer, dass Ihr nicht mit den anderen Vögeln in jenem Ofen gebraten wurdet ...«

Nicht hinhören, ermahnte sie sich, obwohl ihr vor Wut fast die Tränen kamen. Hör nicht hin. Sie wich einem weiteren Stoß aus und lenkte gleich darauf einen zweiten mit ihrer Klinge ab, fühlte aber Tollys Klingenspitze durch ihren Wappenrock dringen und sogar kurz über ihren Hals kratzen, als sie sich wegdrehte. Ihre Kräfte ließen merklich nach; sie kam aus dem Gleichgewicht und fiel fast hin. Hendon erkannte seinen Vorteil, setzte ihr nach und hämmerte auf sie ein wie ein Schmied auf den Amboss, und Briony konnte nur noch versuchen, ihre Klinge zwischen Hendons Schwert und ihrem Fleisch zu halten.

Aber ich kann nicht mehr. Er ist schneller als ich ... stärker als ich ... und er war schon immer ...

Plötzlich schrie Elan M'Cory auf, ein Schrei nackten Entsetzens, so echt, dass selbst Hendon Tolly von Briony abließ, um hinzuschauen. Eine dunkle Gestalt blockierte den Durchgang zwischen den Gruftkammern und tat jetzt einen wankenden Schritt in die innere Kammer.

Zuerst dachte Briony, einer der Toten aus dem Familiengrab wäre auferstanden und stünde nun schwankend am Rand des Dunkels, in seinem dreckigen, zerschlissenen Totengewand, den Totenschädel tief unter der Kapuze verborgen. Das Etwas streckte Hände nach ihr aus, die im flackernden Fackelschein wie in Leichentücher gewickelte Klauen aussahen.

Es sprach, aber seine Stimme war ein beinah unhörbares, heiseres Krächzen. Brionys Nackenhaare sträubten sich, und ihr ohnehin schon rasendes Herz drohte ihr aus der Brust zu bersten.

»B-B-Brüder, bewahrt uns!«, sagte Briony.

Die Erscheinung versuchte erneut zu sprechen, und diesmal waren wenigstens Worte hörbar — geröchelte Wortfetzen, die zu hören fast so schmerzhaft war, wie es ihre Hervorbringung zweifellos sein musste. »Briony ...!«, röchelte das Etwas. »Ich bin ... zurück ... aus den Totenlanden ...«

Ihr stockte der Atem, als die vermummte Gestalt einen weiteren wankenden Schritt ins Gruftgewölbe machte. »Barmherzige Zoria«, stieß sie hervor. »Seid Ihr das, Shaso? Bei den Göttern, seid Ihr's?« Doch noch während sie es sagte, noch während sie von abergläubischer Furcht gepackt wurde, schien etwas nicht zusammenzupassen.

Noch seltsamer war Tollys Reaktion: Dem Reichshüter traten förmlich die Augen aus den Höhlen, und seine Hände hoben sich in einer Geste hilfloser Abwehr; das Schwert, das er immer noch hielt, schien vergessen. »Du ...! Aber ... du bist tot!«

Und dann kam Elan M'Cory am Boden herangekrochen, weinend und betend, und Briony war überzeugt, dass in dieser chaotischen Mittsommernacht alle um sie herum verrückt geworden waren.

Die umwickelten Hände hoben sich langsam und schoben die Kapuze zurück. Zunächst starrte Briony nur verständnislos auf die milchig trüben Augen und die fahle, suppende Haut, die umso leichenhafter wirkte, als sie über und über mit etwas verkrustet war, das wie schwarze Erde aussah. Doch dann drehte sich das verwüstete Gesicht langsam von ihr zu Hendon Tolly, und sie begriff, was sie da sah — wen sie sah.

»Gailon«, stieß sie fassungslos hervor. »Gailon Tolly.«

Das Wesen zeigte auf Hendon. »Du«, röchelte es, als wäre jedes Wort eine Qual. »Du hast mich getötet.«

»Was soll dieser Wahnsinn?« Aber alle Überheblichkeit war aus der Stimme des Reichshüters verschwunden. »Ist das irgendein Trick? Du warst tot, Bruder. Durchlöchert von einem Dutzend Pfeilen. Aber du bist kein Geist, das könnte ich schwören — du bist aus Fleisch und Blut ...«

»Deine Männer ... haben mich niedergeschossen, Bruder, und dann ... begraben, mit meinen Dienern und Freunden.« Die Worte schienen jetzt etwas leichter herauszukommen, aber er sprach immer noch mit stockender, zerstörter Stimme. »Es waren keine guten Schützen, wie du siehst.« Er entblößte die Zähne zu einem grässlichen Grinsen. »Stunden, Tage lag ich verwundet in der dunklen Erde, zwischen den Leichen meiner Gefährten, zu schwach, um mich zu rühren ... und dennoch unfähig zu sterben. Ich war ein Fremder im Reich der Toten, und der Tod wollte mich nicht. Als mir bewusst wurde, dass ich noch lebte, grub ich mich aus dem heraus, was du mir als Grab zugedacht hattest, Hendon, und kam dann hierher zurück, um Briony von deinem Verrat zu erzählen.« Er richtete die beinahe blicklosen Augen auf Briony. »Aber ich sehe, dass Ihr zu spät erkannt habt, was mein Bruder ist — die fauligste Frucht aus meines Vaters Lenden. Jetzt kann ich nur noch eines tun, um meinen Fehler wiedergutzumachen — seinem Leben ein Ende setzen.«

Er machte ein paar stolpernde Schritte auf Hendon zu, der wie gelähmt schien. Da krabbelte plötzlich Elan M'Corys schlanke, dunkle Gestalt herbei und umschlang Gailon Tollys Beine.

»Nein!«, flehte sie unter Tränen. »Verlass mich nicht wieder, Gailon! Nicht noch einmal!«

»Lass los, teure Elan«, sagte der Zerlumpte, immer noch mit der unheimlichen Stimme eines ruhelosen Geists, aber er entzog sich ihr nicht sofort, ja schien sogar erstmals so etwas wie eine menschliche Regung zu zeigen. »Ich kann nicht ... ich bin nicht mehr von eurer Welt ...«

»Und dabei soll es auch bleiben!«, rief Hendon Tolly, und mit einem Ausfallschritt stieß er dem Bruder sein Schwert in die Magengrube. Gailon stöhnte auf und fiel dann mitsamt dem Mädchen um, wobei Hendon das Schwert aus der Hand gerissen wurde.

Briony sah ihre Chance und schnellte auf Hendon Tolly zu, doch der drehte sich um, sah den Angriff kommen und schaffte es, den Stoß mit der bloßen Hand abzulenken, sodass ihre Klinge zwar seine Handfläche aufschnitt, ansonsten jedoch wirkungslos an ihm vorbeifuhr. Sie stolperte und kam aus dem Gleichgewicht; Hendon gab ihr einen Stoß, der sie noch ein paar hilflose Schritte weitertaumeln und gegen die Kante des Durchgangs prallen ließ. Als sie sich wieder gefangen und mit erhobenem Schwert umgedreht hatte, war Hendon Tolly verschwunden.

Sie stand im Durchgang zur äußeren Gruftkammer, und an ihr war Hendon nicht vorbeigekommen. Es gab nur eine Möglichkeit, wohin er so schnell verschwunden sein konnte — in eine weitere Kammer.

Sie sah zu Elan M'Cory hinüber, die weinend das Schwert aus Gailons Leib zu ziehen versuchte.

»Verlasst jetzt diese Gruft«, wies sie Elan an und begann dann, die bemoosten Wände zu untersuchen. Als sie mit dem Schwert in einer der schattendunklen Ecken stocherte, stieß die Klinge dort, wo unnachgiebiger Stein hätte sein müssen, auf keinerlei Widerstand. Sie beugte sich etwas näher heran und fand eine Öffnung, wo die beiden Wände nicht ganz aneinanderstießen, einen Spalt, der breit genug war, dass ein schlanker Mann — oder eine schlanke Frau — durchschlüpfen konnte.

Sie erwog zu warten, bis Eneas da war, aber wann würde das sein? Falls dieser Geheimgang an irgendeinen anderen Ort der Burg führte — falls es gar einer jener Gänge war, die Cherts Funderlinge angelegt hatten —, konnte Tolly in Kürze für immer auf und davon sein. Das Ungeheuer, der Mörder, würde entkommen ...

Sie stieß ihr Schwert in den Spalt und stocherte wild im dahinter befindlichen Dunkel herum, bis sie sicher war, dass dort niemand lauerte. Sie wischte ihren Dolch ab und steckte ihn wieder in ihren Gürtel, ging dann zurück und nahm sich eine Fackel aus einer Wandhalterung.

Hinter der alten Gruft lagen noch weitere Grüfte oder jedenfalls unterirdische Kammern; sie fand mindestens ein halbes Dutzend. Soweit Briony wusste, waren sie noch nie für irgendetwas benutzt worden. Anders als in der glattverputzten Familiengruft waren hier die Wände roh behauen, die Böden uneben. Aber das Beunruhigendste war, dass jede dieser Kammern zu einer weiteren, tiefer gelegenen führte.

Unter uns, hinter uns, überall um uns herum ... Briony hatte immer geglaubt, sie lebte auf solidem Grund — von wegen! Den längst tot geglaubten Gailon vor sich zu sehen, hatte sie zutiefst erschüttert. Und diese geheimen Gänge unterhalb der Familiengruft machten es nur noch schlimmer. Nichts schien mehr wirklich verlässlich und real.

Nachdem sie die weiteren Kammern kurz, aber sorgfältig untersucht hatte, trat sie aus der letzten hinaus und stand an einem Weg. Im Fackelschein sah sie, dass auf der anderen Seite des Wegs der Boden jäh abfiel — ein schwarzer Abgrund, den die Fackel nur ein Stück weit zu erhellen vermochte. Der Weg selbst führte in Windungen abwärts — ähnlich der Treppe des Wolfszahnturms —, auf der einen Seite den Abgrund, auf der anderen eine unbehauene Steinwand. Wie weit hinab mochte er führen? Und wohin? Und wo war Hendon?

Just in diesem Moment ließ sich Tolly, der wie eine Spinne über ihr an der Steinwand gehangen hatte, auf sie hinabfallen. Fast hätte er sie in das schwarze Nichts neben dem Weg gestoßen, aber Briony konnte sich noch so wegdrehen, dass sie am Rand des Steinsimses zu liegen kam. Sie kämpfte sich in die Mitte des Wegs zurück, wobei ihr allerdings die Fackel zu Boden und das Schwert in den Abgrund fielen.

Hendon warf Briony auf den Rücken, kniete sich auf sie, sein ganzes Körpergewicht auf ihren Armen, und setzte ihr seinen kalten Dolch an die Kehle.

»Ich habe eine Menge Zeit mit dir vertan, Mädchen.« Tollys Schweiß tropfte ihr aufs Gesicht. »Deshalb werde ich dir jetzt einfach die Kehle aufschlitzen.«

Er hörte kaum etwas anderes als die beruhigende Stimme; ihre wortlose Zustimmung oder Missbilligung half ihm, den Weg zu finden, lenkte seine Schritte durchs Dunkel. Ihm war, als wäre er schon seit Tagen unterwegs, aber konnte das denn sein? Er rang darum, sich zu erinnern, wo er vorher gewesen war, und ganz langsam kam es ihm wieder: sonderbare Gesichter, sonderbare Gerüche, fremdartige Sprachen, gesprochen von noch fremdartigeren Kreaturen. Das war es — er war unter den Zwielichtlern gewesen. Aber wo war er jetzt? Und warum war das Denken so schrecklich schwer?

Chaven Makaros. So heiße ich. Ich bin Chaven, der Arzt ... der königliche Hofarzt ...! Der Name und der Titel waren alles, was ihm von sich geblieben war, warum schienen sie dann so unwichtig?

Die wortlose Stimme drängte ihn, schneller zu gehen, eine Anweisung, die er körperlich fühlte. Schneller. Ja, er musste schneller gehen. Er wurde gebraucht. Ohne ihn konnte nichts geschehen. Und dann würde er belohnt werden.

Aber warum konnte er sich nicht erinnern, worin die Belohnung bestehen sollte? Und wer ihn überhaupt belohnen würde?

Während die Kämpfe im Labyrinth tobten, hatte Chaven sich davongeschlichen. Es war eine Erlösung gewesen, Barrick und die feueräugigen Qar hinter sich zu lassen. Zu viele Fragen. Zu viele neugierige Blicke. Sie waren keine menschlichen Wesen, so viel stand fest, und Prinz Barrick war, um ehrlich zu sein, auch keins mehr. In manchen Augenblicken hatte Chaven sich regelrecht nackt gefühlt, war er sich sicher gewesen, dass jeder, der ihm begegnete, durch ihn hindurchsehen und seine heimlichen Loyalitäten erkennen konnte.

Welch seltsamer Gedanke, dass sein Leben bis vor einem guten Jahr noch ganz normal gewesen war. Dann hatte er beim Besuch eines fernen Marktes, auf einer Reise, wie er sie mehrmals im Jahr unternahm, den Spiegel gefunden, wenn er sich auch nicht mehr erinnern konnte, wie er ihn nach Hause gebracht hatte. In den folgenden Tagen, als er den Spiegel gesäubert und bestaunt hatte, war aus der Leidenschaft für einen interessanten alten Gegenstand mehr geworden: Chaven hatte immer längere Zeiträume damit verbracht, das gewölbte Glas zu polieren und in seine verlockenden und manchmal auch leicht verwirrenden Tiefen zu starren. Und wenn er sich auch nicht erinnerte, wann und wie es geschehen war, hatte er eines Tages entdeckt, dass er hindurchzuschauen vermochte. Auf die andere Seite.

Und dann ... Und dann ... Was dann geschehen war, wusste er nicht mehr. Jedenfalls nicht alles: Zeitweise war sein Leben natürlich immer noch normal weitergegangen, und der Spiegel war nichts weiter gewesen als ein unbehaglicher Schatten im Hintergrund seines Denkens. Zu anderen Zeiten jedoch hatte der Spiegel ... Dinge passieren lassen. Chaven hatte sich an seltsamen Orten oder in seltsamen Situationen wiedergefunden, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen war. Die Kernios-Statue war eines der Dinge gewesen, die einfach so passierten. Eines Tages hatte er sie mitten auf seinem Tisch gefunden, und obgleich er in den Burgarchiven herausbekommen hatte, worum es sich handelte, wusste er doch nichts darüber, wie die Statue zu ihm gekommen war, bis zu jenem Moment, da dieser Skimmer vor seiner Tür gestanden hatte, um seinen Lohn abzuholen — das Gold, das Chaven ihm und seiner Sippe dafür versprochen habe, dass sie ihm die Statue aus den tiefen Buchtwassern vor der Außenmauer nahe der Ostlagune herausholten. Der Skimmer schwor bei seinem Wassergott, Chaven selbst habe ihnen gesagt, wo sie tauchen müssten.

Erschrocken hatte der Arzt den glubschäugigen Mann mit einer Münze und dem Versprechen auf mehr weggeschickt, dann jedoch die ganze Angelegenheit als allzu verwirrend weggeschoben. Es hatten sich weitere Lücken in seinem Wachleben aufgetan, immer mehr. Und jetzt schleppte er diese verfluchte Kernios-Statue hier durch die Tiefen, ohne zu wissen, wohin oder warum.

Aber Chaven konnte nicht mehr zurück, so wenig, wie er aus seiner Haut heraus und ein anderer werden konnte. Zuerst der Spiegel und jetzt die Statue: Was auch immer ihn dazu gebracht hatte, sich diese Dinge anzuschaffen — es hatte ihn nur noch fester gepackt und hielt ihn jetzt so sicher in seinem Griff, dass es sich nicht einmal mehr die Mühe machte, seine Gedanken zu vernebeln. Er war ein Werkzeug, das war ihm klar. Eine Waffe. Er gehörte jemandem und konnte es nicht länger leugnen, aber er wusste nicht, wer sein Herr war.

Chaven von den Makari schleppte sich weiter hinab, durch die einsamen Höhlen unterhalb des Labyrinths, und der Lärm des fernen Kampfgeschehens wehte durch die warme, feuchte Luft an sein Ohr.

»Denk nicht, wenn du fühlen kannst, was passiert«, hatte Shaso ihr immer wieder eingeschärft »Denken kann im Kampf dein Tod sein.«

Aber sie hatte innegehalten, um nachzudenken, und prompt war sie jetzt so gut wie tot — so tot wie Shaso selbst. Ihr Schwert war weg, und Tolly saß ihr auf Brust und Armen, hinderte sie durch sein Gewicht daran, den langen Yisti-Dolch aus ihrem Gürtel zu ziehen. Seine Messerklinge an ihrem Hals war so kalt wie Eis. Sie spürte, wie er sein Gewicht verlagerte, um ihr die Kehle durchzuschneiden, doch in diesem Moment kam von hinter ihnen ein Geräusch. Schritte? Herabfallende Steine? Tolly sah sich nur kurz um, doch dieser Moment des Zögerns reichte der verzweifelten Briony, um eine Hand zu befreien, zur Faust zu ballen und dem Reichshüter mit Wucht in den Unterleib zu rammen.

Hendon Tolly trug keine seiner tessischen Schamkapseln mehr, bemerkte sie mit grimmiger Freude.

Er stöhnte auf und krümmte sich, wobei sich sein Gewicht gerade so weit verlagerte, dass Briony auch die andere Hand freibekam. Ehe er ihr sein Messer wieder an den Hals setzen konnte, hatte sie schon den kleineren Yisti-Dolch aus der Scheide an ihrem Unterarm gerissen und trieb ihn Tolly mit Wucht zwischen Kinn und Hals. Seine Augen weiteten sich vor Verblüffung, als er hinfasste und Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll, und während er noch ungläubig auf sie herabstarrte, stieß sie noch einmal zu, diesmal ins Auge. Hendon Tolly schrie auf und krallte sich in der Agonie an ihr fest; zusammen rollten sie auf die Wegkante zu, und sie schaffte es nicht, seine glitschigen, blutigen Hände von ihren Kleidern loszureißen. Er hätte sie mit sich ins Dunkel gezogen, doch etwas hakte sich in ihren Gürtel und hielt sie fest. Tollys Finger lösten sich; sein blindes Auge, in dem immer noch das Yisti-Messer steckte, schien sie anzusehen, und auf seinem Gesicht lag ein enttäuschter Ausdruck. Dann fiel er ins Dunkel.

»Prinzessin ... Prinzessin Briony ... lebt Ihr noch?«

Sie blickte auf den kleinen Mann, der neben ihr kauerte und sie am Gürtel festhielt. Sie musste lachen, weil alles so bizarr war. »Chert«, sagte sie. »Heilige Mittsommernacht, Ihr — Ihr habt mir das Leben gerettet.« Briony zitterte jetzt so heftig, dass sie es kaum schaffte, in die Mitte des Wegs zurückzukriechen. Wieder in sicherem Abstand vom Abgrund, brach sie keuchend und bebend zusammen, entschlossen, auf gar keinen Fall zu weinen. »Aber ich habe den Thron meiner Familie zurückgewonnen — habt Ihr's gesehen? Er ist tot. Hendon ist tot, und ich habe ihn getötet. Wie einen räudigen Hund. Was er ja war.«

Der Funderling tätschelte ihr linkisch den Rücken, sichtlich unsicher, wie man eine verwundete, zitternde Prinzessin beruhigte.

Endlich konnte Briony sich wieder aufsetzen. Die Fackel lag noch flackernd in der Nähe. Chert band einen Streifen von seinem Hemd um ihren verwundeten Arm. »Was ist da unten, Chert? Was liegt da unter unserer Familiengruft?«

Er sah sie verdutzt an. »Nun ja ... alles, Hoheit. Dieser Weg führt hinab in die tiefsten Tiefen, zu den heiligen Mysterien meines Volkes.«

»Wo mein Bruder und die Qar hinwollten.« Sie klopfte sich den Staub ab und stand wacklig auf. Jeder Zoll ihres Körpers schmerzte. »Wo der Autarch ist. Und mein Vater.« Sie bückte sich nach der Fackel. »Eneas wird sich um den Rest kümmern. Könnt Ihr mich führen?«

»Euch führen?« Der Funderling stand ebenfalls auf und starrte sie an, als spräche sie plötzlich eine andere Sprache. »Ihr wollt ... da hinunter?«

»Ja. Mit Euch als Führer.« Sie steckte ihr Messer in die Scheide zurück. »Es sei denn, Ihr habt Besseres zu tun an diesem letzten aller Tage.«

»Aber ... es wird Stunden dauern, bis wir unten sind. Bis dahin ist dort längst alles vorbei. Ihr könnt es niemals rechtzeitig schaffen ...« Noch etwas fiel ihm ein. »Und es gibt dort Gefahren, von denen Ihr noch gar nichts wisst, Hoheit ...!

»Sagt niemals nie zu einer Eddon, Meister Blauquarz. Wir sind eine dickköpfige Familie.« Und ohne seine Reaktion abzuwarten, schob Briony sich an ihm vorbei und machte sich auf den Weg in die Tiefen.