Fegan lauschte auf McGintys keuchenden Atem und Ellens leises Wimmern. Noch drei Patronen übrig. Immer vorausgesetzt, dass er nicht noch mehr Munition hatte. Das musste Fegan einfach riskieren. Er musste McGinty dazu zwingen, dass er sie verschoss.
Am Fuß der Treppe war es dunkel. Das einzige Licht kam aus dem Fenster hinter McGinty, und selbst durch dieses drang nur die fahle Dämmerung des frühen Morgens. McGinty wusste, dass sein Gegner ein lausiger Schütze war und nicht riskieren konnte, Ellen zu verletzen bei dem Versuch, den Politiker zu treffen. McGinty wusste aber auch, dass Fegan verrückt genug war, es trotzdem zu probieren.
Fegan sah sich im Zimmer um. Die Stühle lagen auf dem Boden verstreut, dahinter ein Stapel mit alten Vorhangstoffen. Er richtete einen der Stühle auf und legte mehrere Lagen des dicken schwarzen Samts darüber. Er war schwer, aber mit dem gesunden Arm klappte es. Dann schlich er bis zur Tür und hob den Stuhl in Höhe seiner Schultern. Die Frau und der Metzger traten zurück und ließen ihn vorbei.
Fegan streckte den Arm vor und schob den mit Vorhangstoff belegten Stuhl vorsichtig nach draußen, Zentimeter um Zentimeter, bis McGinty das unidentifizierbare Objekt sehen konnte. Er hoffte im Dämmerlicht würde es aussehen wie …
Ein Knall ließ den ganzen Flur erzittern. Der Holzstuhl wurde Fegan aus der Hand gerissen und fiel krachend zu Boden, gefolgt von dem zerfetzten Stoff.
Ellen schrie auf. Dann herrschte einige Sekunden vollkommene Stille, bis er schließlich McGinty leise fluchen hörte. Wieder ein Schuss vergeudet.
»Jetzt hast du nur noch zwei übrig, Paul«, sagte Fegan.
»Die reichen für die beiden«, rief McGinty. »Das willst du doch nicht, oder? Zwing mich also nicht dazu. Komm nicht hier rauf.«
»Ich muss, Paul.«
»Mach es nicht! Mach es nicht, oder ich … ich …«
»Was?«
»Verflucht noch mal!«, schrie McGinty. »Jemanden zu töten ist gar nicht so leicht. Nicht, wenn man selbst den Finger am Abzug hat.«
»Ich mache es. Glaub mir, ich tue es.«
Fegan trat von der Tür weg. Im frühen Morgenlicht, das die Wand hinabkroch, sah er McGintys Schatten. »Du hattest doch noch nie den Mumm, es selbst zu tun, Paul. Dafür gab es immer Leute wie mich. Selbst hast du dir nie die Hände blutig gemacht.«
McGintys Schatten wanderte hin und her, während er oben auf und ab ging, Ellen fest an sich gedrückt. »Treib mich nicht zum Äußersten, Gerry.«
»Du hast Leute wie mich benutzt. Du hast uns eingetrichtert, wir hätten keine Zukunft. Du hast uns gesagt, wir müssten sie uns erkämpfen. Du hast uns Waffen in die Hand gedrückt und uns losgeschickt, damit wir für dich töteten.«
»Du hast dich doch freiwillig gemeldet, Gerry. Genau wie wir alle. Niemand hat dich zu etwas gezwungen.«
»Du hast uns angelogen.«
»Niemand hat dich dazu gezwungen abzudrücken, Gerry. Niemand hat dich gezwungen, diese …«
»Bei der Sache hast mich auch angelogen.« Fegan legte die Stirn an die Wand und spürte die feuchte Kühle auf seiner Haut. »Du hast behauptet, über dem Metzgerladen fände ein Treffen der Loyalisten statt. Du hast mir gesagt, die halbe UVF und UDA säßen da rum. Du hast gesagt, der Zeitschalter sei auf fünf Minuten eingestellt. Genügend Zeit, um alle zu evakuieren.«
»Es war Krieg. Manchmal trifft es da auch Unschuldige.«
Fegan lachte auf. »Manchmal? Aber die Schuldigen trifft es nie, oder? Doch jeder muss bezahlen. Was ist heute für ein Tag?«
»Wie bitte?«
»Heute ist Sonntag, richtig? Ist es tatsächlich erst eine Woche her? Meine Güte! Genau vor einer Woche hat mir eine alte Frau gesagt, dass jeder früher oder später bezahlen muss. Eine Frau, deren Sohn ich getötet hatte. Für den hat Michael McKenna bezahlt. Jetzt bist du an der Reihe. Drei Menschen sind umgekommen. Ein Metzger. Und dann auch noch ein Säugling, um Gottes willen. Eine Mutter mit ihrem Baby.«
Fegan nahm die Stirn von der Wand und spähte hinaus in den Flur. McGintys Schatten verharrte jetzt reglos.
»Geh einfach, Gerry. Verschwinde doch. Niemandem sonst muss etwas geschehen.«
»Sie ist hier, Paul.«
»Wer?«
»Die Frau. Und ihr Baby auch. Mein Gott, ich kenne nicht mal ihren Namen. Sie ist hier, und sie will dich. Sie und der Metzger. Weißt du noch, wie es abgelaufen ist? Es war damals in allen Nachrichten. Er ging hin und nahm das Paket auf. Wahrscheinlich hat er gedacht, jemand hätte seine Einkäufe vergessen. Er und die Frau standen am nächsten dran.«
»Hör auf, Gerry.«
»Und wofür das Ganze?«
»Mir wurde dasselbe gesagt wie dir. Dass sich da über dem Laden die Loyalisten treffen würden.«
»Du lügst. Du hast gewusst, dass da oben nur Lagerräume waren. Wofür das Ganze? Erklär ihr, wofür sie sterben musste.«
McGintys Schatten kämpfte mit einem anderen, der sich wand. Ellen wehrte sich in seinem Arm und versuchte immer noch, freizukommen.
»Erklär der Frau mit dem Baby, wofür sie gestorben sind, Paul. Daraufhat sie ein Recht.«
»Da unten ist niemand, Gerry. Verstehst du das denn nicht? Sie ist nur in deinem Kopf.«
»Erklär es ihr, Paul.«
McGintys Seufzen rollte die Treppe hinunter. »Um auf mich aufmerksam zu machen.«
Fegan hob die rechte Hand an die linke Schulter. Er spürte die Hitze der Wunde. Blut sickerte auf seine Fingerspitzen. »Um auf dich aufmerksam zu machen?«
»Ja. Um dafür zu sorgen, dass die Führung Notiz von mir nahm. Ich hatte schon viel zu lange nur am Rand gestanden. Ich brauchte eine große Sache, damit die Führung die Schlagzeilen bekam, die sie wollten.«
»Du hast mich diese Bombe legen und Menschen umkommen lassen, nur damit es Schlagzeilen gab? Damit du dir einen Namen machen konntest?«
»Mir blieb nichts anderes übrig, Gerry. Und es hat ja auch funktioniert. Ich habe damals schon gesehen, wohin die Reise gehen würde. Die Politik, die Wahlen. Wenn ich mich damals nicht durchgeboxt hätte, hätte ich es nie mehr geschafft. Dann wäre ich genauso ein Fußsoldat geblieben wie du oder Eddie Coyle.«
Fegan sah die Frau und ihr Baby an. Und den Metzger mit dem runden, rosigen Gesicht. »Sie sind gestoben, damit du dir einen Namen machen konntest.«
»Aber ich habe auch viel Gutes bewirkt, Gerry. Vergiss das nicht. Ich habe mitgeholfen, den Frieden zu schaffen. Ich habe die Jungs auf der Straße bei der Stange gehalten. Ich, Gerry. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte die Sache nie und nimmer funktioniert. Du hast das alles jetzt aufs Spiel gesetzt. Hast du mich verstanden? Diese ganzen Menschenleben - umsonst. All die Arbeit, der Kummer, all die Jahre, vielleicht hast du das jetzt alles ruiniert. Und wofür? Für irgendwelche Hirngespinste?«
McGintys Stimme hatte wieder die übliche Tonlage angenommen, mitsamt politischem Geprotze und verlogener Phrasendrescherei.
Ohne die Walther loszulasssen, rieb sich Fegan mit den Fingerknöcheln die Augen. »Was war ihr Leben wert?«
»Es reicht jetzt, Gerry.«
»Und das ihres Babys?«
»Komm schon, du weißt doch …«
»Und der Metzger. Was war sein Leben wert? Oder nur eins von den dreien? Was waren sie dir wert, Paul?«
»Du hast es getan, Gerry. Du hast sie getötet. Niemand sonst.«
Fegan hob seine blutverschmierten Hände an die Schläfen, die Walrher fühlte sich auf seinem Schädel kühl an. »Ich weiß.«
McGintys Stimme wurde scharf. »Und erzähl mir jetzt bloß nicht, es hätte dir keinen Spaß gemacht. Erzähl mir nicht, du hättest deine Macht nicht.«
»Halt die Klappe.«
»Und den ganzen Respekt, den dir das eingebracht hat. Wo du auch hinkamst, haben die Leute zu dir aufgeschaut. Der große Gerry Fegan. Und das alles hast du versoffen. Wer bist du denn schon noch?«
»Halt die Klappe.«
McGinty lachte auf. »Nur noch ein Trunkenbold, der sie nicht mehr alle hat. Deshalb wendest du dich jetzt gegen deine eigenen Leute, damit du dir wieder wie ein Kraftprotz vorkommst. Ist es so, Gerry? Geht es dir darum? Du bist doch nichts weiter als ein einsamer Schnapsbruder, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat. Ohne eine Waffe und jemanden, auf die du sie richten kannst, bist du ein Nichts.«
Fegan kniff die Augen zusammen. »Halt endlich die Klappe!«
»Und was ist, wenn alles vorbei ist? Was dann? Was bist du dann, Gerry?«
Fegan hockte sich hin und schob, die Walther nach oben gerichtet, vorsichtig den Kopf aus der Tür. McGintys Revolver blitzte auf, und eine Kugel spritzte Fegan Holzsplitter und Putz ins Gesicht. Hustend ließ er sich ins Zimmer zurückfallen, der Staub war ihm in den Hals geraten. Mit dem Ärmel wischte er sich das Gesicht ab.
Noch eine.
Als er wieder aufblickte, sah er die Frau und ihr Baby, der Metzger stand neben ihnen. Das kleine Kind strampelte, während die Frau und der Metzger zu McGinty hinaufwiesen. Fegan sah, wie der Schatten über die Wand kroch, McGinty lief wieder hin und her. Ellen jammerte, zum Weinen war sie offenbar inzwischen zu erschöpft.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Gerry.«
Fegan stand auf und zuckte sofort zusammen, doch dann ignorierte er das Pochen in seiner linken Schulter. Sein Arm wurde von Minute zu Minute schwerer, und seine Beine zitterten. Allmählich gewann die Erschöpfung die Oberhand über seine Kraft. Die Sache musste bald ein Ende finden.
»Du hast nur noch eine Kugel übrig«, rief er.
»Eine reicht«, rief McGinty zurück.
»Nicht, wenn du mich damit nicht erledigst.«
»Die ist nicht für dich. Die ist für sie.«
Fegan sah den Schatten an der Wand. Die Umrisse wurden im zunehmenden Licht klarer und schärfer. Er konnte schon sehen, dass McGinty sich jetzt hingehockt hatte und Ellen an sich gepresst hielt. Wo war die Waffe?
Er sah die Frau an. »Herrgott, wo ist die Waffe?«
Sie hatte keine Antwort für ihn, sondern zielte nur unverwandt mit den Fingern auf McGinty.
Der Schatten des Politikers kroch über die Wand.
»Komm doch und sieh selbst nach, Gerry.«