{121}Was habe ich mit Juden gemeinsam?
Zwar, ich bewundere den Schwung;
doch frag’ ich: was flog durch die Lüfte?
Arthur Schnitzler, BUCH DER SPRÜCHE UND BEDENKEN
Unser Kaiser war hier, im Jahr 1904, allergrößte Ehre, die ganze Stadt war auf den Beinen, alles beflaggt und illuminiert, überall Blumen, im Hotel Weimar redet man noch heute davon, und an seiner Tafel der englische König Edward, derselbe, der dann jeden Sommer wiederkam bis kurz vor seinem Tod, unter halbem Inkognito, und immerzu gingen bei ihm Minister und Fürsten aus und ein …
Hätte man den amtierenden Bürgermeister, die zwei Dutzend Kurärzte oder gar den ›Städtischen Brunnenmusikkapellendirektor‹ von Marienbad nach den prominentesten Gästen befragt, die der Ort jemals beherbergte, so wäre die Auskunft wohl einstimmig ausgefallen: Die politischen Würdenträger waren es – auch dann, wenn sie nur wenige Stunden ›verweilten‹ und, wie Franz Joseph I., am Heilwasser nur nippten, um sich alsbald zur Konkurrenz zu ›begeben‹, ins nahe Karlsbad. Prominenz: Die Maßstäbe waren eindeutig, die Kriterien streng. Es war die Macht, die alle hypnotisierte, die Fähigkeit, ›Geschichte zu machen‹ und die eigenen Vasallen wie Späne in einem Magnetfeld zu ordnen, und allenfalls dem unsterblichen Goethe (von dessen Besuchen das denkwürdige Hotel Weimar seinen Namen herleitete) billigte man zu, per se und ohne jedes Gefolge prominent zu sein. Das hat sich erst viel später, nach weiteren Jahrzehnten Kurbetrieb, grundlegend geändert, und heute erfährt man aus den einschlägigen Reiseführern des tschechischen Städtchens Mariánské Lázně, dass auch Chopin, Gogol, Ibsen, Mark Twain, Johann Strauss, Nietzsche, Dvořák, Mahler und Freud für Wochen oder Monate in Marienbad wohnten (das ›Weilen‹ ist außer Mode gekommen), allesamt machtlose Figuren. Und am Ende dieser langen {122}Reihe ein Prager Jude, der Machtloseste von allen. Der aber hatte einen ganz eigenen Begriff von Prominenz. An seine soeben abgereiste Braut schrieb er:
»Sieh nur, den höchsten Kurgast von Marienbad d. h. denjenigen, auf den das grösste menschliche Vertrauen gerichtet ist, haben wir gar nicht gekannt: der Belzer Rabbi, jetzt wohl der Hauptträger des Chassidismus. Er ist seit 3 Wochen hier. Gestern war ich zum erstenmal unter den etwa 10 Leuten des Gefolges bei seinem Abendspaziergang.« [113]
Da hatten sie etwas versäumt – unbegreiflicherweise, waren doch die ›israelitischen‹ Unterkünfte und Restaurants nur wenige Minuten vom Zentrum entfernt. Doch jene kleine, verschachtelte Ansammlung von Häusern war keine Sehenswürdigkeit, und es bedurfte der brieflichen Aufforderung Brods, um Kafka in Bewegung zu setzen.
Es war nicht das erste Mal, dass er Gelegenheit hatte, chassidische Autoritäten und ihre Anhängerschaft aus der Nähe zu beobachten. Auch in Prag gab es solche Leute, angespült durch die Fluchtwellen des Krieges und hängengeblieben in den billigen Quartieren der Vorstädte. Sie grenzten sich ab, mieden die Orte der Geselligkeit, und selbst in der reformierten Synagoge, die sie für unrein hielten, bekam man sie niemals zu sehen. Kein Zweifel, dass es vor allem in der deutschsprachigen Altstadt genügend Juden gab, die von ihrer Anwesenheit überhaupt nur aus der Zeitung wussten.
Anders Kafka. Bereits 1915, im Jahr vor Marienbad, hatte ein Mittelsmann sich erboten, ihm und anderen Interessenten aus der zionistischen Szene einen Einblick in das Leben der Sektierer zu ermöglichen: Jiří (Georg) Langer, ein Prager, ein westjüdischer Überläufer, der sich zum Entsetzen seiner bürgerlichen tschechischen Eltern schon mit neunzehn Jahren dem Gefolge eines galizischen ›Wunderrabbi‹ angeschlossen hatte und der sich bald darauf in seiner Heimatstadt im Kaftan, mit Schläfenlocken und breitkrempigem Pelzhut bestaunen ließ, umgeben von einer Wolke aus Zwiebelduft. Langer selbst war schon eine Sehenswürdigkeit, freilich auch anstrengend: fanatisch, opferbereit, die Frauen dämonisierend, ein Fundamentalist par excellence. Mit ihm konnte nicht einmal die Armee etwas anfangen, keine Strafandrohung beeindruckte ihn, vor allem nicht am Sabbat, und so wurde er nach wenigen Monaten als »geistig verwirrt« entlassen. Freilich besaß Langer, dem das Hebräische beneidenswert {123}leicht fiel, auch schon Kenntnisse des chassidischen Schrifttums und schwer zugänglicher kabbalistischer Werke, was die Neugierde Kafkas und mehr noch Brods wecken musste. Denn das waren Herzkammern jüdischer Überlieferung, die selbst den Prager Kulturzionisten weitgehend verschlossen blieben. Für sie waren es noch immer die tendenziösen Anthologien Bubers, die das Bild einer spezifisch jüdischen ›Spiritualität‹ beherrschten – chassidische Legenden in romantisierenden Bearbeitungen, deren Sprache Kafka »unerträglich« schien. [114]
Nahm man Bubers Folklore für bare Münze, so konnte die Wirklichkeit ostjüdischen Lebens nur ernüchternd wirken – so auch der Anblick jener kleinen Gruppe von Gefolgsleuten, die sich in einem elenden Gasthaus in Prag-Žižkov um den Rabbi von Grodek scharte. Langer, der hier gleichsam als Fremdenführer agierte, lotste seine etwas widerstrebenden Bekannten in einen Kreis schwarzgekleideter, laut betender und dann wieder befremdlich flüsternder Männer. Sie kamen noch eben rechtzeitig zur ›Dritten Mahlzeit‹ des Sabbats: ein besonders geheiligter und für Außenstehende völlig unverständlicher Brauch, bei dem die Tafel des Ranghöchsten, des ›Zaddik‹, und die von ihm verteilten Speisen buchstäblich die mystische Qualität von Altar und Opfer gewannen. Doch der Funke wollte nicht recht überspringen; Kafka vor allem war weit mehr mit dem eigentümlichen Verhältnis von Reinheit und Schmutz beschäftigt, das er hier beobachtete, als mit der rituellen Praxis, die ihm gar nichts sagte. Und während er sich nur widerwillig aus der gemeinsamen Schüssel mit Fisch bediente, in der soeben der Rabbi mit bloßen Fingern gewühlt hatte, entging ihm, dass selbst jene Berührungen nicht zufällig waren, sondern heilige Handlung. »Genau genommen«, meinte er gegenüber Brod beim Weg zurück in die Stadt, »genau genommen war es etwa so wie bei einem wilden afrikanischen Volksstamm. Krasser Aberglauben.« [115]
Kafkas Blick hatte vor allem dem Rabbi selbst gegolten: Was eigentlich qualifizierte diesen Menschen gegenüber allen anderen, was waren die sichtbaren Merkmale, die fühlbaren Eigenschaften, die seine Autorität begründeten? »Das stärkste väterliche Wesen macht den Rabbi«, notierte er im Tagebuch: unklar, ob dies seine eigene Auffassung war oder eine der emphatischen Erläuterungen Langers. [116] Es war, gleichviel, eine Idealisierung. Denn längst musste doch Kafka {124}wissen, dass in den Zentren des Chassidismus, mindestens dreißig allein in Galizien, seit Generationen das dynastische Prinzip galt: Nicht nur das Amt des Rabbi samt dessen Autorität war erblich, sondern auch der Status des wundertätigen Zaddik, des ›Vollkommenen‹, der unmittelbaren Zugang zu höheren Sphären hatte. Es war an diesen meist kleinstädtischen, doch vergleichsweise prächtigen ›Höfen‹ sehr unterschiedlichen Herrschern gehuldigt worden, die keineswegs immer väterlich waren und die ihren Anhängern auch finanziell einiges abverlangten. [117]
Kafkas ausführlicher Bericht aus Marienbad zeigt, dass auch nach der ernüchternden Exkursion nach Žižkov sein Interesse am Rätsel der Autorität noch immer lebendig war. Tatsächlich war der prominente Kurgast Issachar Dow Ber Rokeach, der Rabbi von Belz, eine der einflussreichsten Figuren des Chassidismus, zugleich eine der kompromisslosesten. Wohl kaum zufällig hatte sich der jugendliche Konvertit Langer gerade diesen Mann zu seinem Lehrer erwählt, denn am ›Hof‹ von Belz, nördlich von Lemberg, nahe der russischen Grenze, wurde nicht nur am überlieferten Ritual eisern festgehalten, sondern auch die kultisch überformte chassidische Lebenspraxis war hier gegen jegliche Neuerung immun (bis hin zur Ablehnung von Essbesteck). Belz war jüdisches Territorium aus eigenem Recht, ein Ort, in dem seit Jahrhunderten die Zeit stillzustehen schien und der einen beständigen, auch grenzüberschreitenden Strom von Pilgern anzog. Doch bereits in den ersten Kriegswochen wurde das Dorf von russischen Truppen überrannt, der Rabbi floh nach Ungarn, seine Gemeinde zerstreute sich.
Dass er sich zeitweilig auch in Marienbad aufhielt, hatte wohl ausschließlich gesundheitliche Gründe; tatsächlich nehmen die unbeholfenen Bemühungen der Chassidim, ihrem Meister pünktlich das verlangte Heilwasser zu beschaffen, in Kafkas dreizehnseitigem Bericht an Brod auffallend breiten Raum ein. Er werde sich jede Deutung versagen, warnte er vorsorglich, sondern halte sich ausschließlich an das, was man mit eigenen Augen sehen könne; »man sieht aber nur allerkleinste Kleinigkeiten, und das allerdings ist bezeichnend meiner Meinung nach. Es spricht für Wahrhaftigkeit auch gegenüber dem Blödesten. Mehr als Kleinigkeiten kann man mit dem blossen Auge dort wo Wahrheit ist nicht sehn«. [118] Das klang überzeugend, und die seltene Gelegenheit, eine derart exotische Figur aus der Nähe zu {125}beobachten – einerseits durch die neuerliche Vermittlung Langers, der unversehens in Marienbad auftauchte, andererseits aber, weil der Rabbi sich hier nicht wie gewohnt abschirmen konnte –, wusste Kafka durchaus zu würdigen. Doch es war unvermeidlich, dass, bei allem Respekt, auch seine Lust an der szenischen Schilderung geweckt wurde: der 61-jährige Rabbi, von massigem Körperbau, im seidenen Kaftan, mit weißem Rauschebart und hoher Pelzmütze, im strömenden Regen durch den Wald schreitend, begleitet von einer kleinen Schar unterwürfiger Joschiwim, die sich ständig neben oder hinter ihm halten mussten und von denen der eine den Stuhl, der andere ein trockenes Tuch, der dritte ein Glas und ein vierter die Wasserflasche trug … das war Komödie genug. Wo aber wollte Kafka hier irgendeine Wahrheit sehen?
»Er besichtigt alles, besonders aber Bauten, ganz verlorene Kleinigkeiten interessieren ihn, er stellt Fragen, macht selbst auf manches aufmerksam, das Kennzeichnende seines Verhaltens ist Bewunderung und Neugierde. Im Ganzen sind es die belanglosen Reden und Fragen umziehender Majestäten, vielleicht etwas kindlicher und freudiger, jedenfalls drücken sie alles Denken der Begleitung widerspruchslos auf das gleiche Niveau nieder. L. [Langer] sucht oder ahnt in allem tiefern Sinn, ich glaube, der tiefere Sinn ist der, dass ein solcher fehlt und das ist meiner Meinung nach wohl genügend. Es ist durchaus Gottesgnadentum, ohne die Lächerlichkeit, die es bei nicht genügendem Unterbau erhalten müsste.«
Wieder jener unbestechliche und für Kafka so charakteristische Blick, der den eigenen Vater ebenso treffen kann wie den auf dem Katheder thronenden Gymnasialprofessor, den umschwärmten Begründer der Anthroposophie, die ostjüdischen Wortführer in Prag oder den jovialen Präsidenten der Arbeiter-Unfall-Versicherung. Es ist der Blick, der auf die Macht gerichtet ist, der Blick, der die Leere hinter den Kulissen erfasst – ohne sich indessen in selbstzufriedener Entlarvung zu beruhigen. Denn zugleich weiß Kafka jenes »ruhige glückliche Vertrauen« intensiv nachzuempfinden, das dem leeren Zentrum so unbeirrt entgegengebracht wird. Er kennt es, und auch die Marienbader Bürger, die sich von der Judengasse fernhielten, hätten einräumen müssen, dass sie es kennen: Es war eben jenes kindliche Gefühl, mit dem sie ihrem Kaiser gehuldigt und dessen jovialen, seit Jahrzehnten eingeübten Phrasen gelauscht hatten. Während sie die Unterwürfigkeit der Chassidim natürlich verachteten.
Doch das war es wohl kaum, was Brod hatte hören wollen. Gewiss schätzte er Kafkas unbestechliche Beobachtungsgabe, und wenn er den gleichzeitig erschienenen Bericht des Berliner Tageblatts danebenlegte, in dem ein offenbar ahnungsloser Korrespondent von des Wunderrabbis »rätselhaften Augen« schwadronierte [119] , so wusste er, an wen er sich zu halten hatte. Denn Kafka war es keineswegs entgangen, dass der Zaddik schielte: Er war auf einem Auge blind, das war das ganze Rätsel. Was aber Brod vor allem interessierte – und was er sich auch in jenem Gasthaus in Žižkov erhofft hatte –, war das Aufscheinen eines ursprünglichen, unverfälschten, authentischen Judentums, über das jedoch Kafka kein Wort verlor.
Lebten die Chassidim an der Quelle des jüdischen Geistes, der jüdischen Volkskultur? Das war selbst unter Kulturzionisten und Verfechtern einer jüdischen Nation umstritten. Man bestaunte die Radikalität, die Selbstgewissheit, mit der sie singend, tanzend und betend den Alltag zum Gottesdienst machten: ein ewiger Sabbat, ein ewiges Fest der Verschmelzung mit Gott, ohne den Stachel des Selbstzweifels, ohne jedes Gefühl von Tragik und in kindlicher Verantwortungslosigkeit. Tora und Kabbala nahmen sie wörtlich, sie lebten, was die anderen nur tradierten. Doch längst hatte auch den Chassidismus das Schicksal ereilt, das jede auf Dauer gestellte Ekstase unvermeidlich korrumpiert: Er hatte sich von einer mystischen Erweckungsbewegung zu einem starren Kultus entwickelt, der seine Anhänger in offenkundiger Abhängigkeit und Unwissenheit hielt. Buber hatte noch versucht, die despotische Herrschaft des Zaddik von einem ursprünglichen, sozial unschuldigen Chassidismus zu unterscheiden, doch diese Deutung klang allzu sehr nach Ehrenrettung und war denn auch bei näherem Hinsehen historisch unhaltbar.
Ebenso zu schaffen machte den Prager Idealisten, dass die Chassidim jede Form von Zionismus strikt ablehnten (den sie für einen unzulässigen Vorgriff auf das Werk des Messias hielten). Die gutgemeinten Diskussionsabende des Jüdischen Volksvereins, die zwischen Ost und West vermitteln sollten, hatten sich als glatte Fehlschläge erwiesen, und Brod musste sich damit abfinden, dass er von den strenggläubigen Zuwanderern als typischer Westjude abgetan wurde, er mochte reden, so viel er wollte. Doch was noch schlimmer war: Die chassidischen Anführer begannen, sich aktiv in die Politik einzumischen, sie bekämpften zionistisch gesinnte Kandidaten, wo {127}immer sich die Gelegenheit bot – ja, der Wunderrabbi von Belz schreckte nicht einmal vor Bündnissen mit katholischen Regierungsvertretern zurück, was bei den liberalen Prager Juden vermutlich für Gelächter sorgte, von den Zionisten hingegen mit Entsetzen aufgenommen wurde. Allmählich begann dieser Mann zu einem ernstzunehmenden Gegner zu werden – lange bevor er in Marienbad auftauchte –, und umso begieriger war nun Brod, aus erster Hand zu erfahren, was in dessen engstem Zirkel vor sich ging. [120]
Zweimal nahm Kafka am abendlichen Spaziergang des Rabbi teil, gemeinsam mit Langer und als einziger ›kurz gekleideter‹ Jude – dann hatte er genug gesehen. Irgendein mysteriöses Urjudentum war es gewiss nicht, was er hier vorfand, wohl aber eine Haltung, einen geistigen Habitus, der nach seinem Empfinden tiefer wurzelte als alle Erscheinungsformen beschränkten Sektierertums, tiefer als das Judentum selbst. Brod wäre verblüfft gewesen, hätte er erfahren, dass Kafka in derselben Woche, da er den Zaddik beobachtete und dem aufgeregten Langer lauschte, nicht viel anderes las als eine (eigens aus der Prager Universitätsbibliothek nach Marienbad mitgebrachte) Biographie der Gräfin Erdmuthe von Zinzendorf, einer christlichen Sektiererin und Mitbegründerin der pietistischen Herrnhuter Gemeinde. Das war eine völlig andere, unendlich weit entfernte Welt aus dem Blickwinkel Brods – es war derselbe geistige Anspruch, dieselbe Totalität von Denken, Fühlen und Leben, dieselbe Wahrhaftigkeit aus der Sicht Kafkas. Beiläufig, aber keineswegs zufällig hatte er in seinem Bericht an Brod die Schlüsselbegriffe ›Wahrheit‹ und ›Wahrhaftigkeit‹ synonym gebraucht: Tatsächlich war es für Kafka längst selbstverständlich, dass Wahrheit nicht der Extrakt philosophischer oder religiöser Urteile sein konnte, sondern eine wesentlich moralische und soziale Dimension hatte: Wahrheit kann nicht gelehrt, sie muss gelebt werden, sie ist ein Kraftfeld, dessen Quelle unserem Blick entzogen bleibt, in dessen Radius aber allein ein menschenwürdiges Leben denkbar ist – unbeschadet aller Komik, die ein solches Leben bisweilen hervorbringt, insbesondere unter Vegetariern, ostjüdischen Schauspielern, Turnfanatikern, Pietisten und anderen Mystikern. Ein wahres Leben, dans le vrai: Das war, wovon er nun, da die Ehe beschlossen war, auch seine künftige Frau zu überzeugen versuchte.
Tatsächlich, Kafka wurde lehrhaft, und die kleinen, häufig selbstironischen Ermahnungen, die er schon früher als running gags eingestreut {128}hatte, gewannen plötzlich den dringlichen Ton der Überzeugungsarbeit. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er konventionelle Späße verabscheute und dass es, wenn er von Aspirin, frischer Luft und Bahnfahrten 3. Klasse sprach, irgendwie auch immer ums Ganze ging. Nun aber ging es ausdrücklich ums Ganze, und das Gefälle zwischen den kruden Alltäglichkeiten, die Kafka so wichtig waren, und den wuchtigen Argumenten, warum sie ihm wichtig waren, wurde wahrhaft atemberaubend. Er habe etwas gegen Handarbeiten, gestand er. Und ein Leben ohne geregeltes Mittagessen, das gehe auch nicht. Und sie solle es doch, schrieb er aus Marienbad, künftig bitte vermeiden, Zuckerstücke mit den Zähnen zu zerbeißen. Auch wenn das nur ein Anfang sei, denn »der Weg zur Höhe ist endlos«. [121] Und das alles meinte er ernst.
Sie versprach Besserung. Dass purer Zucker für ein ohnehin lädiertes Gebiss kein Segen sein konnte, leuchtete ihr ein (denn noch immer, schon wieder lief sie zu den Zahnärzten, auch wenn sie nur ungern damit herausrückte). Kafka aber schien tatsächlich zu glauben, dass solche kleinen, schmerzlosen Akte der Selbstdisziplin lediglich die ersten Sprossen einer unendlichen Leiter seien, die irgendwo, jenseits der Wolken, ins Reich der Vollkommenheit führte. Das klang nach Unterricht, nach Programm, und es sollte sich zeigen, dass dieser ungute Verdacht Felice Bauer keineswegs trog. Denn kaum war die Marienbader Freiheit auch für ihn zu Ende, kaum war Kafka Ende Juli an seine Prager Schreibtische zurückgekehrt, begann er, sich regelrechte Lektionen auszudenken.
Er bat sie, den in Berlin lebenden Maler Friedrich Feigl aufzusuchen, den Kafka noch aus Schultagen kannte und dessen Arbeit er von Ferne bewunderte. Sie solle ein Bild Feigls auswählen, das als »durchschnittliches jüdisches Hochzeitsgeschenk« für einen Cousin dienen könne – wofür sie ja, wie er zweideutig versicherte, einen »unbestechlichen Blick« habe. Eigenartig nur, dass Kafka weniger Nachdruck auf das Gemälde selbst legte – immerhin die Investition eines Monatsgehalts –, als vielmehr auf den Besuch Felices in der Wohnung des Malers und dessen Ehefrau, oder genauer: auf die Eindrücke, die Felice dort wohl empfangen würde. Sie solle nur hingehen, sie werde »viel Sehenswertes sehn«, versicherte er. Was denn?, wollte sie wissen. Nun, erklang die Lehrerstimme aus Prag, »das für Dich Sehenswürdige sollte meiner Meinung nach in der Beispielhaftigkeit {129}des Ganzen liegen, in dem Aufbau einer Wirtschaft auf viel Wahrem und wenig Fassbarem«. [122]
Das Wahre: wieder dieser Signalbegriff, den Kafka immer dann verwendet, wenn er ein Prädikat höchster Ordnung zu vergeben hat; dabei mehr Signal als Begriff. Denn welche Kriterien es sind, die das Wahre vom Unwahren scheiden, vermag er nur sehr vage zu bestimmen. Er deutet darauf, als verstünde es sich von selbst. Und er muss eingestehen, dass er von der vorbildlichen »Wirtschaft« des Ehepaars Feigl noch nicht einmal eine anschauliche Vorstellung hat: Die Frau kennt er nur flüchtig, die Berliner Wohnung überhaupt nicht. Es ist allein die Gestalt jenes Zusammenlebens, in die er sich hineinträumt, die scheinbar gelungene Verschmelzung von Ehe und künstlerischer Arbeit, jene konkrete Utopie, deren Geheimnis er aus Feigl schon mehr als einmal hatte herauslocken wollen. [123] Doch eine Utopie will gelebt sein, und Felice Bauer, die Kafkas Auftrag getreu ausführte, traf den Maler in einer Stimmung an, die alles andere als glücklich schien. Nette Leute waren das, gewiss, doch irgendeine »Beispielhaftigkeit« – gar für die eigene künftige Ehe – vermochte sie beim besten Willen nicht zu erkennen. Wieder einmal, wie so oft schon, prallten Kafkas didaktische Winkelzüge an Felices nüchternem Urteil ab. Doch eine letzte Trumpfkarte verblieb ihm noch, und die sollte sich – zur beiderseitigen Überraschung – als wahrhaft durchschlagend erweisen.
Während der gemeinsamen Tage in Marienbad hatte er ihr von einem jüdischen ›Volksheim‹ erzählt, das kurz zuvor, im Mai 1916, in Berlin gegründet worden war: in der Dragonerstraße 22 nahe dem Alexanderplatz (heute Max-Beer-Straße), inmitten des berüchtigten Scheunenviertels, das seit Beginn des Krieges einen enormen Zustrom von Ostjuden zu verkraften hatte – teils Flüchtlinge, teils im besetzten Polen angeworbene Rüstungsarbeiter – und das vom zunehmenden Mangel an Nahrungsmitteln besonders schwer betroffen war. Siegfried Lehmann, ein junger Mediziner, hatte die Leitung des Heims übernommen, das sich vor allem um ostjüdische Kinder und Jugendliche kümmern sollte. Eine unendliche Aufgabe, denn die umfassenden Sicherungsnetze der jüdischen Gemeinschaft vermochten schon lange nicht mehr, das Kriegselend aufzufangen, und selbst Waisenkinder konnten in der Großstadt keineswegs mehr darauf zählen, beim Juden unterzukommen (wie man im Osten sagte), das {130}heißt: bei irgendeinem Juden, der sich verantwortlich fühlte. Diesen Kindern drohte Verwahrlosung. Und dem sollte das Volksheim entgegenwirken, durch Betreuung, Unterricht, Anleitung zur praktischen Arbeit und vor allem durch ›Klubs‹ und ›Kameradschaften‹ Gleichaltriger, in denen einer des anderen Hüter war. Dies alles, versteht sich, auf der Basis von Spenden, ehrenamtlicher Mitarbeit und nationaljüdischem Idealismus.
Wie ernsthaft, wissbegierig und dabei lenkbar ostjüdische Kinder sein konnten, wusste Kafka aus eigener Anschauung: Mehr als einmal war er als stiller Zuschauer dabei gewesen, wenn Brod einer Gruppe galizischer Mädchen, die – mit oder ohne Eltern – in Prag gestrandet waren, einen ersten Begriff von westlicher Sprache und Kultur zu vermitteln suchte; ja, sogar an gemeinsamen Ausflügen mit den Jugendlichen hatte er sich beteiligt. Die Aufgabe begeisterte ihn: nicht nur, weil sie sozial nützlich war und die Dankbarkeit der Betroffenen weckte – Derartiges erlebte Kafka ja auch in der ›Kriegerfürsorge‹ –, sondern vor allem, weil er sich hier in freiem Gelände glaubte, jenseits der von Konventionen vergitterten Vater-Welt, in der niemals ein neuer Gedanke aufschien. Westjuden und Ostjuden, das war lebendige Begegnung mit offenem Ausgang, hier wurden noch Weichen gestellt, hier war der Lehrende ebenso der Belehrte, und nicht irgendein dozierendes Prinzip entschied über den Ausgang des Experiments, sondern das Leben selbst, das lebendige Beispiel, das die Menschen sich wechselseitig boten.
Die Aussicht, auch Felice Bauer für eine solche Aufgabe zu gewinnen, und ihre erste zustimmende, wenngleich noch vorsichtige Reaktion versetzte Kafka in höchste Erregung. In Marienbad hatte er das Aufkeimen von Vertrauen und Intimität erlebt; was noch fehlte, war ein gemeinsames geistiges Substrat, eine irgendwo in der Tiefe verankerte, doch bewusste Einigkeit in der Sache, welche die ersehnte Symbiose auf Dauer stellte und sie von äußeren und inneren Schwankungen unabhängig machte. Anders war eine Ehe gar nicht zu verantworten, das war seine Meinung seit langem, und so hatte er auch keinerlei Anlass, diese tiefste Hoffnung zu verschweigen: » … im ganzen und darüber hinaus weiss ich geradezu keine engere geistige Verbindung zwischen uns, als die, welche durch diese Arbeit entsteht.« [124] Diese Arbeit: Damit war freilich nicht mehr die Literatur gemeint, denn dieser Traum war ausgeträumt.
Kaum war Felice zurück in Berlin, hielt sie schon eine Einladung des Volksheims in Händen; die Adresse hatte man von Kafka. Und er ließ nun nicht mehr locker, drängte beinahe täglich auf Nachrichten, erteilte präventive Ratschläge, und nicht einmal ihr wiederholtes Versprechen, sich schriftlich an Lehmann zu wenden und sich »sehr energisch« um die Sache zu kümmern, konnte Kafka genügen: Wozu denn schreiben? Einfach hingehen! [125]
Doch bei aller Sympathie: Das kam nun für die geschäftsmäßigwachsame Angestellte keinesfalls in Frage. Zunächst einmal galt es, Erkundigungen einzuziehen. Und im Gegensatz zu Kafka, der in seinem Überschwang noch nicht einmal begriffen hatte, in welches Viertel er sie da schickte, mit Elendsquartieren, polnischen Stibbelek (Betstuben), koscheren Geflügelgeschäften, rituellen Tauchbädern in Hinterhöfen und ungezählten Hausierern, eine Gegend, in der sie sonst gewiss nichts zu suchen hatte … im Gegensatz zu ihrem Verlobten schien es ihr, dass es da einiges zu bedenken gab. Um Kinder zu unterrichten und mit anderen Helfern über pädagogische Probleme zu verhandeln, brauchte es einen gewissen Grad an theoretischer Bildung, über den doch wohl eher Studenten verfügten – würde man sie in diesem Zirkel überhaupt ernst nehmen? Dann die Frage des Zionismus: Sie hatte vor Jahren ein gewisses Interesse daran entwickelt, ja sogar eine Palästinareise ernsthaft erwogen und damit die Prager Freunde in Erstaunen und Entzücken versetzt. Doch die ideologischen Richtungskämpfe ließen sie kalt, sie war ganz und gar nicht auf dem Laufenden, und da es sich in Berlin doch offenkundig um ein Projekt junger Zionisten handelte – ideologisch betreut von Martin Buber und Gustav Landauer –, drohte ihr auch in dieser Hinsicht die Rolle der Außenseiterin. Schließlich und vor allem: Es ging um religiös erzogene, überwiegend in orthodoxem Milieu aufgewachsene Kinder, denen jüdische Formeln und Rituale, ja selbst Namen und Begriffe aus dem Alten Testament geläufig waren, seit sie sprechen konnten. Diese Kinder würden ihr, der Westjüdin, gewisse Fragen stellen, peinliche Fragen vielleicht, die ohne das offene Eingeständnis von Skepsis und Unwissen gar nicht zu beantworten waren.
Es ist diesen Zweifeln Felice Bauers zu verdanken – und vermutlich ihrer unverblümten Frage, wie er es denn selbst mit der zionistischen Sache halte –, dass nun Kafka seinerseits Position beziehen musste. Nein, versuchte er zu beschwichtigen, auf die zionistische Überzeugung {132}komme es im Grunde gar nicht an. »Es kommen durch das Volksheim andere Kräfte in Gang und Wirkung, an denen mir viel mehr gelegen ist. Der Zionismus, wenigstens in einem äussern Zipfel den meisten lebenden Juden erreichbar, ist nur der Eingang zu dem Wichtigern.« [126] Ein schöner Gedanke – erneut beschwört Kafka einen geistigen Habitus, jenseits aller konkreten Überzeugungen. Als dann aber Felice (mit Grete Bloch als Begleitschutz) sich endlich auf den Weg machte, um das Heim zu besichtigen und einen Vortrag Lehmanns zu hören, da klang es ihr doch wieder in den Ohren, jenes kulturzionistische Idiom, dem sie seit langem entfremdet war, wie sie gestehen musste: Volksarbeit, Volksleben, Volkskörper, Volk als Kraftquelle …
Aber nein!, rief Kafka, dem die neuentdeckte Einigkeit förmlich Flügel verlieh; hier gehe es doch schlicht um Menschlichkeit und damit um etwas ganz und gar Fundamentales: »Du wirst dort Hilfsbedürftigkeit sehn und Möglichkeit vernünftiger Hilfe, in Dir aber Kraft zu dieser Hilfe, also hilf. Das ist sehr einfach und doch abgründiger als alle Grundgedanken.« Und diesem Appell an Felices soziale Berührbarkeit – hier war sie lenkbar, wie er wusste – ließ er einen eigenen Vortrag folgen, unter Aufbietung aller Beredsamkeit, einen Vortrag, in dem ganz andere, neue Register gezogen wurden. Kein Zweifel, diesen Kafka vernahm sie zum ersten Mal:
»Es ist, soviel ich sehe, der absolut einzige Weg oder die Schwelle des Weges, der zu einer geistigen Befreiung führen kann. Undzwar früher für die Helfer, als für die, welchen geholfen wird. Vor dem Hochmut der entgegengesetzten Meinung hüte Dich, das ist sehr wichtig. Worin wird denn dort im Heim geholfen werden? Man wird, da man doch für dieses Leben schon einmal in seine Haut eingenäht ist und zumindest mit eigenen Händen und unmittelbar an diesen Nähten nichts ändern kann, versuchen die Pfleglinge, bestenfalls unter möglichster Schonung ihres Wesens, der Geistesverfassung der Helfer und in noch weiterem Abstand der Lebenshaltung der Helfer anzunähern, d. h. also dem Zustand des gebildeten Westjuden unserer Zeit, Berlinerischer Färbung und, auch das sei zugegeben, dem vielleicht besten Typus dieser Art. Damit wäre sehr wenig erreicht. Hätte ich z.B. die Wahl zwischen dem Berliner Heim und einem andern, in welchem die Pfleglinge die Berliner Helfer (Liebste, selbst Du unter ihnen und ich allerdings obenan) und die Helfer einfache Ostjuden aus Kolomea oder Stanislau wären, ich würde mit riesigem Aufatmen, ohne mit den Augen zu zwinkern, dem letzteren Heim den unbedingten Vorzug geben. Nun glaube ich aber, diese Wahl {133}besteht nicht, niemand hat sie, etwas was dem Wert der Ostjuden ebenbürtig wäre, lässt sich in einem Heim nicht vermitteln, in diesem Punkt versagt in letzter Zeit sogar die blutsnahe Erziehung immer mehr, es sind Dinge, die sich nicht vermitteln, aber vielleicht, das ist die Hoffnung, erwerben, verdienen lassen. Und diese Möglichkeit des Erwerbes haben, so stelle ich es mir vor, die Helfer im Heim. Sie werden wenig leisten, denn sie können wenig und sind wenig, aber sie werden, wenn sie die Sache begreifen, alles leisten, was sie können, und dass sie eben alles leisten, mit aller Kraft der Seele, das ist wiederum viel, nur das ist viel. Mit dem Zionismus hängt es (dies gilt aber nur für mich, muss natürlich gar nicht für Dich gelten) nur in der Weise zusammen, dass die Arbeit im Heim von ihm eine junge kräftige Methode, überhaupt junge Kraft erhält, dass nationales Streben anfeuert, wo anderes vielleicht versagen würde, und dass die Berufung auf die alten ungeheuern Zeiten erhoben wird, allerdings mit den Einschränkungen, ohne die der Zionismus nicht leben könnte. Wie Du mit dem Zionismus zurechtkommst, das ist Deine Sache, jede Auseinandersetzung (Gleichgiltigkeit wird also ausgeschlossen) zwischen Dir und ihm, wird mich freuen. Jetzt lässt sich darüber noch nicht sprechen, solltest Du aber Zionistin einmal Dich fühlen (einmal hat es Dich ja schon angeflogen, es war aber nur Anflug, keine Auseinandersetzung) und dann erkennen, dass ich kein Zionist bin – so würde es sich bei einer Prüfung wohl ergeben – dann fürchte ich mich nicht und auch Du musst Dich nicht fürchten, Zionismus ist nicht etwas, was Menschen trennt, die es gut meinen.« [127]
Das war eindringlich, radikal, und es hätte – beim Wort genommen – Felice Bauer an den Rand ihrer bürgerlichen Existenz geführt. Dabei war der ›Eigennutz‹ der zionistischen Helfer durchaus keine paradoxe Zuspitzung Kafkas: Es war dies ebenjene Haltung, mit der sich die Initiatoren des Volksheims vom parteimäßigen Zionismus der vorigen Generation absetzten. Bloße Wohltätigkeit war nicht nur unzureichend, sie blockierte auch, so schien ihnen, das Bewusstsein einer gemeinsamen jüdischen Geschichte und Identität. »Der Westjude geht ins Volk«, schrieb Lehmann rückblickend, »nicht nur, um zu helfen, sondern um durch das Leben im Volke und durch Lernen eins mit ihm zu werden ...« [128] Das war nun allerdings die Sprache Bubers, vom kulturzionistischen Katheder gesprochen und über allzu viele Köpfe hinweg. Während der apolitische Kafka die Begriffsmünze des Völkischen bewusst meidet: Tatsächlich ist aus den Jahren bis 1920 kein einziger Satz von ihm überliefert, in dem er das Wort Volk affirmativ oder gar normativ gebraucht hätte. Stattdessen setzt er auf Mitmenschlichkeit, Freiheit von Vorurteilen, fundamentale {134}Offenheit: Diesen Menschen zugewandt sein, und keineswegs nur mit dem Sprachrohr, darauf allein komme es an.
Gewiss, auch Kafkas Haltung ist keineswegs so unideologisch rein und politikfern, wie sie vorgibt: Er idealisiert die Ostjuden, und von diesem zionistischen Erbe wird er niemals mehr lassen. Dennoch stellt er die »geistige Befreiung« – wann hätte er je ein solches Wort gebraucht? – ganz in die Verantwortung des Einzelnen, auf seine Hingabe nicht an eine Partei, eine Bewegung, ein Volk, sondern an den leibhaftigen Menschen – und von nichts anderem will er hören. »Die Hauptsache sind die Menschen«, beschwört er Felice, »nur sie, die Menschen« [129] ; und er meint damit West- und Ostjuden gleichermaßen. Bei aller Idealisierung, bei aller zeitgenössischen Typisierung, deren Einfluss sich auch Kafka nicht entziehen kann: Stets fasst er solche Kollektivbegriffe gleichsam in Anführungszeichen, ohne ihnen moralische Verbindlichkeit zuzubilligen. Denn Kollektive sind nebelhafte Gebilde, vielgliedrig und widersprüchlich, und den Anblick schöner Homogenität, erst recht jene von den jungen Zionisten ersehnte Droge der ›Volksnähe‹ bieten sie höchst selten – und gewiss nicht im melting pot eines großstädtischen Ghettos. Lehmann selbst verließ das Berliner Volksheim, nachdem diese Erfahrung auch für ihn unabweisbar geworden war. [130] Was aber bleibt, ist das Antlitz des Einzelnen. Sein Blick hält fest.
Auch die grundlegende und für beide Seiten wahrscheinlich schmerzliche Differenz zu Max Brod ist in Kafkas Bekenntnissen mit Händen zu greifen. Brod definierte sich selbst nicht mehr als Schriftsteller oder Kritiker, sondern als Zionist; er sah sich im Dienst einer Bewegung, die konkrete politische, organisatorische und kulturelle Ziele verfolgte, und auch dann, wenn er an das Gewissen des Einzelnen appellierte, war seine Sprache durchwirkt von der politischen Phraseologie der Zeit, ja bisweilen kontaminiert von einem missionarisch-eifernden Unterton, der abstoßend wirkte. Selbst Buber sah sich veranlasst, mehr Zurückhaltung anzumahnen; Gustav Landauer meinte gar, aus Prag die Misstöne eines jüdischen Chauvinismus zu vernehmen, versuchte Brod doch allen Ernstes, die Überlegenheit der jüdischen über die christliche Religion zu erweisen. [131] Doch das war vorläufig ein Nebenschauplatz. Denn Brod ging es zunächst um die Frage der sozialen Praxis, um die Frage also, ob jemand tatkräftig mitmachte oder nicht; bloße verbale Bekenntnisse {135}zum Judentum, wie sie Schnitzler, Werfel, Wassermann oder Stefan Zweig ablieferten, weckten seinen Unmut – selbst dann, wenn diese Autoren damit nichts anderes zum Ausdruck brachten als ihre tatsächlichen Überzeugungen und Empfindungen.
Ganz anders Kafka, für den weder das Bekenntnis zu einer Sache noch deren Praxis letztlich entscheidend war, vielmehr eine Haltung absoluter Authentizität, die jedem Bekenntnis – wozu auch immer – überhaupt erst Substanz und Gewicht verleiht. Authentizität: das war die fugenlose, von jeder fremden Einrede, jeder Phrase ungetrübte Übereinstimmung von Denken, Fühlen und Handeln: mit sich selbst einig sein, wahrhaftig sein. Beispiele solcher Wahrhaftigkeit fand Kafka an entlegensten Orten, unabhängig von seinen eigenen sachlichen Überzeugungen: im Alten Testament, bei Napoleon, Grillparzer, Dostojewski, bei Gerhart Hauptmanns Gottesnarr EMANUEL QUINT, bei Rudolf Steiner und Moriz Schnitzer, in der Pietistengemeinde von Herrnhut ebenso wie am ›Hof‹ des Belzer Rabbi, im Eheleben des Malers Feigl wie im nationaljüdischen Idealismus eines Studenten, dessen leibliche Existenz Kafka gar für wertvoller erklärt als die eigene. Auch der künftigen ›Lehrerin‹ am Berliner Volksheim, Felice Bauer, schlägt Kafka nicht etwa vorbereitende Lektüre zu jüdischen, politischen oder pädagogischen Themen vor (wie es zweifellos Brod getan hätte), sondern, dringlich und wiederholt, Lily Brauns MEMOIREN EINER SOZIALISTIN, die sie schon vor Jahren ein wenig gelangweilt beiseitegelegt hatte. Sie solle es doch noch einmal versuchen, bittet er, denn »schon ein Hauch der Geistesverfassung« dieses Buches genüge für die Arbeit, die im Volksheim vorerst zu tun sei. Während er die Geistesverfassung jener Prager Zionisten, die sich in die Synagogen drängen und damit etwas beweisen wollen, schroff zurückweist. [132]
Mit dieser Kritik war, ohne Zweifel, auch Max Brod gemeint, der sich nach seiner Bekehrung zum Zionismus und zur jüdischen Nation auch den religiösen Inhalten des Judentums allmählich zu nähern begann. Ob es darüber explizite Auseinandersetzungen zwischen den Freunden gegeben hat, wissen wir nicht, doch es ist wenig wahrscheinlich. »Was habe ich mit Juden gemeinsam?«, hatte Kafka bereits 1914 im Tagebuch notiert – offenbar ohne daran zu denken, dass er eine solche Frage genaugenommen nur als meschumed, als ›Getaufter‹, hätte stellen können. »Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam«. [133] Derart energische Distanzierungen {136}hatte Brod gewiss schon mehrmals zu hören bekommen; ja, selbst die Pflicht des jüdischen Autors, sich für die Gemeinschaft, für das eigene Volk einzusetzen, hatte Kafka zwar generell bejaht, für sich selbst aber verneint (auch wenn er gelegentlich ein paar Kronen für Palästina spendete). Seither war Brod vorsichtiger geworden, er mied die sachliche Konfrontation und versuchte es mit indirekten Lockungen.
Zum Beispiel mit der Vermittlung von Publikationen. Die Legende VOR DEM GESETZ, das Kernstück des PROCESS-Romans, wurde im Herbst 1915 in der zionistischen Selbstwehr erstmals abgedruckt [134] – was Kafka zweifellos erfreute, auch wenn sich der Wirkungskreis des Blättchens, das seit Kriegsbeginn ums Überleben kämpfte, drastisch verringert hatte (»selbst wer sie hält, liest sie nicht«, lautete ein umlaufender Kalauer). Aber musste nun die Selbstwehr den neuen Autor gleich als ›Mitarbeiter‹ des Jahrgangs 1916 nennen? Das war ein wenig voreilig, denn auf weitere Beiträge dieses Mitarbeiters wartete man vergebens.
Nicht viel anders erging es zunächst Buber, der Ende 1915 bei einer Reihe von Autoren anfragte, ob sie bereit seien, an einer neu zu gründenden, selbstbewusst nationaljüdisch ausgerichteten Zeitschrift Der Jude mitzuwirken. Da der allgegenwärtige Brod von Anbeginn dabei war, erhielt natürlich auch Kafka einen Werbebrief – der indessen kein persönliches Wort, sondern lediglich die üblichen Slogans enthielt: Es gehe jetzt darum, schrieb Buber, die jüdische »Totalität als ein lebendes zu bekunden, zu bezeugen, sichtbar zu machen«. Das freilich war ein Anspruch, den Kafka weder erfüllen konnte noch wollte: »Ihre freundliche Einladung ehrt mich sehr«, versicherte er, »aber ich kann ihr nicht entsprechen; ich bin – irgendeine Hoffnung sagt natürlich: noch – viel zu bedrückt und unsicher, als dass ich in dieser Gemeinschaft auch nur mit der geringsten Stimme reden dürfte.« [135] Das klang ein wenig lau – wann hätte je ein Schriftsteller auf Publizität verzichtet allein aufgrund von Unsicherheit? Doch Kafka war es undenkbar, auf eine Bühne zu steigen, öffentliche Bekenntnisse abzugeben oder gar irgendeine ›Totalität‹ zu repräsentieren, ohne sich seiner Sache sicher zu sein bis in die letzte Faser, das heißt: sie als Teil der eigenen Identität zu empfinden. Davon aber konnte »noch« keine Rede sein.
Für Buber kam die Absage weder überraschend, noch konnte er {137}sie für seine Zeitschrift als essenziellen Verlust wahrnehmen. An den Prager Autor erinnerte er sich wohl nicht sehr bestimmt – ein Besuch Kafkas in Bubers Berliner Wohnung lag schon Jahre zurück –, und einschlägige essayistische oder gar programmatische Werke lagen nicht vor: Dass Kafka dazu überhaupt imstande sei, war vorläufig nichts als eine Behauptung seines umtriebigen Impresarios. Dieser aber gab seine Empfehlung keineswegs ohne Hintergedanken ab. Denn eine Zeitschrift, die eine jüdische Nation mit eigenem kulturellen Fundus propagierte, konnte nach Brods Auffassung auf Beispiele neuerer jüdischer Literatur nicht verzichten, und da war nur das Beste gut genug. Was aber war ›jüdische Literatur‹? Das konnte, wie Buber ihm entgegenhielt, doch wohl nichts anderes sein als Literatur in hebräischer oder allenfalls jiddischer Sprache, während deutsche Dichtung nicht genuin jüdisch sei und darum im Juden auch nichts zu suchen habe. Brod war verblüfft: Seit wann argumentierte ausgerechnet Buber mit derart buchhalterischen Kriterien? Es komme doch, hielt er ihm vor, nicht auf äußerliche Merkmale wie die Sprache an, sondern auf den Gehalt, auf den »Geist« der Literatur. Und darum gehörten die jüngeren westjüdischen Autoren wie Werfel, Kafka oder Wolfenstein keineswegs zur deutschen, sie seien vielmehr eine »Sondergruppe in der jüdischen Literatur«. [136]
Und dazu wollte Brod auch gleich ein überzeugendes Exempel liefern. Er offerierte Buber einen grundlegenden Aufsatz mit dem Titel ›Unsere Literaten und die Gemeinschaft‹, in dem er das Ethos der sozialen Tat – seiner Ansicht nach ein untrügliches Kennzeichen jüdischer Literatur – gegen die amoralische Selbstverliebtheit der expressionistischen Avantgarde ausspielte. Entscheidend für die moralische und damit auch ästhetische Neuorientierung der Autoren sei es, inwieweit sie sich – wenn schon nicht praktisch, dann doch wenigstens der Absicht nach – aus den Verstrickungen eines wurzellosen Individualismus würden lösen können. In dieser Hinsicht sei nun aber Kafka der »jüdischeste« von allen, denn dessen Sehnsucht nach Gemeinschaft sei die tiefste; ja, Kafka betrachte Einsamkeit geradezu als Sünde und nähere sich damit »der erhabensten religiösen Konzeption des Judentums«: Welterlösung statt Selbsterlösung. – Brod schlug vor, zur Illustration Kafkas kurzen Prosatext EIN TRAUM gleich mit abzudrucken, den er dem widerstrebenden Autor habe »förmlich entreißen« müssen. [137]
Jüdisch, jüdischer, am jüdischsten: eine fragwürdige Steigerung, eine halsbrecherische These und ein Beweisstück, das ungeeigneter kaum hätte sein können. Denn jener Traum, oder besser: jene Vision eines Mannes, der lebendig ins Grab steigt, weil ihm der goldene Zierrat des eigenen Grabsteins so gut gefällt – was sollte daran jüdisch sein? Nahm man Brod beim Wort, dann hätte man mit Kafkas TRAUM allenfalls das Gegenteil illustrieren können, nämlich die surreale Steigerung eines Narzissmus, den keinerlei Gemeinschaft vor der lustvollen Selbstzerstörung zu retten vermag. Von seinem Entschluss, auf deutschsprachige Literatur zu verzichten, war Buber mit solchen Arbeitsproben gewiss nicht abzubringen – er lehnte ab, musste ablehnen, auch wenn er Kafka diese Verweigerung durch hohes Lob zu versüßen suchte. Was indessen Brod nicht im mindesten beeindruckte: Wenn nicht im Juden, dann eben im JÜDISCHEN PRAG, einer Anthologie, die Ende 1916 unter dem Dach der Selbstwehr erschien. Und wenige Tage später erschien Kafkas Albtraum sogar im Prager Tagblatt, dargeboten den Blicken von Kollegen, Schwestern, Eltern. [138] Wie nicht zum ersten Mal: Ließ man sich von Brod etwas »entreißen«, fand man es sehr bald in der Zeitung wieder.
Dass sich der apodiktische Tonfall, mit dem Brod die gesamte literarische Welt unter das Raster jüdisch/nichtjüdisch presste, mit dem augenfälligen Mangel einleuchtender Kriterien nur schlecht vertrug und dass sich Brod in seinen literarischen Urteilen überdies von persönlichen Beziehungen und Neigungen beeinflussen ließ – Kafka wird das kaum entgangen sein, denn jene ebenso lärmende wie löchrige Prinzipientreue zeigte Brod von jeher. Es waren eben strategische Etiketten, die da verteilt wurden, so und nicht anders ging es zu im Literaturbetrieb, und dass fast die gesamte jüdische Publizistik sich diesen Gepflogenheiten anpasste, war bedauerlich, aber kaum zu ändern. Machte es die arische Gegenpartei nicht ebenso?
»Der Aufsatz von Max: Unsere Literaten und die Gemeinschaft wird vielleicht im nächsten Juden erscheinen. Willst Du mir übrigens nicht auch sagen, was ich eigentlich bin. In der letzten Neuen Rundschau wird die ›Verwandlung‹ erwähnt, mit vernünftiger Begründung abgelehnt und dann heisst es etwa: ›K’s Erzählungskunst besitzt etwas Urdeutsches.‹ In Maxens Aufsatz dagegen: ›K's Erzählungen gehören zu den jüdischesten Dokumenten unserer Zeit.‹ Ein schwerer Fall. Bin ich ein Cirkusreiter auf 2 Pferden? Leider bin ich kein Reiter sondern liege am Boden.« [139]
{139}
Er hätte sich noch einige Wochen gedulden sollen, denn schon im November dekretierte ein anonymer Rezensent der VERWANDLUNG in der Deutschen Montags-Zeitung: »Das Buch ist jüdisch«. Womit sich der Spielstand auf 2: 1 erhöhte, zugunsten Brods, zugunsten des jüdischen Geistes. [140]
Solche Zuschreibungen und Abgrenzungen wirken heute befremdlich, und der Furor, mit dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts um Weltanschauungen und Ismen jeglicher Couleur gestritten wurde, nimmt sich schal aus angesichts des dürftigen Erkenntnisgewinns, den die lautstarken Debatten schließlich hervorbrachten. Auch in den Reihen der Zionisten (und keinesfalls nur in der kulturzionistischen Fraktion) wurde das feurige Bekenntnis von Anfang an höher geschätzt als die scharfsinnige Analyse, und das Auftreten von Abweichlern sorgte regelmäßig für Empörung, lange ehe man deren Argumente geprüft hatte. Es ging um Identität, nicht um Erkenntnis. Identität aber kann sich auf Kompromisse nicht einlassen, sie muss dafür sorgen, immun zu bleiben, abzustoßen, was nicht zu ihr gehört.
Kafka war diese Logik durchaus vertraut; auch seine Vorstellung von Wahrhaftigkeit war ja im Grunde puristisch und vertrug zum Leidwesen seiner Umgebung keinerlei Kompromisse – ob es um den Verzehr eines Bratens, den Kauf von Möbeln oder die Mitwirkung an einer Zeitschrift ging. Hingegen konzedierte er alles nur Mögliche, solange es um bloße Meinungen oder Weltanschauungen ging; er missionierte nicht, und überzeugen wollte er allenfalls Menschen, die ihm nahe waren und deren Unverständnis ihn schmerzte. Das sah bisweilen wie Gleichgültigkeit aus. Doch Authentizität ist auf Zustimmung nicht angewiesen, wahrhaftig kann auch sein, wer die ganze Welt gegen sich aufbringt, und wenn Kafka das soziale Gewissen plagte, dann gewiss nicht deshalb, weil er die Auffassungen der Mehrheit nicht teilen konnte.
Diese entspannte Haltung gegenüber Andersdenkenden konnten sich die Verfechter von ›Bewegungen‹ natürlich nicht leisten. Die Welt erlösen: ja. Aber zu unseren Bedingungen. Eine derartige Position war allerdings nur zu halten, wenn man den Blick von den aktuellen Machtverhältnissen und Einflussmöglichkeiten abwandte und stattdessen auf Fernziele richtete. So wurde von den zionistischen Wortführern konsequent verdrängt, dass die überwältigende Mehrzahl der {140}deutschsprachigen Juden es sich energisch verbat, durch irgendwelche Schriftsteller, Hebräischlehrer oder polnische Flüchtlinge erlöst zu werden, und dass selbst von den kaum vier Prozent Zionisten nur ein verschwindender Bruchteil tatsächlich den Weg nach Palästina fand. »Ein Zionist ist ein Jude«, resümierte Leopold Schwarzschild, »der mit der ganzen Kraft seiner nationalen Überzeugung darauf hinarbeitet, dass ein anderer Jude mit dem Gelde eines dritten Juden nach Palästina übersiedelt.« [141] Die Ironie traf auch die Prager Zionisten an einem durchaus empfindlichen Punkt: Anspruch und Realität traten grotesk auseinander, es fehlte an Wahrhaftigkeit, doch wer über diesen Mangel offen zu sprechen versuchte, stieß sofort an die eigenen ideologischen Begrenzungen: Schließlich konnte man nicht das Verhalten einer so großen Überzahl für unjüdisch erklären.
Nicht minder fatal war es, in welchem Ausmaß derartige Identitätsund Abgrenzungszwänge auch auf die Literatur übergriffen, auf ein Gebiet also, in dem doch gerade das Singuläre, das Unwiederholbare den höchsten Rang einnimmt und wo kein Akteur sich damit zufriedengeben kann, bloßer Repräsentant einer Bewegung oder einer ›Richtung‹ zu sein. Wie viel Papier und Arbeitskraft verschwendet wurde über der Frage, ob ein Autor, ein einzelnes Werk nun dem Symbolismus, dem Expressionismus oder dem Aktivismus zuzurechnen sei, der ›jüdischen‹, der ›urdeutschen‹ oder irgendeiner anderen Literatur, wie viele kollegiale Beziehungen, ja selbst Freundschaften über derartigen Fragen zerbrachen, wird begreiflich nur als Symptom eines grassierenden horror vacui: Wo sich nichts mehr von selbst versteht, wo plötzlich alles geht, dort bleibt die wehende Fahne des Kollektivs, dort bleiben Ismus und Volk die letzten verlässlichen Erkennungszeichen. Die überanstrengten Versuche von Kafkas frühen Rezensenten, ihn irgendwo einzuordnen, sind zeittypische Exempel.
Auch Brods zunehmende Neigung, solche kollektiven labels wichtiger zu nehmen als geistige Physiognomien, hätte durchaus zum Bruch mit Kafka führen können. Er täuschte sich, wenn er dessen Begeisterung für jüdische Kulturarbeit als Zeichen einer stetig fortschreitenden Annäherung deutete: Tatsächlich hatte sich die Kluft zwischen Kafkas Ethik der Wahrhaftigkeit und Brods Identitätspolitik bereits derart vertieft, dass sie Brod zu einem Spagat nötigte: Er musste, um mit Kafka im Gespräch zu bleiben, die Rolle des Propagandisten ablegen. Und er konnte es, weil es eine Rolle war und {141}weil es neben dem ehrgeizigen Zionisten auch noch den verwundbaren, vom Krieg desillusionierten, um Orientierung ringenden und bisweilen gefühlsseligen Brod gab, der das Bedürfnis hatte, zu entspannen, aus der Deckung hervorzutreten, Freundschaft zu pflegen jenseits aller Fraktionskämpfe, und dessen Empfänglichkeit für literarisches Können noch keineswegs verschüttet war.
»Ich persönlich«, schrieb Brod an Buber, der sich noch immer halsstarrig zeigte und keine deutsch-jüdische Literatur wollte, »ich persönlich halte Kafka neben Gerhart Hauptmann und Hamsun für den größten lebenden Dichter! Ach kennten Sie doch seine umfangreichen, leider unvollendeten Romane, die er mir manchmal, in seltenen Stunden vorliest. Was würde ich nicht tun, um ihn mobiler zu machen!« [142] Das war lautere Überzeugung, er persönlich kannte die Tiefenwirkung von Kafkas Sprache schließlich am genauesten. Als Zionist jedoch vertrat Brod eine völlig andere Auffassung, denn hier ging es ums Prinzip: das Prinzip der Blutszugehörigkeit, nach dessen Logik es ein sprachliches Potenzial vom Rang Kafkas gar nicht hätte geben dürfen, nicht unter deutschsprechenden Juden: Denn »uns ist die Sprache nur anvertraut«, wusste Brod, »daher sind wir im rein Sprachlichen unschöpferisch.« [143] Wir, die jüdischen Autoren, die Dauergäste fremder Kulturen. Der private Brod wird sich gehütet haben, mit derartigen Argumenten Kafkas Selbstzweifeln neue Nahrung zuzuführen. Waren aber jüdische Autoren innerhalb der deutschen Sprache nachweisbar unschöpferisch, so begab sich Brod auf ziemlich dünnes Eis, wenn er Kafkas Werk als essenziell jüdisch deklarierte. Um es auch öffentlich bewundern zu dürfen, riskierte er diesen Schritt. Offenbar ging es – wieder einmal – um Identität, nicht um Folgerichtigkeit.
Jahre später hat Kafka in einem langen, schwer auszudeutenden Brief sogar von der »Anmaßung fremden Besitzes« gesprochen, von einer deutsch-jüdischen »Zigeunerlitteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen« habe. Er nennt keine Namen, bezieht auch die eigenen Texte keineswegs mit ein. Auffallend jedoch, dass Brod, der aus diesen polemischen Äußerungen durchaus Kafkas endgültige Konversion zum Kulturzionismus hätte herauslesen können, mit Schweigen reagierte. Hatte er begriffen, wie sehr diese These auch sein eigenes Werk unterminierte? [144]
Das Treiben im Berliner Volksheim wurde von den ostjüdischen Nachbarn mit Misstrauen beäugt. Was ging dort eigentlich vor? Standen die Fenster offen, so hörte man Singen oder Vorlesen, bisweilen aber auch Hämmern und Sägen. Kamen die Kinder nach Hause, so erzählten sie ihren Eltern, überwiegend Arbeitern und Kleinhändlern, wie böse das Feilschen sei und wie gut stattdessen die Solidarität, die Verantwortung eines jeden für jeden. Zwölfjährige – es war unfassbar – durften über Verfehlungen ihrer Kameraden Gericht halten, ja sogar über ihre erwachsenen Lehrer abstimmen, und ›A. K.‹ war ihr höchster Ehrentitel: anständiger Kerl, hieß das. Sie lernten Gedichte auswendig und brachten Bücher mit nach Hause, merkwürdige Bücher, die mit dem wirklichen Leben nicht das mindeste zu tun hatten. Und am Wochenende marschierten sie stundenlang durch die Natur, übernachteten gar im Stroh; danach mussten sich die Eltern anhören, wie fabelhaft es aussieht, wenn die Sonne untergeht. Und das sollte Vorbereitung sein für den Existenzkampf in der feindlichen Metropole?
Lange dauerte es, ehe auch eine nennenswerte Zahl erwachsener Ostjuden sich ins Volksheim wagte, um die dort angebotene kostenlose Mütterberatung, Rechtsauskunft oder medizinischen Rat in Anspruch zu nehmen. Doch mit gutem Willen allein waren die sozialen und mentalen Barrieren zwischen den Helfern und ihrer Klientel keineswegs zu beseitigen, und das von Siegfried Lehmann avisierte Ziel, dass die Bevölkerung des Scheunenviertels »in dem Heim den Mittelpunkt in allen bedeutenden Fragen des täglichen Lebens sieht«, erwies sich als völlig illusorisch. [145] So konzentrierte sich die ›jüdische Volksarbeit‹ mehr und mehr auf die Kinder, deren Formbarkeit und Dankbarkeit für alle Rückschläge entschädigte.
Felice Bauer, der es, wie Kafka, eher auf Menschen als auf Grundsätze ankam, war von der Atmosphäre des Volksheims sofort beeindruckt, ja begeistert. Behagliche und erstaunlich reinliche Räume hatte sie vorgefunden, eigentlich mehr Wohnung als Heim; es gab ein Lesezimmer, ein Bad, eine kleine Werkstatt, sogar ein Klavier war vorhanden. Und interessante Leute lernte man kennen, eine Kindergärtnerin aus Palästina, einen jungen Rabbiner, einen Komponisten, etliche Medizinstudenten; auch Prominente ließen sich bisweilen sehen, wie Buber und Landauer, daneben junge Radikale wie Salman Rubaschow (niemand dachte im Traum daran, dass {143}dieser Mann einmal Präsident eines Staates Israel sein würde) und Gerhard Scholem (der sich später Gershom nannte und das Werk von Felices Verlobtem kommentierte). Dabei keine Spur von akademischem Dünkel; jeder war willkommen, der bereit war, sich von der vorherrschenden Aufbruchsstimmung anstecken zu lassen und regelmäßig mitzuarbeiten. Die praktischen Probleme dominierten, daher war Zuverlässigkeit weitaus wichtiger als irgendwelche zionistischen Bekenntnisse, die Felice Bauer weder liefern konnte noch wollte. Niemand offenbar nahm ihr das übel. Selbst Lehmann (der nur wenige Monate mitarbeiten konnte, dann wurde er eingezogen) war beeindruckt von der Energie, mit der diese berufstätige Frau die Arbeit an sich zog: Zweimal wöchentlich erschien sie gegen 17 oder 18 Uhr im Heim und blieb bis zum späten Abend, am Wochenende beteiligte sie sich an den Ausflügen und nahm auch noch umfängliche Tipparbeiten auf sich. Das Volksheim tendiere dazu, schrieb sie, seine Mitarbeiter zu vereinnahmen; und das war aus ihrem Mund gewiss als Lob gemeint. Kafka wurde ein wenig unbehaglich, als er davon hörte – während Felice, wie es schien, noch immer nicht ausgelastet war und an weiteren Abenden auch noch Vorträge über Strindberg hörte.
Freilich war es nicht damit getan, ein paar Kinder von der Straße zu holen und mit Fürsorge zu umgeben. Man verfocht einen pädagogischen Anspruch, der im Kern jüdisch sein sollte; darum wurde von den ehrenamtlichen Helfern erwartet, dass sie sich in regelmäßigen Gruppensitzungen über religiöse, kulturelle und erzieherische Probleme verständigten und einer Art Supervision unterzogen. So wurde in Felice Bauers Gruppe ein pädagogisches Standardwerk, Foersters JUGENDLEHRE, Kapitel für Kapitel referiert und besprochen, was natürlich den anwesenden Studentinnen leichter fiel als der technischen Prokuristin, die es nicht gewohnt war, Texte zu deuten. Glücklicherweise gab es da einen Freund, der ebendies zu seinem Beruf gemacht hatte: Hastig, inmitten der Büroarbeit, durchflog Kafka die wesentlichen Abschnitte des Buchs und tippte eigenhändig ein Referat, das dann Felice nur noch vorzutragen brauchte. [146] Auch als literarischer Berater und stiller Spender betätigte er sich, ließ etwa ein Dutzend Exemplare von Chamissos SCHLEMIHL-Erzählung übersenden, die unter den Kindern zur gemeinsamen Lektüre verteilt wurden.
Anders als Felice Bauer befürchtet hatte, ging es keineswegs vorrangig um religiöse Erziehung; die Lektüre war überwiegend profan, westlich, und überschnitt sich mit ihrem eigenen bürgerlichen Bildungsfundus. Das gab Sicherheit. Auch leuchtete ihr ein, dass die Erfahrung von Schönheit – sei es in der Natur, sei es in der deutschen Prosa – ein wichtiges pädagogisches und moralisches Medium war. Offenbar war man sich einig darin, den Kindern so viel wie möglich zu zeigen – auch wenn es über ihr Verständnis weit hinausreichte und der Lektüreplan seltsam zusammengeflickt war aus biederem Schulkanon und ein paar zionistischen Empfehlungen. Wozu es denn gut sei, fragte Kafka entgeistert, den Kindern ausgerechnet Lessings MINNA VON BARNHELM vorzusetzen. Abbrechen, riet er, sofort abbrechen. Nur um dann hören zu müssen, dass im ›Zionistischen Mädchenklub‹, in dem sich ältere Mädchen und junge Frauen versammelten, sogar der ›Gemeinschafts‹-Aufsatz von Brod besprochen worden war, ein Text, der die Kenntnis neuester expressionistischer Literatur voraussetzte. Doch alle seien begeistert gewesen, versicherte Felice, der Begriff Gemeinschaft habe geradezu eine kollektive Einkehr bewirkt, ja, die Mädchen seien drauf und dran gewesen, eine Dank- und Grußkarte an den Autor zu verfassen. Aber, fiel ihr dabei ein, »hast Du selbst eigentlich mal darüber nachgedacht? Und wie stellst Du Dich zu dem Gemeinschaftsgedanken von Max Brod?« Seltsame Frage. Wusste sie noch immer nicht, mit wem sie es zu tun hatte? Er hätte ihr die eigenen Tagebücher ausliefern müssen, um ehrlich zu antworten. [147]
Dass im Berliner Volksheim ziemlich wahllos und vor allem zu schulmäßig gelesen wurde, bemängelten freilich auch andere. Vor allem junge, ideologisch hochgerüstete Zionisten stellten die Frage, ob die (Re-)Sozialisierung und westliche Bildung ostjüdischer Kinder nicht eigentlich auf Assimilation hinauslief. Wo blieb die jüdische Tradition, wo blieb die Vorbereitung auf Palästina? Er solle doch, blaffte der 18-jährige Scholem den Leiter des Volksheims an, anstatt sich mit »Unfug und literarischem Geschwätz zu befassen, lieber Hebräisch lernen und zu den Quellen gehen«. Auch gegenüber den Helferinnen, deren »hochästhetisch drapierte Röcke« schon auf den ersten Blick einen Mangel an nationalem Kampfgeist verrieten, hielt sich Scholem keineswegs zurück. Volksarbeit in der Diaspora (er nannte sie jiddisch Golus) sei sinnlos, eine Verschwendung jüdischer {145}Ressourcen, wenn sie nicht der eigentlichen Arbeit diene, die ja erst in Palästina beginne. Jene vielzitierte pädagogische Maxime Bubers: »Mensch werden, und es jüdisch werden« – gewiss, das klang vornehm, das ging ins Gemüt. Doch weder in den östlichen Gebieten, aus denen die Flüchtlinge stammten, noch hier im Deutschen Reich werde es je eine Lösung der jüdischen Frage geben, auch mit den besten und jüdischsten Menschen nicht. Übersiedelung nach Erez Israel sei die Lösung, nichts sonst. [148]
Für die gutwilligen Helferinnen, die dem höchst eloquenten und gebildeten Scholem nicht viel entgegenzusetzen hatten, gewiss eine kalte Dusche. Keineswegs jedoch für Kafka:
»Die Debatte von der Du erzählst ist charakteristisch ich neige im Geiste immer zu Vorschlägen wie denen des Hr. Scholem, die das Äusserste verlangen und damit gleichzeitig das Nichts. Man muss eben solche Vorschläge und ihren Wert nicht an der tatsächlichen Wirkung messen die vor einem liegt. Übrigens meine ich das allgemein. Der Vorschlag Scholem ist ja an sich nicht unausführbar.« [149]
Worin aber besteht dann der Wert unausführbarer Vorschläge? In ihrer Wahrheit natürlich, in ihrer Wahrhaftigkeit. – Kafka kommentiert Scholem, und durchaus mit Sympathie. Als dieser davon erfuhr, war er siebzig Jahre alt.
Täglich eine Postkarte. Dazwischen hin und wieder ein Brief, zu besonderen Anlässen. Einmal gar ein Referat. Und Fragen, sehr viele Fragen. Nur den Faden jetzt nicht mehr abreißen lassen. Und mit den eigenen Klagen haushalten.
Man spürt, das Wunder von Marienbad hat Kafka nicht nur weicher, sondern auch realistischer gemacht. Er weiß jetzt, dass es nicht genügt, Zusammengehörigkeit nur zu beschwören oder herbeizuträumen. Die Beziehung zu einer Frau – gar über solche Entfernung – bedarf eines gemeinsamen Interesses, eines Projekts. Und es gelingt ihm, Felice davon zu überzeugen, dass die Arbeit im jüdischen Volksheim dieses Projekt sein könnte. »Ich fühle mich unter den Kindern sehr wohl«, schreibt sie, »und eigentlich viel besser am Platze als im Bureau.« [150] Kafka ist glücklich über diesen Satz: Ja, sie ist geschäftstüchtig, fleißig, und er bewundert sie dafür, doch sie hat auch die verständige Stimme einer Frau, mit der man reden, mit der man leben kann, das ist es, was er jetzt hören möchte, Wort für Wort, und mit Recht darf er sich dieses {146}Glück selbst zurechnen: Er gab den Anstoß, er war überzeugend, er war beharrlich, er hat alles richtig gemacht. Man möchte applaudieren. Doch das Leben ist keine Schulaufgabe. Hier sind es die zu einfachen Rechnungen, die nicht aufgehen.