19

Mummenschanz

»Der Norden war damals fast menschenleer; das lag an der großen Kälte, die eingesetzt hatte, nachdem im Götterkrieg Zmeos, der eifersüchtige Gott des Sonnenfeuers, von seinen drei Brüdern Perin, Erivor und Kernios besiegt worden war ...«

Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder

Ferras Vansen konnte kaum stillsitzen. »Wo sind sie? Wo bleiben die Qar? Ich dachte, wir hätten eine Abmachung?« Die fürchterliche Yasammez war natürlich undurchschaubar, aber ihre Ratgeberin Aesi'uah hatte Vansen so gut wie versprochen, dass die Qar Seite an Seite mit ihm und den Funderlingen kämpfen würden — was blieb den Zwielichtlern denn auch anderes übrig?

»Ich habe nichts dagegen, noch ein bisschen auf sie zu warten«, sagte Zinnober. »Das gibt mir Zeit, meine Rüstung anzulegen. Wo ist mein Sohn Kalomel? Er sollte mir doch dabei helfen.« Der Funderlingsratsherr schüttelte wehmütig den Kopf »Ich habe seit meinen Jünglingsjahren bei den Zunftwächtern keine Rüstung mehr getragen. Selbst wenn sie mir noch passt, fürchte ich, weiß ich nicht mehr, welcher Riemen in welche Schnalle gehört ... Kalomel? Wo bist du, Junge?« Als der junge Funderlingsbursche erschien, sagte sein Vater: »Geh, hol mir alles. Es ist Zeit.« Kalomel trottete davon.

Die Wachen brachten den Qar-Boten zu Vansen und den übrigen Kommandeuren.

»Spelter?«, sagte Malachit Kupfer. »Sie haben Euch geschickt?«

Vansen sah überrascht auf, als der Drag den improvisierten Befehlsstand betrat. Er mochte Spelter, aber warum sollten die Qar einen gewöhnlichen Kundschafter zu ihrem Abgesandten erkoren haben, wenn doch so viele andere wie etwa Aesi'uah die Sprache der Sterblichen nicht minder gut sprachen?

Der bärtige Drag verneigte sich mit einer kurzen, zackigen Kopfbewegung. Sein unergründliches Fuchsgesicht schien ausdrucksloser denn je. »Ratsherren, Hauptmann — ich überbringe Euch Grüße von Fürstin Yasammez.«

»Ich danke für die Grüße«, sagte Vansen, »aber was ich brauche, ist die Information, was sie zu tun gedenkt. Sie hat mir doch zu verstehen gegeben, dass der Autarch auch ihr Feind ist. Er rückt immer weiter vor, und wir lassen uns zurückfallen, um die Mysterien zu schützen.«

»Ja, das wissen wir«, sagte Spelter mit einem kurzen Nicken.

»Und? Kommt sie? Wird uns Eure Herrin zur Seite stehen, wie sie es praktisch versprochen hat?«

Einen Augenblick lang sah Vansen Unbehagen in Spelters dunklen Augen, ja vielleicht war da sogar ein gequältes Zucken unter dem Bart des Drags. Vansen gefror das Herz.

»Nein, Hauptmann«, sagte Spelter. »Wird sie nicht.«

»Was?« Zinnober stolperte vorwärts, seine Beinschienen über den Boden schleifend. »Sie kommt nicht? Aber wir haben Eurer Herrin Zuflucht in unseren unterirdischen Gängen gewährt — euch allen haben wir Zuflucht gewährt, als der Autarch anrückte! Und so vergilt sie es uns? Indem sie uns im Kampf allein lässt?«

»Tut mir leid, Magister.« Spelter wandte sich an Vansen und nickte wieder zackig. »Hauptmann.« Er hielt den Rücken durchgedrückt und blickte starr geradeaus, obwohl da nichts war, was er hätte anstarren können; ein Soldat war eben ein Soldat, offenbar auch bei den Qar. »Ich bedaure, diese Nachricht überbringen zu müssen. Ihr seid tapfere Verbündete. Mehr kann ich nicht sagen. Viel Glück.«

Vansen sah dem Drag nach, als der sich durch das Chaos des halb abgebrochenen Lagers entfernte. Ein paar Funderlinge starrten ihm furchtsam nach. Noch vor einem Jahr waren Drags und Qar nichts weiter gewesen als Gruselgeschichten für Kinder. Jetzt waren sie real.

Real, aber feige, dachte Vansen, plötzlich erbost. Er hätte wissen müssen, dass Fürstin Stachelschwein zu stolz und zu stur war, um ihren Hass auf Sterbliche zu überwinden — er hätte es wissen müssen! Jetzt hatte er seine Mitstreiter verraten, indem er ihnen Hilfe versprochen hatte, die nicht kommen würde ...

»Beim Gemächt der Brüder!«, stieß er voller Wut und Scham hervor. »Zinnober, ich habe versagt. Ich bin bereit, den Oberbefehl auf der Stelle Kupfer zu übergeben, wenn Ihr mich lasst.«

»Ihr werdet nichts dergleichen tun«, sagte Malachit Kupfer, der sich vor Schreck an dem Wasser, das er gerade trank, verschluckt hatte.

»Er hat recht«, sagte Zinnober. »Ihr werdet nichts dergleichen tun, Hauptmann. Wir haben Euch auf die oberste Sprosse der Befehlsleiter gehievt, weil Ihr dafür der beste Mann seid.« Er langte zu seinem Sohn Kalomel hinüber, um ein weiteres Rüstungsteil entgegenzunehmen, aber seine Hände zitterten. »Ihr habt nichts getan, was das in Frage stellen würde. Bei den Alten der Erde, Hauptmann Vansen, Ihr gebt doch wohl nicht Euch die Schuld daran, dass die Qar nicht kommen? Wenn Ihr nicht Euer Leben riskiert hättet, um mit ihnen zu verhandeln, würden wir jetzt gegen sie kämpfen und gegen diesen dreckigen Felsrattenschiss von Autarch!« Zinnober sah verlegen drein. »Tut mir leid, Junge. Sag deiner Mutter nicht, dass ich so was in deiner Anwesenheit gesagt habe.«

Jung-Kalomels Gesicht hellte sich merklich auf.

Vansen schüttelte den Kopf »Sprecht mich nicht so schnell frei, Magister. Vielleicht würden die Qar und der Autarch sich jetzt gegenseitig bekämpfen, wenn ich mich nicht eingemischt hätte.«

»Trotzdem«, sagte Kupfer, »redet nicht solchen Unsinn. Niemand hätte irgendetwas anderes getan, aber Ihr wart ohnehin der Einzige, der überhaupt etwas tun konnte.«

»Wieder hat unser alter Freund Kupfer recht«, sagte Zinnober und machte dann eine wegwischende Handbewegung. »Genug jetzt. Nur so viel noch, dass wir Euch nicht nur nicht aus Eurer Aufgabe entlassen werden, Hauptmann Vansen, nein, mein Volk wird sich ewig daran erinnern, was Ihr für uns getan habt.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Vorausgesetzt, die Alten der Erde bestimmen, dass mein Volk überlebt.«

Vansen, der gerade ganz Ähnliches gedacht hatte, nickte: »Ein kluger Soldat geht nie davon aus, dass die Götter gute Absichten honorieren.« Er spürte, wie er in seinem Pessimismus zu versinken drohte.

»Nun denn, wenn die Zwielichtler nicht kommen, haben wir wohl keine Veranlassung, noch länger zu warten. Ist hier alles bereit?«

»Ich nicht.« Zinnober kämpfte immer noch, die Zunge zwischen den Zähnen, mit seinem Brustpanzer.

Kalomel half seinem Vater, die Bändel zu knoten. »Er ist gleich fertig, Hauptmann.«

»Und er sieht ungemein fesch aus, unser Zinnober«, sagte Malachit Kupfer fast schon fröhlich, so als hätten sie nicht soeben erfahren, dass sie allein kämpfen mussten. »Überhaupt nicht wie ein dicker Bürgersmann, der alles vergessen hat, was er bei den Zunftwächtern gelernt hat.«

»Ja, ich bin sicher, sobald sie mich sehen, rennen die Soldaten des Autarchen allesamt davon«, sagte Zinnober, aber nach Lachen war doch niemandem zumute.

Er war ein Tier geworden, ein Wesen mit rauhem, verfilztem Haar und scharfen Zähnen. Er konnte sie riechen. Er wusste, dass die Soldaten sie übers Wasser gebracht hatten — er hatte ihre Witterung, und die sagte ihm alles. Er roch sogar das warme Blut, das hervorspritzen würde, wenn er sie zu packen bekam und biss und riss...

Daikonas Vo erschauerte und blinzelte mehrmals. Nein, er war kein Tier. Er war ein Mensch, wenn es auch immer schwerer wurde, sich daran zu erinnern. Er betrachtete die Leute um sich herum. Manche starrten ihn an. Er konnte nur vermuten, wie er jetzt aussah. Aber woran hatte er gerade gedacht ...?

Es fiel ihm wieder ein. Das Mädchen. Das Mädchen aus dem Frauenpalast. Er roch sie nicht, das war nur der Wahnsinn, der aus ihm sprach, aber er hatte gesehen, wie die Soldaten sie ergriffen und zu einem Boot geschleppt hatten. Er wusste, wohin sie sie brachten — zum Autarchen, dem herrlichen, mächtigen, tückischen, mörderischen Autarchen...

Es war wichtig, die Wahrheit festzuhalten und gegen den Wahnsinn zu verteidigen. Wenn Vo die Kontrolle verlor, das wusste er, würde er tatsächlich ein Tier sein — ein totes Tier, so tot und vergessen wie irgendein Köter, den man am Straßenrand verwesen ließ. Aber es gab Momente, in denen er wirklich das Gefühl hatte, das Mädchen riechen zu können, ganz gleich über welche Entfernung — er sah förmlich die Duftschleppe, die sie hinter sich herzog, sah sie in der Luft wehen wie Spinnweben, in langsamer Auflösung zwar, aber doch haltbar genug, um sich um ihn zu legen wie Nebel, ihn zu führen ...

Er riss sich gerade noch zusammen, ehe er wie ein Wolf zu heulen begann. Die Sonne war hell, und sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn ein Steinmetzmeißel gespalten. Die Leute um ihn herum waren zurückgewichen, und viele beäugten ihn ängstlich — er musste wieder vor sich hin geredet haben.

Vo senkte den Kopf und ging los.

Sie hatte ihn töten wollen. Dieser Gedanke half ihm weiterzugehen, wenn der Schmerz schier übermächtig wurde. Natürlich war das nicht das Schlimmste, was sie getan hatte — ja, es hatte eigentlich keine Bedeutung, außer dass es ihm eine Ermahnung war, nie wieder so nachlässig zu sein. Doch beim Versuch, ihn zu töten, hatte sie seine ganze köstliche schwarze Medizin ausgekippt, das Einzige, was das nagende Monstrum zu besänftigen vermochte, das der Autarch in Vos Innereien plaziert hatte. Jetzt wuchs die Pein in ihm von Stunde zu Stunde. Vo hatte seither andere Mittel ausprobiert, wildwachsende Heilpflanzen, die er im Wald gepflückt und gegessen hatte, und später dann, als er wieder in Dörfer und kleine Städte gelangt war, Sachen, die er sich von Apothekern und Heilern beschafft hatte, wenn möglich durch Diebstahl, wenn nötig durch Mord. Doch selbst die kundigsten dieser Provinzheiler kannten allenfalls den Namen von Malamenas Kimirs Elixier — gehabt hatte es keiner. Wenn er sich nicht ganz sicher gewesen wäre, dass er sterben würde, ehe er Agamid und Kimirs Laden erreichte, hätte er sich vielleicht schon auf den Rückweg dorthin gemacht, aber so hatte er nur eine Chance, den brennenden Schmerz in seinen Eingeweiden abzustellen: Sulepis vielleicht doch noch von seiner Nützlichkeit zu überzeugen, damit er ihn von diesen Folterqualen erlöste.

Also ging Daikonas Vo jetzt durchs Hafenviertel von Onir Beccan, dorthin, wo die Schiffe lagen, und ignorierte die hiesigen Apotheker, weil er sich weder den Zeitverlust noch die Ablenkung leisten konnte. Mit jeder Stunde wurde das Denken schwieriger. Manchmal war sein Kopf nur eine schwarze Höhle voller kreischender Fledermäuse. Manchmal krampften seine Beine so schlimm, dass er hilflos zu Boden fiel, aber er kam immer wieder hoch.

Jemand gab merkwürdige Geräusche von sich. Knurren und Keuchen und Murmeln.

Das war er natürlich selbst. Trotz der Schmerzen lachte Vo auf. Es war seltsam, verrückt zu sein, aber er hatte Schlimmeres durchgestanden.

Bemüht, das schreckliche Brennen in seinen Eingeweiden zu ignorieren, beobachtete Vo das kleine Schiff, das er sich ausgesucht hatte. Ein Ladekran hievte Vorratsfässer an Deck; halbnackte Männer zogen an den Seilen und verständigten sich mit lauten Zurufen. Konnte er es schaffen? Unwahrscheinlich: Nach den vielen xixischen Soldaten an Bord zu urteilen, hatte die Armee des Autarchen die Kogge aus Wildeklyff kurzerhand beschlagnahmt, was es Vo schwermachen würde, unentdeckt an Bord zu gelangen, zumal in seinem derzeitigen Zustand.

Erst als er widerstrebend beschlossen hatte, auf ein anderes Schiff zu warten, fiel ihm plötzlich das Schriftstück ein, das ihm dieser alte Vash einst gegeben hatte — die Vollmacht des Autarchen. Die Erinnerung fühlte sich seltsam an, als wäre das gar nicht ihm passiert, sondern jemand anderem, aber das Dokument hatte ihm gute Dienste geleistet, als er damals in Hierosol das erste Schiff requiriert hatte, und würde es vielleicht wieder tun ... wenn er es noch hatte ...

Zum Glück war Daikonas Vo über weite Strecken des letzten Monats gar nicht klar genug im Kopf gewesen, um sich an die Öltuchtasche unter seinem Gürtel zu erinnern, also steckte sie immer noch dort. Und das Schriftstück war auch noch da, wenn auch ein bisschen verwischt nach dem ungeplanten Salzwasserbad, als er von Vilas' Boot gesprungen und an die brenländische Küste geschwommen war. Aber das Falken-Zeichen Sulepis' des Dritten war eindeutig erkennbar, und die leuchtend zinnoberrote Tinte bewies, dass es keine Kopie war, sondern ein vom Autarchen persönlich beglaubigtes Schreiben. Das wasserfleckige Dokument fest in der Hand, ging er auf die Kogge zu und ermahnte sich, nicht aufzuheulen, so heiß sich die Sonne auch anfühlen und so schrecklich das Brennen in seinen Eingeweiden auch wüten mochte.

Der Mulasim, der Offizier, der kam, als ihn die Wachen an der Landeplanke riefen, war einer dieser alten Haudegen, die Vo zu Hunderten erlebt hatte. Während der Mulasim skeptisch die Dokumente beäugte, gafften die Soldaten hinter ihm Vo an. Vo hatte sein eigenes Spiegelbild schon lange nicht mehr gesehen, aber der Teil von ihm, der trotz des Schmerzes zu denken vermochte, wusste, dass er ein wüster Anblick sein musste. Auch wenn sie die Echtheit der Dokumente nicht in Zweifel ziehen würden, mussten sie sich doch fragen, ob er sie dem echten Bevollmächtigten gestohlen hatte.

»Hört zu«, sagte er, und es fühlte sich wie ein enormer Kraftakt an, ruhige, vernünftige Worte hervorzubringen. »Ich habe im Dienste des Autarchen Schweres erlitten. Ich habe überaus wichtige Informationen für ihn, die er sofort erhalten muss. Ich habe dem Goldenen rückhaltlose Treue geschworen. Wenn ihr euch weigert, mich zu seinem Heerlager zu bringen, bleibt mir keine andere Wahl, als euch alle zu töten und eure Herzen und Lebern zu essen, damit ich die Kraft habe, über die Brennsbucht zu schwimmen.«

Irgendetwas an seiner Rede musste überzeugend gewesen sein. Als das Schiff mit der Abendflut Onir Beccan verließ, war Vo an Bord und hatte das Deck weitgehend für sich.

Trotz der Gefahren, deren es vor allem im Dunkeln viele gab, war Matty Kettelsmit regelrecht beschwingt — außerhalb des Palastes und allein! So schlimm die Zustände inzwischen auch innerhalb der Burg selbst sein mochten, war das natürlich gar nichts gegen den äußeren Befestigungsring, wo sich so viele hungrige, verängstigte Menschen drängten, dass ein nächtlicher Ausflug dorthin lebensgefährlich war, selbst wenn man von den tückischen Ruinen absah, die das Kanonenfeuer des Autarchen hinterließ.

Zwei Tage Freiheit am Stück! Kettelsmit betete, dass Hendon Tolly noch etwas länger abgelenkt sein würde.

Er hatte erwogen, die späteren Nachtstunden abzuwarten, ehe er den Versuch unternahm, sich ins Haus seiner Schwester zu schleichen, aber der innere Befestigungsring war fast so voll mit Flüchtlingen wie der äußere; wenn er es anging, solange die Leute noch wach waren, würde ihm der Lärm der Flüchtlingslager Schutz bieten. Er durchquerte einen leerstehenden Laden, kletterte zu einem Fenster im ersten Stock des Hauses hinaus und zum Nachbarhaus hinüber und ließ sich dann in den Hof einer ebenfalls verlassenen Pferdemetzgerei fallen. Von hier verschaffte er sich Zutritt zu diesem Haus, stieg die Treppe hinauf, aufs Dach hinaus und hinüber aufs Nachbardach, unter dem sich seine Mutter ein Zimmer mit Elan teilte. Er beobachtete geraume Zeit die Straße, konnte aber niemanden entdecken, der so aussah, als überwachte er das Haus.

Zu Kettelsmits Enttäuschung war es seine Mutter, die auf sein diskretes Klopfen am Fensterladen reagierte. Sie hielt ihre Triskele ans Mieder gepresst, bis der Laden halb offen war, dann schoss die Faust mit dem Kettenanhänger so plötzlich durch die Öffnung, dass sie Kettelsmit am Kinn traf, als er gerade zum Reden ansetzte.

»Sei durch die Brüder gebannt, niederträchtiger Dämon?«, rief Anamesiya Kettelsmit und hieb ihm die Triskele aufs Ohr.

»Bei Zosim Salamandros, Weib, was tust du?« Er bemühte sich, leise zu sprechen, aber es kam dennoch als halberstickter Schrei heraus. »Du hast mir die Nase blutig geschlagen! Lass mich rein!«

»Matthias, du?« Seine Mutter trat zurück, und er fiel mehr oder weniger ins Zimmer. »Was machst du da, du Narr? Ich dachte, du wärst ein Dämon?«

Er saß auf dem Fußboden und versuchte sich erst einmal zu fassen. »Ich bin keiner. Können wir uns darauf einigen? Oder ziehst du es vor, mich wieder zu schlagen?«

»Matthias?«, sagte Elan, nicht vom Bett aus, sondern von einem Schemel am Tisch, wo die einzige Lampe im Raum brannte. Sie saß an einer Näharbeit und sah in den schlichten Kleidern seiner Schwester so hübsch aus, dass es einen Moment dauerte, bis ihm bewusst wurde, wie sie ihn eben genannt hatte. Nicht Matt und auch nicht Matty, sondern Matthias. So wie ihn seine Mutter nannte.

»Ja, ich bin's.« Er stand auf, wischte sich den Staub von den Kleidern und ein paar Tropfen Blut von der Oberlippe und ging dann zu Elan, um ihr einen Handkuss zu geben. »Ich wollte ...«

»Hast du mein Geld?«, fragte seine Mutter. »Das neue Tagzehnt hat schon vor drei Tagen begonnen.«

Kettelsmit schaffte es mit Mühe, nicht zu brüllen. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass dort draußen womöglich Spitzel standen, vielleicht sogar Bewaffnete, die das Haus beobachteten. »Ich war die ganze Zeit praktisch Hendon Tollys Gefangener, Mutter, er hat mich Tag und Nacht nicht von seiner Seite gelassen.«

»Oh, dann bist du also wirklich auf dem Weg nach oben.« Seine Mutter lächelte entzückt. »Wir haben es gehört, waren uns aber nicht sicher ...«

»Ihr Ärmster«, sagte Elan. »Könnt Ihr es aushalten? Er ist so brutal.«

»Ich möchte nicht darüber sprechen.« Er setzte sich im Schneidersitz neben sie. »Wie geht es Euch, edles Fräulein? Ertragt Ihr diese« — er sah seine Mutter an — »schwierigen Bedingungen?«

Sie lachte. »Bei dem, was um uns herum geschieht? Wusstet Ihr schon, dass das Erilo-Heiligtum nur eine Straße weiter von einer Kanonenkugel in Kleinholz verwandelt wurde? Ich kann mich glücklich schätzen, ein Dach überm Kopf zu haben und Menschen, die mir helfen.« Sie lächelte süßlich. »Eure Mutter war sehr freundlich.«

»Oh, und ich habe Fräulein Elan alles über die Wunder des Glaubens und die Güte der Götter erzählt. Sie ist praktisch entschlossen, sich von der Eitelkeit der Welt abzukehren und ein spiritistisches Leben als Trigonatsschwester zu führen.«

»Sprituelles«, sagte er obenhin. »Ich sehe, ich bin nicht der Einzige, der leidet. Ihr müsst ihr nicht zuhören, Elan. Sie ist es gewohnt, dass ihre Predigten ignoriert werden.«

Diesmal war das Lächeln der jungen Frau echter. »Nein, ich höre es gern. Vielleicht finde ich eines Tages wirklich ein wenig Frieden im Ordensleben ...« Sie sah den ungläubigen Ausdruck auf Kettelsmits Gesicht und missverstand ihn. »Nein, wirklich, ich sage das nicht nur Eurer Mutter zu Gefallen.«

Anamesiya Kettelsmit nickte zufrieden. »Fräulein Elan weiß, dass die Götter Sündhaftigkeit bestrafen und dass man der Strafe nur entgeht, indem man tut, was die Götter wollen ...«

»Aber Ihr habt uns noch gar nicht gesagt, was Euch hierherführt«, schnitt Elan die Auftaktsätze seiner Mutter ab. »Erzählt, Matthias.«

»Oh!« Er richtete sich auf. »Gut, dass Ihr mich daran erinnert — ich habe etwas für Euch.«

Er griff in seine Wamstasche, wo er es unmittelbar am Herzen getragen hatte. »Hier. Es ist ein Gebetbuch mit Bildern aus dem Leben Zoriens.« Er reichte es ihr. »Es hat einst Prinzessin Briony gehört. Ich habe es in der Kapelle gefunden.«

Elan betrachtete es eingehend, schien aber nicht gerade entzückt. »Das ist sehr schön, Matthias. Seht doch die Illustrationen! Meisterhaft!« Sie blätterte langsam, gab ihm das Buch dann zurück. »Aber ich kann es nicht annehmen. Es gehört der Prinzessin, und wenn sie zurückkommt, wird sie dieses hübsche Büchlein wiederhaben wollen.«

Er war überrascht und verwirrt. »Aber ... sie würde es doch sicher jemandem gönnen, der ... so gelitten hat wie Ihr ...«

»Nein, danke. Es ist nett gemeint und ein hübsches Buch, aber ich kann es nicht annehmen.« Sie sah ihn nicht richtig an. »Es gehört jemand anderem.«

»Aber was soll ich damit anfangen?«

Sie schüttelte den Kopf »Ich weiß es nicht, Matthias.«

Er war so enttäuscht, dass er kurz erwog, das Buch einfach dazulassen und zu gehen, aber seine Mutter beobachtete ihn mit so unverhohlener Genugtuung, dass er es sich anders überlegte und das Gebetbuch wieder in seine Brusttasche steckte. »Dann werde ich mir etwas einfallen lassen. Vielleicht stifte ich es dem Zorienheiligtum.«

»Habt Ihr sonst noch Neuigkeiten?«, fragte Elan. Er hatte jetzt das deutliche Gefühl, dass seine Anwesenheit eher erduldet als genossen wurde.

»Nicht viel«, sagte er und stand auf »Eigentlich habe ich gerade für Hendon Tolly etwas in der Erivor-Kapelle zu erledigen und sollte mich sputen. Die Situation im Palast ist ... nun ja, ehrlich gesagt, nicht gut. Tolly ist ziemlich seltsam und scheint überhaupt nicht die Absicht zu haben, dem Autarchen irgendwelchen Widerstand zu leisten — er ist kaum dazu zu bringen, mit Berkan Hud oder Avin Brone zu reden ...«

»Unser armer Reichshüter hat vergessen, dass die Götter keinem eine Bürde auferlegen, die er nicht zu tragen vermag«, sagte Kettelsmits Mutter salbungsvoll. »Er wird den Glauben wiedererlangen. Er ist ein braver Mann.«

Nicht einmal die frischbekehrte Elan konnte dem gänzlich zustimmen. »Wir müssen für Konnetabel Hud und Graf Brone beten, Anamesiya. Auch sie werden den Beistand der Götter brauchen.«

Anamesiya! Jetzt nannte sie seine Mutter sogar schon beim Vornamen! Was kam als Nächstes?

Er hätte nie gedacht, dass er einmal Ausreden erfinden würde, um Elan M'Corys Gegenwart zu entfliehen, aber genau das hörte er sich jetzt tun.

Unter den Tausenden von Menschen, die in Südmarksburg zusammengepfercht waren, schien allein Vater Uwin nicht mitbekommen zu haben, dass Krieg war, geschweige denn dass das Ergebnis dieses Krieges das Ende der Welt sein konnte.

»Ja, gewiss doch, gern. Wir haben derzeit so wenig Besucher!«, sagte der rüstige alte Mann, als er Kettelsmit in die Bibliothek der Kapelle führte. Sie befand sich im Südlichen Königlichen Kabinett, einem Gebets- und Kontemplationsraum, der zugleich als Arbeitszimmer des Hofgeistlichen diente. Es war noch kein Jahr her, dass Vater Uwin den langjährigen Hofpriester der Eddons, Vater Timoid, abgelöst hatte. »Was wünscht Protektor Tolly? Was können wir für ihn tun?«

Kettelsmit versuchte Vater Uwin zu erklären, was er bislang herausbekommen hatte. Es war ein verwirrender Mischmasch aus Zufallsfunden, Gerüchten und bizarren Ideen. Die letzten beiden Tage war er im großen Trigonatstempel im äußeren Befestigungsring damit beschäftigt gewesen, die dortigen Bücher zu studieren (wobei er die Wege natürlich nur bei Tageslicht zurückgelegt hatte). »Ich versuche herauszufinden, warum manche Hypnologen Südmark für einen so wichtigen Ort gehalten haben.«

»Hypnologen?« Der Priester legte den kleinen Kopf schief. Mit dem wackelnden weißen Haarbüschel auf seinem Kopf sah er aus wie ein verschrecktes Huhn. »Die Häretikersekte früherer Zeiten? Die, die glaubten, dass die Götter schlafen? Warum interessiert sich Reichshüter Tolly für so etwas?«

Diese Diskussion wollte Kettelsmit beenden, noch ehe sie begann. »Das muss er Euch selbst sagen, Vater. Meine Aufgabe ist es nur, das zu tun, was er mir aufträgt.«

»Gewiss, gewiss.« Uwin putzte seine Augengläser, die an einem scherenförmigen Gestell um seinen Hals hingen, und hob sie dann an die zusammengekniffenen Augen. »Da steht Clemon — ich glaube, er hat über sie geschrieben, wenn auch nur kurz. Aber das habt Ihr ja sicher schon in der Tempelbibliothek gefunden.«

»Ja, habe ich. Ich bin hierhergekommen, weil ich auf die Erwähnung eines heiligen Steins gestoßen bin, der nach Überzeugung der Hypnologen von den Göttern selbst stammte und auf den sich ein Gutteil ihres Glaubens gründete. Rhantys meint, der Stein sei hier in Südmark irgendwo unter der Erde verschollen. Ein anderes Buch hingegen behauptet, es handle sich dabei um eine Steinstatue, die unter König Kyril hier zur Schau gestellt worden sei — in der Erivor-Kapelle! Ist Euch darüber irgendetwas bekannt, Vater?«

»Eine Steinstatue, die den Ketzern heilig war, hier in der Kapelle?« Ihn schauderte, und er schlug ostentativ das Zeichen der Drei. »Das kann ich nicht glauben — gehört habe ich so etwas jedenfalls nie. Vielleicht könnt Ihr ja Vater Timoid danach fragen. Meines Wissens lebt er jetzt in der Universität auf der anderen Seite der Bucht ...«

Uwin bedachte offensichtlich nicht, dass zwischen ihnen und der Ostmark-Akademie das xixische Heer lag und ein Besuch dort, gelinde gesagt, schwierig wäre, selbst wenn die Universität nicht längst von einer der Invasionsarmeen niedergebrannt worden war. »Das wird sicher nicht nötig sein, Vater. Aber ich würde gern die Bücher hier durchsehen, wenn das möglich ist. Insbesondere interessieren mich eventuelle Aufzeichnungen Eurer Vorgänger.«

Uwin sah ihn misstrauisch an. »Die Beziehungen zwischen den Geistlichen der Erivor-Kapelle und der königlichen Familie sind streng vertraulich und die Gespräche nicht für Außenstehende ...«

Kettelsmit hob die Hand. »Mich interessiert nur das Journal oder wie auch immer das hier heißt. Vorgänge, Erwerbungen, solche Dinge.«

Der kleine Priester führte ihn zu einer Reihe dicker, ledergebundener Bücher. »Das sind die Eintragsbücher für die Regierungszeit König Kyrils. Viel Glück bei Eurer Suche.«

Als Uwin gegangen war, zog Matty Kettelsmit einen Stoß dicker Bücher aus dem Regal und setzte sich damit auf den Fußboden. Er hatte Uwin nicht alles gesagt, und eins der wichtigsten Details, die er ausgelassen hatte, war die höchst sonderbare Erklärung, wie die Steinstatue in die Kapelle gekommen sei. König Kyril, so hatte er gelesen, habe den Stein den Funderlingen im Zuge eines Streits abgenommen und dann Erivor gewidmet. Aber warum? Und wieso hatten die Hypnologen und andere Abweichler geglaubt, dass die Statue überhaupt irgendetwas mit den Göttern zu tun hatte?

Vor allem aber: Konnte diese Statue wirklich der Gottstein sein, den Hendon Tolly und der Autarch suchten? Bei diesem Gedanken überlief es Kettelsmit kalt. War es möglich, dass er das gefunden hatte, worum es bei diesem ganzen Krieg ging?

Nach etwa einer Stunde kam Uwin wieder. »Nun, wie steht's, Meister Kettelsmit? Fündig geworden?«

»Ich glaube schon, Vater. Hier.« Er tippte auf einen Eintrag und las vor: »Der Kapelle gestiftet von Seiner Majestät, König Kyril: Gottesstatue aus einem unbekannten Stein oder Edelstein, von einem Altar der Funderlinge unter der Burg stammend und vom König dem mächtigen Erivor gewidmet ... Das könnte es doch sein. Aber danach habe ich keine Erwähnung mehr gefunden ...«

»Jetzt haben wir so etwas nicht in der Kapelle«, sagte Uwin bestimmt. »Das wäre mir aufgefallen.«

»Ihr habt mich nicht ausreden lassen, Vater. Ich habe keine weitere Erwähnung gefunden bis hier — fünfzig Jahre später, in Vater Timoids eigenem Eintragsbuch, vor knapp zehn Jahren: ›Die Kernios-Statue, die König Kyril der Kapelle stiftete, ist gestohlen worden. Ich habe König Olin informiert und die Durchsuchung der Burg eingeleitet. Ich vermute den Dieb unter den Bediensteten.‹ Später erwähnt er, dass mehrere Bedienstete verhört und auch geprügelt worden seien, man aber von der Statue keine Spur gefunden habe.«

»Haben wahrscheinlich die falschen Bediensteten geprügelt«, sagte Uwin fröhlich. »Wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen. Ihr kennt doch sicher die berühmte Geschichte von dem Dieb, der einen goldenen Kelch von einem Perinsaltar stahl und dem sich das Gefäß durch die Tasche brannte, als wäre es geschmolzen ...«

»Nun ja, falls diese ... ›Kernios-Statue‹ jemanden verbrannt hat, ist es nirgends verzeichnet. Aber die wichtigste Frage ist doch, wo ist sie geblieben?«

»Vor zehn Jahren?« Uwin schüttelte den Kopf »Jemand hat die Statue vor zehn Jahren gestohlen, wo hier jeden Tag ein paar hundert Leute auf der Burg ein- und ausgehen und Dutzende von Schiffen an- und ablegen ...? Das Ding ist verschwunden. Tröstet Euch und den Reichshüter damit, dass es nicht viel wert gewesen sein kann, wenn nach dem Diebstahl so wenig Aufhebens darum gemacht wurde.«

»Ich glaube nicht, dass das Hendon Tolly ein großer Trost sein wird«, sagte Kettelsmit. »Aber ich werde es ihm sagen.«

Auf dem Rückweg fragte sich Kettelsmit, was er dem Reichshüter berichten sollte. Es habe da eine Statue gegeben, aber sie sei vor Jahren verschwunden. Nicht gerade die Sorte Resultat, die Tolly erfreuen würde.

Die Idee kam ihm just in dem Moment, als vier Männer aus dem Schattendunkel unter der Lagunenbrücke traten.

»Bitte, Leute, ich bin in Eile«, sagte er. »Ich habe kein Geld ...«

»Ganz arm seht Ihr aber nicht aus«, sagte der Anführer, ein Kerl, der nur ein Auge hatte, aber überaus breite Schultern und einen nicht minder imposanten Bauch. »Wenigstens diese hübschen Kleider werden wir von Euch kriegen.«

Kettelsmit hatte durchaus einiges dabei, was sie nicht verschmähen würden, zum Beispiel das Gebetbuch, das er Elan hatte schenken wollen. Doch als die drei anderen hinter ihren Anführer traten, ging ihm plötzlich auf, dass diese Männer sich vielleicht nicht damit begnügen würden, ihn auszurauben. Aber wenn sie ihn töteten, würde er nie erfahren, ob die Kernios-Statue wirklich Hendons Gottstein war?

Er hob die Hände. »Lasst mich etwas klarstellen.« Er griff langsam in sein Wams und zog den Geleitbrief heraus, den ihm Tolly gegeben hatte. »Ich stehe im Auftrag des Reichshüters persönlich. Wenn ihr mit eurem derzeitigen Leben nicht zufrieden seid, dann haltet mich nur einen Moment in meinen Verrichtungen für ihn auf, und ihr werdet erfahren, was wahres Leiden ist.«

Einer der Männer sah zuerst ihn, dann Einauge an. »Er arbeitet für Tolly.«

»Behauptet er?«, sagte der Anführer, aber die anderen wandten sich bereits ab.

»Ich will nicht, dass meine Eier in die Lagune fliegen und mein Kopf gleich hinterher«, sagte einer. »Wir suchen uns lieber jemand anders.«

So kam es, dass Kettelsmit kurz darauf in seinem alten Zimmer im Dienstbotentrakt der Burg stand und Puzzle wachrüttelte.

»Los, Alter, aufgewacht?«, rief er. »Ihr müsst mir erzählen, was Ihr über eine Kernios-Statue wisst, die vor Jahren aus der Erivor-Kapelle gestohlen wurde.«

Und trotz seines Schrecks und nachfolgenden Missmuts erzählte der alte Hofnarr Kettelsmit alles, woran er sich erinnerte.

»Bei den leisen Sohlen Zoriens«, sagte Kettelsmit, als der alte Puzzle schließlich schwieg, »das wird ja immer verrückter.« Er erhob sich, ging in der Schlafkammer auf und ab und versuchte, aus dem, was er gerade gehört hatte, schlau zu werden. »Hat dieses Rätselraten denn nie ein Ende?«, stöhnte er schließlich. »Was soll ich jetzt tun?«

Doch der Hofnarr schlief schon wieder.