Sie sind sehr freundlich«, sagte Marie.
Lächelnd stellte Mrs. Taylor einen Teller mit Toast auf den Tisch.
Ein warmer Duft nach geröstetem Brot erfüllte das Cottage. Fegans Magen knurrte erwartungsvoll, trotz des immer wieder aufwallenden Schmerzes in seinem Unterleib. Mitten auf dem Tisch dampfte eine große Kanne Tee. Es gab Milch, Zucker, Butter und Konfitüre.
Die Dame des Hauses hatte ein rundes, rosiges Gesicht und klare blaue Augen. Wie ihr Mann wusste auch sie mit Worten umzugehen und verfügte über ein ganzes Arsenal an Flüchen. Fegan, Marie und Ellen waren erst seit einer halben Stunde im Haus, und Mrs. Taylor hatte sich schon dreimal dafür entschuldigt, dass sie in Gegenwart des Kindes geflucht hatte.
»Verpi…, ich meine, geh weg, Stella«, befahl sie dem Hund, der erwartungsvoll am Tisch hockte. Fegan wusste, dass es ein Boxer war. Sein Großvater hatte auch einen gehabt, und Stellas Kopf sah genauso aus. Ein Gesicht, das immer schuldbewusst aussah, wegen irgendeines begangenen oder noch zu begehenden Unfugs oder beidem. Stella ignorierte Frauchens Anweisung und leckte sich stattdessen die Lefzen, als Mrs. Taylor einen mit Bacon und Würstchen beladenen Teller hereinbrachte.
Fegan ließ seine verquollenen Augen durch das Zimmer schweifen. An den Wänden hingen überall Gemälde, Ölbilder ebenso wie Aquarelle, und alles war mit kleinen Figürchen vollgestellt.
Eine neue Welle der Übelkeit überfiel ihn, begleitet von kaltem Schweiß auf der Stirn und im Nacken. Er schluckte und wischte sich über die Augenbrauen, dann verknotete er die Finger auf dem Tisch, um sie stillzuhalten. Seine Kopfschmerzen waren so stark, dass sie schier die hereindringenden Sonnenstrahlen auszulöschen schienen. Draußen konnte Fegan die Flussmündung erkennen, von wo aus sich der lange Strand bis in die Ferne hin ausdehnte. Der Himmel war stahlblau. Am Horizont erkannte er die Farbtupfer zweier Boote. Weit hinten, wo Meer und Himmel verschmolzen, war im Dunst noch eine riesige Landmasse zu sehen.
Mr. Taylor setzte sich hin. »Das ist der Mull of Kintyre«, sagte er. Er beugte sich zu Ellen vor. »Siehst du das da hinten? Das ist Schottland.«
Ellen glotzte aus dem Fenster. »Guck mal, Mummy, da ist Schottland!«
Marie lächelte und strich ihrer Tochter übers Haar. »Wir gehen nachher mal am Strand spazieren, damit du es besser sehen kannst. Jetzt iss erst mal dein leckeres Frühstück.«
Während Ellen sich aus Toast und Bacon ein Sandwich bastelte, dachte Fegan an den Mull of Kintyre. 1994 war es gewesen und er gerade im Maze, als die Nachrichten meldeten, dass auf dem Mull ein Chinook-Helikopter abgestürzt war. 25 Leute vom MI5, der Britischen Armee und der RUC und die vier Besatzungsmitglieder waren umgekommen, als der Hubschrauber in dichtem Nebel gegen den Berg gekracht war. Sowohl im Block der Republikaner als auch in dem der Loyalisten war die Nachricht gefeiert worden. Während die anderen Gefangenen lachten und jubelten, hatte Fegan auf seinem Bett gelegen und die Risse in der Decke angestarrt.
Mrs. Taylor kam mit einer Schüssel und einer Holzkelle zurück. »Wer hätte gern ein paar Rühreier?«, fragte sie. Ellen und Fegan lehnten ab. Als Fegan die Nase rümpfte, grinste das kleine Mädchen ihn an.
»Und wie behandelt der alte Hopkirk Sie so?«, fragte Mr. Taylor.
»Gut«, antwortete Marie. »Wir können ganz gut ohne Komfort auskommen.« Mit einem verschlagenen Grinsen sah sie Fegan an. »Stimmt’s, George?«
Fegan brauchte einen Moment, bis er die Lüge parat hatte. »Ja, wir haben schon in übleren Kaschemmen übernachtet.«
Ellen sah die beiden abwechselnd an und runzelte die Stirn. Marie zwinkerte ihm zu, und Fegan lächelte zurück.
Nachdem sie nun endlich zu Ende gewirbelt hatte, setzte Mrs. Taylor sich schließlich mit an den Frühstückstisch. Die Stille wurde nur noch einmal gestört, als die Gastgeberin ihrem Mann auf den Arm schlug, weil der dem Hund ein Stück Wurst hingehalten hatte.
»Was führt Sie eigentlich nach Portcarrick?«, frage sie.
»Wir wollten einfach mal ein paar Tage raus«, sagte Marie. »Es war eine ziemlich spontane Entscheidung.«
»Nun ja, wenn jemand mitten in der Nacht im Hopkirk’s auftaucht, konnte man das schon ein bisschen impulsiv nennen.«
»Wir wollten eigentlich früher los, aber George wurde noch bei der Arbeit aufgehalten.«
Mrs. Taylor wandte sich Fegan zu. »Und was für eine Arbeit machen Sie, George?«
Fegan kaute und schluckte sein Essen hinunter, dann antwortete er: »Ich bin Beamter bei der Stadtentwicklung.«
»In Belfast?«, fragte sie.
»Ja.«
»In welchem Stadtteil denn? Wir stammen nämlich ursprünglich aus Belfast.«
Fegan suchte verzweifelt nach einer Lüge, aber es fiel ihm keine ein. »Mal hier, mal da«, sagte er.
Das schien Mrs. Taylor zu reichen. »Haben Sie heute Morgen schon die Nachrichten gehört?«
»Nein, noch nicht«, antwortete Marie.
»Oh, ganz schrecklich. Gestern Nacht ist in Belfast ein Priester umgebracht worden. Jemand ist in sein Haus eingedrungen und hat ihn erstochen. Ist das nicht fürchterlich?«
Marie legte Messer und Gabel auf den Teller. »Entsetzlich«, sagte sie aus und starrte Mrs. Taylor an.
»Und das Komische ist«, fuhr Mrs. Taylor fort, »dass es genau der Priester war, der die beiden Männer beerdigt hat, die diese Woche getötet wurden. Ist das nicht seltsam?«
»Haben sie gesagt, um wie viel Uhr es passiert ist?«, fragte Marie.
»Irgendwann letzte Nacht, mehr nicht. Seine Haushälterin hat ihn heute Morgen gefunden. Was ist denn los, Schätzchen, haben Sie denn gar keinen Hunger?«
»Ich bin satt, vielen Dank. Darf ich mal bei Ihnen ins Bad?«
»Aber natürlich, Schätzchen. Einfach durch die Küche und dann die zweite Tür links.«
Marie stand auf und verließ das Zimmer. Sie ließ Fegan nicht aus den Augen, bis sie hinausgegangen war.
Fegan hatte jeden Appetit verloren.
»Was hast du gemacht?«, fragte Marie.
»Nichts«, sagte Fegan. Die Sonne wärmte seine Haut, obwohl von See her eine kühle Brise wehte. Sauberes, klares Wasser rollte auf sie zu. Der Sand reflektierte das grelle Sonnenlicht, was das Pochen hinter Fegans Augen nur noch weiter entfachte.
»Ich glaube dir nicht«, sagte Marie. Sie hatten Ellen im Garten gelassen, wo sie mit Stella spielte, während Mrs. Taylor sich um ihre Pflanzen kümmerte und ein wachsames Auge auf sie hatte.
»Es ist die Wahrheit«, beteuerte Fegan. Die Lüge kam ihm nur schwer über die Lippen, aber er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Marie hätte es niemals verstanden.
Sie blieb stehen und schirmte mit einer Hand die Augen ab. »Du hast mir gestern Abend gesagt, du hättest noch etwas zu erledigen, bevor du zu mir kommen würdest. Da ging es um Pater Coulter, stimmt’s?«
Mit Mühe unterdrückte Fegan den Drang, wegzusehen. »Nein. Ich musste Geld besorgen.«
»Und warum ist McGinty dann hinter dir her? Warum hat gestern jemand versucht, dir etwas anzutun?«
»Weil ich mich ihnen in den Weg gestellt habe, als sie kamen und dich einschüchtern wollten.«
»Nein, da steckt noch mehr dahinter.« Sie lief weiter den Strand hinauf. »So etwas würden sie nicht tun, nur weil du mir geholfen hast. Da muss es noch was geben.«
»Nein, nichts.« Die Wut über seine eigene Täuschung brannte in Fegans Brust.
»Und was ist mit Vincie Caffola? Und mit Onkel Michael, um Gottes willen?«
Fegan verabscheute sich selbst dafür, dass er log. »Dein Onkel hat sich auf Sachen eingelassen, von denen er besser die Finger gelassen hätte. Und Caffola hat überall herumposaunt, dass ihm die neue Parteilinie nicht passte. McGinty hat es mir selbst erzählt. Es gab genügend Leute, die auf ihren Tod aus waren.«
»Du hast schon früher gemordet«, beharrte sie. »Ich weiß, dass du dazu fähig bist. Was auch immer du für einen Defekt hast, er ist nie behoben worden.«
»Ich habe mich geändert.« Er nahm ihren Ellenbogen und drehte sie zu sich um, damit sie ihn ansah. »Das hast du selbst gesagt. Du hast gesagt, man sähe es mir an.«
Marie musterte sein Gesicht, ihre Augen waren rot und wütend. »Schwörst du das?«
»Ja.«
Sie legte ihm die Hand auf die Brust, dorthin, wo sein Herz war. »Schwörst du es bei der Seele deiner Mutter?«
Fegan zögerte keine Sekunde. »Ja«, sagte er.
Marie ließ die Hand auf seinem Herz liegen und trat ganz nah an ihn heran. Ihre Stimme war nur noch ein verzweifeltes Flüstern. »Schwörst du es bei Ellens Leben? Schwörst du es bei der Seele meiner Tochter?«
»Verlang nicht so etwas von mir«, sagte er.
Mit der Faust packte Marie ihn am Hemd. »Schwörst du es?«
In ihren Augen flammte Hoffnung auf, aber dahinter loderte noch etwas anderes. Etwas, das Fegan nicht sehen wollte. »Wenn du schwörst, glaube ich dir«, sagte sie.
»Ich schwöre es«, sagte er.
Marie nickte langsam und wandte ihren Blick dem Meer zu.
Schweigend gingen sie am Strand entlang, über die Brücke und in den Garten des Cottage. Weder Ellen noch der Hund schienen genug voneinander zu bekommen, sie rannten immer weiter im Kreis durchs Gebüsch. Mrs. Taylor hockte mit hochgerecktem Hintern auf den Knien und jätete unter einem blühenden Busch Unkraut.
Als sie das Gartentor hörte, sah sie auf. »Sie sind ja nicht lange geblieben«, sagte sie. »War es Ihnen zu frisch?«
»Wir sind ein bisschen müde«, sagte Fegan.
»Ich helfe Ihnen«, bot Marie an.
»O nein, ich komme schon allein zurecht«, wehrte die rotgesichtige Frau ab.
»Ich würde aber gern. Bitte.«
»Na schön.« Mrs. Taylor sah zu Fegan hoch. »Warum gehen Sie nicht rein? Sie können Albert ein bisschen Gesellschaft leisten, während er seine Filme anschaut.«
Fegan sah Marie fragend an. Sie drückte seinen Arm und schickte ihn weg. Drinnen hatte Mr. Taylor die Füße auf den Couch tisch gelegt und schaute einen Film mit John Wayne.
»Ah, George«, rief er. »Schnappen Sie sich einen Sessel. Es hat gerade angefangen.«
»Wie heißt der Film?«, fragte Fegan.
»Der schwarze Falke. Kennen Sie den? Ein Klassiker. Der beste Film, den der Duke je gemacht hat.«
»Nein, den habe ich noch nicht gesehen«, sagte Fegan. »Ich hänge nur schnell meine Jacke auf.«
Er ging hinaus zur Garderobe in dem kleinen Vorbau. Durch die etwas offenstehende Tür drangen Stimmen vom Garten herüber. Leise Stimmen, Frauenstimmen und hier und da ein Kinderlachen und das aufgeregte Kläffen eines Hundes.
»Sie müssen es mir nicht erzählen, wenn Sie nicht wollen«, sagte Mrs. Taylor.
»Da gibt es nichts zu erzählen«, antwortete Marie.
»Nun, dann gut. Es ist ja nur, weil sie im Radio etwas von einer Frau etwa Ihres Alters gesagt haben, mit blonden Haaren und einer Tochter.«
»Nein, da muss es sich um jemand anderen handeln.«
»Schon in Ordnung, Schätzchen. Sie sollen nur wissen, wenn Sie mir etwas erzählen wollen, irgendetwas, was sie bedrückt, dann bin ich für Sie da. Sie sind eine kluge Frau, das merkt man, aber selbst kluge Frauen machen schon mal dumme Sachen, wenn sie Angst haben.«
Fünf Herzschläge lang hörte Fegan nichts als Schweigen. Nur das Hecheln des Hundes übertönte die Wellen.
»Das ist es ja«, sagte Marie. »Ich habe keine Angst vor ihm.«
Beim Mittagessen sah Marie Fegan nicht an. Bei Ellen hatten drei Stunden Herumtollen im Garten mit Stella den Appetit geweckt. Mit Heißhunger machte sie sich über einen Stapel Sandwiches her. Stella schleckte eine Schale Wasser auf und rollte sich zufrieden zu Mrs. Taylors Füßen auf dem dicken Teppich zusammen.
Fegan spürte Mrs. Taylors Augen auf sich. Es war kein anklagender oder ängstlicher Blick, eher wachsam so wie eine Mutter beim ersten Verehrer ihrer Tochter. Er lächelte sie ein- oder zweimal an, und sie lächelte zurück, aber ihr Blick blieb unbeirrt.
Nach dem Mittagessen erlaubte Mrs. Taylor Ellen, oben in einem der bequemen Schlafzimmer ein Mittagsschläfchen zu machen. Die Kleine hatte über Geräusche geklagt, die sie in der vorherigen Nacht gestört hätten, und war offenbar froh, dass sie ins Bett klettern und ihr Köpfchen auf ein weiches Kopfkissen legen konnte. Stella sprang zu ihr hinauf und lief ein paar Mal um Ellens Füße herum, dann legte sie sich hin und döste.
Marie bestand darauf, dass sie und Fegan den Abwasch übernahmen und Mrs. Taylor die Füße hochlegte. Sie waren allein am Waschbecken und reichten sich seifige Teller an.
»Ich habe nachgedacht«, begann Marie. »Ich werde dir vertrauen, weil ich keine andere Wahl habe. Außer dir kenne ich keinen, der bereit wäre, McGinty die Stirn zu bieten.«
»Ich lasse nicht zu, dass er dir etwas tut«, sagte Fegan.
»Das sagtest du schon. Aber was bedeutet das? Wann ist es wieder sicher genug, nach Hause zu gehen? Wie lange bleiben wir in Portcarrick? Auch wenn diese Leute hier wirklich sehr nett sind, können wir uns ihnen ja nicht endlos aufdrängen.«
Fegan legte einen trockenen Teller auf einen Stapel auf der Arbeitsfläche. »Ich fahre heute nach Belfast. Ich regele die Sache.«
»Und wie?« Marie wandte sich ihm zu. Es gab kein Geschirr mehr zu spülen. »Wie willst du es regeln?«
»Ich muss ein paar Leute treffen«, erklärte Fegan. »In ein paar Tagen wirst du nichts mehr zu befürchten haben.«
Sie fixierte ihn weiter. »Was hast du vor?«
»Ich regle die Sache«, sagte er nur.
»Nein. Ich muss wissen, was du vorhast. Sag es mir.«
Fegan warf das Trockentuch auf den Abtropfständer. Mit seinen sehnigen Händen packte er Marie bei den Schultern. »Ich tue alles, was nötig ist, damit du und Ellen sicher seid. Mehr nicht.«
Ihre Augen suchten seine. »Na schön. Alles, was nötig ist, und dann gut. Nicht mehr.«
Fegan nickte und nahm das Trockentuch vom Abtropfständer. Er spürte ihre Hand auf seinem Unterarm.
»Und auch nicht weniger.«
Fegan wandte sich um und sah in ihre entschlossenen Augen. »Ich brauche deinen Wagen«, sagte er.