Spät am nächsten Morgen wachte Fegan auf und stürzte sofort ins Badezimmer, um sich zu übergeben. Er hatte in der Nacht fast die ganze Flasche Whiskey ausgetrunken. Das rächte sich nun. Am liebsten wäre er zurück ins Bett gekrochen, hätte sich die Decke über den Kopf gezogen und gewartet, bis die Übelkeitswellen seines Katers abebbten. Aber er musste ein Mobiltelefon kaufen.
Auf wackeligen Beinen begab er sich in einen Supermarkt und vermied es, seinen stieren Blick auf die morgendlichen Schatten zu werfen. Bei jedem Schritt spürte er Augen auf seinem Rücken. Manchmal drehte er sich überraschend um und wollte sehen, wer ihm da folgte. Dabei wusste er es eigentlich.
Campbell, vermutlich im Auftrag von McGinty.
Einmal, als er gerade sein billiges Telefon bezahlte, blickte er kurz auf und erhaschte gerade noch einen flüchtigen Blick auf jemanden in Jeans, der sich hinter ein Zeitschriftenregal duckte. Auf dem Nachhauseweg überlegte Fegan kurz, ob er stehenbleiben, zurücklaufen und Campbell zur Rede stellen sollte, doch dann kam er sich dabei dämlich vor. Mit gesenktem Kopf ging er weiter. An der Calcutta Street warf er einen raschen Blick nach links und rechts, aber da war nichts. Als er wieder in seinem Haus war, war auch das Gefühl weg.
Während er darauf wartete, dass der Akku des Telefons auflud, arbeitete er, um sich von seinen dröhnenden Kopfschmerzen abzulenken, an der Gitarre weiter. Im hellen Licht des Fensters polierte er die Bunde mit Stahlwolle. Er hatte sie mit einer abgerundeten Bundfeile und Sandpapier bearbeitet, durch die Blickachse über das Griffbrett geprüft, ob sie gerade waren, und jetzt gab er ihnen einen nach dem anderen noch den letzten Schliff, damit sie ihren spiegelnden Glanz bekamen.
Beim Arbeiten musste Fegan an Ronnie Lennox denken. Der alte Mann hatte sein Entlassungsschreiben ungefähr zur gleichen Zeit erhalten wie er selbst. Wie Fegan hatte auch Ronnie dieses Schreiben schlaflose Nächte bereitet, allerdings aus anderen Gründen.
Sie hatten in jenen letzten Tagen oft miteinander gesprochen. Während Fegan die Späne vom Werkstadtboden fegte und Ronnie sich auf einem Hocker ausruhte, redeten sie darüber, was sich draußen alles verändert hatte, über das Karfreitagsabkommen, mit dem vermutlich alle Probleme gelöst waren, und das darauffolgende Referendum. Zwei Jahre, nachdem beide Teile Irlands, der Norden und der Süden, für das Abkommen gestimmt hatten, stand das Maze Prison praktisch leer. Die letzten Insassen bewegten sich in dem Komplex, wie sie wollten. Beide, die Gefangenen und die Wärter, wollten nur noch ihr Ruhe und zählten die Tage.
Ronny sah Fegan mit wässrigen Augen an und sagte: »Wenn die Sache hält, wenn das Friedensabkommen wirklich Bestand hat, dann müsstest du dich eigentlich mal was fragen.«
Fegan lehnte den Besen an die Werkbank und kehrte mit einem Handfeger die Späne auf. »Was?«
»Wenn Frieden ist, wenn wirklich alles vorbei ist, wofür sind wir dann überhaupt noch zu gebrauchen?«
Fegan wusste keine Antwort.
Ronnie wandte sich wieder einer akustischen Gitarre zu, die ein Wärter zur Reparatur dagelassen hatte. Der Mann hatte erzählt, sein Sohn treibe ihn damit noch in den Wahnsinn, er liebe die Gitarre mehr als seine eigene Mutter. Als Bezahlung hatte er Ronnie ein paar Sätze Saiten versprochen. Ronnies Gesicht glänzte vor Konzentration, als er die Vorderseite des Korpus an sein Ohr hielt. Er drückte mit den Fingerspitzen auf das Holz und untersuchte es.
»Aha«, sagte er. »Da fehlt eine Strebe.«
Ronnie legte die Gitarre mit dem Bauch auf ein Stück Filz, damit die raue Werkbank sie nicht verkratzte. Er hockte sich hin und studierte einen Augenblick lang die Oberfläche, dann sagte er: »Siehst du das? Sie fängt schon an, sich zu wölben.«
Fegan beugte sich auf der anderen Seite der Werkbank vor. Ronnie roch nach Pfefferminze und Leinsamenöl. Ja, da war es: eine kleine Unebenheit auf der glatten Oberseite der Gitarre. »Ich kann es erkennen«, sagte er. Er fuhr mit den Fingern über das samtglänzende Zedernholz.
Fegan griff in das Schallloch der Gitarre und tastete nach der lockeren Strebe im Korpus. »Kleben und festklemmen?«, fragte er.
»Das müsste hinhauen.« Ronnie hustete und spuckte in ein Papiertaschentuch, sein Gesicht wurde rot. »Sei so gut und hol uns das Acrylharz her«, bat er.
Fegan ging zum Vorratsschrank und fand eine Flasche mit dem Kleber. Er brachte sie Ronnie, aber der Alte schüttelte den Kopf und ließ sich auf seinem Hocker nieder.
»Mach du mal«, sagte er. »Tupf ein bisschen auf den Spachtel da und schmier es rein.«
Fegan zögerte. »Bist du sicher?«
Ronnie nickte. Fegan machte sich ans Werk und Ronnie zusah. Mit raspelnder Stimme summte er eine alte Jazzmelodie. Fegan erkannte, dass es »Misty« war. Ronnie hatte ihm das Lied einmal auf der Gitarre vorgespielt und erzählt, dass Clint Eastwood einen Film darüber gemacht hatte.
Während Fegan den G-Wirbel anzog, um die festgeklebte Strebe festzuklemmen, fragte Ronnie: »Schläfst du inzwischen besser?«
»Nein«, sagte Fegan.
»Immer noch diese Träume?«
Mit einem Papiertuch wischte Fegan den überschüssigen Kleber ab. Er gab keine Antwort. »Brauchst mir ja nichts zu erzählen«, grummelte Ronnie. Er hustete und grinste. »Mir doch egal.«
»Es ist nur …« Fegan knüllte das Papiertuch zusammen und warf es auf die Werkbank. »Es ist nur so, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob es überhaupt Träume sind.«
Ronnie kratzte sich das stoppelige Kinn. »Warum?«
»Weil ich wach bin, wenn sie kommen. Ich weiß, dass ich wach bin. Und manchmal…«
Ronnie wartete. »Und manchmal?«
»Manchmal sehe ich sie sogar am Tag.« Fegan schraubte den Verschluss wieder auf den Kleber. Er sah den anderen nicht an. »Was meint Dr. Brady dazu?«
Fegan zuckte die Achseln. »Er sagt, es sind Schuldgefühle. Er hat es eine Manifestation genannt.«
Ronnie wischte sich mit dem Papiertaschentuch den Mund ab und zog eine Augenbraue hoch. »Ziemlich hochtrabendes Wort. Muss wohl was Ernstes sein. Und was glaubst du, was es ist?«
Fegan durchquerte den Raum und verstaute den Kleber wieder im Schrank. Mit dem Rücken zu Ronnie blieb er stehen. »Als ich klein war, noch bevor mein Vater gestorben war, da habe ich manchmal Dinge gesehen. Menschen. Ich sprach mit ihnen.« Fegan wartete auf eine Antwort, einen Protest, doch es kam keine Reaktion. Also fuhr er fort: »Das habe ich noch nie einem erzählt. Nicht mal Dr. Brady.«
Einen langen Augenblick wartete er, dann drehte er sich wieder zu Ronnie um. Der alte Mann saß zusammengesunken auf seinem Hocker und starrte das Papiertaschentuch in seinen Fingern an.
Fegan machte einen Schritt auf ihn zu. »Ronnie?«
»Du sprichst von den Toten«, sagte Ronnie unvermittelt. Er hustete trocken und spuckte aus, sein Gesicht war jetzt purpurrot. Als er fertig war, wischte er sich die Lippen ab, atmete tief ein und rasselnd wieder aus. »Ich will nichts über die Toten hören. Das Zeug frisst mich auf. Der Asbest, der frisst mich innerlich auf. Du bist in ein paar Wochen hier raus, aber ich schaffe es vielleicht nicht mehr bis dahin. Der Quacksalber hat mir prophezeit, dass ich eines Nachts einfach im Schlaf ertrinken werde, so als würde mir jemand den Kopf unter Wasser drücken. Jede Nacht, wenn ich mich hinlege, bete ich darum, dass ich am nächsten Morgen wieder aufwache. Und ich bete darum, dass der Herr mir gnädig ist, wenn nicht.« Ronnies Schultern bebten, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Du weißt ja, was ich getan habe.«
Fegan nickte.
»Also.« Ronnie schniefte und hustete. »Ich will nichts über die Toten hören, Gerry.« Er stand von seinem Hocker auf und schlurfte zur Tür. »Die sehe ich schon noch früh genug.«
In der Tür blieb Ronnie stehen. Der Wärter durchsuchte seine Taschen. Ronnie blickte noch einmal über die Schulter. »Pass gut auf dich auf, Gerry.« Dann zwinkerte er Fegan zu. »Sonst macht das nämlich keiner.«
Fegan sah ihn nie wieder. An dem Tag, als Ronnies Tochter ihm die Gitarre brachte, weinte er.
Die Sonnenstrahlen hinterließen einen strahlenden Glanz auf der Politur der Martin D-2.8. Fegan verstaute die Gitarre wieder in der Ecke und bestaunte noch einmal die Maserung. Der Lack hatte im Laufe der Jahre eine gelbliche Tönung angenommen, was die Gitarre nur umso schöner machte. Fegan hatte sich schon Saiten besorgt für den Tag, an dem er fertig sein würde, einen bronzefarbenen Satz. Er wusste nicht genau, wie man eine Gitarre stimmte, aber das würde er schon herausbekommen.
Fegan sah auf die Uhr. Das Telefon hatte jetzt die vorgeschriebenen zwei Stunden geladen. Trotz seiner zitternden Hände und dem Pochen hinter seinen Augen gelang es ihm schließlich, das Plastikkärtchen hineinzuschieben, die Batterie darüberzulegen und den Deckel wieder einrasten zu lassen. Die Gebrauchsanweisung lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Couchtisch, und er fuhr mit dem Finger über die kleingedruckten Wörter. Er hielt die grüne Taste gedrückt. Als das Telefon in seiner Hand vibrierte, legte er es auf den Tisch und sah zu, wie das bunte Display eine Reihe von Animationen abspielte.
Er schaute in seine Handfläche. Die Zahlenfolge war zwar blass, aber immer noch lesbar. Fegan folgte der Gebrauchsanweisung und wählte Marie McKennas Nummer. Er schloss die Augen, lauschte dem Freizeichen und erinnerte sich daran, dass sie ja nicht versprochen hatte dranzugehen. Als sie es doch tat, wäre ihm fast das Telefon aus den Fingern gerutscht.
»Ich bin’s, Gerry«, meldete er sich.
Er hörte sie schnaufen. »Ich bin froh, dass du anrufst«, sagte sie. Ihm fiel auf, dass sie ihn duzte. »Ehrlich?«
»Ja.« Ihre Stimme zitterte kaum merklich. »Ich hatte heute Morgen Besuch.«
»Von wem?«
»Ob du es glaubst oder nicht, von Pater Coulter.« Fegan schwieg einen Moment, dann fragte er: »Was wollte er?«
»Er hat mir geraten, wegzuziehen. Hat gesagt, für Ellen und mich sei das am besten. Seine exakten Worte waren: >Sie ersparen sich dadurch Unannehmlichkeiten.<«
Fegan dachte an die Walther. Er konnte sie geradezu fühlen, wie sie da unter dem Bett lag, zusammen mit dem Bündel Geldscheinen in der Schachtel.
Marie erzählte weiter: »Immer wieder fing er davon an, wie schrecklich es ihm wäre, wenn meinem kleinen Mädchen etwas zustoßen würde, wie entsetzlich er es fände, sollte ihr etwas passieren. Immer wieder hat er mir gesagt, dass ich an Ellen denken und nicht so widerspenstig sein soll. Dass es Leute gibt, die uns etwas antun wollen und man sie vielleicht nicht aufhalten kann, wenn wir bleiben. Und dabei hat er die ganze Zeit ein Gesicht aufgesetzt, als wäre schon mein schierer Anblick eine Beleidigung für seine Augen.«
Fegan starrte auf seine Hand und spürte geradezu das kühle Gewicht der Waffe in ihr.
»Stell dir das mal vor!«, empörte sich Marie. »Jetzt schickt McGinty schon Priester, die seine Drohungen weiterleiten. Pater Coulter hat gesagt, er täte mir nur einen Gefallen.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Erst mal gar nichts. Ich war einfach zu schockiert. Dann habe ich ihm gesagt, er soll sich rausscheren.«
Fegan hörte ihren Atem an seinem Ohr. »Jetzt werden sie mir bestimmt zusetzen, oder?«
»Ja«, sagte Fegan. »Sie kommen nach Anbruch der Dunkelheit. Zuerst passiert nichts Schlimmes. Vielleicht schlagen sie nur ein Fenster ein. Beim nächsten Mal nehmen sie dann einen Molotowcocktail oder eine Schrotflinte.«
»Mein Gott! Und was ist mit Ellen? Ich kann sie doch nicht solchen Sachen aussetzen? Ich habe nicht mal jemanden, zu dem ich sie geben könnte.«
»Ich komme heute Abend vorbei. Solange ich da bin, unternehmen sie nichts.«
»Ja, bitte«, bat sie. »Komm.«
Fegan ballte die freie Hand zur Faust. »Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um die Sache.«
Er verabschiedete sich und beendete das Gespräch. Dann sprang er auf, lief über den Flur und stieg die Treppe hoch. Am Ende des Bettes kniete er sich hin, streckte den Arm aus und zog die Schuhschachtel hervor. Die Schatten versammelten sich um ihn und sahen ihm zu. Als er den Deckel abnahm, stieg ihm wieder der speckige Geruch von Geldscheinen in die Nase, und wieder fragte er sich, wie viel es überhaupt war. Er hatte es nie gezählt. Auf jeden Fall ein paar tausend, vielleicht sogar zehntausend oder mehr. Er hatte es von dem Gehalt abgespart, das er für McGintys Scheinbeschäftigung bei der Stadtentwicklung bezog.
Eine ganze Weile starrte er nur gebannt auf die unheimlich schimmernde Waffe. Lose Patronen kullerten zwischen dem Geld hin und her wie Mäuse in ihrem Nest.
»Nein«, sagte er.
Die drei Briten traten vor, die anderen sechs hielten sich zurück. Dann schob sich die Frau an ihnen vorbei und kniete sich neben Fegan hin. Sic lächelte, als Fegan die Waffe aus ihrem Versteck holte. Kalt und schwer lag sie in seiner Hand.
»Nein«, sagte Fegan noch einmal. Er legte die Walther wieder zu den Geldscheinen und Patronen. »Nicht Pater Coulter.«
Aber dann würden sie ihn schlafen lassen. Wenn er ihnen alles gab, was sie wollten, würden sie Ruhe geben und ihn schlafen lassen.
Die paradiesische Vorstellung, dass er einfach die Augen schließen und nichts mehr hören würde als sein eigenes Atmen, beherrschte ihn vollkommen. Und plötzlich tauchte ein noch schönerer Gedanke auf, einer, der ihm noch nie gekommen war: Er stellte sich vor, wie es wäre, mit dem Kopf auf Marie McKennas Brust einzuschlafen, sich von ihrer Wärme durchdringen lassen, während das Pochen ihres Herzens jedes andere Geräusch übertönte.
Blinzelnd verscheuchte Fegan den Gedanken. »Nein«, sagte er. Er legte den Deckel auf die Schuhschachtel und schob sie zurück unters Bett.
Die Freundin des verstorbenen Vincent Caffola hatte ein rotes Gesicht und verheulte Augen, als sie Fegans Hand schüttelte. Caffolas zwei Söhne waren vollkommen verwirrt von der ganzen Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwurde. Der ältere kämpfte mit seinen Tränen, der Jüngere ließ ihnen freien Lauf. Beide sahen sie ihrem Vater ähnlich, der Ältere war jetzt schon so groß wie Fegan.
Er hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, als er ihnen sein Beileid aussprach. Die Jungen konnten ihm nicht in die Augen sehen, als er sie ansprach. Fegan war froh darüber. Kurz befiel ihn der verrückte Gedanke, die beiden um Vergebung zu bitten. Caffola mochte zwar ein hirnloser Schläger gewesen sein, trotzdem: Für diese Jungen war er der Vater gewesen. Der Jüngere war etwa im gleichen Alter wie Fegan damals, als sein Vater betrunken die Treppe hinuntergefallen war.
Fegan beendete seine Mitleidsbekundungen und wandte sich ab. Er konnte es kaum erwarten, diesen von der Trauer gezeichneten Gesichtern zu entfliehen, aber Caffolas Freundin hielt ihn am Handgelenk fest.
»Keiner unternimmt irgendwas«, sagte sie. »Weder die Partei noch die Polizei - keiner!«
Fegan versuchte sich freizumachen, aber sie ließ ihn nicht los.
»Allen ist es egal«, flüsterte sie. »Hauptsache, er ist tot und unter der Erde. Kein Schwein interessiert sich dafür, wer es getan hat. Das ist einfach nicht richtig, Gerry.«
Er entwand sich gewaltsam ihrem Griff und machte einen Schritt zurück. »Es tut mir leid«, sagte er.
»Es ist einfach nicht richtig«, wiederholte sie, während Fegan ihr schon den Rücken zukehrte und wegging.