{42}Kein Literaturpreis für Kafka
Der Kunst soll man alle Opfer bringen,
aber sie selbst darf nicht darunter sein.
Karl Kraus an Herwarth Walden
»Rötlich-braunes Wachstuchheft mit hellblauen Schutzblättern, enthaltend 20 Blätter (außer dem letzten ohne Verbindung mit dem Heftrücken) gelb- lich-weißen, unlinierten Papiers mit abgerundeten Ecken; Höhe 24,85 cm, Breite 19,8–20,0 cm; in zwei Lagen von 2 und 18 (beide ursprünglich 20) Blättern ursprünglich mit Faden geheftet (2 Heftstiche); roter Schnitt; Wasserzeichen Typ 2 a bzw. 3 a; Bl. 19v und 20r leer. Blätter nicht mehr durch Heftfaden verbunden.« [25]
Es ist zweifelhaft, ob Kafka das Objekt, dem diese minuziöse Beschreibung gilt, auf Anhieb wiedererkannt hätte. Manuskripte anderer Schriftsteller kannte er entweder als auratische Reliquien unter Glas – wie etwa die makellose Abschrift von Goethes Mignon-Lied, die er in Weimar bestaunt hatte, weil er sie für das Original hielt – oder als tintenfrische, von Diagonalstrichen und Randkorrekturen verunstaltete Blätter und Hefte, wie sie auf den Schreibtischen von Max Brod und Ernst Weiß umherlagen (zu schweigen von den Zetteln in Werfels Hosen- und Westentaschen). Das eine kam unmittelbar vom Olymp, das andere war Tagesgeschäft.
Kein Autor am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts – und am wenigsten wohl Kafka selbst – hätte sich vorstellen können, dass seine schriftliche Hinterlassenschaft alsbald vermessen, fotografiert und beschrieben würde, als handele es sich um Papyrusrollen aus einer ägyptischen Grabkammer, und das abstrakte Interesse am Medium und an der Materialität des Zeichens war jener Generation noch völlig fremd. Im Gegensatz zu schön bedruckten Buchseiten galten Notizblätter und -hefte als Verbrauchsgut, und es war durchaus zeittypisch, dass Kafka Blätter herausriss, wenn er private von {43}literarischen Aufzeichnungen trennen wollte, dass er seine Hefte von vorn und von hinten gleichzeitig füllte, dass Tinte und Bleistift, Normalschrift und Stenographie nach Bedarf einander abwechselten und dass schließlich auch gedankenverlorene Krakeleien zwischen die Zeilen gerieten. Anders als heute, da literarische Zwischenstufen im ordentlichen Laserausdruck bereits wie Werke aussehen, war die individuelle Spur des Schaffensprozesses etwas Alltägliches. Brod hatte keinerlei Skrupel, auf nachgelassenen Blättern seines Freundes, den er doch für ein literarisches Genie und überdies für die Leitfigur einer neuen Religiosität hielt, eigene Eintragungen mit Rotstift vorzunehmen, manche dieser unersetzlichen Blätter der Post anzuvertrauen, ja sogar zu verschenken. [26] Natürlich wusste Brod, dass die ›historisch-kritische Ausgabe‹, die jede erreichbare Silbe archiviert und kommentiert, das Adelsdiplom des klassischen Autors ist, und er war sich völlig sicher – wenngleich er stets mit unguten Gefühlen daran dachte –, dass auch Kafkas Werk eines Tages ins Fixierbad der Editionswissenschaft getaucht würde. Niemals aber wäre Brod auf den Gedanken verfallen, das Papier zu betrachten, auf das Kafka geschrieben hatte. Wozu auch? Die präzise Abschrift war es doch, worauf es ankam. Und so gab sich Brod alle Mühe, den Tatort sauber aufzuräumen, lange, ehe die philologischen Ermittler eintrafen.
Ein halbes Jahrhundert später wurden Kafkas Heftblätter auf den Lichttisch gelegt. Man entdeckte Wasserzeichen des Papierherstellers, vierblättrige Kleeblätter, die in bestimmten Mustern angeordnet sind, und diese Muster unterscheiden sich geringfügig, je nachdem, ob es sich um ›linke‹ oder ›rechte‹ Seiten handelt. Damit war eine entscheidende Spur gesichert, die es in vielen Fällen ermöglichte, das jeweilige Blatt dort wieder einzufügen, wo Kafka es achtlos herausgetrennt hatte, und damit den zugehörigen Text zu datieren. Bedurfte es noch weiterer Beweise, dass hier buchstäblich alles von Bedeutung sein kann? Wenn aber alles, dann wirklich alles: Breite, Höhe, Farbe, Schnitt, nicht zu vergessen die abgerundeten Ecken – ein Steckbrief für die Ewigkeit. Indessen das Original unendlich langsam, aber unaufhaltsam zerfällt, jener ›Schriftträger‹, der jetzt den wissenschaftlichen Namen ›KBod AI, 10‹ trägt, weil er in der Bibliotheca Bodleiana in Oxford verwahrt wird und weil es Kafkas zehntes Tagebuchheft ist.
Es ist kaum anzunehmen, dass er selbst jene Wasserzeichen, über die seine Stahlfeder hinwegglitt, jemals bewusst wahrgenommen hat. {44}Auch hätte er sich nicht träumen lassen, dass eines Tages jemand Blatt für Blatt die Wörter zählen würde, die auf jeweils einer Manuskriptseite Platz fanden. Es hätte ihn erheitert, und Brod hätte sich an den Kopf gegriffen. Und doch hat der Literaturwissenschaftler Malcolm Pasley den Nachweis erbracht, dass mit diesem eigentümlichen Verfahren einzelne Passagen des PROCESS sich datieren lassen – ein kostbarer Gewinn an Erkenntnis angesichts eines weltweit kanonisierten Romans, dessen Autor nicht einmal die Abfolge der Kapitel verbindlich fixiert hat. [27] Gewiss, das Moment des Komischen, das diesem Einkriechen in die materielle Hinterlassenschaft des Autors eignet, ist unbestreitbar. Doch nicht weniger virulent, und am Ende bedeutsamer, ist die Lust an der verblüffenden Lösung – als beobachtete man einen professionellen Billardstoß über drei, vier Banden, auf den kein gewöhnlicher Sterblicher verfallen würde und dessen Gelingen immer eine Art freudiges Erschrecken auslöst. Zurück hinter die Fertigkeiten der Spezialisten können wir ohnehin nicht mehr, und der so häufig beschworene ›unverstellte‹ Blick auf Kafka – sollte es ihn denn jemals gegeben haben – wäre heute nur noch als Illusion zu haben.
Die Bilanz war furchtbar. DER PROCESS und DER VERSCHOLLENE: unvollendet und wahrscheinlich unvollendbar. ERINNERUNGEN AN DIE KALDABAHN, DER DORFSCHULLEHRER, DER UNTERSTAATSANWALT, die ›Blumfeld‹-Erzählung und noch zwei, drei weitere Anläufe: nichts beendet, alles gescheitert, Abbrüche, Fragmente und Ruinen, so weit das Auge reichte. Allein die überaus blutige STRAFKOLONIE vorzeigbar, nach einigen Reparaturen vielleicht publizierbar. Und dies war das Ergebnis monatelanger, verbissener Anstrengung, die unreifen Früchte, für die Kafka seinen Schlaf, seinen Urlaub, überhaupt jede Möglichkeit der Erholung geopfert hatte, die er den Kopfschmerzen, dem Lärm der angemieteten Zimmer, der im Krieg rasch wachsenden Arbeitsbelastung im Büro förmlich abgetrotzt hatte. Da sich Kafka über works in progress nur höchst ungern ein Wort entlocken ließ, hatte wohl niemand in seiner Umgebung eine auch nur annähernde Vorstellung von diesen Kämpfen, und erst die avancierte, noch den letzten zarten Bleistiftstrich bewahrende Philologie ist es gewesen, die das ganze Ausmaß des existenziellen Debakels hat kenntlich werden lassen.
Heute, da sprachliche Schöpfungen einer überwältigenden Konkurrenz {45}durch härtere, schnellere Medien ausgesetzt sind, gilt nicht das Schreiben, wohl aber das Schreiben-Müssen als obsolete Leidenschaft. Nicht zuletzt Kafkas Ruhm macht es schwer, noch Empathie aufzubringen für seine Verzweiflung am Text. Wir wissen, dass er letztlich nicht gescheitert ist, und wir fragen, was er darüber hinaus hat wollen können. Jenes ›letztlich‹ aber entspringt einem Urteil aus historischer Distanz, welches das ganze Leben umfasst, das Leben in seiner geronnenen Gestalt, samt seinem Kontext, der erst heute wirklich zu überblicken ist. Für Kafka selbst, der eine noch im Dunkel liegende Wegstrecke von (vielleicht, wahrscheinlich, hoffentlich) mehreren Jahrzehnten vor sich hatte, hätte dies kein Trost sein können, selbst dann nicht, wenn er den eigenen literarischen Rang begriffen und akzeptiert hätte.
Man muss, um diesen Unterschied zwischen singulärer, leiblicher Existenz und postumer Bedeutung in aller Schärfe zu erfassen, sich zunächst klarmachen, wie nahe Kafka dem selbstgesteckten Ziel tatsächlich gekommen war und welche Konsequenzen das literarische Gelingen nach sich gezogen hätte. Vor allem hinsichtlich seines Hauptwerks, des PROCESS, lässt sich das verhältnismäßig genau abschätzen, denn es ist ja offensichtlich, dass Kafka diesen Roman als kreisförmiges, das heißt als durchaus überschaubares, formal beherrschbares Gebilde konzipiert hatte. Auf der ersten wie auf der letzten Seite ist der Held mit sich allein, dazwischen aber wird, Kapitel für Kapitel, der soziale Radius des Josef K. abgeschritten: die Vermieterin, die Zimmernachbarin, Kollegen und Vorgesetzte, der Stammtisch, der Onkel, die Mutter, der Anwalt, die Geliebte – und natürlich das Gericht selbst. Ob Kafka noch andere Gerichtsszenen plante oder weitere zwielichtige Ratgeber aus der Randzone des Gerichts einführen wollte, wissen wir nicht; die sozialen Beziehungen des Angeklagten jedoch sind fast vollständig präsent, und der Verlauf des nur angedeuteten Mutter-Kapitels lässt sich beinahe erraten. Man hat keineswegs das Gefühl, die vagen Konturen eines Fragments abzutasten, und so rätselhaft das Ganze ist, so deutlich erkennbar sind die verbleibenden Lücken, die Kafka noch hätte ausfüllen müssen, um der inhärenten, zwingenden Logik dieses Werks bis zum Ende zu folgen.
Auch außerhalb des Textes waren die publizistischen Barrieren längst beiseitegeräumt, dafür hatte vor allem Max Brod gesorgt. {46}Kafka brauchte nirgendwo zu antichambrieren, er hatte einen einflussreichen Verleger, von dem er zwar seit längerem nichts mehr hörte und der auch augenblicklich gar nicht in seinem Leipziger Büro saß, der jedoch einen vollendeten Roman, und gar diesen, ohne zu zögern angenommen hätte. Da die Produktionszeiten – gemessen an heutigen Verhältnissen – noch recht kurz waren, hätte DER PROCESS im Herbst, spätestens Ende 1915 erscheinen können. Und selbst wenn der kurzfristige, messbare Erfolg ausgeblieben wäre – das Publikum wollte während des Krieges unterhalten werden, mehr denn je –, so wäre Kafka doch die prominenteste Fürsprache sicher gewesen, von Thomas Mann bis Robert Musil, und an Lesungen, Ehrungen und neuen Bekanntschaften, vielleicht Freundschaften wäre mittelfristig kein Mangel gewesen. Verführerische Bilder steigen herauf: Kafka im Gespräch mit seinen Übersetzern, am Kaffeehaustisch des einflussreichen Karl Kraus, bei einem Empfang in Samuel Fischers Grunewald-Villa … Kein Zweifel, dass eine Veröffentlichung des PROCESS Kafkas allzu engen biographischen Horizont sehr bald gesprengt und ihm eine Vielzahl von (angenehmen wie auch lästigen) ›Kontakten‹ verschafft hätte, um die ihn selbst Brod hätte beneiden müssen.
» … dieses ganze Fieber, das mir den Kopf Tag und Nacht heizt stammt von Unfreiheit«, resümierte Kafka im folgenden Jahr [28] , und es bedarf nicht allzu vieler hätte und wäre, um das qualvolle Gefühl der Vergeblichkeit zu ermessen, dem er, je nüchterner er Bilanz zog, umso schutzloser ausgeliefert war. Der Krieg hatte den möglichen Befreiungsschlag in letzter Minute verhindert, und die eigene versiegende Kraft rückte nun alles, was an Optionen der Freiheit verblieben war, in unabsehbare Ferne. Noch wusste er: Das Scheitern ist weder zwangsläufig noch irreversibel. Doch entsetzlich war die Fallhöhe zwischen dem, was in greifbarer Nähe gewesen war, und der Prager Wirklichkeit, die jetzt heillos dominiert war von Kriegssorgen und Überstunden. Unzweideutige Symptome der Erschöpfung registrierte Kafka schon Anfang Januar 1915, bald darauf legte er das Manuskript des PROCESS beiseite, arbeitete sporadisch an den begonnenen Erzählungen weiter, versuchte Neues, verwarf Altes; schließlich, am 9.April, ist im Tagebuch zum letzten Mal von ›guter Arbeit‹ die Rede, im Mai gibt Kafka gar das Tagebuch selbst auf und weigert sich auch fortan, den Freunden vorzulesen. Es war wie ein letztes, langes Ausatmen, dem eine erschreckende Stille folgte. {47}Noch ahnte er nicht, dass diese Erstarrung länger als eineinhalb Jahre andauern sollte. Im September raffte er sich dazu auf, ein neues Tagebuchheft zu eröffnen, doch war er vom ersten Satz an davon überzeugt, es sei »nicht so notwendig wie sonst«; und da er keinen Sinn darin sah, die Seiten mit der Wiederholung alter Klagen zu füllen, griff er nur noch zur Feder, wenn besondere Ereignisse, Begegnungen oder Lektüreeindrücke ihn dazu drängten. Dazwischen wochenlanges Schweigen. Erst gegen Ende 1916, als die Physiognomie seiner Stadt, seiner Lebenswelt sich bis zur Unkenntlichkeit verzerrt hatte, unternahm Kafka einen neuerlichen Versuch, Leben durch ›Arbeit‹ zu rechtfertigen.
Es ist nicht verwunderlich, dass Kafka unter diesen Umständen wenig Initiative zeigte, um zumindest seinen vollendeten Werken einen würdigen Auftritt zu verschaffen. Das war keineswegs immer so gewesen. Er wusste, dass seine jahrelangen Anstrengungen sich aus Sicht der Leser wie ein schwächliches Flackern ausnehmen mussten, und er wusste, dass er der literarischen Öffentlichkeit das Bild eines Minimalisten bot, der zu größeren Entwürfen nicht den Atem hat. Nur zwei Bücher lagen bislang vor, die schmächtig genug aussahen: 99 Seiten umfassten die Prosastücke BETRACHTUNG, gar nur 47 Seiten DER HEIZER. Alles übrige war auf Zeitungen und Zeitschriften verstreut, und nicht eben auf die bedeutendsten. Sogar DAS URTEIL, die einzige seiner Erzählungen, an der Kafka nicht das Geringste auszusetzen hatte und die er oft und gern vorlas, war bislang nur in einem von Brod konzipierten Sammelband erschienen, den niemand kaufen wollte.
Kafka hatte sich durchaus darum bemüht, diesen Zustand zu ändern. Er hatte Kurt Wolff einen Band mit Erzählungen vorgeschlagen und auch sogleich eine Zusage erhalten: DIE SÖHNE war der vorläufige Titel dieses Buchprojekts, das Kafkas Schaffensphase von 1912 gebündelt präsentieren sollte – jedenfalls diejenigen Resultate, die seiner Ansicht nach vorzeigbar waren: DAS URTEIL, DER HEIZER, DIE VERWANDLUNG. Doch er ließ sich mit dem Manuskript der VERWANDLUNG allzu viel Zeit, und Wolff mahnte nicht, erkundigte sich nicht und ließ durch keine – von Kafka sicherlich erwartete – Geste erkennen, ob er sich an die eigene »bindende Erklärung« vom April 1913 überhaupt noch erinnerte. Und obwohl Brod in seinen Unterhandlungen mit Wolff beharrlich den Namen des Freundes ins Spiel {48}brachte, blieb mehr als zwei Jahre lang die höfliche Zusendung von Rezensionen und des Verlagsalmanachs das Einzige, womit Wolff seinen scheuen Autor aufmunterte. Das war denn doch etwas dürftig, und nachdem Kafka schon im August 1914 hatte hören müssen, dass sowohl Kurt Wolff wie auch dessen Lektor Franz Werfel in den Krieg gezogen waren, und da zeitweilig gar zehn der zwölf Angestellten Wolffs ›im Feld standen‹, rechnete er wohl nicht mehr damit, aus Leipzig irgendeine Form von ›Betreuung‹ zu erfahren. Das war ihm nur recht. Hätte sich der Verleger – entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten – nun plötzlich nach Kafkas Plänen und literarischen Projekten erkundigt, es wäre kein sehr glücklicher Zeitpunkt gewesen. Denn erklären zu müssen, warum es nun schon wieder nichts wurde mit einem Roman … solchen Gesprächen ging Kafka aus dem Weg, wo immer er konnte. Und seit er sich zweimal vergeblich darum bemüht hatte, DIE VERWANDLUNG wenigstens in einer Zeitschrift gedruckt zu sehen – seit einem halben Jahr schon lag das Manuskript bei René Schickele, dem Redakteur der Weißen Blätter –, mochte er über Veröffentlichungen überhaupt nicht mehr sprechen. Er war kein Bittsteller.
Doch plötzlich, Mitte Oktober 1915, drückte Brod ihm ein Schreiben des Kurt Wolff Verlags in die Hand, dazu einige Exemplare der Weißen Blätter, frisch aus der Druckerei. Offenbar hatte man Kafkas Adresse verlegt und darum wieder einmal seinen Impresario bemühen müssen. Die Sache war wichtig genug. Und sie war so eilig, dass nicht einmal Zeit genug war, den Verleger persönlich einzuschalten. Stattdessen hatte ein gewisser Meyer diesen Brief unterzeichnet, »Ihr Ihnen ganz ergebener Meyer«. Und als Kafka die Zeitschrift durchblätterte, traute er seinen Augen kaum: DIE VERWANDLUNG war tatsächlich abgedruckt worden, in voller Länge und ohne dass er je eine Korrekturfahne gesehen hätte.
Georg Heinrich Meyer, 47 Jahre alt, war ein gutmütiger, etwas umständlicher, dabei umtriebiger Kaufmann mit jovialem Schnauzbart und freundlich-paternalistischen Umgangsformen. Ein Mensch, den niemand der Verstellung für fähig hielt und der darum leicht Vertrauen gewann – wenngleich sein beständig zur Schau getragener Optimismus doch ein wenig verdächtig anmutete. Denn dass der gelernte Buchhändler bereits mit zwei eigenen Verlagen Schiffbruch {49}erlitten hatte und völlig verschuldet war, blieb in der Branche kein Geheimnis.
Umso überraschender, dass Kurt Wolff nun ausgerechnet diesen Mann zum Geschäftsführer und zu Beginn des Krieges auch zu seinem Stellvertreter bestimmt hatte. Wobei Meyer aus seinen gescheiterten Unternehmungen noch nicht einmal eigene zeitgenössische Autoren ›mitbringen‹ konnte. Denn so sorgfältig ausgestattet seine Bücher auch waren, so bieder war sein literarisches Programm gewesen, und die von ihm besonders geschätzte Heimatliteratur – er hatte sogar eine Zeitschrift mit dem Titel Heimat verlegt – stand in geradezu groteskem Gegensatz zu der avancierten Moderne, die er nun bei Wolff zu vertreten hatte. Zu schweigen davon, dass Meyers frühere Autoren jetzt überwiegend patriotischen Schund produzierten, während Wolff sich als einziger bedeutender deutscher Verleger der affirmativen Kriegsliteratur konsequent verweigerte. Allenfalls einige bibliophile Schmuckstücke bot Meyers Konkursmasse, ansonsten war Wolff gut beraten, auch weiterhin auf seinen eigenen Maßstäben von literarischer Qualität zu bestehen und sich programmatische Entscheidungen vorzubehalten, auch wenn die Verständigung, vor allem das Hin- und Hersenden von Manuskripten, jetzt außerordentlich mühsam war und schnelle Entscheidungen gar nicht mehr zuließ. Es kam vor, dass Meyer in die belgische Etappe reiste, um Wolff auf dem Laufenden zu halten, doch nachdem der Verleger im April 1915 ins galizische Kriegsgebiet versetzt wurde, war auch diese Möglichkeit abgeschnitten, und fortan musste Meyer das verlegerische Tagesgeschäft einschließlich der ›Pflege‹ der Autoren nahezu allein bewältigen.
Die Blicke, die Franz Werfel, Kurt Pinthus und Walter Hasenclever einander zuwarfen, als der hemdsärmelige Meyer seinen Einstand gab, kann man sich vorstellen. Und doch sollte Wolff mit seiner befremdlichen Entscheidung recht behalten. Denn Meyer, der einige Jahre lang im Auftrag der Deutschen Verlags-Anstalt von Buchhandlung zu Buchhandlung gereist war, verfügte über enorme kaufmännische Erfahrung, und aus zahllosen Gesprächen hatte er eine sehr genaue Vorstellung davon, was die Sortimenter beeindruckte und was bei einem Publikum, dessen Leseverhalten sich zunehmend von Kulturmoden und Publicity bestimmen ließ, tatsächlich ›ankam‹. Diese Kompetenz war es offenbar, die Wolff gesucht hatte. Und {50}es ist zweifelhaft, ob sein Verlag, der weder Kriegslyrik noch gesammelte Feldpostbriefe, noch die beliebten Erlebnisberichte von der Front zu bieten hatte, das erste Kriegsjahr wirtschaftlich unbeschadet hätte überstehen können ohne Meyers schlagende Verkaufsideen. Während er die Leser von Tageszeitungen mit großflächigen Inseraten beeindruckte – mit Inseraten nicht für den Verlag, wohlgemerkt, sondern für einzelne Neuerscheinungen, was bislang völlig unüblich war –, köderte er die Buchhändler mit Sonderrabatten, die geradezu den Bruch eines ökonomischen Tabus darstellten und die auch prompt zu Beschwerden führten über die ›amerikanischen Vertriebsmethoden‹ des Kurt Wolff Verlags. Wer von Gustav Meyrinks Bestseller DER GOLEM dreißig Exemplare bestellte und bezahlte, bekam vierzig Exemplare geliefert: Jeder Buchhandelslehrling konnte an den Fingern abzählen, dass dies (ausgehend vom Ladenpreis) auf den unglaublichen Rabatt von 55 Prozent hinauslief. Auch Meyers Plakataktionen an Litfaßsäulen erregten Anstoß, weil damit Literatur erstmals als pures Medienereignis ausgerufen und in seinem Sensationswert dem Kinofilm gleichgestellt wurde. Die Werbetexte, die Meyer überwiegend selbst verfasste, verstärkten noch diesen Anhauch des Unseriösen, versuchten sie doch immer wieder emotionale Erwartungen zu wecken, die mit den Büchern, um die es ging, nicht das mindeste zu tun hatten. So wurden die Werke des Nobelpreis trägers Rabīndranāth Tagore (der sich dagegen nicht wehren konnte) als »rechte Weihnachtsbücher« angekündigt, und zu Carl Sternheims NAPOLEON, der in analytischem Stil vorgetragenen Geschichte eines Meisterkochs, fiel Meyer ein: »Als ob man bei Sacher speist, so liest sich die Novelle«, woraufhin ihm der Autor »mit Erschießen« drohte. [29]
Jedem, der die wirtschaftlichen Gepflogenheiten kannte, musste sofort klarwerden, dass eine derart aufwendige Propaganda die herkömmliche Kalkulation des Buchs sprengte. Wer eigentlich würde die Finanzierungslücken stopfen, die Meyer damit aufriss? Die Autoren natürlich, lautete die bestechend einfache Antwort. Tatsächlich war Meyer der erste Verlagsleiter, der es wagte, die Autoren an den Werbekosten ihrer eigenen Bücher zu beteiligen: ein geradezu sensationeller Vorstoß zu einer Zeit, da die wirtschaftliche Bedeutung der Reklame noch bei weitem nicht so hoch eingeschätzt wurde wie heute und Werbebudgets für Verlagsprogramme vielerorts noch {51}gar nicht existierten. Den Betroffenen dies schmackhaft zu machen war eine Aufgabe, der sich Meyer mit Leidenschaft widmete: Überliefert ist, dass er verärgerten Schriftstellern notfalls zum Bahnhof hinterherlief und bis zur letzten Minute auf sie einredete. Mit beträchtlichem Erfolg offenbar. Selbst der finanziell äußerst wachsame Max Brod verzichtete auf ein Viertel des branchenüblichen Honorars, um breitgestreute Inserate für seinen Roman TYCHO BRAHES WEG ZU GOTT zu ermöglichen.
Über literarische Inhalte war mit der notorischen ›Verkaufskanone‹ Meyer natürlich nicht zu reden, eingereichte Arbeiten durchblätterte er allenfalls, und selbst Werktitel prägte er sich offenbar unter dem Kriterium der Verkaufsträchtigkeit ein – noch Jahre später sprach er von Kafkas »Verbrecherkolonie«. Er schärfte den Autoren ein, fleißig Romane zu verfassen – auch Kafkas Romane, von denen er keine Zeile kannte, versprach er zu einem »sensationellen Erfolg« zu führen –, doch Autorenbriefe, in denen es nicht um unmittelbar anstehende Entscheidungen ging, blieben zu Dutzenden unbeantwortet. Selbst mit den Gedichten Werfels, die er doch im Krisenwinter 1914/15 für »die einzige Fettperle auf dem öden Suppenteller von Kurt Wolff« hielt, konnte Meyer wenig anfangen, was er dem Autor, der ja zugleich Kollege war, auch keineswegs verhehlte. [30] Hingegen reagierte Meyer auf Medienereignisse, welche die Beziehungen zum Publikum und damit auch die Verkaufschancen berührten, mit seismographischem Gespür und mit einem ebenso originellen wie naiv-rücksichtslosen Aktivismus.
Nicht anders verhielt er sich jetzt im Fall Kafkas. Auch wenn sich der Entscheidungsprozess heute nicht mehr rekonstruieren lässt: Dass René Schickele, dem Kafkas VERWANDLUNG für seine Zeitschrift eigentlich zu umfangreich war, sich doch noch zu einem Abdruck in den Weißen Blättern entschlossen hatte, ging mit größter Wahrscheinlichkeit auf eine Intervention Meyers zurück. [31] Und dieser wiederum schlug Kafka nun vor, die Erzählung auch als selbständigen Buchtitel in der Reihe ›Der Jüngste Tag‹ drucken zu lassen, und zwar sofort, noch im selben Monat, gefolgt von einer neu gebundenen Ausgabe von BETRACHTUNG. Eine Hektik, die nach dem jahrelangen Schweigen des Verlags doch einigermaßen befremdlich war. Aber Meyer hatte eine einleuchtende Begründung parat: {52}
»Es gelangt demnächst der Fontane-Preis für den besten modernen Erzähler zur Verteilung. Den Preis soll in diesem Jahre, wie wir vertraulich erfahren haben, Sternheim für seine drei Erzählungen: ›Busekow‹, ›Napoleon‹ und ›Schuhlin‹ bekommen. Da aber, wie Ihnen wohl bekannt ist, Sternheim Millionär ist und man einem Millionär nicht gut einen Geldpreis geben kann, so hat Franz Blei, der den Fontane-Preis heuer zu vergeben hat, Sternheim bestimmt, daß er die ganze Summe von ich glaube 800 Mk. Ihnen als dem Würdigsten zukommen läßt, Sternheim hat Ihre Sachen gelesen und ist, wie Sie aus der anliegenden Karte ersehen, ehrlich für Sie begeistert.«
Keine schlechte Nachricht, musste selbst der etwas indignierte Kafka eingestehen. Dass allerdings Meyer ein so bedeutsames Ereignis bloß »vertraulich erfahren« hatte, mochte glauben, wer wollte: Das Preisgeld stammte aus einem Fonds, den der Mäzen Erik Schwabach gestiftet hatte, Wolffs wichtigster Kapitalgeber; Sternheim und Kafka waren Autoren Wolffs, und der Kritiker Franz Blei wiederum, der den renommierten Preis im Auftrag des ›Schutzverbands deutscher Schriftsteller‹ zu vergeben hatte, gehörte zum nächsten Umfeld des Verlags, war noch im vergangenen Jahr selbst Herausgeber der Weißen Blätter gewesen und galt schließlich als Sternheims ›Entdecker‹ – so sah das Ganze eher nach einer Marketing-Aktion aus, die sich Meyer womöglich selbst ausgedacht hatte. Dass ihm Derartiges zuzutrauen war, hatte auch Kafka schon vernommen; während Meyer offenbar nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte:
»Sie hätten dann also für die ›Verwandlung‹ zu erwarten: 1) das Honorar der Weißen Blätter (ich weiß nicht, ob und was Schickele mit Ihnen darüber ausgemacht hat), 2) das Honorar für den ›Jüngsten Tag‹, das für eine kleine Auflage einmalig 350 Mk. betragen mag – der Höchstsatz, der für den ›Jüngsten Tag‹ je gezahlt ist, und sodann 800 Mk. als Betrag des Fontanepreises. Sie sind also der reine Hans im Glück!« [32]
Dies war nun leider eine Frequenz, auf der Kafka vollständig taub war. Meyers Versicherung, dass nicht er, sondern Schickele sowie der gegenwärtige Lauf der Welt schuld daran seien, dass Kafka keinen Korrekturbogen der VERWANDLUNG je zu Gesicht bekommen hatte, konnten ja keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass es sich eigentlich um eine Überrumpelung und um eine augenfällige Missachtung von Autorenrechten handelte. Und auch weiterhin hatte Meyer keineswegs vor, sich von einem Autor, den man zu seinem Glück zwingen {53}musste, in seinem Tatendrang behindern zu lassen. Denn während die Anfrage an Kafka noch unterwegs war, hatte er die Buchausgabe der VERWANDLUNG bereits in Auftrag gegeben, und wenige Tage später – der Autor war noch gar nicht zur Besinnung gekommen – lagen die Fahnen vor. Immerhin hatte Kafka diesmal Gelegenheit, noch zahlreiche kleine Verbesserungen am Text vorzunehmen, und das war ihm weitaus wichtiger als die Höhe des Honorars. Doch die Verabredung mit Wolff, dass sein nächstes Buch mehrere Erzählungen vereinigen sollte, war durch Meyers eigenmächtiges Handeln natürlich hinfällig.
Nach kurzem Bedenken – und vermutlich nach Rücksprache mit Brod – war Kafka bereit, sich mit der neuen Situation abzufinden. Er selbst hatte ja mehrfach versichert, an einer Veröffentlichung der VERWANDLUNG, wann und wo auch immer, sei ihm »besonders gelegen«. [33] Volle drei Jahre nach der Niederschrift der Erzählung war dieser Wunsch endlich in Erfüllung gegangen, und eine Weigerung hätte nun gewiss niemand verstanden. Zwar konnte sich Kafka einige ironische Spitzen gegen Meyer nicht versagen, doch machte er auch Vorschläge zur Gestaltung des Buchs und äußerte sich sogar mit ungewöhnlicher Bestimmtheit zum Einband, auf dem er keinesfalls den unglücklichen Gregor Samsa zu erblicken wünschte: »Das nicht, bitte das nicht! … Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden.« [34] Zum Glück blieb diese Botschaft nicht zwischen Meyers gewaltigen Papierstapeln hängen, sondern wurde an den zuständigen Illustrator (Ottomar Starke, ein enger Freund Sternheims) weitergereicht, und der hielt sich daran.
Was aber hatte es mit der merkwürdigen Aufteilung des FontanePreises auf sich? Die Ehre für den berühmten Carl Sternheim, das Geld für den unbekannten Prager Dichter? Das war ein Punkt, über den Kafka nicht so leicht zu beruhigen war.
»Nach Ihrem Schreiben, vor allem auch nach dem Schreiben an Max Brod scheint die Sache so zu stehn, dass Sternheim den Preis bekommt, dass er aber den Geldbetrag jemandem, möglicherweise mir, schenken will. So liebenswürdig das nun natürlich ist, wird doch dadurch die Frage nach der Bedürftigkeit gestellt, aber nicht nach der Bedürftigkeit hinsichtlich beider, des Preises und des Geldes, sondern nach der Bedürftigkeit hinsichtlich des Geldes allein. Und es käme dann meinem Gefühl nach auch gar nicht darauf {54}an, ob der Betreffende später einmal vielleicht, das Geld benötigen wird, entscheidend dürfte vielmehr nur sein, ob er es augenblicklich nötig hat. So wichtig natürlich auch der Preis oder ein Anteil am Preis für mich wäre – das Geld allein ohne jeden Anteil am Preis dürfte ich wohl gar nicht annehmen, ich hätte glaube ich kein Recht dazu, denn jene notwendige augenblickliche Bedürftigkeit besteht bei mir durchaus nicht.« [35]
So war es. Und Kafka brauchte sich nur die fragenden Gesichter seiner Kollegen und seiner literarisch interessierten Chefs vorzustellen, die genau wussten, was ein Beamter der ›1. Gehaltsstufe der III. Rangsklasse‹ monatlich auf dem Konto hatte. Da hätte es mancher Erklärungen bedurft, wieso man darüber hinaus noch öffentlich Geldgeschenke annahm.
Nicht, dass Kafka dem privilegierten Sternheim den Preis missgönnt hätte: Auch ein reicher Schriftsteller war ja vor den Kümmernissen des Krieges keineswegs sicher. Sternheim, psychisch ohnehin labil, hatte seinen behaglichen Wohnsitz in der Nähe von Brüssel vorläufig aufgeben müssen (was er keineswegs den belgischen Nachbarn, sondern seinen Landsleuten, den deutschen Besatzern, zu verdanken hatte), Aufführungen seiner Bühnenwerke fanden den Widerstand der preußischen Zensur, und vor allem seit seiner Annäherung an den Berliner Kreis der Aktion war Sternheim ein politisches Hassobjekt, das von den militärischen Behörden mit Ausdauer schikaniert wurde. Das alles hatte sich längst auch in Prag herumgesprochen. Dennoch verstimmte Kafka die formlose Art, mit der er über seinen eigenen, sekundären Anteil am Preis unterrichtet wurde. Unglücklich oder nicht: Warum schrieb nicht der Spender selbst ein paar freundliche Worte? Warum nicht wenigstens Franz Blei, der doch Kafka persönlich kannte und der das seltsame Procedere vielleicht eher hätte begründen können? War es am Ende so, dass Sternheim tatsächlich von Blei bloß »bestimmt« worden war?
Von Meyer ließ sich darüber keine genaue Auskunft erlangen, er war an Stilfragen nicht interessiert und versuchte lediglich, Kafkas Bedenken zu zerstreuen, ohne ernsthaft auf sie einzugehen. Dass ein Autor, dem unverhofft das halbe Jahresgehalt eines kleinen Beamten in den Schoß fällt, zur Annahme erst mühsam überredet werden muss, war in seiner Erfahrungswelt ein wohl beispielloser Vorgang. Und wer aus der literarischen Szene – wenn er nicht zu den wenigen schreibenden Millionären zählte – konnte sich eine derartige Verschrobenheit auch {55}leisten? Wahrscheinlich wunderte sich Meyer keinen Augenblick darüber, dass Kafka sich letztendlich doch dazu bereitfand, das Geschenk zu akzeptieren und sogar Sternheim schriftlich zu danken. Was denn sonst? Kafka indessen, der Anerkennung, aber keine Almosen wollte und der seit den Demütigungen in Berlin entschlossen war, seine Selbstachtung um beinahe jeden Preis zu verteidigen – Kafka musste sich überwinden. » … es ist nicht ganz leicht«, klagte er gegenüber Meyer, »jemandem zu schreiben, von dem man keine direkte Nachricht bekommen hat, und ihm zu danken, ohne genau zu wissen wofür.« [36] Und es war, wer weiß, vielleicht nichts als die Furcht vor den Vorwürfen der Freunde, die letztlich den Ausschlag gab. Als aber der geschäftige Meyer, der in den leeren Büros des Kurt Wolff Verlags beinahe Tag und Nacht seinen Dienst versah, vier Wochen später unter der Arbeitsbelastung erstmals zusammenbrach, durfte Kafka sich sagen, dass ihn daran keine Schuld traf.
Ob er von Carl Sternheim je eine Antwort empfing, ist nicht bekannt. Da er für die 800 Mark, die Sternheim ihm schenkte, augenblicklich keine Verwendung hatte, legte er sie in Kriegsanleihen an. Es war die einzige literarische Ehrung, die Kafka jemals zuteil werden sollte. Aber das konnte er noch nicht wissen.
Es ist der vielleicht signifikanteste Ausdruck der Fremdheit, die Kafka auf seine Zeitgenossen ausstrahlte, dass beinahe alle Versuche, ihn in seiner Arbeit zu bestärken, zu motivieren, ihn gar zu ›loben‹, auf sonderbare Weise in die Irre gingen. Gewiss, als »Hans im Glück« gepriesen zu werden von einem Verlagsdirektor, der doch wenigstens eine vage Vorstellung vom geistigen Profil seines Autors hätte haben müssen – das war noch unter der gewöhnlichen grausamen Ironie zu verbuchen, die an der Reibungsfläche von Leben und Literatur immer wieder aufblitzte, und gewiss hatte Kafka noch Humor genug, um von dieser besonderen Auszeichnung auch den Freunden zu berichten. Was Fehleinschätzungen und Missverständnisse anging, so hatte er längst Schlimmeres erlebt – beispielsweise, dass der Wiener Erzähler Otto Stoessl aus dem Band BETRACHTUNG eine »leichte, innerste Heiterkeit« und einen »Humor der eigenen guten Verfassung« herauslas [37] , was natürlich als hohes Lob gemeint, von der Intention der Texte jedoch so weit entfernt war, dass Kafka an der eigenen Ausdrucksfähigkeit ernstlich zweifeln musste.
Max Brod wiederum versuchte es mit Superlativen. »Er ist der größte Dichter unserer Zeit«, notierte er in seinem Tagebuch, nachdem ihm Kafka im April 1915 zwei Kapitel des PROCESS vorgelesen hatte. Er war schlechterdings überwältigt, und darum waren auch seine mündlichen Huldigungen keineswegs zurückhaltender. [38] Kafka jedoch, der die Wirkung seiner Texte durchaus zu genießen wusste, hatte keine Freude an solchen Zuschreibungen, die mit seinem Selbsterleben nichts zu tun hatten und die ihm daher nicht einmal schmeichelten. Gewiss, es war vorgekommen, dass er Autoritäten wie Grillparzer, Dostojewski, Kleist und Flaubert mit dem eigenen Schicksal ausdrücklich in Verbindung gebracht, sie gar als seine »eigentlichen Blutsverwandten« bezeichnet hatte. Aber doch nicht seiner Leistung wegen. Denn wann in der gesamten Literaturgeschichte hatte es jemals ein derartiges Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag gegeben? Wo einen großen Dichter, der keinen Roman, kein Schauspiel, keine klassischen Verse zustande brachte? Dem über Monate hinweg kein bewahrenswerter Gedanke begegnete? Der überirdische Ruhe brauchte, um einen wahren Satz zu finden? Allein der Vergleich war lächerlich, und selbst Brod hatte doch mittlerweile einsehen müssen, dass es nicht um bloße Charakterschwächen ging, um einen Mangel an Energie und Disziplin, nicht allein um die ängstliche, sterile Sorge des neurotischen Perfektionisten. Nein, das innere ›Material‹, die Imaginationskraft selbst war es, die Kafka immer wieder im Stich ließ, und dies war der Grund, warum ihm Brods Lobeshymnen so hohl klangen.
Den Vogel aber schoss Franz Werfel ab, der – was Kafka aufrichtig ärgerte – seit Jahren allerorten DIE VERWANDLUNG pries, die er doch nur vom Hörensagen kannte und um deren Manuskript er sich auch als Lektor bei Kurt Wolff niemals gekümmert hatte. Jetzt endlich, nachdem die Erzählung im Druck erschienen war, hatte er die Lektüre nachgeholt und war fassungslos. Er begriff, dass er Kafka, diesen schmalen Schatten hinter Max Brod, unterschätzt, ja völlig verkannt hatte. Und das wollte, das musste er ihm sagen, um alles wiedergutzumachen. Aber wie lobt man den Schöpfer eines solchen Textes? Werfel, ohnehin zum Pathos neigend, griff voll in die Tasten. Und er erzeugte ein Geräusch, das Kafka bis ins Mark dringen musste. Jenem ewigen, an der eigenen Sonne schmelzenden Jüngling, dem alles zuzufallen schien, ausgerechnet ihm, bar jeder Menschenkenntnis, {57}gelang der absurdeste, unschuldigste, roheste, wahrste Lobesbrief, der Kafka in seinem Leben zuteil wurde:
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich erschüttert bin, übrigens hat durch Sie meine Sicherheit einen heilsamen Stoß bekommen, und ich fühle mich (Gottseidank!) recht klein.
Lieber Kafka, Sie sind so rein, neu, unabhängig, und vollendet, daß man eigentlich mit Ihnen verkehren müßte, als wären Sie schon tot und unsterblich. So etwas fühlt man sonst bei keinem Lebenden.
Was Sie in Ihren letzten Arbeiten geleistet haben, gab es wirklich vorher noch in keiner Literatur, nämlich mit einer runden speziellen fast realen Geschichte, etwas allgemeines, sinnbildliches, von der ganzen Menschheit aus Tragisches darzustellen. Aber ich drücke mich ganz dumm aus.
Alle Menschen, die mit Ihnen beisammen sind, müßten das wissen, und Sie nicht wie einen Mitmenschen behandeln.
Ich danke Ihnen tief für die Ehrfurcht, die ich für Sie hegen darf.« [39]
Eigentlich schon tot. Kein Lebender. Jedenfalls kein Mitmensch. Geahnt, gefürchtet hatte das Kafka schon immer. Jetzt hatte er es schriftlich.