31
Das Funderlingstor
»Es ist töricht, und ich werde nicht zulassen, dass Ihr's versucht«, erklärte ihm Bruder Antimon. »Bei allem Respekt, Meister Chert, ich kann nicht. Das würden mir Zinnober und die anderen nie verzeihen.« Er wurde blass. »Oh, bei den Alten der Erde, denkt doch nur, was Frau Opalia mit mir machen würde! Sie würde meine Haut als Putzlappen benutzen!«
»Sofern Ihr nicht vorhabt, mich zu fesseln und Euch auf mich draufzusetzen, könnt Ihr mich nicht davon abhalten.« Chert sah ihn unwirsch an. »Macht es nicht noch schwerer. Glaubt Ihr, ich hätte keine Angst?«
»Aber ... aber dort oben ist Krieg!«
»Hier unten auch. Unsere Freunde kämpfen in diesem Moment und sterben womöglich. Ich bin es ihnen schuldig zu tun, was ich kann.«
»Aber wie kommt Ihr darauf, dass Bruder Nickel auf Euch hören wird? Er ist stur, Chert, und er hasst Euch.«
»Auf mich wird er nicht hören — aber auf den Astion.« Er schnürte sein Bündel fertig, stand auf und schlang es sich um. »Nickel ist ein Ekel, aber er ist kein Verräter. Und mein Bruder, so wenig ich ihn leiden kann, auch nicht. Und sie haben das Zunftrecht auf ihrer Seite.« Trotzdem ärgerte es ihn, dass sein älterer Bruder Knoll, der Ratsherr der Blauquarzsippe, einfach anmarschiert kam und sich sofort auf Nickels Seite schlug. »Nein, wenn wir unser Volk retten wollen, müssen wir es auf die korrekte Art tun, auf Funderlingsart — mit dem ganzen nötigen Genehmigungskram.« Er tätschelte den Arm des hochgewachsenen jungen Mannes. »Macht weiter, so gut Ihr könnt, Antimon. Arbeitet heimlich, wenn es geht. Sie werden Euch vermutlich nicht belästigen, wenn ich weg bin, und das werden sie erfahren, dafür sorge ich.«
»Aber was ist mit Eurer Frau und Eurem Sohn ...?«
»Das regle ich, Junge. Zinnober und die anderen dort in den Tiefen blicken dem Tod ins Auge. Da werde ich doch wohl den Mut aufbringen, Opalia ins Gesicht zu sagen, was ich vorhabe.«
Antimon drückte Cherts Hand mit der beklommenen Miene eines Mannes, der einen Freund in den nahezu sicheren Tod verabschiedet.
»Du willst was? Kommt gar nicht in Frage! O nein, du musst über mich wegtrampeln, um aus dieser Tür zu kommen.« Opalia warf sich vor die Schwelle ihres zeitweiligen Quartiers neben der Schießmehlfabrik. Die Frauen, die es mit ihr teilten, hatten schon bei Cherts ersten Worten geahnt, dass sich da ein Unwetter zusammenbraute, und sich unauffällig hinausgestohlen — selbst die unerschrockene Vermillona Zinnober. Chert wünschte, er hätte es ihnen nachtun können.
»Es hilft nichts, mein alter Liebling«, sagte er mit einer Entschlossenheit, die er gar nicht fühlte. »Mir bleibt keine Wahl. Ich habe dir ja erklärt, warum. Wenn ich noch länger warte, ist es zu spät.«
»Ein Grund mehr. Es war von vornherein ein verrückter, gefährlicher Plan, warum dein Leben dafür riskieren?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ohne tätliche Auseinandersetzung würde sie sich nicht von der Stelle rühren, so viel stand fest. In diesem Augenblick liebte er sie dafür, während er sich gleichzeitig fragte, ob er sie wohl bewusstlos schlagen musste, um hier herauszukommen.
»Hör doch, meine Liebe«, bettelte er.
»Nein, nein und nochmals nein ...!« Sie verstummte, dadurch abgelenkt, dass Flint aus dem rückwärtigen Teil der Höhle angetrottet kam. Er rieb sich die Augen, und sein Haar war schlafverstrubbelt. »O Kind, waren wir zu laut?«, sagte sie in völlig anderem Ton. »Geh wieder schlafen. Mama kommt gleich. Ich habe nur eine kleine Diskussion mit deinem bösen, bösen Papa.«
»Lass ihn gehen, Mama Opalia. Ich ... ich hab davon geträumt. Der Leuchtende Mann hat gebrannt — das Feuer war so heiß wie die Sonne! Alle haben geschrien. Lass ihn gehen.«
»Was soll der Unsinn?« Opalia runzelte die Stirn, fasste den Jungen an den Schultern und versuchte ihn umzudrehen. »Du hast schlecht geträumt, Kind. Geh wieder ins Bett.«
»Nein.« Er widersetzte sich. Er war jetzt größer als Chert, fast so groß wie der junge Riese Antimon. »Papa Chert muss gehen.«
Chert trat ein paar Schritte vor und berührte Opalia an den Armen. »Der Junge hat schon öfter recht gehabt ... in vielem.«
In ihrem Gesicht stand nicht Ärger, sondern nackte Angst. »Nein! Nicht noch mal! Ich lasse dich nicht wieder weg. Weißt du, wie das für mich ist ...?«
Chert schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir nur vorstellen. Aber ich weiß, dass du mich genauso vermisst wie ich dich.« Er tat noch einen Schritt und nahm sie in die Arme, obwohl sie sich steif machte und den Kopf wegdrehte. »Bitte, meine Einziggeliebte, mach es mir nicht so schwer. Ich würde es nicht tun, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass es sein muss, aber von mir hängen Funderlingsleben ab und vielleicht noch mehr - vielleicht sogar ganz Funderlingsstadt!«
Sie entzog sich ihm und kehrte ihm den Rücken zu. »Dann ... geh eben. Aber erwarte nicht von mir, dass ich still vor mich hinweine und dir zum Abschied winke wie eine brave Ehefrau in einer Geschichte. Geh, und Fluch über dich!«
»Nein!« Der Gedanke war entsetzlich. »Schick mich nicht damit weg, Opalia.«
»Mach, dass du rauskommst.« Sie schüttelte seine Arme ab, schlug nach seinen Händen, als er sie wieder zu berühren versuchte, und wollte ihn immer noch nicht ansehen. »Geh!«
Er küsste den Jungen auf die Stirn, fuhr ihm durchs flachsblonde Haar, verließ dann die improvisierte Behausung und wandte sich in Richtung Funderlingsstadt. In einem hatte Opalia recht - es würde ein langer, gefährlicher Weg sein, und nur die Alten der Erde mochten wissen, welche Monster und Feinde zwischen ihm und seinem Ziel lauerten. Ihm war, als ob er durch brusthohes Wasser watete und seine Füße in schlammigem Grund einsanken.
»Halt! Chert, warte!«
Er drehte sich um und sah Opalia hinter sich herrennen, den Rock gerafft, damit sie nicht stolperte. Ehe er etwas sagen konnte, war sie schon bei ihm, umschlang ihn und presste ihren kompakten kleinen Körper so fest gegen seinen, dass ihm einen Moment die Luft wegblieb.
»Ich nehm's zurück, ich nehme es alles zurück«, sagte sie unter Tränen. »Ich nehme zurück, was ich eben gesagt habe. Du bist mein Mann, Blauquarz, und ich liebe dich. Aber wenn du zulässt, dass dir etwas passiert, dann werde ich dich mit einem Fluch belegen, dass du springst und hüpfst wie eine Ratte mit Flöhen, während du vor den Alten selbst stehst! Das schwöre ich!«
Er verschwendete gar nicht erst Atemluft auf den Versuch, darauf zu antworten, sondern hielt seine Frau einfach nur eine ganze Weile fest. Als sie sich schließlich geküsst und ein paar Abschiedsworte zugeflüstert hatten, machte Opalia kehrt und ging wieder zurück, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.
Wenn Briony auf eine schnelle Rückeroberung ihres Familiensitzes gehofft hatte, überdauerte diese Hoffnung die ersten paar Stunden nach ihrer Heimkehr nicht. Hendon Tollys Anhänger — durch Brionys und Eneas' Auftauchen am Basiliskentor vor der Kulisse der brennenden xixischen Schiffe zunächst überrumpelt — ließen sich rasch in die Hauptburg zurückfallen. Berkan Hud und seine Soldaten pressten Hunderte in der Burg befindlicher Menschen in ihre Dienste, indem sie sie zwangen, Kanonen, die man vor dem Ansturm der Qar gerettet hatte, auf die Mauern der Hauptburg zu hieven, und als an Brionys erstem Morgen zu Hause in Südmarksburg die Sonne aufging, feuerten diese Kanonen von den Türmen des Rabentors herab.
»Wir haben unsere eigenen Demi-Kanonen auf dem Basiliskentor und der äußeren Mauer«, erklärte Eneas in dem hohen Kaufmannshaus an der Nordlagune, in dem sie und die syanesischen Offiziere Unterschlupf gefunden hatten. Von den Fenstern im obersten Stock konnten sie die Rauchfahnen der Kanonen auf dem Rabentor sehen, doch im Moment schienen Hud und seine Leute nicht zu wissen, wo sich der Feind befand, und einfach nur blind drauflos zu feuern. Die Morgenluft vom Meer her war warm und feucht und so salzig wie Blut; der Frühling schien von einem Tag auf den anderen in Herbst umgeschlagen zu sein. »Wir könnten einige dort lassen, für den Fall, dass die Truppen des Autarchen zurückkehren, und die übrigen bis heute Abend gegen die Hauptburg in Stellung bringen.«
Briony schüttelte den Kopf »Tolly hat Unschuldige um sich gesammelt. Ich werde nicht auf mein eigenes Volk schießen.«
Eneas nickte. »Ich verstehe Euren Standpunkt, Prinzessin. Würde vielleicht sogar ebenso denken. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Ihr Euch so viel Rücksicht leisten könnt. Wenn es stimmt, was Euer Vater gesagt hat, haben wir nur noch bis morgen um Mitternacht, ehe der Autarch ... nun ja, tut, was immer er plant.«
»Aber der Autarch ist tief unter der Burg. Das hat diese Hexe Saqri doch gesagt.«
Er zuckte die Achseln, hielt sich an das, was ihm als pragmatischem Krieger einleuchtete. »Ich bin sicher, Ihr erinnert Euch genauer als ich an die Worte der Zwielichtlerkönigin, aber ich weiß, dass sie gesagt hat, ›Jede Schlacht hier zählt‹. Sie sagte, es seien viele verschiedene Stränge von Gefahr, wie ein Spinnennetz, und niemand könne mit Sicherheit sagen, welcher Strang mit welchem zusammenhängt.«
Briony löste den Tuchstreifen, der verhindern sollte, dass ihr Schweiß in die Augen rann, und band ihn neu. Schon der bloße Gedanke, sich der Zwielichtlerkönigin unterordnen zu sollen, dieser Kreatur, die ihren Bruder gestohlen hatte, erfüllte sie mit maßloser Wut. »Das ist mir egal. Ich werde keine Kanonen auf meine eigenen Untertanen richten, solange die Leute nicht für Tolly die Waffen ergreifen. Und auf Kanonenschussentfernung lässt sich das unmöglich feststellen.«
Graf Helkis, der Freund und Vizekommandeur des Prinzen, räusperte sich. »Ich bitte um Verzeihung, Prinzessin Briony, aber das hier ist keine normale Belagerung. Wir können nicht einfach die Zeit für uns arbeiten lassen. Nach allem, was wir gehört haben, hat Tolly im Palast Vorräte für Monate angelegt. Glaubt Ihr, wir könnten diese Feinde zur Aufgabe zwingen, indem wir ihnen einfach nur mit dem Finger drohen?«
»Miron«, sagte Eneas warnend.
»Nein, Hoheit, es muss gesagt werden.« Der junge Edelmann wandte sich wieder an Briony. »Ich werde aussprechen, was mein Lehnsherr, sei es aus Gründen des Herzens oder der Höflichkeit, nicht aussprechen kann. Wenn die Zwielichtler recht haben, Prinzessin, stürzt Ihr durch dieses Zaudern Euer eigenes Volk ins Verhängnis.«
»Miron! Das geht zu weit ...!«
»Nein, Eneas.« Briony hob die Hand. »Er tut nur, was jeder gute Ratgeber tun sollte — sagen, was er für die Wahrheit hält.« Sie wandte sich an Helkis. »Ja, Graf, es ist ein Dilemma. Aber ich werde niemanden aufs Geratewohl Kanonenkugeln ins Herz meiner Burg feuern lassen. Tolly hat viele meiner Untertanen um sich geschart. Selbst unter den Soldaten herrscht vermutlich die Überzeugung, dass sie die Burg gegen den Autarchen, die Zwielichtler oder sonst irgendwelche fremden Invasoren verteidigen. Nein, ich kehre nicht in meine Burg zurück, indem ich Blut vergieße, das ich nicht vergießen muss.« Sie runzelte die Stirn, weil ihr plötzlich etwas einfiel. Wie oft hatte ihr Vater gesagt: »Auch ein guter König wird immer Blut an den Händen haben ...«? Unzählige Male. Briony hatte geglaubt, er meinte einfach nur, dass Kriege nicht immer vermeidbar seien, aber jetzt erkannte sie die Wahrheit: Olin hatte sagen wollen, dass fast jede Entscheidung eines Monarchen für irgendjemanden Leid bedeutete. »Bitte seid so gut und lasst mich kurz über dieses Problem nachdenken«, sagte sie, als Helkis wieder zum Sprechen ansetzte.
»Möchtet Ihr einen Moment allein sein?«, fragte Eneas.
»Genau das möchte ich, ja, Hoheit«, sagte sie dankbar. »Aber ich will Euch nicht aus Euren Räumen vertreiben. Ich werde ein paar Schritte gehen.«
»Aber nicht das Grundstück verlassen ...!«
»Natürlich nicht, Prinz Eneas. Ihr habt mein Wort.«
Als sie auf der Treppe an den Wachen und anderen Soldaten vorbeiging, irritierte sie wieder einmal deren Verhalten — nicht, weil sie ihr so beflissen Platz machten, als wollten sie sich am liebsten in Luft auflösen, an diese Art Ehrerbietung war sie als Königskind von klein auf gewöhnt, nein, weil sie es so konsequent vermieden, sie anzusehen. Das war etwas Neues. Früher hatten nur diejenigen weggeschaut, die besonders ängstlich waren oder ein besonders schlechtes Gewissen hatten, und seit Briony sich zur jungen Frau entwickelt hatte, war sie es gewöhnt, dass Männer sie mit der selbstverständlichen Unverschämtheit von Pferdehändlern taxierten. Was also hatte sich geändert?
Das sind Eneas' Männer, ging ihr auf. Und sie glauben, ich gehöre ihrem Prinzen.
Diese Erkenntnis verwirrte sie mehr, als sie wahrhaben wollte.
Unten angelangt, ging sie durch den überfüllten Hof in Richtung Tor. Der Besitzer des Hauses war ein reicher Mann gewesen — Briony meinte, ihm ein paarmal bei höfischen Anlässen begegnet zu sein, wenn sie sich auch an das Gesicht nicht erinnern konnte —, und das Anwesen bot mehr als genug Platz für Eneas und seinen Offiziersstab. Sie erklomm die Treppe des kleinen Torhauses.
Zu sehen, was in ihrer Abwesenheit aus dem äußeren Befestigungsring geworden war, hatte etwas von einem Alptraum. Während der kurzen Invasion der Qar hatte er sich fast völlig geleert, und wenn auch nach dem Abzug der Zwielichtler einige wenige Bewohner zurückgekehrt waren, hatten sie sich doch kurz darauf vor dem Beschuss durch die Riesenkanonen des Autarchen wieder in die Hauptburg zurückgeflüchtet.
Die äußere Befestigungsanlage war einst eine der blühendsten und hübschesten Städte nördlich von Tessis gewesen, wirkte jetzt aber so leblos wie ein Haufen verkohlter Knochen. Ganze Häuser waren zu einem Wirrwarr von Balken und Mauersteinen zusammengestürzt, andere so gründlich abgebrannt, dass nur die Kamine noch wie Grabsteine aufragten. Die höchsten Gebäude waren so gut wie alle zerstört, und die wenigen, die noch standen, waren rußgeschwärzt und verlassen. Briony konnte nicht auf dieses Trümmerfeld blicken, ohne dass ihr die Tränen kamen.
Aber das hilft dir nicht weiter, ermahnte sie sich. Bleib mit den Gedanken bei dem, was du zu tun hast. Konzentriere dich!
Das Problem war klar. Von hier, der Blankuferstraße, aus konnte sie nicht viel von der alten Mauer der Hauptburg sehen, wenn sie auch deutlich die Türme des Rabentors und die dort ameisenartig umherwimmelnden Soldaten erkannte. Doch die Mauern der Hauptburg waren hoch und nirgendwo leicht zu brechen. Verräter hin oder her — Avin Brone hatte immer tyrannisch darauf bestanden, sie in gutem Zustand zu erhalten und die Tore und Wachtürme ausreichend zu besetzen.
Briony fragte sich, wo Brone jetzt wohl gerade war und was er wohl täte, wenn er wüsste, dass sie am Leben war. Wie weit ging sein Verrat? Hatte er mit Tolly gemeinsame Sache gemacht oder würde er sie zumindest darin unterstützen, die Burg wieder in Eddon-Besitz zu bringen? Das wäre eine Überlegung wert, falls sie es tatsächlich schafften, in die Hauptburg zu gelangen: Brone ahnte ja nicht, dass Finn Teodorus seine Geheimnisse ausgeplaudert hatte. Er wusste nicht, dass Briony alles über ihn wusste.
Aber was nützte ihr das, solange sie Brone nicht jenseits der Mauer eine Nachricht zukommen lassen konnte und er sie wirklich unterstützte? Schließlich konnte er sie und Eneas ebenso gut in eine Falle locken. Hatte Tolly ihn irgendwie in der Hand? Das war schwer zu sagen, weil Brone selbst so undurchsichtig war. »Er ist derjenige, der tut, was ich nicht kann«, hatte ihr Vater manchmal gesagt, ohne ihr oder ihren Brüdern jemals zu erklären, was er damit meinte. Allmählich dämmerte es Briony.
Beim Gedanken an Brone und seine listigen Machenschaften fiel ihr etwas ein: ein Abend vor langer, langer Zeit — jedenfalls fühlte es sich jetzt so an —, nach Kendricks Tod, aber bevor alles so schrecklich aus dem Ruder gelaufen war. Da hatte er Briony und ihren Bruder in seine Gemächer bestellt. Es war derselbe Abend gewesen, an dem Finn Teodorus Brones Pläne zur Gefangennahme und Auslöschung ihrer Familie gelesen hatte, aber das war es nicht, was jetzt in ihrer Erinnerung auftauchte.
Vaters Brief ... Eine Seite dieses Briefs war gestohlen worden, und in jener Nacht hatte Brone sie ihnen zurückgegeben. Er hatte erklärt, er habe sie zwischen seinen Papieren gefunden, wisse aber nicht, wie sie dorthin gekommen sei. Inzwischen zweifelte Briony an seiner Unschuld, aber was sie jetzt beschäftigte, war der Brief selbst. Darin hatte etwas von den Kanälen der Hauptburg gestanden, die Olin im Belagerungsfall für einen Schwachpunkt hielt. Konnte ihr das jetzt helfen?
Ihr sank der Mut, als ihr wieder einfiel, dass Brone das Problem gelöst hatte: Er hatte die Kanäle mit schweren Eisengittern abdecken lassen, deren Öffnungen so klein waren, dass nicht einmal das dünnste Kind oder der glitschigste Skimmer hindurchzuschlüpfen vermochte. Die Skimmer hatten ja sogar erst vor Stunden beteuert, dass es für sie keine Möglichkeit gebe, in die Hauptburg zu gelangen. Ihr geliebter Vater hatte ihr unwissentlich die einzige Chance genommen, seinen Thron zu retten.
Da kam ihr eine andere Idee — die Sorte verrückter Einfall, die Eneas mit skeptischem Stirnrunzeln aufnehmen würde, aber der Gedanke an die Skimmer hatte sie darauf gebracht, und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer schien, dass sie es versuchen musste.
Sie wandte sich so jäh vom Tor ab, dass sie einen der syanesischen Reiter anrempelte, der sofort aufs Knie fiel und sich wortreich entschuldigte. »Lasst das«, sagte sie. »Wie heißt Ihr?«
»Stephanas, Hoheit.« Wie die anderen wich auch er ihrem Blick aus. Das irritierte sie.
»Gut. Geht und sucht Euch ein halbes Dutzend wackerer Kameraden zusammen, sagt ihnen, sie sollen sich alle kleiden wie gewöhnliche Leute — in den verlassenen Häusern gibt es sicher genügend Kleidungsstücke. Dann seid mit ihnen in einer Stunde wieder hier.«
»Kleidungsstücke ...? Häuser ...?«
»O guter Stephanas, ich hoffe, das Problem ist meine Aussprache und nicht euer Verstand. Ja, kleidet euch wie gemeine Stadtbewohner — aber gürtet euch eure Schwerter um. In der Zwischenzeit werde ich Eurem Herrn, dem Prinzen, sagen, dass ich Euch losschicke, um eine Kleinigkeit zu erledigen.«
Den Tempel umging Chert sorgsam, nicht so sehr aus Angst, wieder auf seinen Bruder oder Bruder Nickel zu treffen — jedenfalls sagte er sich das —, als vielmehr, weil er keine Zeit für Konversation hatte und schon gar nicht für die engstirnige Meckerei, mit der die Hüter des Tempels zweifellos aufwarten würden. Also schlich er sich durch die ausgedehnten Pilzgärten vor dem Tempel und dann auf der Küchenseite um diesen herum, wobei ihn die Gerüche aus dem Mälzhaus und insbesondere der Rauch der Darrfeuer, über denen auch in diesen schrecklichen Zeiten noch das Braumoos getrocknet wurde, mit Wehmut erfüllten. Wann hatte er das letzte Mal einfach nur dagesessen und mit Freunden ein schönes Moosbräu getrunken? Wann hatte er zum letzten Mal irgendetwas anderes getan, als für das Überleben seiner Familie zu sorgen und Vansen und den anderen diesen schrecklichen Krieg führen zu helfen? So sollte ein Mann nicht leben müssen.
Aber wenn Götter und Halbgötter kämpfen, rief Chert sich ins Bewusstsein, kann ein gewöhnlicher Mann von Glück sagen, wenn er überhaupt noch lebt. Er sprach ein Gebet zu den Alten der Erde und marschierte dann durch das Gelände hinterm Tempel in Richtung Kaskadentreppe.
Er brauchte fast den ganzen Vormittag für den langen, gewundenen Weg hinauf zum Seidentor und den Randgebieten von Funderlingsstadt. Die Straßen waren fast völlig verlassen. Auf der breiten Erzstraße sah er keinen einzigen Steinhauer von der Arbeit in den äußeren Gängen zurückkehren; er sah keine Frauen auf dem Rückweg von den Wäschetrockenkavernen, keine Höker mit Handkarren auf der Jagd nach einem letzten Kunden vor dem Mittagsmahl. Hatten all seine Nachbarn wirklich solche Angst? Das schien Chert seltsam, da das Kampfgeschehen doch so weit weg war.
Am Salzsee blieb er stehen und blickte sich um, aber da war niemand, nicht einmal Block, und allmählich fragte er sich, ob er wirklich durch Funderlingsstadt gehen sollte. Was war hier los? Wie ihm Opalia erzählt hatte, war noch vor einem Tagzehnt die Stadt zwar deutlich leerer gewesen, das Leben aber im Großen und Ganzen normal weitergegangen.
In einem Seitengässchen der Edelsteinstraße am Rand des Zunfthallenviertels fand er einen Lampenanzünder, der dasaß und schlief. Chert rüttelte ihn wach.
»Was geht hier vor sich?«, fragte er, als der Bursche Entschuldigungen stammelte. »Leise! Was Ihr gemacht habt, kümmert mich nicht! Was ist hier los? Wo sind alle?«
Der Lampenanzünder, der jetzt merkte, dass ihm keine unmittelbare Gefahr drohte, winkte Chert, sich neben ihn zu setzen. »Die Frage ist, was Ihr hier macht, Kamerad. Habt Ihr eine Genehmigung? Einen Zunft-Passierschein, der besagt, dass Ihr um diese Tageszeit draußen sein dürft?«
»Wovon redet Ihr?«
»Seit die Großwüchsigen hier sind — wisst Ihr's denn nicht? Seither darf niemand mehr auf der Straße sein, außer er hat die Genehmigung von der Zunft.«
»Moment! Die Großwüchsigen? Welche Großwüchsigen?«
Der Mann hatte keine große Lust zu reden, aber er wollte offensichtlich auch nicht, dass Chert eine laute Diskussion vom Zaun brach. Also erklärte er schnell, nachdem die Schiffe der Südländer auf der Bucht in Brand geraten seien (das erste Mal, dass Chert diese erstaunliche Nachricht hörte) und neu aufgetauchte syanesische Soldaten überraschend den äußeren Befestigungsring eingenommen hätten, seien tollytreue Soldaten unter der Führung von Durstin Krey durchs Funderlingstor eingedrungen. Als die Zunftvorsteher und andere Funderlingsführer protestiert hätten, habe man sie in ihrer eigenen Zunfthalle eingesperrt.
Cherts Plan, einen wohlwollenden Zunftvorsteher zu finden, der ihm zur Durchführung seines Vorhabens den Astion gewähren würde, hatte sich soeben als unendlich viel schwieriger, wenn nicht gar als gänzlich unmöglich erwiesen. Es gab nur einen anderen Weg, sein Ziel zu erreichen, eine Möglichkeit, die er zwar kurz erwogen, dann jedoch als zu gefährlich verworfen hatte. Aber jetzt sah er keine Alternative.
Während Chert noch diese deprimierende Nachricht verdaute, nutzte der Lampenanzünder die Gelegenheit, sich davonzumachen. Chert unternahm nichts, um ihn aufzuhalten — er war auch so schon beschäftigt genug. Sollte er versuchen, unter seinen eigenen Leuten jemand Vertrauenswürdigen zu finden? Sich durch die Angst und das Misstrauen hindurchzuwühlen, die Durstin Krey und seine Soldatenbande erzeugt hatten? Oder sollte er lieber versuchen, durchs Tor von Funderlingsstadt in die Burg hinaufzukommen und dort vielleicht eine andere, spezielle Art von Hilfe zu finden? Doch selbst wenn er hinausgelangte, war diese zweite Idee immer noch ziemlich abwegig.
Anscheinend bin ich zum Spezialisten für abwegige Ideen geworden, sinnierte er.
Denken war schwer, und Chert war schon viele Stunden gelaufen. Er war hungrig und erschöpft, und wenn er denn sein Leben lassen sollte, befand er, dann lieber jetzt, da er sich ohnehin schon so elend fühlte. Er stand auf und ging so unauffällig wie möglich die Edelsteinstraße entlang. Die steinernen Bäume und ihre kunstvoll gemeißelten Bewohner blickten von der berühmten Decke auf ihn herab, während er sich dem Funderlingstor näherte.
Das vertraute Tor sah jetzt schon von weitem ganz anders aus. Das Aufgebot an Wachen, deren Zelt und die Barrikaden aus Gesteinstrümmern, die sie errichtet hatten, machten klar, dass es sich hier nicht mehr um einen zeremoniellen Übergang handelte, sondern um einen Kontrollposten, der den Zweck hatte, die einen draußen und die anderen drinnen zu halten.
Mindestens ein Dutzend Soldaten aus der Burg wachten dort, sorgsam neben dem Durchgang zur Vorburg postiert. Den Grund dieser Vorsicht konnte Chert hören — Kanonenfeuer, die Abstände nicht sehr eng, aber doch eng genug, dass er sich fragte, ob er nicht lieber umdrehen sollte. Aber wer schoss da auf wen? Waren es Xixier, die immer noch den Kampfgeist der Verteidiger zu brechen versuchten? Oder schossen vielleicht ebendiese Verteidiger auf die Xixier oder vielleicht sogar auf irgendwelche Qar, die sich zurückgewagt hatten?
Es ist Theater, dachte er. Aber keine dieser Komödien, von denen mir Chaven erzählt hat, mit verkleideten Prinzessinnen und durchgebrannten Liebespaaren. Das hier ist eins jener großen Desaster-Epen, die ihm so gefallen, mit Gebrüll und blutigen Verbänden und Kesselpauken als Kanonenschüssen. Die Art Geschichte, bei der man immer froh ist, dass sie jemand anderem widerfährt.
Chert schlich sich etwas näher zum Tor. Trotz der unheilvollen Geräusche von jenseits der Höhlenöffnung kamen die Wachen immer noch der Aufgabe nach, der buntgemischten Schar von Funderlingen, die um Gehör bettelten, den Durchgang zu verwehren.
»Ich habe euch kleinen Ratten doch gesagt, hier kommen nur Zunft-Arbeitstrupps durch«, knurrte ein Soldat, dessen fettglänzendes Gesicht und schlechte Laune darauf hindeuteten, dass er bei seinem Mittagsmahl gestört worden war. »Sonst keiner.«
»Aber zwei von unseren Leuten sind heute Morgen verletzt von den Arbeiten an der alten Mauer zurückgekommen«, rief ein Mann ganz hinten. »Sie brauchen dort Ersatzleute.«
»Dann sollen sie heute Abend welche auswählen, wenn sie wieder zurück sind«, erklärte der Soldat mit dem fettigen Gesicht. »Was habt ihr's denn so eilig? Gefällt's euch nicht in Neu-Graylock?« Er lachte und wandte sich seinen Kameraden zu, um sie an dem Witz teilhaben zu lassen. »Neu-Graylock, gut, was?« Er drehte sich wieder zu den Bittstellern um. »Jetzt verpisst euch, oder wir verabreichen euch kleinen Idioten eine Tracht Prügel.«
Die Funderlinge stöhnten und brummelten, machten aber keine Anstalten, sich zu zerstreuen. Chert war auch nach Stöhnen und Brummeln zumute. Wie sollte er durch diesen Kontrollposten kommen? Das war genauso hoffnungslos, wie einen wohlwollenden Zunftvorsteher zu finden, der noch die Autorität hatte, ihm einen Astion zu überlassen.
Draußen bellten die Kanonen wieder los. Chert wollte sich gerade an eine sicherere Stelle zurückziehen, um zu überlegen, was er jetzt tun sollte, als plötzlich etwas mit einem so ohrenbetäubenden Donnerschlag die Stirnwand der Höhle erschütterte, dass ihm sein Kesselpaukengedanke von eben kindisch erschien. Die Hälfte des Gesteins über der Toröffnung brach herab, zerquetschte das improvisierte Postenhaus, begrub das Zelt und alles, was noch darin war, unter sich. Trümmer wirbelten durch die Luft, fällten Soldaten und Funderlinge. Die Funderlinge, die nicht allzu schwer verletzt waren, rappelten sich auf und flohen tiefer in die Höhle hinein. Staub hing in der Luft, aber Chert konnte den Soldaten sehen, der eben gesprochen hatte: Blutüberströmt und leise zuckend lag er inmitten von Gesteinsbrocken.
Jetzt oder nie, dachte Chert. Die Alten der Erde haben mir den Weg gewiesen — hoffe ich.
Natürlich konnte es ebenso gut sein, dass ihm die Alten zeigten, wohin er nicht gehen sollte: Die Verwüstung war unglaublich. Der vordere Teil der Torhöhle war ein einziges Chaos aus Gesteinstrümmern und wirbelndem Staub, und draußen krachten noch immer die Kanonen.
Chert zog den Kopf ein und rannte los, stolperte über Gesteinsschutt. Er musste über einen Leichnam steigen, der unter herabgebrochenem Fels begraben war: Helle Haut, dreck- und blutverschmiert. Er konnte nicht mal erkennen, ob es ein Funderling war oder einer von Durstin Kreys Soldaten.
Als er ins Freie kam, ließ er den Kopf unten. Die Kanonenkugel hatte das uralte Felskliff über dem Eingang nach Funderlingsstadt getroffen, direkt unter der hohen, hellen Mauer der Hauptburg. Der durch den Einschlag aufgewirbelte Staub war hier draußen fast so dicht wie in der Torhöhle, dennoch schockierte Chert die jähe, unermessliche Weite des Himmels über ihm — das hatte er nicht mehr erlebt, seit er und Flint in dem Dörrschuppen gewesen waren.
Ich kann nur zu den Alten der Erde beten, dass die Dachlinge ...
Der Gedanke blieb unvollendet.
»Da ist er!«, rief eine laute, unbekannte Stimme, dann stieß ihn jemand von hinten zu Boden und riss ihm sein Bündel vom Rücken. »Hab ihn.« Im nächsten Moment, während Chert noch bäuchlings auf den Stein gepresst wurde, stülpte derjenige eine Art Sack über ihn. Es ruckte ein paarmal, als der Sack zurechtgezerrt wurde, dann fand sich Chert hochgehievt und mit schnellem, federndem Schritt davongetragen.
»Lasst mich los!«, sagte er. »Ihr habt ja keine Ahnung! Ich muss etwas Wichtiges tun — es geht um Leben und Tod ...!«
»Mund halten«, knurrte der, der ihn gefangen genommen hatte, und ließ den Sack so fest gegen irgendetwas rumsen, dass die Zähne des kleinen Mannes klapperten. Chert sagte nichts mehr.