24
Nick kam zum dritten Mal in dieser Woche, um Alex
und Marilyn abzuholen.
Zum dritten Mal in dieser Woche wünschte sich
Liesel, hinter dem Empfangsschalter ein Maschinengewehr zur Hand zu
haben, um ihn beim Betreten niedermähen zu können.
Jedes Mal hatte Alex ein bisschen weniger zögerlich
gewirkt, und jedes Mal hatte Liesel es schwerer gefunden, die
beiden gehen zu lassen. Besonders, da Marilyn immer noch aussah,
als bestiege sie ein Schafott. Warum waren so viele Menschen davon
besessen, immer das Richtige zu tun, und was war überhaupt das
Richtige? Für wen war es richtig, das hätte sie gerne gewusst. Wenn
es nach ihr gegangen wäre, hätte sie Alex im Turm eingesperrt, wo
Nick ihm nichts anhaben konnte. Vielleicht sollte sie Nick auch
dorthin bringen? Sie
konnte ihn dann bei Flut aus dem höchsten Fenster stürzen und es
dem wunderbaren Meer überlassen, mit seiner Leiche fertigzuwerden.
Alex erschien vielleicht jedes Mal, wenn er Nick sah, weniger
verschlossen, aber auf Liesel wirkte Nick wie ein giftiger Pilz.
Jedes Mal schien er etwas zu tun, was sie ganz besonders ärgerte.
Gestern hatte er ihr beim Eintreten ein Auge zugekniffen. Nicht
freundlich, was auch dann nicht willkommen gewesen wäre, sondern um
seine Überlegenheit anzudeuten.
Als er heute aus der Tür zu seinem Wagen ging,
hatte er den Nerv, sich umzudrehen und ihr zuzuwinken, als wären
sie beste Freunde. Liesel hatte sich gerade noch beherrschen
können, keine rüde Geste mit dem Mittelfinger zu machen, weil Alex
es vielleicht gesehen hätte. Alex aufzuregen war das Letzte, was
sie im Sinn hatte.
Es lag eigentlich nicht in Liesels Natur, jemanden
zu hassen, aber, Junge, diesen Nick Hamilton hasste sie.
Doch es hatte alles keinen Sinn. Sie musste
irgendwo Dampf ablassen. Lorraine half Kashia im Speisesaal, die
Tische zum Abendessen einzudecken. Die beiden lachten aus vollem
Hals, weil Kashia Lorraine etwas sehr Unanständiges auf Polnisch
beibrachte. Lorraines Schicht fing eigentlich erst um sieben an,
wenn sie den Emfang übernehmen würde, damit Liesel die Bar bedienen
konnte, aber die beiden Frauen kamen jetzt, als neue
Wohnungsgenossinnen, immer gemeinsam an. Kashia wohnte seit einer
Woche in Lorraines kleinem Dreizimmer-Reihenhaus in der Stadt, und
es schien sehr harmonisch zu verlaufen. Heute Abend gingen sie
sogar zu dritt mit Adrian aus, um zu feiern. Es war unglaublich,
wie stark Gefühle sich ändern konnten! Von Feindschaft zu bester
Freundschaft. Konnte Liesel es irgendwann vielleicht
schaffen, Nick wieder zu mögen? Sie hatte ihn damals geliebt, als
er und Marilyn anfangs zusammen waren und er sehr nett zu ihr war
und Marilyn glücklich gemacht hatte. Aber noch wichtiger war, ob
Alex es lernen würde, seinen Vater wieder zu lieben. Einen
Neuanfang brauchte er nicht, denn er hatte ja nie aufgehört, ihn zu
lieben. Das war das Seltsame an Familien: Man konnte sich zutiefst
hassen, aber ganz tief drinnen gab es unzerstörbare Bande. Ein
kleiner Teil sehnte sich immer zurück, ganz egal, wie sehr man
sonst alles ablehnte.
»Machst du die Bar heute früher auf?«, fragte
Lorraine, die auf Liesels Ruf hin herankam.
»Ja, so ungefähr«, grinste Liesel.
»Alles okay?«
»Ja.« Liesel nickte, aber ihr sonst so lächelnder
Mund war heute fest zusammengepresst.
»Ich weiß, das klingt trivial, aber die meisten
Dinge erledigen sich irgendwann von selbst.«
»Alex braucht diese Chance, seinen Vater neu
kennenzulernen«, sagte Liesel, die versuchte, alles mit Vernunft zu
betrachten.
»Ich meinte aber nicht Alex.« Lorraine sah sie
verlegen an und senkte dann die Stimme, als wollte sie nicht, dass
irgendjemand mithörte, was sie sagen wollte, obwohl nur sie, Liesel
und Kashia anwesend waren. »Tom arbeitet wieder voll in der
Praxis.«
»Oh, ja?« Gespielte Vernunft wurde von gespielter
Gleichgültigkeit ersetzt.
»Adrian sagte, er schiene nicht sehr
glücklich.«
»Dann sind es ja zwei, oder?« Kashia schürzte die
Lippen. »Er nicht verdienen glücklich sein. Er macht Liesel
trauig.«
»Ich schätze deine Freundschaft, Kashia, aber er
versucht bloß, das Richtige zu tun.«
»Und wer sagt, ob richtig, was er jetzt tut?
Richtig im Leben ist mit Person, die man liebt. Er liebt Liesel.
Ich kann das sehen, andere nicht. Meine Mama sagt, wenn ich in
England, Leute machen alles anders. Leute höflich, reden gut.
Benehmen sich richtig. Ich muss mich benehmen wie eine englische
Lady. Na, ich sagen: Scheiße! Du willst den Mann? Dann kämpfst du
für den Mann. Ist gutes polnisches Sprichwort. Ich dir beibringen,
Liesel Ellis. Wenn du ihn liebst, dann leih ihn
nicht aus.«
»Warum kommt mir alle Welt momentan mit
Sprichwörtern?«
»Ed«, lächelte Lorraine. »Der hat uns alle darauf
gespitzt.«
»Ed sagt, Schlüssel zu leben ist Offenheit.« Kashia
nickte. »Offenheit will Neues lernen. Wir lernen jeden Tag Neues.
Lorraine bringt mir Englisch bei, ich ihr polnische
Sprichwörter.«
»Du bringst mir ganz schlechtes Polnisch bei!«,
protestierte Lorraine, deren Augen aber vor heimlichem Spaß
glänzten.
»Ich dir gutes Polnisch beibringen!«, empörte
Kashia sich.
»Sie meinte nicht schlecht, sondern
unanständig.«
»Ach, ich verstehe.« Kashia nickte weise. »Das ist
großes Problem in Leben, wenn Dinge falsch übersetzt werden. Leute
streiten ohne Grund. Du musst sehen, dass alles klar ausgedrückt
ist, damit es auch verstanden wird. Du bist in Tierarzt Tom Spencer
verliebt.« Sie hob eine Hand, um nicht von Liesel unterbrochen zu
werden, die völlig vorhersehbar protestieren wollte. »Warum
abstreiten? Was nützt, wenn nicht die Wahrheit? Wenn er hundert
Prozent weiß, dass du ihn liebst, dann hat er vielleicht nicht
solche Probleme, zu sehen, was er tun will.«
»Er weiß doch, was ich für ihn empfinde«,
entgegnete Liesel schwach.
»Ah, du ihm also gesagt, dass du ihn liebst?«,
wollte Kashia wissen, wohl wissend, dass dies nicht der Fall
war.
Liesel konnte darauf keine Antwort geben.
»So. Ich alles gesagt.« Kashia nahm eine offene
Flasche Pinot Grigio aus dem Barkühlschrank und reichte sie Liesel
zusammen mit einem Glas. »Du nehmen Weinflasche und nachdenken, was
du tun musst, um wieder glücklich zu sein. Okay?«
Verwirrt ging Liesel mit der Weinflasche und dem
Glas nach draußen. Marilyn hatte geraten, abzuwarten. Kashia hatte
gemeint, sie solle losgehen und etwas tun. Tom selbst hatte sie um
Zeit gebeten, aber nicht genau gesagt, wie lange. Zeit wofür
eigentlich? Um das Richtige zu tun. Und was bedeutete das für ihn?
Alles in Ordnung zu bringen? Die Beziehung zu beenden? Sie wusste
es nicht. Sie wusste nur, dass sie genau getan hatte, was er von
ihr verlangt hatte. Sie lebte ihr Leben weiter und versuchte, nicht
allzu oft an ihn zu denken. Aber wenn sie jetzt darüber nachdachte,
merkte sie, dass sie das Gefühl hatte, ihr ganzes Leben wäre in der
Schwebe. Es war nicht besonders angenehm, so eingeklemmt zwischen
Daumen und Zeigefinger ihrer eigenen und seiner
Unentschiedenheit.
»Ich werde mich entscheiden«, sagte sie laut. »Ich
werde jetzt in diesem Augenblick eine Entscheidung treffen und mich
daran halten.« Aber sie brachte es nur zu der Entscheidung, es
nicht bei einem Glas Wein zu belassen, sondern auf den Felsbrocken
am Ende des Gartens zu sitzen und zuzusehen, wie die hereinkommende
Flut den Fluss randvoll füllte, während sie sich ihrerseits
randvoll mit Pinot Grigio füllte.
Doch diese Idee hatte schon jemand vor ihr gehabt.
Als sie unten im Garten ankam, saß Ed dort. Sein Gesicht wirkte
verkniffen, sein sonst so lächelnder Mund war bloß eine dünne
Linie.
»Du siehst genauso aus, wie ich mich fühle«, sagte
Liesel, suchte sich einen glatten Stein und setzte sich
ebenfalls.
Ed zuckte mit den Achseln und hielt seine Flasche
Wein hoch.
»Wenn du dich beschissen fühlst, dann hast du
Recht. Trinkst du einen mit mir? Wie du dir sicher denken kannst,
trinke ich nicht gerne alleine.«
»Ich auch nicht, aber heute hätte ich eine Ausnahme
gemacht.« Liesel lächelte trocken und zeigte ihm den eigenen
Vorrat. »Was treibt dich denn in den Suff?«
»Was denkst du?«
»Die Rückkehr des verlorenen Vaters?«
Ed nickte.
»Was denkst du gerade? Soll ich dir einen Zehner
für deine Gedanken zahlen?«
Das rief ein Lächeln hervor, aber kein
glückliches.
»Ich denke, dass es an der Zeit für mich ist,
weiterzuwandern.«
»Ernsthaft?«, fragte Liesel erschrocken. Ed nickte
verdrossen.
»Wegen Nick?«
»Wegen Nick und trotz Nick. Ich traue ihm nicht
über den Weg, Liesel.«
»Ich glaube, das gilt für uns alle.«
»Jedes Mal, wenn ich sein selbstgefälliges Grinsen
sehe, möchte ich ihm am liebsten eine reinhauen.«
»Damit kann ich mich gut identifizieren.« Liesel
nickte.
»Der Junge ist allerdings sein Sohn. Das kann
niemand abstreiten. Aber das Hauptproblem ist, dass ich gar nichts
dagegen habe. Ich begreife ja, warum Marilyn sich so verhält, und
momentan muss sie alles alleine herausfinden. Wenn ich hierbleibe,
mische ich mich sicher ein. Am liebsten würde ich ihn in einen ganz
kleinen Koffer packen und dorthin zurückschicken, woher er kam. Und
das ist nicht gerade konstruktiv oder hilfreich... daher denke ich,
ist es vielleicht besser, wenn ich mich verziehe.«
»Oh Gott, nein!«, rief Liesel. Schon der Gedanke
daran, dass Ed das Cornucopia verlassen
könnte, erschreckte sie. »Du kannst nicht fortgehen. Wir brauchen
dich hier, Ed. Das ist jetzt ebenso dein Zuhause wie unseres. Du
gehst nicht wirklich, oder? Versprich mir, dass du hierbleibst. Wir
brauchen dich. Eric braucht dich. Und was Alex betrifft...«
Ihre Worte kamen wild durcheinander heraus, aber
die Panik in Liesels Stimme beim bloßen Gedanken daran, dass er
fortgehen würde, war seltsamerweise genau das, was Ed jetzt hören
wollte.
»Willst du vielleicht sagen, dass du mich vermissen
würdest?«
»Sei nicht albern! Wir alle würden dich vermissen.
Du gehörst doch zur Familie. Wenn ich einen Bruder hätte, würde ich
ihn genau so wollen, wie du bist.«
»Danke, Liesel, das schätze ich sehr. Aber weißt du
was, ich denke, deine Schwester denkt ganz genau so.«
Liesel zog fragend die Brauen hoch. Einen Moment
lang sah Ed verschämt aus, aber dann fuhr er stirnrunzelnd fort:
»Ich muss gestehen, dass die Dinge komplizierter sind, als es
vielleicht den Anschein hat, denn... trotz meiner Abneigung
gegen Klischees liebe ich diesen Ausdruck: Ich habe Gefühle für
deine Schwester. Ich weiß, dass sie momentan keine Beziehung will,
und ehrlich gesagt weiß ich zwar, dass sie mich mag, aber ich weiß
nicht, ob sie mich genug mag, wenn du verstehst, was ich sagen
will...«
»Sag das nicht. Marilyn liebt dich wie verrückt.
Und ganz bestimmt nicht auf schwesterliche Art. Ihre Gefühle für
dich sind viel zu zärtlich, um irgendwas mit einem Bruder zu tun zu
haben.«
»Meinst du?«, fragte er aufmunternd.
»Ich bin absolut sicher«, sagte Liesel so
entschieden, dass er sie überrascht ansah.
»Woher weißt du das?«, fragte er besorgt. Er fragte
sich, ob ihre Sonntagmorgen-Vergnügungen doch nicht so geheim
geblieben waren.
»Marilyn mag Fische, aber sie isst sie nicht gern.
Daher weiß ich es. Sie hat nie auch nur ein einziges Filetstückchen
gegessen, seitdem sie sich in Brighton einmal den Magen daran
verdorben hat. Da war sie vierzehn, und es war eine Szene wie aus
dem Film Der Exorzist. Aber jetzt... nun,
du fängst sie, sie isst sie.«
»Vielleicht macht sie das für Alex.«
»Alex weiß, dass die einzige Meeresfrucht, die
seine Mutter jemals isst, Krabbencocktail ist.«
»Das hat er mir nie erzählt.«
»Er ist ja nicht blöd. Er dachte, wenn du wüsstest,
dass May keinen Fisch mag, würdest du nicht mehr so oft mit ihm
angeln gehen, und er ist so gerne mit dir zusammen, Ed.«
»Ich auch mit ihm.«
»Oh, ja, und noch etwas macht mich absolut sicher«,
sagte
Liesel, sah ihn von der Seite her an und unterdrückte ein
Lächeln.
»Und das wäre?«
»Die Wäscherei«, sagte sie und zwinkerte.
Ed riss erschrocken die Augen auf.
»Was weißt du über die Wäscherei?« »Was ich über
die Wäscherei weiß?«, grinste Lisel. »Da wird die Wäsche gemacht.
Mit meiner Schwester.«
»Liesel, bitte.« Ed vergrub das Gesicht in den
Händen, spähte aber verlegen durch die gespreizten Finger.
»Es stimmt doch. Außerdem freut es mich. Du bist
sehr gut für sie, Ed. Und Nick Hamilton ist sehr schlecht für sie.
Bitte, bitte bleib. Vielleicht ist momentan zwischen euch alles
nicht ganz klar, aber sie braucht dich. Und jetzt umso mehr, weil
er herumhängt wie ein verrotteter Fisch, der alles mit seinem
Gestank durchdringt. Lass dich nicht von ihm verdrängen.«
»Aber siehst du denn nicht, Liesel, dass er jedes
Recht hat, mich hinauszudrängen? Ich bin nicht der Vater von Alex,
und Marilyn und ich... nun, wir haben nicht gerade eine Beziehung,
oder?«
»Natürlich habt ihr das. Nur weil ihr nicht überall
herumerzählt, dass ihr zusammen seid - oder es nicht einmal
zueinander sagt -, bedeutet das nicht, dass ihr keine Beziehung
habt. Das Gleiche gilt für Alex. Nein, dein Sohn ist er nicht, aber
ich weiß hundertprozentig, dass er eure Freundschaft sehr schätzt,
und zwar viel mehr als die Beziehung zu seinem Vater.«
»Meinst du? Selbst jetzt?«
»Am ersten Abend zu McDonald’s, am zweiten zu Pizza Hut. Heute ist es KFC.
Das gefällt vielleicht Alex’ Magen, aber damit hat es sich auch.
Glaub mir, drei Abende mit Junk Food machen keine drei Jahre
Vernachlässigung wett. Nick
hat nicht bloß die Geburtstage und Weihnachtsfeste verpasst, er
hat verpasst, wie Alex zum ersten Mal Fahrrad ohne Stützräder fuhr.
Er hat nicht die ganze Nacht an seinem Bett gesessen, als er
Windpocken hatte, er hat verpasst, als er die ersten Schwimmtests
machte, die Goldsternchen in der Schule, die Zeugnisse, die
schlimmen Tage und die guten, Ferien, Schulaufführungen,
Sportfeste...«
»Sportfest ist nächste Woche.«
»Siehst du, du weißt das. Nick aber nicht.« Liesel
hakte sich bei Ed unter und sah ihn ernst an. »Glaubwürdigkeit ist
wie die Unschuld...«, sagte sie dann.
»Man kann sie nur einmal verlieren«, ergänzte
er.
»Und Nick hat sie schon lange verloren. Aber du, du
bist zu Alex und zu uns allen immer nur gut gewesen. Willst du
wirklich fort? Willst du uns wirklich verlassen?«
Ed schüttelte den Kopf
»Nein, aber ich will es Alex nicht so schwer
machen.«
»Verstehst du das denn nicht?«, flehte sie ihn an.
»Du machst es ihm doch nur schwer, wenn du fortgehst.«
Ed schwieg einen Moment lang und atmetete dann tief
aus. Es war, als würde er verächtlich über seine eigene Dummheit
schnauben.
»Du hast Recht, völlig Recht. Wenn ich jetzt
verschwände, würde das Alex nur verletzen. Warum konnte ich das
nicht selbst erkennen?«
Liesel lachte kurz auf. »Es ist immer viel
einfacher, Lösungen für andere zu finden als für die eigenen
Probleme.«
Ed sah sie an. Liesel hatte normalerweise etwas
Strahlendes an sich, wie ein kleiner heller Stern. Aber dieses
Strahlen hatte sie verloren.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Lorraine hat mich das auch schon gefragt.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ich habe ja gesagt...« Sie blinzelte ihn an. »Das
war aber gelogen.«
Sie hatte den Arm immer noch unter seinem Ellbogen,
daher nahm er jetzt ihre Hand. Sie war kalt und sehr leicht.
»Kann ich dir jetzt einen Rat geben?«
»Ja, bitte.«
»Du weißt nicht, was aus der Sache mit Tom wird,
denn du machst dir Sorgen, dass er dich sehr verletzen könnte. Ich
sehe das so: Wenn du nichts tust, tust du dir selbst weh.«
Sie nickte.
»Was willst du von ihm, Liesel?«
Liesel dachte einen Moment lang nach.
»Ganz ehrlich? Ich möchte, dass er mit Caroline
Schluss macht und mich dann sucht, mich aus meinem Turm rettet,
sich mir zu Füßen wirft und seine unsterbliche, ewige Liebe
erklärt.« Dabei lächelte sie ironisch, doch ihre Worte klangen sehr
ehrlich.
»Und du rechnest damit, dass er das alles ganz
alleine fertig bringt, während du nur hier sitzt und darauf
wartest? Warum müssen Männer immer die Helden spielen, Liesel?
Vielleicht ist es Zeit, dass dieser Mann gerettet wird...«
Die Sonne versank langsam hinter den Bergen, als
Nick den großen Mietwagen langsam die Einfahrt zum Cornucopia hinabfuhr.
Für Marilyn auf dem Beifahrersitz war es gut,
hierher zurückzukehren, denn es war momentan ihre Welt. Die letzten
drei Tage waren in vieler Hinsicht sehr schwierig gewesen, sowohl
im praktischen wie im emotionalen Sinne.
Die Entscheidung, dass Nick seinen Sohn sehen
konnte, hatte sie alleine treffen müssen. Doch am schwersten war es
gewesen, Alex zu überreden, Nick zu sehen. Nach einer Weile hatte
er die Überlegungen der Mutter akzeptiert, er hätte jetzt eine
Gelegenheit, Nick neu kennenzulernen. Vielleicht würde er es
bereuen, wenn er sich weigerte.
Am ersten Abend hatte er sich eine halbe Stunde
unter seinem Superman-Cape versteckt, bis Marilyn ihn mit einem
Erdbeermilchshake hervorlocken konnte. Danach hatte er Nick den
Rest des Abends nur angestarrt, sich aber geweigert, mit ihm zu
reden.
Als sie zum Cornucopia
zurückkamen, war sein einziger Kommentar, er fände, er sehe seinem
Vater überhaupt nicht ähnlich und ob Marilyn sicher sei, dass Nick
auch wirklich sein Vater sei. Marilyn hatte nicht gewusst, ob sie
lachen oder weinen sollte, bis Liesel die Lage rettete, indem sie
meinte, Alex sehe überhaupt eher wie Godrich aus, und ob Godrich
vielleicht sein Bruder sei?
Am zweiten Abend hatte Marilyn völlig verblüfft mit
ansehen müssen, wie Alex mitten im Pizza
Hut in Truro einen Tobsuchtsanfall bekam. Den letzten Anfall
hatte er mit vier gehabt. Sie sah fassungslos zu, wie er seine
Pizza auf den Boden warf und sich dann auf dem Klo einschloss. Aber
Nick hatte absolut richtig reagiert. »Er testet mich bloß aus«,
hatte er gesagt, ehe er den Jungen wieder aus seiner Kabine
herauslockte und ihm eine neue Pizza bestellte.
Heute Abend war Alex wieder fast der Alte gewesen.
Er hatte sogar mit Nick geredet und ihm Fagen gestellt, wie es in
Australien sei. Besonders hatte er sich dafür interessiert, ob Nick
jemals ein Känguru überfahren hätte, denn Ed hatte ihm erzählt,
dass Kängurus viele Verkehrsunfälle verursachten.
Nick hatte geantwortet, Alex könne ja bald mal selbst ein Känguru
sehen, und Marilyns Herz hatte einen Sprung getan wie ein
Betrunkener, der auf die Straße wankt, weil ihr klarwurde, dass
Nick nun wieder an Alex’ Leben teilhaben würde. Er würde nach
Australien zurückkehren, so viel wusste sie. Er hatte nicht vor, in
England zu bleiben, und das bedeutete, dass er Alex irgendwann zu
sich einladen würde. Sie sah endlose Sommer vor sich ohne ihn,
Visionen, wie sie ihm am Flughafen nachwinkte. Fast hätte sie
selbst mitten im KFC einen Tobsuchtsanfall
bekommen, hätte um ein Haar die Fritten auf den Boden geworfen und
Nick ein Hühnerbein ins Ohr gebohrt.
Alex war ausgestiegen, noch ehe der Wagen zum
Stillstand gekommen war. Godrich wartete im Eingang auf ihn, und
die beiden begrüßten sich so freudig, als wären sie Monate getrennt
gewesen und nicht bloß ein paar Stunden. Dann pisste Godrich
ausgiebig an einen Vorderreifen, ehe sie beide rennend im Garten
verschwanden.
Marilyn war dankbar für die Szene, lachte leise und
suchte ihre Tasche, um zu gehen, doch als sie nach der Türklinke
griff, fasste Nick sie beim Ellbogen.
»Noch einen Moment.«
»Ja?«
»Ich habe deine Miene gesehen, als ich sagte, dass
Alex bald mal nach Australien kommen soll.«
»Ich würde ihn vermissen«, sagte Marilyn mit leicht
brüchiger Stimme. »Aber es ist ja noch nichts geplant«, fuhr sie
dann entschieden fort.
»Klar, aber es wird passieren, nicht wahr, wenn
alles klappt. Ich denke, ich weiß, wie es dir dabei geht.«
»Wie ich schon sagte, ich würde ihn
vermissen.«
»Das weiß ich... aber das ist vielleicht nicht
nötig.«
»Was willst du damit sagen? Dass du zurück nach
England kommst?«
Nick schüttelte den Kopf
»Ich will sagen, verkauf das Hotel und komm mit mir
nach Australien.«
Marilyn blinzelte ihn überrascht an.
»Du machst Witze, oder?«
»Ich meine das völlig ernst, Marilyn. Es macht doch
Sinn.«
»Für dich vielleicht, aber ich finde das
lächerlich.«
»Wir hatten es einmal schön miteinander.«
»Bogart und Bacall auch, aber das heißt nicht, dass
wir sie ausgraben und mit ihren Knochen spielen wollen.«
Ed hätte darüber gelacht, aber Nick... sah sie bloß
stirnrunzelnd an.
»Du hast dich immer schon so verdammt unklar
ausgedrückt.«
»Komisch. Liesel findet, dass ich der direkteste
Mensch bin, den sie kennt.«
»Oh, immer nur Liesel, nicht wahr?«
»Wie sehr du sie hasst! Wie konntest du sie nur so
ablehnen? Sie ist meine Schwester.«
»Und du warst meine Frau.«
»Schade, dass dir das nicht so klar war, als du
Samantha begegnet bist.«
Zu ihrer Überraschung konterte er das nicht,
sondern senkte beschämt den Kopf
Beschämt.
»Es tut mir leid, dass ich dich verletzt
habe.«
»Das ist leicht gesagt.«
»Ich meine das aber ernst.«
»Ich glaube dir aber nicht. Du kommst her und
sagst, du willst alles wiedergutmachen, und nachdem du deinen Sohn
drei Mal gesehen hast, planst du gleich die große
Familienversöhnung. Du sagst, du hättest dich verändert, aber du
hast dich überhaupt nicht geändert, wenn du dir so was vorstellen
kannst. Erwartest du ernsthaft nach sechs Stunden Kontakt, dass
Alex und ich unser Leben hier aufgeben und um die halbe Welt
reisen, nur um mit dir zusammen zu sein?«
»Nein, das hatte ich nicht erwartet.« Er ließ ihren
Arm los und sah sie dann mit gesenktem Kopf durch die dichten
Wimpern hindurch an. »Aber ist es denn so schlimm von mir, das zu
hoffen? Vielleicht bin ich erst seit drei Tagen hier, aber ich
vermisse dich schon viel länger. Es hat keinen einzigen Tag
gegeben, an dem ich meine Entscheidung nicht bereut hätte. Es war
die falsche Entscheidung, Marilyn. Alles.« Sein Blick spiegelte
reine Reue. »Okay, dich wiederzusehen und mit dir zusammen zu sein
macht mich ein bisschen nostalgisch, ein wenig zu hoffnungsvoll,
denn wir sind ja tot und begraben, wie du sagtest. Doch kannst du
nicht mit Alex nach Australien kommen? Es war immer schon dein
Traum, weißt du noch?«
Marilyn nickte.
»Du schuftest dich an einem Hotel ab, das ebenso
viele Zimmer belegt hat wie die Mary
Celeste, und nur, weil du dir für Alex ein besseres Leben
erhoffst. Stell dir mal vor, was für ein Leben du in Australien
haben könntest? Er würde es toll finden. Du findest es hier
großartig, aber es ist nichts im Vergleich mit drüben. Die Sonne,
das Meer, die Strände. Das Leben ist so viel billiger. Die Schulen
sind gut. Du könntest sogar dein eigenes Studium dort fortsetzen.
Und das Beste
wäre, dass Alex seinen Vater und seine Mutter zusammen hätte.
Welches Kind würde sich das nicht wünschen, eh? Ich weiß, du kannst
dir das im Moment nicht vorstellen, und das sehe ich ein - ich an
deiner Stelle würde mich auch hassen -, aber ich weiß, dass ich
Fehler gemacht habe, und will ja nur die Chance, es
wiedergutzumachen. Ich will Alex alles geben, was er versäumt hat,
weil ich nicht da war. Vielleicht können wir eines Tages wieder
Freunde sein, vielleicht sogar mehr... vielleicht könnten wir es
nochmal zusammen probieren...«
»Wir? Wir beide?«
Der Gedanke reizte sie und stieß sie zugleich ab.
Sie und Nick zusammen? Aber noch ehe sie diese bizarre Idee auch
nur überdenken konnte, redete er schon weiter.
»Du bist eine fantastische Mutter, May. Alex ist
sein ganzes Leben lang das Wichtigste für dich gewesen. Hör jetzt
nicht damit auf Denk an ihn, denk daran, was ihn glücklich machen
würde. Was ist das hier für ein Leben, wenn du rund um die Uhr
schuftest? Verkauf den Laden, nimm das Geld. Ihr könnt von dem
Erlös drüben wie Könige leben. Du könntest dich ganz auf ihn
konzentrieren statt auf diesen Schutthaufen mit der ganzen
Verantwortung. Du könntest sogar eine noch bessere Mutter sein, als
du jetzt schon bist, und mir dazu die Chance geben, ein Vater zu
sein. Lass mich wieder für meinen Sohn da sein, Marilyn. Bitte. Du
brauchst mir jetzt keine Antwort zu geben, nur versprich mir, dass
du darüber nachdenkst.«