13
Ein Blick in den Schlund
Das Seltsame war: Je länger Chert an der Karte für Hauptmann Vansen arbeitete und je exakter er sie zu zeichnen versuchte, desto unvertrauter erschien ihm alles.
Weil niemand außer dem Herrn des Heißen, Nassen Steins selbst die Welt je so gesehen hat, befand er — alles auf einmal, offen und nackt. Nur der große Gott konnte die Dinge so sehen, nur ein Gott würde die Dinge so sehen wollen.
Doch obwohl er zwischendurch daran zweifelte, dass er überhaupt etwas Brauchbares zustande bringen würde, geschweige denn schnell genug, um dazu beizutragen, dass sein Volk die Belagerung überlebte, fand sich Chert von der Aufgabe fasziniert. Seine Tafeln und Pergamente hatten den Tisch des Dormitoriumszimmers überwuchert, bis Opalia schließlich einen zweiten Tisch verlangt hatte, »damit gewisse Leute auch irgendwo essen können — falls sie dafür je lange genug Pause machen.« Wenn er vor den Dutzenden Karten saß, die ihn die Metamorphose-Brüder auf Magister Zinnobers Geheiß aus der Tempelbibliothek hatten ausleihen lassen, fühlte sich Chert, wenn auch vielleicht nicht wie ein Gott, so doch mehr als in seinem gesamten bisherigen Arbeitsleben wie ein richtiger Ingenieur.
Jemandes Darstellung der Welt zu betrachten, war eine Sache, selbst eine zu entwerfen, eine ganz andere. Nachdem er lange darum gerungen hatte, wie er alles in eine einzige Zeichnung bringen könnte, hatte er sich für eine Kombination entschlossen: Karten sämtlicher einzelnen Ebenen und eine größere Zeichnung, die zeigte, wie diese Ebenen zusammengehörten. Damit und mit etwas Vorstellungskraft müsste Ferras Vansen in der Lage sein, sich einigermaßen in der Welt der unterirdischen Gänge zurechtzufinden.
Opalia zog zwar öfter in Zweifel, dass ihr Mann noch ganz bei Trost war, sich auf eine solche Aufgabe einzulassen, verbrachte aber jeden Abend geraume Zeit damit, ihm bei der Arbeit zuzusehen, Fragen zu stellen und sich sogar gelegentlich einzumischen, obwohl sie verkündete, dass sie das alles nicht im Geringsten interessiere. Auch Flint kam herein, um Cherts Werk zu betrachten, es geradezu zu studieren, als wollte er es sich einprägen, aber wenn es in ihm irgendwelche Gedanken auslöste, behielt er sie für sich.
Flint war nicht so gesprächig wie beim letzten Mal, als sie zusammen den Tempel verlassen hatten. Ja er sagte überhaupt nichts.
Na ja, es ist ja nur wieder so, wie es immer war, oder? Chert machte es ohnehin nicht viel aus: Er versuchte, die Dinge im Kopf auf eine Art zu sehen, wie er sie noch nie gesehen hatte, darauf zu achten, wie die Gänge und Höhlen tatsächlich zusammenhingen, statt sich einfach mit den üblichen Zunft-Kürzeln zu begnügen, die für das Erfassen mancher Dinge besser waren, für andere hingegen nicht so gut. Er hatte mehrere Stücke Leuchtkoralle dabei, die größer waren als sonst auf Wanderungen üblich — wenn er auf ein Detail stieß, das für seine Karten wichtig war, wollte er es gut genug sehen können, um es genau festzuhalten.
Sie gingen die Kaskadentreppe hinunter, doch als sie unten waren und Chert sich umdrehte, sah er Flint nicht. Kurz überkam ihn Panik — Panik und noch etwas anderes, das er nicht so leicht benennen konnte —, dann kam der Junge um die Biegung. Er war nur ein paar Stufen hinter ihm zurückgeblieben. Trotzdem, irgendetwas löste dieser Moment in Chert aus.
Als sie weitergingen, wurde es ihm klar. Das letzte Mal waren der Junge und er auf der Suche nach Chaven hier gewesen, und Flint hatte sich tatsächlich verlaufen. Als Chert ihn gefunden hatte, hatte er gleichzeitig den Spalt in der Felswand entdeckt, aus dem der Geruch des Meeres der Tiefe drang, des silberfarbenen Sees rings um die Insel des Leuchtenden Mannes, wo Chert einige Zeit zuvor den Jungen um ein Haar für immer verloren hätte. Jetzt aber war es ein technisches Detail des Ganzen, das ihn beschäftigte.
Auf seinen Karten hatte er das verzeichnet, was seiner Meinung nach eine Art Kamin war, der sich vom Meer der Tiefe bis an die Oberfläche des Midlanfels hinaufzog — wobei er über die Form und den genauen Verlauf dieses Kamins nur spekulieren konnte. Was er jedoch vergessen hatte, war, auch die Stelle einzuzeichnen, wo der Junge den Spalt in der Wand des Kamins entdeckt und er, Chert, den unverwechselbaren Geruch des Meers der Tiefe gerochen hatte — einen Geruch, den er immer noch nicht in Worte fassen konnte. Vielleicht war diese Stelle ja der einzige Zugang zu dem Kamin von den Mysterien aus. Sie gehörte auf die Karte.
»Weißt du noch, Junge, wie wir das letzte Mal hier waren und du aus Versehen einen Seitengang entlanggegangen bist und mich dann gerufen hast ...?«
Ein wenig erstaunte es Chert doch, dass der Junge sich nicht nur daran erinnerte, sondern seinen Adoptivvater prompt in eine Richtung zu führen begann, die in etwa die richtige schien.
Der Weg kam Chert länger vor, als er ihn in Erinnerung hatte, aber es zeigte sich bald, dass Flint ihn tatsächlich genau kannte, denn er führte seinen Stiefvater durch die Fünf Bögen und die Große Unterwasserstraße entlang — jenen langen Sturmstein-Stollen, der drüben auf der anderen Buchtseite an die Oberfläche kam —, und noch ehe eine Stunde vergangen war, erreichten sie den Sackstollen und den schwarzen Spalt zwischen zwei Gesteinsplatten, der sich dann doch nicht als ein bloßer Schatten erwiesen hatte, sondern als Loch zu dem mächtigen Kamin, der vom Meer der Tiefe kam. Als Chert sich dicht an den Spalt beugte, roch er wieder den schwachen Geruch des Sees.
»Er muss bis an die Oberfläche gehen«, sagte er. »Muss so sein. Warum scheint weder über der Erde noch hier unten irgendjemand davon zu wissen?«
»Was gibt es, Papa Chert?«, fragte der Junge in diesem merkwürdig erwachsenen Ton, den er manchmal hatte. »Was sagst du?«
»Dieser ... Kamin, das Loch da vor uns. Soweit ich es beurteilen kann, führt da ein Schacht vom ... von da, wo ich dich damals gefunden habe« — aus irgendeinem Grund scheute er sich, vom Leuchtenden Mann zu sprechen — »bis an die Oberfläche des Midlanfels.«
»Ah.« Flint nickte, aber irgendwie hatte sein Verhalten immer noch etwas Seltsames. »Warum fließt dann das Meer nicht rein?«
»Die Öffnung muss irgendwo oberhalb der Wasserlinie sein, sonst wäre hier tatsächlich alles überflutet«, erklärte Chert. »Der Salzsee liegt genau auf Meereshöhe, wenn also das Meer eindränge, stünde alles, was darunter liegt, unter Wasser — das Labyrinth, die fünf Bögen, sogar der Tempel.«
Chert nahm eins der größten Korallenstücke in die Hand, zurrte seine Stirnlampe fester, damit sie nicht abfiel, und steckte dann den Arm in den Spalt. Er zog den Bauch ein, damit er auch seinen Körper hineinzwängen konnte.
Er sah nicht viel mehr als seinen eigenen Arm und das Leuchten des Korallenbrockens in seiner Hand, aber zwei Dinge erkannte er sofort: Dieser Kamin war breiter, als er gedacht hatte, vielleicht einen guten Seilwurf im Durchmesser, und dort drüben in der Wand des annähernd zylindrischen Schachts, einige Klafter entfernt, waren ein solider Felssims und dahinter eine schwarze Nische, so hoch, dass ein Mann von Cherts Größe aufrecht darin stehen konnte. Vielleicht ein Gang? Das wäre eine Möglichkeit, auf den Sims zu gelangen und den mächtigen Schacht genauer zu inspizieren.
Da Flint dünner war als er, hielt er den Jungen so fest am Gürtel, dass ihm die Fingergelenke wehtaten, als er ihn hinausgebeugt den Sims betrachten ließ.
»Meinst du, wir könnten da hinfinden, Junge?«, rief er.
Flint antwortete erst, als er wieder sicher im Spalt stand. »Glaub schon«, sagte er nur. Sein seltsames Erwachsenenverhalten schien von ihm abgefallen.
Tatsächlich brauchten Chert und der Junge, obwohl sie ihr Mittagessen im Gehen verzehrten, fast zwei Stunden, um die Stelle zu finden. Das lag einerseits daran, dass sie erst weit hinabgehen mussten, bevor sie den richtigen Weg hinauf fanden, aber es hatte, wie Chert beschämt einräumen musste, auch den Grund, dass er die Entfernung falsch geschätzt hatte und Flint mehrmals zum Umkehren zwang, weil er hätte schwören können, dass sie schon zu weit gegangen waren.
Der Sims, den er gesehen hatte, war nicht ein paar Klafter entfernt gewesen, sondern ein paar hundert, und viel größer, als er gedacht hatte. Als sie ihn schließlich gefunden hatten, erkannte Chert zu seinem Erstaunen, dass es nicht einfach nur ein kleiner Vorsprung war, sondern ein regelrechter Balkon, ein Dutzend Funderlingsellen tief und drei bis vier Mal so breit, der wesentlich mehr Leuten Platz bot als nur Flint und ihm. Selbst das, was von dem weitgehend natürlichen Gang auf der anderen Seite aus nur ein Spalt gewesen war, war vom Kamin her gesehen breit genug, um einem Großwüchsigenfuhrwerk Durchlass zu bieten.
Ein Schauer, halb Ehrfurcht, halb schlichte Furcht, überlief Chert. Der Schlund, dachte er. Es ist der J'ezh'kral-Schlund selbst, und nur ich habe ihn entdeckt? In den Funderlingsmythen war der Schlund — auch J'ezh'kral-Höhle oder -Schacht genannt — jenes Loch in der Erde, das ins sagenhafte Reich des Herrn des Heißen, Nassen Steins hinabführte, dorthin, wo die Funderlinge einst erschaffen worden waren. Aber was sonst sollte das hier sein, ein gewaltiger Kamin, der von der Oberfläche der Welt bis in die tiefsten Mysterien reichte? Und warum hatte ihn noch niemand kartiert? Wussten die Metamorphose-Brüder von seiner Existenz? Verheimlichten sie sie dem Rest ihres Volkes?
Halt dich an dein Gerüst, eh du dir den Hals brichst, Blauquarz, ermahnte er sich. Fang gar nicht erst an, über solche Dinge nachzudenken. Da wirst du nur verrückt oder ängstigst dich selbst zu Tode. Zeichne es alles auf der Karte ein.
»Sei so gut und bleib einen Moment still sitzen, Junge«, sagte er zu Flint. »Es dauert nicht lange.«
Paradoxerweise war es das brave Verhalten des Jungen, das Chert bewusst machte, wie lange sie schon hier waren: Er hatte so viele Notizen und Skizzen zu dem Sims und dem riesigen Kamin gemacht, wie er nur konnte, und wollte gerade sein Handwerkszeug wegpacken, als ihm plötzlich aufging, dass er von Flint bestimmt schon eine Stunde lang keinen Mucks gehört hatte. Er drehte sich bestürzt um, sicher, dass der Junge wieder verschwunden war, aber Flint saß ein paar Schritte weiter ruhig da, den Blick in den riesigen Schacht gerichtet.
»Bei den Alten der Erde, ich habe dir heute eine Menge abverlangt, Junge, und du hast alles getan, worum ich dich gebeten habe«, sagte Chert in einer jähen Anwandlung von Stolz. »Komm, wir gehen zurück, und ich schaue mal, ob ich irgendwo Brot und ein bisschen Honig auftreiben kann, den diese gierigen Mönche für sich behalten haben — du hast etwas Leckeres verdient.«
Flint lächelte — ein seltenes Ereignis, aber Honig war derzeit in Funderlingsstadt schwer zu finden und seine Leib- und Magenspeise. Er sprang rasch auf und führte Chert zu einem breiteren Gang zurück, der sie wieder zur Großen Unterwasserstraße bringen würde. Doch als Chert in den breiteren Stollen hinaustrat, prallte er gegen Flint, der abrupt stehen geblieben war, und beide starrten den Fremden an, der vor ihnen aufgetaucht war.
Nein, kein Fremder, merkte Chert einen Herzschlag später, er kannte dieses schmale, seltsame Gesicht, den abwesenden Blick, ja selbst das Haar, das aussah wie mit einem stumpfen Feuerstein gestutzt. Mehr noch, er erinnerte sich an jeden einzelnen schrecklichen Augenblick, den sie zusammen verbracht hatten, einschließlich ihrer Verurteilung zum Tode durch diese Dämonin namens Yasammez. Er verstand nur nicht, warum der Mann noch am Leben war.
»Gil«, sagte er. »Euer Name ist Gil.«
»Ja, einst war ich Gil. Davor war ich Kayyin. Jetzt bin ich wieder Kayyin.«
»Kennt Ihr mich noch? Ich bin Chert Blauquarz, und das ist mein Sohn Flint. Ihr und ich, wir waren gemeinsam bei der dunklen Fürstin — Yasammez. Um ehrlich zu sein, ich habe nicht damit gerechnet, Euch je wiederzusehen — ich war mir sicher, dass sie Euch töten würde.«
»Das wird sie vielleicht auch noch tun. An manchen Tagen erscheint es ihr eine bessere Idee als an anderen.« Er zuckte die Achseln, und die fließende Anmut der Qar, mit der es tat, wirkte bei einem so menschlich aussehenden Wesen merkwürdig. »So ist das nun mal in Familien.«
Es dauerte einen Moment, bis das bei Chert ankam. »Moment mal — Familien? Ihr seid mit der dunklen Fürstin verwandt?«
Kayyin nickte. »Sie ist meine Mutter. Eine Zeitlang war mir das entfallen.«
Chert wusste nicht, was er sagen sollte. »Tja, also ... freut mich, Euch zu sehen, Gil. Kayyin.« Er schüttelte den Kopf. »Wie seltsam, Euch einfach so zu treffen, mitten im Nirgendwo? Was führt Euch hier heraus?«
»Ach, ich mache oft weite Spaziergänge«, sagte Kayyin. »Und es ist lange her, dass ich unsere alten heiligen Stätten im Midlanfels zuletzt gesehen habe.«
»Ihr müsst mitkommen und im Tempel mit mir ein Bier trinken. Wir beschaffen uns ein Fässchen von Bruder Bierbrauers Bestem, und dann erzählt Ihr mir, was seit damals passiert ist ...«
Kayyin schüttelte den Kopf »Tut mir leid, Freund Chert — vielleicht ein andermal. Jetzt habe ich zu tun.«
»Natürlich«, sagte Chert. »Dann ein andermal.«
Als sie auf die Große Unterwasserstraße gelangten, wandte sich Kayyin in die Gegenrichtung zu Cherts Rückweg. »Lebt wohl, Chert Blauquarz. Ich hoffe, eines Tages werden wir dieses Bier zusammen trinken.«
»Ich kann nicht so tun, als würde mich noch irgendetwas überraschen«, sagte Chert zu Flint, als sie dem Zwielichtler nachblickten. »Los, Junge, wir haben uns viel zu lange da draußen herumgetrieben. Gehen wir. Opalia wird mit Sicherheit zum Abendessen zurück sein und mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn wir es nicht sind. Und wenn sie dahinterkommt, dass ich dich mit nach draußen genommen habe, wird sie mir das Fell wieder annähen, nur um es mir noch mal über die Ohren zu ziehen, also sollten wir uns besser beeilen.« Aber der Gedanke, den Chert nicht verscheuchen konnte, hatte nichts mit Opalia zu tun. Er fragte sich immer wieder, was genau Kayyin hier draußen wollte, an diesem abgelegenen Ort. Konnte es wirklich Zufall gewesen sein? Wenn ganz in der Nähe dieser Kamin — der Schlund, wie Chert ihn inzwischen bei sich nannte — bis in die Mysterien hinabführte, just an den Ort, um den es momentan allen ging, den Funderlingen, den Qar und selbst diesem Südländerkönig, dem Autarchen?
Zufall? Wirklich?
»Was haltet Ihr von Kupfers Idee?«, fragte Vansen, während er und Zinnober in der flachen Felswandhöhlung, die als Feldbefehlsstand genügen musste, das Brot brachen. Der Ratsherr hatte den ganzen Weg hier heraus zum Mondlosen Grund gemacht, wo Ferras Vansen mit ein paar hundert Funderlingen und Qar die Truppen des Autarchen schon seit drei Tagen aufhielt. Vansen jedoch war es gar nicht recht, Zinnober längere Zeit hier zu haben. Der Ort war zu gefährlich und Zinnober zu wichtig. Die Zunft, dachte Vansen, hatte viel Verstand bewiesen, indem sie Zinnober so weitreichende Macht übertragen hatte — das Oberhaupt der Quecksilbersippe war einer jener seltenen Politiker, deren Fähigkeiten es leichter machten, unangenehme, aber wichtige Dinge zu erledigen.
»Seinem Plan, Männer in den Rücken der xixischen Vorhut zu schleusen?« Zinnober schüttelte den Kopf »Keine Chance. Ihr habt doch dieselben Berichte gehört wie ich — Kupfer und Jaspis haben bereits die Hälfte des Höhlensystems aufgeben müssen. Sie können es niemals so lange halten, bis wir Verstärkung dorthin schaffen könnten, geschweige denn bis wir uns um die Xixier herumgegraben hätten. Diese alten Gänge sind garantiert voller Einsturzstellen. Nein, wir müssen uns zurückziehen und versuchen, sie am Ockerschlauch aufzuhalten.« Zinnober seufzte und trank dann in einem langen Zug von seinem Moosbräu.
Vansen tat es ihm nach. Das Getränk würde nie ein vollwertiger Ersatz für richtiges Bier sein, dachte er, oder auch nur für den sauren Honigwein, den sein Vater so gern gemacht hatte — das Funderlingsbier schmeckte für seinen Gaumen zu sehr nach nasser Erde —, aber er hatte in seinem Leben schon Schlimmeres getrunken, zumindest nach Aussage der Männer, die ihn danach in die Wachstube zurückgetragen hatten. »Gut, ich überlasse es Euch, das Kupfer zu erklären.«
Er blickte zum anderen Ende des Unterstands, wo Rabenvogel, einer der Qar-Führer, die Errichtung eines Walls in der Mitte der Höhlenkammer durch einen Funderlingsarbeitstrupp beaufsichtigte. Vansen wünschte, ihnen blieben noch ein paar Vorbereitungstage — mit genügend Zeit könnten die geschickten Funderlinge selbst den breiten Mondlosen Grund nahezu hermetisch abriegeln —, aber das stand nicht zu erwarten. »Was sind denn die letzten Nachrichten von Kupfer und Jaspis?«
»Sie halten immer noch die untere Hälfte des Höhlensystems, aber man kann es nicht anders nennen als einen langsamen Rückzug. Jaspis sagt, sie haben schlimme Verluste. Mögen die Alten der Erde uns verzeihen — die meisten seiner Soldaten sind noch halbe Kinder ...«
»Ja — mögen die Drei sie erheben.« Vansen schlug ein Zeichen auf der Brust, und sein Gesicht verhärtete sich zu einem Ausdruck des Schmerzes, aber er bemühte sich gleich wieder um eine neutrale Miene. »Und was gibt es sonst noch Neues? Irgendeine Nachricht von meinem oberirdischen Herrn Avin Brone?«
»Nichts. Und wir finden auch keine Möglichkeit mehr, ihm Botschaften zukommen zu lassen. Wir haben mehrmals versucht, jemanden durchs Haupttor zu schmuggeln, aber die Großwüchsigenwachen lassen es nicht zu — sie sagen, jeder Funderling, der in die Burg hinaufwill, braucht eine Genehmigung von Reichshüter Tolly persönlich. Und die unbekannteren Wege führen entweder ans Festland und zum Autarchen, so wie Sturmsteins Große Unterwasserstraße, oder sind von Soldaten des Protektors bewacht wie der Gang zum Keller von Chavens ehemaligem Haus. Wohin wir auch gehen, wartet der Feind schon wie eine hungrige Katze vor einem Mauseloch.«
Vansen verzog das Gesicht. Es widerte ihn immer noch an, wenn Hendon Tolly als irgendwessen »Protektor« bezeichnet wurde: Jeder in der königlichen Garde wusste um die Interessen und Praktiken des jüngsten Tolly-Bruders. »Geht nicht das Risiko ein, jemanden durchs Haupttor zu schicken«, sagte Vansen. »Tolly ist ein Ungeheuer, aber ein gerissenes. Er würde aus jedem Boten binnen kurzem all unsere Geheimnisse herausholen, selbst aus Euch oder mir.«
»Dann müssen wir Euren Brone und alles, was er uns an Hilfe schicken könnte, abschreiben, für den Augenblick zumindest. Außerdem haben er und der Rest Eures Volkes sowieso schon genug auszuhalten — der Autarch beschießt sie Tag und Nacht. Es gibt Nächte, da höre ich bis hier unten die Kanonenkugeln gegen die Mauern krachen, durch Tonnen und Abertonnen von Stein.« Zinnober stippte den kurzen, dicken Zeigefinger in verschüttetes Moosbräu und malte ein paar dunkle Kringel an die Höhlenwand. »Also müssen wir einen weiteren Rückzug in die Wege leiten. Tut mir aufrichtig leid, Hauptmann Vansen. Wir haben viel von Euch verlangt und Euch wenig gegeben, womit Ihr es vollbringen könntet.«
»Ihr habt mir alles gegeben, was ihr habt. Mehr könnte niemand tun.«
Zinnober lächelte — vielleicht das müdeste und matteste Lächeln, das Vansen je im Gesicht des fröhlichen Ratsherrn gesehen hatte. »Stimmt, mein Freund, mehr kann niemand tun.«
Kurz nachdem Vansen Zinnober zum Tempel zurückgeschickt hatte, unternahmen die Truppen des Autarchen einen weiteren Versuch, die Verteidiger aus dem Mondlosen Grund zu vertreiben. Der Angriff kam jäh und schnell. Eins der schrecklichen Skorpa-Monster schob sich mit Wucht über die improvisierte Barrikade, die die Funderlinge errichtet hatten, und scheuchte die dahinter postierten Wachen auseinander wie Käfer. Bis Vansens Männer einen Speerwall gebildet und die Kreatur aufgehalten hatten, ergoss sich bereits eine Schar xixischer Musketiere aus einem Seitengang in die geräumige Höhle. Binnen Augenblicken hatten die Xixier ihre Musketen ausgerichtet und begannen zu feuern. Dem Panzer des Askorab vermochten ihre Kugeln nichts anzuhaben, aber von den weniger gut geschützten Funderlingen und Qar fielen etliche unter der ersten Salve. Vansen rief den Verbliebenen zu, sich hinter den höheren, aber noch unfertigen Schutzwall am hinteren Ende der Höhle zurückzuziehen, wo der Rest der Truppe bereits Deckung gesucht hatte. Die Männer kamen dem Befehl nach, und es war zwar ein chaotischer Rückzug, aber eine im richtigen Moment losgelassene Pfeilsalve des winzigen Qar-Bogenschützenkontingents gab ihnen eine gewisse Deckung: Die allermeisten konnten sich hinter dem Wall in Sicherheit bringen.
Vansen kroch zu Rabenvogel, der gerade in aller Gelassenheit einen Stofffetzen von einem Ärmel um das blutige Fleisch seines Oberarms wickelte, wo ihn eine Kugel getroffen hatte. Das Blut war selbst im trüben Laternenschein rot, aber das war auch das Einzige an Rabenvogel, was Vansen normal erschien. Das Gesicht des Zwielichtlers, so hager und so langnasig, dass es eher einem Vogel als einem Mann zu gehören schien, war mit einem schillernden Daunengefieder bedeckt, das bei hellerem Licht lila oder manchmal auch rosa und blau, jetzt aber einfach nur schwarz wirkte. Das ließ seine leuchtend gelben Augen umso stärker hervorstechen. Auch sein Körper schien da, wo er unter der knappen, leichten Rüstung hervorguckte, mit der gleichen Art Daunen bekleidet.
Bei ihrer ersten Begegnung hatte ihn Vansen geraume Zeit angestarrt, aber bald schon hatte nur noch die Kriegerpersönlichkeit des Qar gezählt: Er war offensichtlich schlachterprobt, und wenn das, was in seinen Adern floss, auch wie Blut aussah, hätte man es von seinem Verhalten her eher für etwas Ruhigeres und Kälteres gehalten.
»Wir haben kein Serpentin mehr, sonst hätten wir den Stein über uns zum Einsturz bringen und dem allen hier ein Ende machen können«, sagte Rabenvogel und hob den Kopf, um über den Wall zu blicken, als pfiffen ihm keine Bleikugeln um die Ohren. Er wandte sich an Dolomit, einen von Jaspis' Zunftwächtern, der der ranghöchste Funderlingskrieger hier im Mondlosen Grund war: »So nennt ihr doch hier den schwarzen Sand? Bei meinem Volk heißt er Krummlings Feuer.«
»Weiß nichts von Krummlings Irgendwas«, sagte Dolomit mit einer Grimasse. Wie Schlegel Jaspis hatte auch er fast alles gesehen, was seine kleine Welt an Übeln zu bieten hatte, und ließ sich nicht gern dabei ertappen, dass er Nerven zeigte. »Sprengpulver sagen wir dazu. Aber wenn wir keins haben, haben wir keins. Wir müssen uns eben an den Ockerschlauch zurückziehen und sie dort aufhalten.«
»Trotzdem«, sagte Rabenvogel. »Wäre gut, ein paar von diesen berstenden Feuerkugeln zu haben, die Euch Euer kleiner Freund gebracht hat, Vansen. Wir könnten eine davon direkt unter diesen stinkenden Seliet rollen und ihn in Splitter reißen.«
»Wir haben so viele wie möglich angefordert, aber im Moment besitzen wir keine«, sagte Vansen knapp. »Sonst noch Vorschläge?«
»So lange mit irgendwas auf sie einstechen, bis sie alle tot sind«, steuerte Dolomit bei.
Eine weitere Salve Musketenkugeln zischte über sie hinweg. Das Knallen der Waffen erschütterte die Höhle dermaßen, dass Vansen schon fürchtete, sie würde über ihnen zusammenbrechen. »Ihr seid genauso ein begnadeter Taktiker wie Schlegel Jaspis«, erklärte er dem Funderling. »Also, wenn Ihr nichts anderes zu tun habt, lasst uns jetzt wieder die Aufgabe in Angriff nehmen, dieses Monstrum zu töten.«
Sie überlebten zwei weitere Angriffe der xixischen Soldaten und ihres Schoßtierchens, vermochten aber den Ansturm jedes Mal nur knapp aufzuhalten und mussten ihr Äußerstes geben, um das noch unfertige Ende des Walls zu verteidigen. Der Skorpa attackierte immer wieder auf dieser Seite, wild entschlossen, an das widerspenstige, aber verlockende Fleisch zu gelangen, das er roch.
»Da! Das ist die verwundbare Stelle des Seliquet!«, rief Rabenvogel, als der vielbeinige Schrecken wieder mit klackenden Scheren über ihnen aufragte. Aus diesem Blickwinkel konnte Vansen eine blasse, ovale Fleischblase am Unterleib der Kreatur erkennen, dort, wo die Beine zusammentrafen. Rabenvogel und die anderen rammten jetzt ihre Speere in diese ungeschützte Stelle. Das Monstrum bäumte sich mit einem grässlichen Zischen auf, wich zurück und zertrampelte dabei, was ihm an Xixiern nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Sein stolpernder Rückzug führte es rasch aus dem Mondlosen Grund hinaus, in die oberflächennäheren Gänge, die die Soldaten des Autarchen bereits erobert hatten. Die Entsetzensschreie der Verstärkungstrupps, die offenbar bereits durch diese Gänge kamen und es jetzt mit der unkontrollierten, verstörten Kreatur zu tun hatten, machten den Wallverteidigern neuen Mut. Vansen führte einen Ausfall über den Wall an, und wenn dabei auch mehrere Männer getötet wurden, machten die übrigen doch kurzen Prozess mit denjenigen Xixiern, die sich nicht ergeben wollten, erst recht aber zögerten, in die Scheren ihres eigenen Monsters zu flüchten.
»Das sind jetzt mindestens ein halbes Dutzend, die wir erledigt haben«, sagte Dolomit, als er und die übrigen Kämpfer, Vansen eingeschlossen, Steine aufschichteten, um den Wall zu vollenden, solange die Xixier sich zurückzogen. »Was glaubt Ihr, wie viele sie noch haben?«
»Nicht viel mehr als hundert«, sagte Rabenvogel mit einem grimmigen Grinsen. Seine eigenen Leute halfen bereitwillig mit, obwohl manche von ihnen nicht gerade für Schanzarbeiten geschaffen schienen. Vansen konnte inzwischen schon fast vergessen, dass einige wie Frösche oder Füchse aussahen und andere sogar noch bizarrer. Allmählich wurden sie alle Brüder, eine Erfahrung, die ihm nicht neu war: Nichts hatte eine so gleichmachende Wirkung, wie gemeinsam dem Tod ins Auge zu blicken. Vielleicht konnten sie ja mit Hilfe dieser Qar den Xixiern doch so lange standhalten, bis Mittsommer vorbei war.
»Wir werden einen nach dem anderen erledigen«, sagte Vansen. »Bis wir das Schießpulver haben, um sie alle direkt vor Kernios' Tor zu pusten.«
Rabenvogel lachte. »Ihr seid witzig, Sterblicher. Wisst Ihr denn nicht, wo Ihr seid?«
»Wie meint Ihr das?«
»Wir sind schon an Kernios' Tor, Hauptmann. Das ist es doch, was sie hier belagern — was wir verteidigen? Unser Feind will den Palast des Kernios erobern? Wir sind die Garde des Todes selbst.«
Zunächst wusste Vansen nicht, was er meinte, dann dämmerte es ihm. Schließlich brachte er seinerseits ein grimmiges Lachen zustande. »Nun denn, Freund Rabenvogel, dann werden wir genau das tun — die Tore der Stadt des Todes verteidigen, bis wir selbst hineingebeten werden.«
Es war fast schon erleichternd, um die Vergeblichkeit ihres Tuns zu wissen. Vansen schüttelte den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit.
Als sie wieder in ihrem Zimmer waren, setzte Flint sich hin, um seine seltsamen, stillen Flint-Gedanken zu denken, und Chert beeilte sich, seine Notizen in Markierungen auf den Karten umzusetzen, ehe er vergessen hatte, was sie bedeuteten. Der ganze Schlund musste eingezeichnet werden, und ein Gutteil des Labyrinths jenseits der Fünf Bögen bedurfte ebenfalls der Überarbeitung. Während Chert zeichnete, gingen ihm immer wieder Sachen durch den Kopf, die Flint gesagt hatte. Sie beunruhigten ihn, ohne dass er genau sagen konnte, warum.
Als er gerade mit den Nachträgen fertig war und sich anderen Aufgaben zuwenden wollte, kam ihm plötzlich eine Idee — eine seltsame, phantastische, völlig verrückte Idee.
Eine ganze Weile saß er einfach nur atemlos da, selbst nicht sicher, ob an seinem Einfall irgendwas dran war. Opalia kam von ihren Betätigungen zurück und hatte tausend Dinge zu erzählen — was im Tempel vor sich ging und was sie gemacht hatte —, aber Chert hörte es kaum. Er tat sein Bestes, an den richtigen Stellen zu lächeln und die richtigen Sachen zu sagen, war aber in Gedanken ganz bei seiner Idee.
Es war eindeutig nicht die Sorte Idee, die er mit Opalia erörtern konnte, so sehr er ihren Rat auch schätzte. Es war schrecklich gefährlich, und sie hatte ihm ja praktisch erklärt, wenn er noch einmal wegginge und sich auf irgendwelche riskanten Sachen einließe, wo sie doch einen Jungen hätten, der ihn als Vater brauchte, wäre es das letzte Mal, dass sie unter seinem Steindach schlafe. Und da Chert ja nicht wusste, ob Vansen und die Zunft einer so irrwitzigen Idee auch nur Gehör schenken, geschweige denn zustimmen würden, hatte er nicht vor, jetzt schon mit seiner Frau eine Auseinandersetzung darüber zu führen (noch dazu eine Auseinandersetzung, die für ihn mit einer bösen Niederlage enden würde).
Er wollte nicht noch mehr Zeit vergeuden, die er dringend für seine Karten brauchte, aber er wollte auch nicht zu lange damit warten, seinen kühnen Plan Vansen, Zinnober und den Übrigen zu unterbreiten. Nach dem Ruf zum Abendgebet wartete Chert ungeduldig, bis Opalia und Flint eingeschlafen waren, stand dann auf, entzündete die Lampe und setzte sich wieder an seinen Tisch. Er legte alle Karten, die er für seine Berechnungen brauchen würde — es waren viele — auf einen Stapel, beugte sich dann im blakenden Licht der Lampe über die Tischplatte und machte sich auf die gute alte, solide Art, die ihn die Zunft gelehrt hatte, an die Ausarbeitung seines Plans, indem er seine Tafeln mit Zahlen und Symbolen füllte, die seine bizarre, abwegige Idee genau erläuterten.