Obwohl niemand da war, der ihn hätte hören können, schlich Campbell auf leisen Sohlen durch Fegans Haus. Das rückwärtige Fenster stand nach ihrer Konfrontation vom Vortag immer noch offen, und trotz aller Schmerzen hatte er es geschafft, hineinzuklettern. Die Küche war sauber und aufgeräumt. Der weiße Herd war spiegelblank und der Linoleumboden makellos. Den einzigen Anschein von Unaufgeräumtheit erweckten ein paar Werkzeuge, die auf einem Tuch ausgebreitet dalagen. Bei näherem Hinsehen erwies sich das Tuch als ein weiches Wildleder, und die Werkzeuge steckten ordentlich in den für sie vorgesehenen Schlaufen. Sie lagen auf der Oberfläche eines Klapptisches. Campbell fuhr mit den Fingern darüber. Alle trugen Gebrauchsspuren. Das waren nicht die Spielzeuge eines Hobbybastlers.

Er ging weiter bis ins Wohnzimmer. Ein Sofa und zwei Sessel, nicht mehr neu, aber auch nicht abgewetzt. Mitten im Zimmer stand ein Couchtisch. Er sah aus wie ein Eigenbau, fachkundig, aber nicht kunstvoll zusammengesetzt und mit einer satten Lackschicht versiegelt. Auf einem weiteren selbstgebauten Möbel stand der Fernseher. Über dem Kamin hing ein Spiegel. Campbell trat davor und studierte die immer tiefer werdenden Falten in seinem Gesicht. Sein Bart musste gekürzt werden, und einen Haarschnitt brauchte er auch.

In der Ecke stand aufrecht ein Gitarrenkoffer. Campbell klappte die Schnappverschlüsse auf und sah hinein. Er nahm die unbesaitete Gitarre hinaus und äugte in das faustgroße Schallloch in ihrem Korpus. Dann drehte er sie um und schüttelte sie. Nichts. Nachdem er noch ein kleines Fach im Gitarrenkoffer untersucht hatte, legte er die Gitarre wieder hinein und schloss den Deckel.

Er trat an den Tisch unter dem Fenster. Die Oberfläche war mit einem Stück Filz abgedeckt, darauf verstreut lagen einige kleine Feilen und ein Ballen Stahlwolle. Hier war das Licht gut. Campbell stellte sich vor, wie Fegan unter dem Fenster arbeitete, mit seinen Mörderhänden nichts zerstörte, sondern etwas erschuf.

Das einzige andere Möbelstück im Zimmer war ein Sideboard mit einfachen Schubladen und Türfächern, aus demselben Holz gefertigt wie der Couchtisch. Kiefer, vermutete Campbell. Darauf stand ein gerahmtes Foto. Campbell hob es hoch. Es sah aus, als hätte man es Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre aufgenommen. Eine Frau lächelte in die Kamera und hielt sich wie zum Salut eine Hand über die Augen, so dass sie im Schatten lagen. Sie war groß und schlank und hatte blondes Haar. Auf eine reine, einfache, mädchenhafte Weise hübsch. Sie stand an einer Straße genau wie dieser hier, ein Fuß ruhte auf der Türschwelle.

Campbell merkte, wie sich plötzlich ein warmherziges Lächeln auf seinen Lippen breitmachte, und er hüstelte. Sofort krümmte er sich, als sich der Schmerz in seinem Brustkorb meldete, und stellte das Foto wieder hin.

Neben einer leeren Flasche Jamesons lag ein Stapel ungeöffneter Post. Campbell blätterte die Umschläge durch in der Hoffnung auf einen Hinweis, wohin Fegan vielleicht verschwunden war. Wenn Campbell ihn zuerst finden und erledigen konnte, war alles in Butter. Wenn McGinty ihn erwischte - nun, das würde er eben auf sich zukommen lassen müssen.

Aber was war, wenn Fegan McGinty fand? Dann trat ein vollkommen neues Problem auf, und zwar eines, das auf keinen Fall eintreten durfte. Wenn McGinty getötet wurde, würden seine alten Getreuen sich zerstreuen und sich vielleicht sogar gegen die Parteiführung auflehnen. Ein Abdriften in die Gewair, ob nach innen oder außen gerichtet, konnte die Bewegung zerstören. Es war McGintys Glanzleistung gewesen, eine Brücke zwischen dem Mob auf der Straße und den eher politisch Gesinnten zu bilden. Jetzt, wo McGinty seinen Zweck erfüllt hatte, zeigte die Führung ihm immer mehr die kalte Schulter und distanzierte sich von ihm und anderen wie Bull O’Kane. Aber sie tat es langsam und mit Bedacht. Die alten Methoden waren zwar endgültig passe, trotzdem konnten ihre Gespenster immer noch den politischen Prozess heimsuchen. Die Politiker mochten zwar schlauer sein, aber schlau sein hatte noch nie eine Kugel aufgehalten.

Nichts als Rechnungen. Campbell legte sie wieder auf das Sideboard. Auf seine Verletzungen bedacht, hockte er sich hin und öffnete die Türen. Leer. In einer Schublade lagen ein Telefonbuch und die Gelben Seiten, beide noch in das Plastik eingeschweißt, in dem sie geliefert worden waren. Das war alles. Campbell stand auf und sah sich im Zimmer um, dann blickte er in Richtung Treppe. Kein Telefon. Wer hatte denn heutzutage kein Telefon, verdammt?

Campbell durchquerte das Zimmer. Zwischen dem Fuß der Treppe und der Tür war der Teppich übersät mit tiefroten Flecken. Sein eigenes Blut. Er folgte der Spur die Treppe hinauf. Oben blieb er stehen. Er wusste, dass er nichts finden würde, ging aber trotzdem ins Bad. Glassplitter vom Spiegel knirschten unter seinen Füßen. Auf Augenhöhe war in der Wand ein kleines Loch, ein weiteres in der Decke. Die Bullen hatten sie möglicherweise bei der gestrigen Durchsuchung übersehen. Campbell stellte sich müde und abgestumpfte Beamten vor, wie sie sich einen oberflächlichen Eindruck über die Wohnung eines verurteilten Terroristen verschafft hatten. An Campbells verwundeten Brustkorb erinnerte hier kein vergossenes Blut.

Campbell schaute hinüber zum Fensterbrett. Dort stand ein leeres Glas, in dem vielleicht eine Zahnbürste und die Zahncreme gestanden hatten. Bis auf einen Rasierapparat waren alle anderen Utensilien männlicher Körperpflege noch da. Fegan war zwar eilig aufgebrochen, aber doch nicht so schnell, als dass er nicht die wichtigsten Dinge mitgenommen hatte.

Im hinteren Schlafzimmer befand sich überhaupt nichts, nicht einmal ein Bett. Es war sauber und abgesehen von einem billigen, ordentlich verlegten Teppichboden vollkommen leer. Einen Augenblick lang überlegte Campbell, ob er den Teppichboden herausreißen sollte, doch er sah nicht aus, als hätte ihn jemand nach dem Verlegen angerührt. Und seine schmerzende Seite würde ihm das übelnehmen.

Er kehrte zurück in den Flur. Eine Kammer enthielt lediglich Laken und Handtücher, alle ordentlich gefaltet und gestapelt. Campbell durchwühlte sie, obwohl er schon vorher wusste, dass es vergebene Liebesmüh sein würde.

Nun blieb nur noch Fegans eigenes Schlafzimmer. Als er die Tür aufschob, quietschte sie laut. Genau wie Campbell ölte also auch Fegan nie die Scharniere. Das Bett war akkurat glattgezogen, nur vor seinen Füßen gab es eine kleine Delle, wo vor kurzer Zeit jemand gesessen hatte. Er kniete sich hin und spähte unter das Bettgestell. Da war ein Schuhkarton, an den er soeben noch herankam. Campbell zog ihn hervor und nahm den Deckel ab. Der Karton war leer, doch ihm entströmte der schmierige Geruch nach Waffenöl und Geld. Eine einzelne 9-mm-Patrone rollte von einer Ecke zur anderen.

»Scheiße«, knurrte er und warf den Karton zu Boden. Mit Sicherheit war nichts unter der Matratze versteckt oder in die Kopfkissenbezüge gestopft, es lohnte also kaum, das ganze Bett auseinanderzunehmen. Er machte es trotzdem.

»Wo zum Teufel steckst du?« fragte er den aufgetürmten Haufen aus Laken und abgezogenen Kopfkissen. Die Matratze lehnte an der Wand, die Latten im Bettgestell lagen entblößt da. Jetzt gab es nur noch eine Stelle, wo er nachsehen konnte. Er machte die Schranktür auf und fand wie erwartet nur ein paar Hemden und eine abgetragene Jeans. Rasch stellte er fest, dass sich nichts in den Taschen befand.

Campbell wollte die Tür schon wieder zumachen, da fiel ihm etwas ins Auge. Etwas Kleines, Längliches, das in die hinterste Ecke geschoben war. Er bückte sich und holte es heraus. Es war ein langes, flaches, schwarz lackiertes Holzkästchen von der Art, wo man vielleicht Schmuck aufbewahrte. Campbell setzte sich auf den Bettrand und machte es auf.

Briefe, sämtlich ungeöffnet, alle mit dem Poststempel »HM Prison Maze« und dem Vermerk »Zurück an Absender«. Campbell blätterte sie durch, insgesamt waren es zwölf. Der jüngste lag obenauf. Campbell zögerte nur eine Sekunde, dann riss er ihn auf.

Es war eine Seite in einer kleinen, säuberlichen Handschrift. Die Wörter, selbst die einzelnen Buchstaben und Abstände sahen so unglaublich gleichförmig aus, als habe der Verfasser Angst gehabt, etwas von sich selbst preiszugeben. Der Brief war auf den 14. Dezember 1997 datiert. Das war jetzt etwas über neuneinhalb Jahre her. Campbell hielt beim Lesen den Atem an.

 

Liebe Mutter,

Pater Coulter war heute zu seinem üblichen Besuch da. Er hat mir erzählt, dass Du sehr krank bist. Er sagte, Du hast Krebs. Ich habe meinen neuen Psychologen D. Brady gefragt, und er hat mir gesagt, wenn ich sie frage, lassen sie mich womöglich raus, damit ich Dich besuchen kann.

Bitte lass mich Dich besuchen. Es tut mir leid, was ich getan habe. Es tut mir leid, dass ich Dich im Stich gelassen habe. Ich weiß, dass Du Dich für mich schämst. Das kann ich Dir nicht verdenken. Ich schäme mich ja selbst. Bitte lass mich kommen und Dich besuchen. Wenn ich ungeschehen machen könnte, was ich getan habe, würde ich es tun. Ich weiß, Du hast ein barmherziges Herz. Ich hatte kein barmherziges Herz, als ich diese Dinge getan habe, aber jetzt habe ich es.

Bitte hab Erbarmen mit mir. Bitte lass mich Dich sehen, bevor Du noch kränker wirst. Dein Sohn, Gerald.

 

Campbell schloss für einige Sekunden die Augen. Er befühlte die Struktur des Papiers zwischen seinen Fingern, hörte auf das Schlagen seines eigenen Herzens. Dann machte er die Augen wieder auf, faltete den Brief zusammen und schob ihn zurück in den Umschlag. So gut es ging, wischte er mit einer Fingerspitze die Träne ab und legte den Brief wieder in das Kästchen. Das Kästchen schob er ordentlich zurück in die hinterste Ecke des Schranks, ins Dunkle, wo man es nicht sah.

»Mist«, entfuhr es ihm, als das Vibrieren seines Telefons ihn hochschrecken ließ. Er zog es aus der Tasche und schaute aufs Display. »Nummer unterdrückt.« Das konnte jeder sein. Er wählte sich bis zur Antwortfunktion durch und hob das Telefon ans Ohr.

»Was gibt’s?«

»Wir haben ihn gefunden«, sagte Patsy Toner.