Die Sonne senkte sich schon auf die Hausdächer, als Fegan bei Marie McKenna klingelte. Ihre Wohnung befand sich im Erdgeschoss des alten Reihenhauses aus roten Backsteinen. Im Erkerfenster neben der Haustür bewegten sich die Vorhänge. Als Fegan dann von innen Schritte hörte, bekam er eine Gänsehaut.

Marie öffnete die Tür und lächelte ihn an. Ihre Augen waren verquollen, offenbar hatte sie geweint.

»Hast du schon was gegessen?«, fragte sie, während sie durch den Hausflur gingen. Neben der Treppe, die zu den Wohnungen weiter oben führte, stand angelehnt ein Fahrrad.

»Seit heute Morgen nichts mehr«, log Fegan. In Wahrheit hatte wegen des Whiskeys sein Magen rebelliert, daher hatte er noch keinen Bissen zu sich genommen.

»Da musst du ja am Verhungern sein«, sagte Marie und führte ihn in die Wohnung. »Ich wollte gerade etwas für Ellen und mich herrichten. Du isst mit.«

Es war eher eine Anweisung als eine Einladung.

»Hallo«, rief Ellen strahlend, als er hereinkam. Sie lag vor einem Malbuch auf dem Boden, um sie herum verstreut lauter Malstifte. Es war eine Wohnung mit offener Küche im hinteren Teil des Wohnbereichs. Von ihr gingen zwei Türen ab, die zum rückwärtigen Teil des Hauses führten.

»Hallo, Ellen«, begrüßte er sie.

Fegan begutachtete das großzügige, mit wohnlichen Gegenständen eingerichtete Appartement. Im Vergleich dazu war seine eigene Behausung trostlos und leer, ihr einziger Schmuck waren selbstgebastelte Objekte aus Holz. Eines davon hielt er gerade in einer Plastiktüte fest umklammert.

»Guck mal«, rief Ellen und rappelte sich hoch. Sie brachte ihm das Malbuch, damit er es sich ansah. Auf dem Bild war ein Schwein in einem kurzen Kleid. Ellen hatte es ganz grün angemalt.

»Wie schön«, sagte er.

Marie strich ihrer Tochter über das Haar. »Ellen, jetzt lass Gerry mal ein Weilchen in Ruhe, ja?« Ellen zog eine Schnute. »Na gut.«

Als Marie ihm den Mantel abnahm, sagte Fegan: »Ich habe euch etwas mitgebracht.« Er reichte ihr die Plastiktüte und errötete.

»Oh.« Sie holte es heraus.

Fegan hatte das Stück Eichenholz auf einem herrenlosen Grundstück nicht weit von seinem Haus gefunden. Vielleicht hatte es einmal zu einem Kaminsims oder einem Treppengeländer gehört. Wochenlang hatte er das Holz bearbeitet und mit Schleifpapier die Maserung zum Vorschein gebracht, bis sie eine beinahe flüssige Gestalt angenommen hatte, wie die Strömung eines Gewässers. Er hatte die Aushöhlung geglättet, wo einmal ein Astloch gewesen war, dann Schicht auf Schicht den Lack aufgetragen und zwischendurch immer wieder nachgeschliffen, bis es aussah, als würde das Holz von innen brennen. Dann hatte er es noch auf eine Schieferplatte montiert.

»Es ist wunderschön«, sagte Marie.

»Bei mir zu Hause war es sowieso nur ein Staubfänger«, erklärte Fegan. »Hier passt es besser hin.«

»Danke.« Sie stellte das Stück auf einen Tisch neben dem Fenster, gleich neben einen geöffneten Laptop.

 

»War etwas los?«, fragte Fegan.

»Nichts. Alles ruhig, Die meiste Zeit habe ich gearbeitet.« Marie musterte das Objekt in dem wenigen Licht, das die zugezogenen Vorhänge durchließen.

»In ein, zwei Stunden ist es dunkel. Vorher kommen sie nicht.«

»Und was willst du dann machen?«, fragte sie und wandte sich wieder zu ihm um. »Mit ihnen reden.«

»Reden? Ich bezweifle, dass sie dir zuhören werden.«

»Nun, dann muss ich es eben … anders versuchen.« Eine Sekunde lang starrte Marie ihn an, dann sagte sie: »Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

 

Das Abendessen war einfach, Grillhähnchen mit neuen Salzkartoffeln und einem Salat, aber Fegan verschlang es, als sei es seine letzte Mahlzeit. Als Marie wissen wollte, ob er gerne einen Nachschlag hätte, sagte er schon ja, bevor sie noch zu Ende gefragt hatte. Das letzte Mal, dass jemand etwas für ihn gekocht hatte, war nicht Wochen oder Monate, sondern viele Jahre her. Fast zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit er sich zum letzten Mal mit Menschen zum Essen hingesetzt hatte, die er kannte und mochte.

Ellen hatte akkurat den rotblättrigen Salat vom grünen getrennt und an den Rand ihres Tellers verbannt. Ebenso hatte sie mit chirurgischer Präzision die dunklen Augen aus den Kartoffelschalen entfernt und zu dem unerwünschten Salat geschoben. Davon abgesehen, hatte sie ihren Teller blitzblank geputzt, während sie Fegan gleichzeitig mit Sachen über Schuhe, Malen und Peppa Pig vollplapperte.

»Was ist denn Peppa Pig?«, fragte Fegan.

Ellen kicherte nur und sagte: »Du bist ja vielleicht dämlich.«

Fegan forschte lieber nicht weiter nach.

 

Nach dem Essen stand Marie auf und schickte Ellen zurück zu ihren Malbüchern, die überall im Wohnzimmer verstreut lagen.

»Und was passiert nach heute Abend?«, frage sie Fegan, während sie anfing, den Tisch abzuräumen. »Angenommen, du wirst sie los. Dann kommen sie doch morgen einfach wieder, oder etwa nicht?«

»Vielleicht«, antwortete Fegan. »Wenn du willst, komme ich dann eben auch wieder und kümmere mich darum.«

Sie brachte die Teller in die Küche, wo schon die Töpfe zum Einweichen standen. »Und was passiert weiter? Die kommen doch immer wieder, und es wird immer schlimmer. Ich will nicht, dass Ellen das miterlebt. Und ich will auch nicht, dass dir etwas passiert.«

»Mir passiert schon nichts«, beruhigte er sie. Er trat zu Marie ans Waschbecken, nahm ein Trockentuch und fing an, die Teller abzutrocknen, die sie ihm herüberreichte. »Ich werde die Sache regeln. In ein paar Tagen bin ich so weit.«

»Und wie?«

»Mach dir darüber keine Gedanken«, wich er aus. »Ich werde die Sache regeln. Mehr musst du nicht wissen. Danach müsst Ellen und du euch keine Sorgen mehr machen.«

Sie hielt einen Teller fest, den sie ihm gerade hatte reichen wollen. »Was soll das heißen?«

Er lächelte sie an. Das Lächeln kam ihm leicht auf die Lippen und fühlte sich ehrlich an. »Ihr werdet euch keine Sorgen mehr machen müssen. Ende.«

Marie erwiderte sein Lächeln, aber als sie sich dann abwandte, entdeckte Fegan etwas Hartes und Gequältes darin.

 

Marie erzählte Fegan von Jack Lennon und wie der hübsche Polizist sie damals eingeladen hatte, als sie ihr Diktiergerät verstaute. Es war um Katholiken bei der Polizei in einer neuen Zeit der Reformen gegangen. Jack war ein guter Interviewpartner gewesen, offen und redegewandt. Sogar charmant. Als Marie ihn gefragt hatte, ob Jack Lennon eigentlich ein echter Bulle sei, war er rot geworden.

Nur sechs Tage später war Marie verliebt.

Zuerst behielt sie ihr Geheimnis für sich. Dass ihre Familie ihre Arbeit für eine Zeitung der Unionisten missbilligte, war ohnehin schon klar. Ihr Vater hatte nie darüber gesprochen, ob er sich an dem Konflikt aktiv beteiligte, doch dass ihr Onkel Mike bis zum Hals mit drinsteckte, war ihr klar. Wo immer sie auch hinkam, wussten die Leute schon, wer sie war und aus welcher Familie sie stammte. Auch all ihre Freunde gehörten zu dieser Gesellschaftsschicht, aber bis auf wenige zogen sie sich alle wegen Maries Jobs zurück. Und als sie dann Jack Lennon nicht länger geheimhalten konnte, verstießen auch diese letzten sie so postwendend wie alle anderen, mit denen sie aufgewachsen war.

Marie war dreiunddreißig und fühlte sich isoliert und von ihrem alten Leben ausgegrenzt. Aber sie hatte ja Jack, das reichte. Hier und da kamen zwar anonyme Drohungen, zum Beispiel mit Patronen garnierte Einladungen zu einem Gedenkgottesdienst im Briefkasten, doch das Paar hielt zusammen. Das würden sie auch noch durchstehen.

Zwei Jahre nach ihrer ersten Begegnung und nur wenige Wochen, nachdem ihre Periode ausgeblieben war, roch Marie ein fremdes Parfüm an ihm. Jack arbeitete inzwischen bei der Kriminalpolizei und trug keine Uniform mehr. Er behauptete, es sei eine Kollegin, die früher keinerlei Interesse an ihm gezeigt hatte. Aber jetzt, wo er in einer festen Beziehung mit einer anderen Frau lebte, habe sich das geändert. Tag für Tag habe sie - oft körperliche - Annäherungsversuche unternommen, aber er habe ihr widerstanden. Er sei immer treu gewesen, sei es auch jetzt und werde es immer sein.

Jack Lennon war ein charmanter und überzeugender Mann. Marie glaubte ihm jedes Wort. Erst im Nachhinein meinte sie sich daran zu erinnern, dass er zusammengezuckt war, als sie ihm sagte, sie sei möglicherweise schwanger. Ob das wirklich stimmte, wusste sie nicht, aber es spielte es auch keine Rolle. Sicher war ans nur, dass sie zwei Monate später eines verregneten Abends nach Hause kam und die Wohnung verlassen vorfand.

Fegan hörte Marie zu, die neben ihm auf dem Sofa saß, Sie erzählte, doch ihr Gesicht zeigte keine Regung.

»Und weißt du, was das Traurigste ist?«, fragte sie und fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Eine Woche, nachdem er mich für sie verlassen hatte, hat sie ihm den Laufpass gegeben.« Marie lachte bitter auf. »Sie wollte das, was sie nicht kriegen konnte, und als sie es dann kriegen konnte, wollte sie es nicht mehr. Alles kaputt, für nichts. Na ja, er hat mich dann angerufen und mich angefleht, zurückkommen zu dürfen. Ich habe ihm gesagt, er soll sich verpissen.«

»Gut«, sagte Fegan. »Er hört sich nach einem ziemlichen Arschloch an.«

Ellen sah von ihrem Ausmalen auf. »Du hast ein schlimmes Wort gesagt.«

»Tut mir leid«, gestand Fegan.

Ellen sah ihre Mutter an. »Mummy, darf ich eine DVD anschauen?«

»Gleich ist Schlafenszeit, mein Schatz.«

»Kann ich nicht wenigstens den Anfang gucken?«, bettelte Ellen.

Marie setzte sich auf und dachte darüber nach. »Na gut«, sagte sie, »ich will aber kein Quengeln hören, wenn ich sage, ins Bett. In Ordnung?«

»In Ordnung.« Ellen grinste bis über beide Ohren und ging zu einem Regal voller Taschenbücher, CDs und DVDs. Sie zog eine grellbunte Hülle hervor, machte sie auf und nahm vorsichtig die Scheibe heraus.

»Sieh dir sich das an«, flüsterte Marie. »Sie ist eine echte Expertin.«

Ellen ging zum DVD-Player unter dem Fernseher, drückte die Öffnen-Taste, legte die Scheibe auf den Einschub und ruckelte sie mit ihren kleinen Fingern zurecht. Dann schaltete sie den Fernseher an, wählte die richtige Programmnummer und sprang aufs Sofa. Zwischen Marie und Fegan war gerade noch genug Platz, dass sie sich dazwischenkuscheln konnte. Fegan sah, wie sie auf der Fernbedienung herumtippte, bis der Film loslief.

»Du bist ganz schön schlau«, sagte er.

Ellen blickte zu ihm auf, legte einen Finger an die Lippen - pssst! - und zeigte auf das Fernsehgerät. Fegan räusperte sich und gehorchte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Marie lächelte.

Schon bald war Fegan vollkommen in dem Film versunken. Es ging um einen orange-weiß gestreiften Fisch, der in einem riesigen blauen Ozean nach seinem Sohn suchte. Manchmal spürte er, wie Ellen sich neben ihm vor Lachen ausschüttelte, ebenso wie er selbst. Diese unwillkürlichen Lachkrämpfe fühlten sich seltsam an, sie entstanden irgendwo in seinem Bauch und brachen sich Bahn bis in seinen Mund. Die bewegten Bilder ließen Schatten im Raum tanzen, aber hinter diesen Schatten steckten nur Maries im Zimmer verteilte Einrichtungsgegenstände.

Ellens Schlafenszeit kam und verstrich ohne Protest ihrer Mutter. Als der’Film jedoch zu Ende war, tätschelte Marie ihr aufs Knie und sagte: So, mein Fräulein, diesmal hast du dich durchgeschummelt, aber jetzt geht es endgültig ins Bett.«

Maulig ließ sich Ellen nach vorn fallen. »Muss ich wirklich?«

»Jawohl. Es ist schon fast halb neun, du hättest schon vor einer Stunde im Bett sein sollen. Draußen …« Marie unterbrach sich, so als wäre ihr plötzlich etwas Unangenehmes eingefallen. »Draußen ist es schon dunkel.«

Fegan stand vom Sofa auf. Er sah erst die zugezogenen Fenster und dann Marie an. Sie stand auf, hob Ellen hoch und stellte sie auf den Fußboden.

»Marsch, rein in den Schlafanzug. Und dann werden die Zähne geputzt.«

Ellen trottete auf eine der Türen zu, die im hinteren Teil des Hauses von der kleinen Küche abgingen. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um, winkte und rief: »Nacht, Gerry«.

»Nacht«, rief er zurück und war ein kleines bisschen traurig, dass sie ging. Er schaute Marie an, die mit in den Gesäßtaschen ihrer Jeans vergrabenen Händen dastand.

»Tja«, sagte sie.

»Tja«, sagte Fegan. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten und wandte die Augen ab.

Sie räusperte sich und schniefte. »Ehrlich gesagt, ich bin auch ziemlich müde. Letzte Nacht habe ich nicht gut geschlafen. Ich … ahm … ich sehe noch kurz nach Ellen und dann lege ich mich hin. Kommst du hier zurecht?«

»Ja«, sagte Fegan. »Wenn sie auftauchen, warte ich schon auf sie.«

»Okay«, sagte Marie. Sie ging los, blieb wieder stehen und kam noch einmal zurück. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, gab ihm einen Kuss auf die Wange und lächelte ihn an. »Ich würde dir gern sagen, dass du ein guter Mensch bist, aber ich habe eine fürchterliche Menschenkenntnis.«

Fegan sah ihr nach, wie sie das Zimmer verließ. Die Wärme ihres Kusses verschwand, und zurück blieb ein Hauch von feuchter Kühle.

Als es still geworden war in der Wohnung, ging er umher und schaltete überall das Licht aus. Es war stockfinster, bis er die Vorhänge öffnete. Die Straßenlampen draußen tauchten das Zimmer einen orangefarbenen Schimmer. Er setzte sich an den Tisch neben dem Fenster und wartete.

Gelegentlich fuhr draußen ein Auto vorbei und strahlte mit seinen Scheinwerfern die alten Häuser an. Dann erschien es ihm jedes Mal, als würden die Fassaden den vorbeifahrenden Menschen nachsehen.

Gelegentlich kamen auch Passanten draußen am Fenster vorbei, ohne zu ahnen, dass Fegan sie beobachtete. Manchmal waren es Paare, junge, eng ineinander verschlungene Männer und Frauen, die daherkamen wie ein Leib. Ihr Anblick löste Vorstellungen in seinem Kopf aus, Phantasien, denen er nicht nachgeben wollte. An ihrem Ende würden nur Trauer und Selbstmitleid auf ihn warten.

Stattdessen dachte er an die feuchte Kühle auf seiner Wange. Er betastete die Stelle mit seiner Fingerspitze und erinnerte sich wieder, wie warm es gewesen war, bevor es abgekühlt war.

Fast drei Stunden vergingen, bevor es die Kälte von seinem Körper Besitz ergriff, es in seinen Schläfen zu pochen anfing und die Schatten zum Leben erwachten.