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Schlangen und Spinnen
Das Etwas, das ihn verfolgte, kam näher, und als Giebelgaup sich umdrehte, konnte er es erstmals richtig sehen. Es war eine graue Teufelseule, ein riesiger Vogel mit Augen wie Lampen.
Teufelseulen waren Jäger der nächtlichen Lüfte — dass sie sich so tief unter die Erde verirrten, hatte er noch nie gehört, aber er konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Der lautlose Räuber war direkt hinter ihm, folgte geschickt jedem Schlenker, den Mockel flog, und fiel nie mehr als ein kleines Stück zurück. Giebelgaup fühlte die Anstrengung der Flattermaus, während die Eule nahezu mühelos dahinzugleiten schien. Dreimal war sie jetzt schon über Giebelgaups Kopf gewesen, bereit zum Zuschlagen, nur Mockels Wegrollmanöver im letzten Moment hatten ihn gerettet. Und der Ort, den ihm Chert genannt hatte, war noch so weit weg — er hatte noch nicht mal den halben Weg geschafft. Eulen konnten in völligem Dunkel jagen, wenn sie das Terrain kannten, und mit ihren lautlosen Schwingen und ihrem feinen Gehör brauchten sie auch in einer fremden Umgebung kaum Licht. Die spitzen Krallen würden zupacken, und dann würde dieser mächtige, krumme Schnabel ihn und die Flattermaus zerreißen.
Es war mit Abstand das beängstigendste Unternehmen seines abenteuerreichen Lebens. Er drückte sich dicht an Rücken und Hals der Flattermaus, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten und geschützter zu sein, während sie in rasendem Tempo durch die engeren Passagen dieser steinigen Tiefen kurvten, doch die Eule ließ sich nicht abschütteln: Sie war stark und verfolgte ihn mit einer Hartnäckigkeit, wie er sie von diesen großen Vögeln nicht kannte. Es war, als trüge sie selbst einen Giebelgaup auf dem Rücken, der sie beständig antrieb. Zweimal schon hatte er versucht, sich an Stellen zu verstecken, wo die Eule nicht hinkam, aber beide Male hatte sie so geduldig gewartet, dass er schließlich wieder hinausgeschossen und weitergeflogen war — er hatte einfach keine Zeit.
Sooft er sich traute, schwang sich Giebelgaup in den weiten Kamin hinaus, der ihn in die Tiefen und wieder herausgeführt hatte, und stieg schnell empor, um kostbare Höhe zu gewinnen, ehe ihn das Monster einholte und wieder in die engeren Nebengänge zurücktrieb. Nur so konnte er auch die richtige Richtung halten; bei diesem Wahnsinnstempo versagten selbst seine hervorragenden Instinkte in den Winkeln und Biegungen der kleineren Gänge, und sich zu verirren fürchtete er fast so sehr, wie gepackt und gefressen zu werden.
Aber spielte es überhaupt noch eine Rolle? Hatte der Funderlingsratsherr nicht erklärt, dass ohnehin nichts mehr zu machen war? »Jetzt sind wir alle tot«, hatte Zinnober gesagt.
Alle? Wer war damit gemeint?, fragte sich Giebelgaup, während er sich an die pelzige Flattermaus klammerte. Auch die Dachlinge? War das hier das Ende seines Volkes — konnte er gar nichts mehr bewirken?
Höchster, ist es wirklich dein Wille, dass dein braves und getreues ...
Ein Schwirren unterbrach sein Gebet — gerade eben hörbar. Giebelgaup sah sich nicht um — er kannte das Geräusch einer Eulenschwinge in nächster Nähe. Er riss am Zügel, und sie kippten genau in dem Moment ab, als die gespreizten Klauen über sie hinwegsausten — eine Spornkralle ritzte Mockels Flügel, und die kleine Kreatur schrie vor Schmerz und Schreck.
Lässt sich nicht abhängen, selbge, dachte er. Und verstecken hilft auch nichts. Nur eine Frage der Zeit, dass sie uns packt, und dann heim ins Nest mit dem Nachtmahl! Giebelgaup langte hinter sich, um den Griff seines Schwerts zu finden, aber das war schwer, während sie zwischen den Stalaktiten hindurchkurvten, die von der Decke dieser langen, schmalen Höhle hingen und das Einzige waren, was die Teufelseule verlangsamen konnte. Endlich ertastete er die Schwertscheide, die ihm von dem Geschüttel des Flugs fast bis ins Kreuz gerutscht war, und dann den Griff; auf dem nächsten halbwegs geraden Stück holte er tief Luft und zog Königin Sanasus Nähnadel.
Noch nie hab ich ein königliches Schwert gezogen, dachte er traurig. Nun ja, immerhin kommt's noch mal zum Einsatz, eh alles vorbei ist ...
Er schwenkte in den ersten Hohlraum ein, der nicht sofort wieder zu enden schien, froh, dass er eine Flattermaus ritt, die an solchen Orten jedem anderen Tier weit überlegen war. Er bemühte sich, dicht unter der Decke des Gangs, der eigentlich nur ein breiterer Spalt war, zu bleiben, aber das ging nicht immer. Als die Flattermaus abtauchte, um einer Serie herabhängender Steinvorhänge auszuweichen, griff die Eule wieder an. Giebelgaup drehte sich um, wobei er, festgebunden hin oder her, fast aus dem Sattel rutschte, nahm Maß und stieß zu. Alles, was er ausrichten konnte, war, den knotigen Zeh der Eule oberhalb der Kralle zu ritzen. Der Vogel stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus, flatterte wild und fiel wieder ein Stück zurück.
Macht diesen Fehler nicht noch einmal, selbge, dachte er. Kommt aber wieder, darauf kannst du dich verlassen.
Es war wie die schlimmsten Alpträume seiner Kindheit. Der kleine Giebelgaup hatte oft geträumt, dass er von Eulen und anderen Vögeln gejagt wurde, dass er mit schwachen, schweren Beinen über weite, freie Flächen rannte, während geflügelte Schatten immer dichter über ihm schwebten. Diesmal jedoch würde er nicht inmitten der beruhigenden, warmen Körper seiner Geschwister aufwachen.
Giebelgaup hatte den Vogel jetzt mehrmals gesehen. Er hatte eindeutig keinen Reiter, verfolgte ihn aber dennoch unerbittlich weiter. War die Kreatur krank? Tollwütig? Jede andere Eule hätte längst aufgegeben.
Noch zweimal kam ihm die Eule so nah, dass er sie mit seiner Klinge stechen konnte, das eine Mal wieder in den Fuß, das andere Mal in den mächtigen Flügel. Beide Male schrie der Vogel wütend auf, setzte die Jagd aber fort.
Mockel schwanden die Kräfte; sie verlor an Höhe, kämpfte sich dann wieder zur Gangdecke empor, aber die Eule hatte den Moment genutzt und sich über sie gesetzt. Giebelgaup wusste, ihm blieben bestenfalls noch Augenblicke, also zog er die Flattermaus in den nächsten Spalt, der zu dem weiten Kamin zurückzuführen schien. Es war seine einzige Chance: Die Eule in dieser Enge über sich, würden er und sein erschöpftes Reittier die nächste Attacke nicht überleben.
Erleichtert stellte Giebelgaup fest, dass er richtig vermutet hatte: Im nächsten Moment schossen sie ins weite, hallende Dunkel des riesigen Schachts hinaus, aber die Eule war jetzt direkt hinter ihm, und er konnte unmöglich vor ihr das obere Ende des Kamins erreichen ... falls es überhaupt ein oberes Ende gab. Er schwenkte auf die Kaminwand zu, in der Hoffnung, dort irgendwelche Vorsprünge zu finden, die ihnen etwas Schutz böten, aber es war immer noch weit bis zum Arbeitscamp der Funderlinge, und die Flattermaus konnte kaum noch die Flügel bewegen. Auch ohne die Eule würde Mockel nicht mehr lange leben, wenn sie sich nicht ausruhen konnte.
Plötzlich fiel ein mächtiger geflügelter Schatten aus der Kaminwand auf sie herab. Giebelgaup war überrumpelt; er stach zu, aber der Stoß ging ins Leere. Die Eulenklaue schnappte zu, verfehlte die Flattermaus, erwischte aber Giebelgaups Sattelzeug und riss ihn roh von Mockels Rücken. Die Flattermaus schrie erschrocken auf und stürzte unter ihm weg, doch Giebelgaup stieg noch einen Moment weiter empor, als könnte er seinen verzweifelten Flug auch ohne Reittier fortsetzen. Dann endete die Aufwärtsbewegung, und er fiel, trudelte hilflos durchs Leere, abwärts, abwärts ...
»Warum war ich hier noch nie?«, fragte die Prinzessin Chert auf dem Pfad das riesige Loch hinab, das er bei sich den Schlund nannte. »Wieso weiß ich nichts von einem Weg, der von meiner eigenen Familiengruft in die Tiefen der Erde führt?«
»Dieser Weg wurde noch viel früher angelegt als die Sturmstein-Straßen, durch die ich Euch in die Hauptburg gebracht habe«, erklärte Chert. Im ganzen Irrsinn dieses Weltendes schien es eine fast schon alltägliche Mitteilung. »Meine Vorfahren in jenen frühesten Tagen hatten Angst, dass ... Eure Vorfahren uns in Funderlingsstadt einsperren könnten wie in einer Falle, genau wie wir's auch zu Sturmsteins Zeiten befürchtet haben. Wir wollten unsere eigenen Wege zu kommen und zu gehen.«
»Ihr habt es getan, um gegen ein königliches Dekret verstoßen zu können?«
»Mit Verlaub, Hoheit, Ihr hättet es auch getan, wenn der Pickel in der anderen Hand gewesen wäre, wie wir sagen. Jeder versucht, sich zu schützen. Darum haben wir Sturmsteins Straßen angelegt und auch diesen Weg hier.«
»Erklärt es mir.«
Chert tat es und fragte sich dabei die ganze Zeit, wie die Zukunft seines Volkes aussehen würde, falls es denn eine gäbe. Wenn die Großwüchsigen alles über uns wissen, sind wir ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und ich habe eine Menge dazu beigetragen.
»Weil ihr Angst vor uns hattet«, sagte sie tonlos, als er fertig war. »All die viele Arbeit, all die verletzten und sogar getöteten Leute, nur weil ihr Angst vor meiner Familie hattet.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist ein trauriges Erbe.«
Die Art, wie sie es sagte, machte ihm etwas Hoffnung. »Ihr könnt doch nichts für das, was Eure Vorfahren getan haben.«
»Aber unser Thronanspruch gründet sich doch auf das, was unsere Vorfahren getan haben! Wenn die Geschichte bedeutungslos ist, dann ist es auch das Haus Eddon.«
Chert zuckte die Achseln. »Dann muss vielleicht jede Generation ihren Thron neu verdienen.«
Ihre Augen wurden größer. »Ihr verblüfft mich, Meister Blauquarz. Das ist wirklich eine ...«
Was die Prinzessin sagen wollte, blieb offen. Sie hatten gerade einen Felsvorsprung umgehen und dabei der Wegkante ungemütlich nahe kommen müssen, doch jetzt war im Schein von Cherts Fackel etwas Dunkles erkennbar, das vor ihnen auf dem Weg lag.
»Beim Heißen Herrn!« Chert zuckte zusammen, als er sich ausgerechnet hier, so nah über den Mysterien und dem Meer der Tiefe, etwas so Gotteslästerliches sagen hörte. »Das ist der Kerl, mit dem Ihr gekämpft habt — der Reichshüter!«
Briony stieß die Gestalt vorsichtig mit dem Stiefel an. »Er hat nichts gehütet.«
Hendon Tollys heiles Auge sprang auf. Chert fuhr erschrocken zurück, aber der Reichshüter regte sich nicht. Er schien zu ihnen emporzustarren, aber ob er irgendetwas sah, war schwer zu sagen.
Sein anderes Auge verdeckten Blut und das Heft des kleinen YistiDolches.
»Du wolltest alles zerstören, was ich liebe«, sagte Briony. »Aber das ist dir nicht gelungen, Hendon. Du wirst die Ewigkeit dort unten im Dunkeln verbringen, unter deinesgleichen — Schlangen und Spinnen.« Sie zog den kleinen Dolch aus seiner Augenhöhle, stemmte dann, noch ehe die Wunde wieder zu bluten begann, den Fuß gegen seinen Oberkörper und schob Tolly über die Wegkante in den dunklen Schlund.
Cherts Schritte wurden immer schleppender, je weiter sie hinabkamen. »Hoheit«, sagte er und blieb stehen, »ich kann Euch wirklich nicht tiefer hinuntergehen lassen. Wir müssen schon auf der Tiefe von Funderlingsstadt sein — vielleicht können wir ja einen Quergang dorthin nehmen und auf diesem Weg an die Oberfläche zurückkehren.«
»Dahin gehen, wo sich Durstin Krey und andere von Tollys Mordgesellen verschanzen? Warum sollte ich so etwas tun? Wollt Ihr sagen, wir kommen auf diesem Weg hier nicht zu meinem Vater, meinem Bruder und den Qar hinab?« Sie sah ihn an. »Habt Ihr mich belogen?«
»Nein, Herrin, nein.« Chert schüttelte den Kopf Er fand (auch wenn das etwas anmaßend schien) ziemlich viel von Opalia in dieser jungen Frau wieder. Beide hatten einen stählernen Willen, und beide schienen ihm nicht sonderlich viel zuzutrauen. »Aber wir nähern uns mit jedem Moment einer Art Katastrophe.« Jetzt, da es so weit war, wollte er es ihr nicht sagen. So eine schreckliche Entscheidung, und die Regentin musste es von einem einfachen Steinhauer erfahren, der diese Entscheidung an ihrer Stelle getroffen hatte! »Vertraut Ihr mir einfach, wenn ich sage, dass wir nicht weitergehen können? Dass es zu gefährlich ist?«
Sie starrte ihn an. Ihr Gesicht blieb hart. »Ob ich Euch vertraue, Chert Blauquarz? Seid Ihr verrückt? Was hat das mit irgendetwas zu tun? Fast alle, die ich noch an Familie habe, sind tief dort unten in der Erde und kämpfen um ihr Leben. Warum in aller Welt sollte ich hier kehrtmachen?«
Chert merkte, dass sie nicht nachgeben und schon gar nicht umkehren würde, und aus seiner Erfahrung mit einer anderen unnachgiebigen Frau wusste er, dass er keine Wahl hatte.
»Dann bleibt kurz stehen, Hoheit, damit ich Euch erklären kann, warum wir nicht weitergehen sollten ...«
Als er ausgeredet hatte, starrte ihn die Prinzessin an. Chert konnte die Regungen auf ihrem Gesicht gar nicht zählen — Angst, Verblüffung und Zorn waren die offensichtlichsten.
»Ist das wahr?«, sagte sie. »Ihr Funderlinge wollt ihn zum Einsturz bringen? Den Fels unter meinem Familiensitz? Während die Leute alle noch in der Burg sind? Und meine Familie drunten im Herzen des Ganzen?« Ihre Augen wurden schmal. »Und Ihr sagt, es war Eure Idee?«
»Ja — aber es sollte ja nur passieren, wenn gar keine andere Hoffnung mehr bestünde, Prinzessin. Und der Plan war auch komplizierter — ausgefeilter, ich schwör's ...!« Er wollte ihr nicht sagen, dass es jetzt seiner Meinung nach sowieso für alles zu spät war — zu spät, um den Autarchen zu schlagen, mit Sicherheit, aber auch zu spät für seine eigene verzweifelte Idee. Die Kraft rieselte aus ihm heraus wie trockener Sand aus einer Spalte zwischen Gesteinsschichten. Was kam es jetzt noch auf irgendetwas an? Er hatte so lange so vieles überdacht und befürchtet, aber er war nie auf die Idee gekommen, dass er in dieser letzten Stunde zu weit von allen, die er liebte, fort sein könnte, um auch nur mit ihnen zu sterben. Aberwitz. Es war alles ein einziger Aberwitz gewesen.
Prinzessin Briony blinzelte, nickte einmal kurz, drehte sich dann um und marschierte weiter den Pfad hinab. Chert riss sich zusammen. »Prinzessin? Wo wollt Ihr hin?«
»Was glaubt Ihr wohl, wo ich hinwill, Funderling?«, rief sie über die Schulter. Es klang, als hielte sie in diesem Moment nicht sonderlich viel von Chert Blauquarz. »Ich will mit meiner Familie sterben. Ihr mögt sterben, wie es Euch beliebt.«
»Aber Hoheit, wenn das Schießmehl funktioniert und der Fels herunterbricht ...!«
Sie drehte sich mit wutverzerrtem Gesicht zu ihm um. Erstmals sah Chert, dass sich seit ihrer ersten Begegnung mehr an Prinzessin Briony verändert hatte als nur ihre Kleidung. Sie war nicht einfach nur älter geworden, sondern irgendwie ... tiefer. Stärker. Und etwas, das er jetzt in ihr sah, aber nicht benennen konnte, machte ihm Angst.
»Ihr seid ein Wagnis eingegangen, das einzugehen Euch nicht zukam, Funderling«, sagte sie. »Jetzt lasst mich tun, was ich tun muss.«
»Aber es ist doch bestimmt schon zu spät ...!«
»Still jetzt!« Sie trat einen Schritt auf ihn zu, und für einen Moment befürchtete Chert ernsthaft, sie würde ihm etwas tun. »Bis mein Vater den Thron wieder einnimmt, bin ich die Prinzregentin dieses Königreichs. Es ist meine Aufgabe, alle, die darin und darunter leben, zu schützen — aber Ihr und Eure Steinhauerkumpane habt mir das aus der Hand genommen. Jetzt lasst mich allein ... oder wenn Ihr mir diesen Gefallen nicht tut, haltet wenigstens den Mund.« Sie drehte sich wieder um und stapfte weiter ins Dunkel hinab, ein Messer in jeder Hand. Chert zögerte eine ganze Weile und rannte dann hinter ihr her.
Aesi'uah wartete, dass ihre Herrin aus den Traumlanden zurückkehrte. Die Tochter des alten Schlaf hatte die ganze Zeit geduldig gewartet: während Saqri und die anderen sich geopfert hatten, während das Ritual des Autarchen vorangeschritten war, ja selbst als die Entsetzensschreie durch die Höhle gehallt hatten und das seltsame, glühende Etwas auf der Insel zu wachsen begonnen hatte, als ob der Leuchtende Mann monströse, unsterbliche Fleischesgestalt angenommen hätte. Aesi'uah machte Warten nichts aus: Sie konnte wenig anderes tun. Sie war keine Kriegerin, sondern Eremitin, und konnte nur warten, bis ihre Herrin sie um Hilfe bat.
Yasammez' Augen öffneten sich, schwarz und tief, aber sie verharrte noch eine ganze Weile im Schneidersitz auf dem steinigen Boden am Fuß der Felswand unterhalb des Labyrinths. Endlich erhob sie sich.
»Ich werde jetzt sterben«, verkündete sie. »Nimm alle, die noch gehen können. Sorge dafür, dass sie meine teure Saqri und die anderen Verwundeten bergen und sich an die Oberfläche zurückziehen, so schnell sie können.«
Aesi'uah war sich ziemlich sicher, dass Saqri nicht mehr zu helfen war, aber sie verneigte sich gehorsam. »Was ist mit der Garde der Elementargeister? Ich fühle, wie sie Euch zu einer Antwort drängen.«
Yasammez schüttelte den Kopf. »Sie haben meine Antwort bekommen. Sie lautet nein — ich werde das Fieberei nicht benutzen. Der sterbliche Barrick Eddon hat mich etwas gelehrt.«
»Tatsächlich, Herrin?«
Yasammez' Lächeln war wie eine klaffende Messerwunde. Auf der Insel starben xixische Soldaten den Flammentod von der Hand eines triumphierenden Gottes; ihr Schreien klang wie ferne Vogelrufe. »Tatsächlich«, sagte sie. »Ihr kurzes Leben scheint ihnen so viel zu bedeuten, als handle es sich um die unendliche Dauer der Götter selbst — wenn nicht gar mehr. Welches Recht habe ich nach meiner eigenen langen Lebensspanne, ihnen das zu nehmen? Vielleicht werden sie sich ja sogar in irgendeiner Weise mit den zurückkehrenden Göttern arrangieren und ein Ende schreiben, das ich nicht vorhersehen kann. Unser Volk hat die Lange Niederlage erlitten, aber womöglich wird ihre Geschichte ja eine andere sein.«
Yasammez zog Weißfeuer aus ihrem Gürtel. Es schimmerte wie weiße Jade, wie ein herabgefallener Splitter des Mondes. Sie hielt es vor sich und musterte es. »Diese mächtige Klinge schwang einst vor langer Zeit der Sonnengott. Sie tötete andere Götter.« Sie nickte. »Langbart selbst fiel unter diesem Schwert, und er galt als der größte Krieger des Himmels. Wir werden sehen, ob die Klinge noch für einen letzten Kampf taugt — ob sie noch einmal das Blut eines Unsterblichen zu vergießen vermag. Ein Jammer, dass ich nicht auch die Kraft des Sonnengottes habe.«
Sie wandte sich Aesi'uah zu. »Komm näher.« Yasammez beugte sich vor, und zu Aesi'uahs Erstaunen küsste sie sie sachte auf die Stirn. »Du warst mir eine gute Dienerin, Aesi'uah — eine der besten in all meinen ungezählten Jahren. Ich hoffe, wenn du den Tod findest, wird es ein sanfter sein. Wenn meine Vielmals-Großtochter über die Stunde hinaus lebt, sag ihr, das Volk ist heute würdig gestorben. Ich hätte mir nichts Besseres erhoffen können.« Yasammez wandte sich ab und ging den steinigen Hang zu dem silbernen Meer hinab, das jetzt von den Flammen des Trickstergottes zu dampfen begann; nach wenigen Schritten blieb sie stehen und drehte sich um. »Wenn das Menschenkind noch lebt und du ihm begegnest, sag ihm, ich hätte seiner Worte gedacht. Ich hätte beschlossen, sein Volk ebenso wie das meine sein Ende selbst finden zu lassen. Ich hoffe, er versteht, welche Bürde er jetzt zu tragen hat.«
Und dann schritt Krummlings Tochter weiter hinab zu dem dampfenden, silbernen Meer, dem Gott entgegen, dem sie schon einmal gegenübergestanden und den nie wiederzusehen sie gehofft hatte. Ihre Erscheinung dehnte sich aus, brodelnd, dunkel und grimmig wie eine Gewitterwolke, ein kleiner tintiger Fleck vor immer gewaltigeren Flammen.
Giebelgaup purzelte wild durch die Luft, und in diesem Moment wusste er, dass er versagt hatte: Selbst wenn er durch ein Wunder auf den schmalen Pfad fiel und nicht in den tiefsten Abgrund, selbst wenn er die Knochenbrüche überlebte — er würde niemals bis zum Camp der Funderlinge kommen.
Doch dann fing ihn etwas auf.
Es faltete sich um ihn, weich und warm, aber fest, und im ersten Moment glaubte er, es sei wieder die Eule, die ihn angegriffen hatte — etwas anderes kam ja nicht infrage. Doch im nächsten Moment wurde er hoch emporgehoben, die Hand, die ihn hielt, öffnete sich, und er blickte ins schwache Licht einer Funderlingskoralle, die in einer Lampe am Kopf der hellhaarigen Gestalt leuchtete.
»Hallo, Giebelgaup«, sagte Flint. »Hab mir gedacht, dass ich Euch hier finde.«
Giebelgaup konnte dieses bekannte Gesicht nur ungläubig anstarren. »Aber ... Cherts Sohn? Wie kommst du hierher?«
»Ich hatte so ein Gefühl, dass ich hier sein sollte«, sagte der Junge. »Und es war richtig — der Trickstergott hat geahnt, was Euer Auftrag ist, und hat die Eule ausgeschickt, Euch abzufangen. Aber jetzt ist keine Zeit zum Reden. Ihr müsst weiter — schnell! Bruder Antimon wartet.«
Giebelgaup fragte sich, ob er vielleicht in Wirklichkeit ohnmächtig oder gar tot irgendwo lag und dies alles nur träumte. »Kann nicht. Komm nicht hin. Hat mein Reittier getötet, selbge Eule.«
Flint hob die andere Hand in den Schein der Korallenlampe und öffnete die Finger: Da lag ein braunes, pelziges Häufchen — Mockel. Erschrocken versuchte die Flattermaus, die Flügel zu entfalten, um zu flüchten, aber Flint schloss die Finger behutsam wieder um sie. »Nein«, sagte er. »Ich hab sie auch aufgefangen.«
Giebelgaup konnte nicht anders — er lachte laut auf. »Was ist das für ein Wunder? Eins, das der Herr des Höchsten Punkts gewirkt hat, wie seit den alten Zeiten nimmer?«
»Vielleicht«, sagte Flint. »Bin mir nicht sicher. Aber Ihr müsst jetzt los.«
»Die Eule ...?«
»Ist weg. Als sie Euch aus der Luft geschlagen hatte, war ihre Aufgabe getan. Jetzt ist sie entlassen. Ich glaub nicht, dass Ihr sie noch einmal wiederseht.«
»Dann hilf mir jetzt auf selbge Flattermaus. Eines Tags, Cherts Sohn, bist du vielleicht so gut und erklärst mir das alles.«
»Vielleicht.« Flint nickte bedächtig. »Aber das ist etwas, das ich nicht sehen kann.«
Mockel war sichtlich schwach, aber mit Giebelgaup im Sattel und ohne die Eule schien sie willens, einen Flugversuch zu unternehmen. »Ich sollt wohl langsam machen«, sagte Giebelgaup. »Sie kann kaum noch Luft schaufeln.«
»Nicht zu langsam«, sagte Flint und schickte sich an, Flattermaus und Reiter wieder in die Luft zu werfen. »Viele zählen auf Euch. Und wenn Ihr Mama Opalia seht, sagt ihr, sie soll nicht auf mich warten — sie muss mit den anderen gehen. Aber versprecht ihr, dass sie mich wiedersieht.«
Ehe Giebelgaup versuchen konnte, sich einen Reim auf das alles zu machen, wirbelte er bereits in einem Geflatter von ledrigen Flügeln ins Dunkel empor.