11
Es war Montagmorgen, und eine schrecklich verkaterte Liesel stand mit einer sorgenvollen Marilyn und Alex in der Eingangshalle.
»Alex? Ach, komm schon, wir haben das doch alles gestern Abend besprochen«, bettelte Marilyn.
Da durchquerte Kashia die Halle, einen vollen Milchkrug für die Frühstücksflocken im Speisesaal in der Hand.
»Gibt es Problem?«
»In der Schule muss man eine Uniform tragen.« Marilyn deutete mit dem Kopf auf ihren Sohn. Keine weitere Erklärung war nötig. Alex stand da in seinem Superman-Kostüm und hatte resolut die Arme vor der Brust verschränkt. Marilyn hatte eine graue Hose und ein Hemd in der Hand, Liesel eine Krawatte und einen Blazer.
»Ach so.« Kashia setzte vorsichtig den Krug auf einen Beistelltisch, ging zu Alex, bückte sich und sah ihm in die Augen.
»Du bist Superman, ja?«, fragte sie leise.
Alex nickte. Seine Augen waren feucht von ungeweinten Tränen.
»Das heißt, du bist auch Clark Kent?«
Darüber musste Alex einen Moment nachdenken, doch dann nickte er schließlich.
»Also, Clark Kent, er trägt glänzende Superman-Hose unter Anzug, nein? Dann kann keiner sehen, wer er ist, aber er immer noch tragen, okay?«
Marilyn und Liesel tauschten einen verblüfften Blick aus. Nachdem Alex eine Weile angestrengt nachgedacht hatte, sah er Kashia wieder an und nickte, diesmal aber entschiedener. Dann schniefte er ausgiebig alle ungeweinten Tränen fort, nahm ruhig die Uniform aus den Händen seiner Mutter und Tante und begann sie anzuziehen.
Über das Superman-Kostüm.
Dann lächelte er. Strahlend.
Kashia erwiderte das Lächeln und ging zurück zu ihrer Milch.
 
Am nächsten Tag brachte Kashia eine Tube Haargel mit.
»Für Superman glatte Haare«, sagte sie zu Alex. »Hilft bei verkleiden.«
Am nächsten Tag brachte sie ihm einen Superman-Stift und ein Heft mit.
»Superman Top-Reporter, nein? Du gut zuhören in Englisch, vielleicht du auch eines Tages.«
Am Freitag beschloss Alex sogar, er könnte die Schule auch ohne sein Cape überstehen. Marilyn war sehr froh.
»Jetzt sieht er nicht mehr so aus wie das Kind vom Glöckner von Notre Dame«, sagte sie fröhlich zu Liesel. »Kashia sei es gedankt.«
 
Am Samstag hatte Liesel genügend Rückmeldungen für die Weinprobe, dass sie sich ganz entspannt darauf freuen konnte.
Obwohl es ein warmer Sommerabend war, bestand sie darauf, den Kamin anzuheizen, weil sie fand, das würde zu der Atmosphäre beitragen, die sie im Sinn hatte.
»Elegant, dabei geht es bei einer Weinprobe«, sagte sie zu Marilyn und polierte eifrig die neuen Weingläser, die der nette, aber absurd junge Vertreter der Brauerei vorbeigebracht hatte. Er hatte auch den Wein abgeliefert und sich selbst als Sommelier vorgestellt. Da er viel zu früh da war, spielte er gerade mit Alex in dessen Zimmer Computerspiele.
»In Eleganz sind wir gut. Wir können nämlich alles, wenn wir es uns nur fest vornehmen, du weißt schon. Aber wir brauchen noch mehr Knabberzeug«, meinte Liesel und klaute ein Gürkchen von dem Tisch beim Fenster, auf dem Eric die Leckerbissen aufgereiht hatte. »Wir haben einen schönen Stilton-Käse, den könnte ich aufschneiden und mit Crackern servieren.«
»Ja, aber weißt du, wie viel uns dieser wunderbare große Stilton-Käse gekostet hat?«
»Es ist die Sache wert. Stilton ist sehr salzig. Dann trinken die Leute mehr.«
»Wollen wir denn, dass die Leute mehr trinken?«
»Natürlich. Die Weinprobe ist umsonst.« Liesel deutete auf die Reihe von Flaschen auf dem Tisch. »Aber wenn man ein volles Glas möchte, muss man bezahlen.«
»Ach so, das ist also eine Übung in Geldverdienen, nicht bloß eine Party, um unsere geliebte, aber etwas zurückgebliebene Management-Assistentin mit einem Tierarzt zu verkuppeln, der zwar einer Kuh die Hand in den Arsch schieben kann, aber nicht die Nerven hat, ein Mädchen um ein Date zu bitten?«
»Dieser Abend ist nicht nur zum Vorteil für Lorraine, sondern auch für unseren Umsatz.«
»Kluges Kind.«
»Glaub mir, noch ehe der Abend zu Ende ist, sind die beiden verlobt.«
 
Auf den Einladungen hatte gestanden, dass die Weinprobe um acht begann, daher drängten sie die vier Hausgäste sanft mit dem Versprechen durch ein etwas früheres Abendessen, anschließend freie Getränke zu servieren. Um halb acht trafen sie sich wieder in der Halle.
Liesel hatte die schwarze Hose gegen ein kleines schwarzes Kleid eingetauscht, das sie für drei Pfund bei eBay erstanden hatte. Sie sah umwerfend darin aus, und Marilyn fragte sich, ob sie vielleicht heimlich hoffte, dass heute Abend mehr als nur ein Tierarzt auftauchte.
Doch als Adrian Lee pünktlich um acht Uhr erschien, war er zwar nicht alleine, aber sein Begleiter war nicht Tom Spencer, sondern der dritte Partner des Trios, Jonathan Childs.
Childs war nicht wie erwartet zweiundsiebzig und humpelte auch nicht. Er war Mitte fünfzig und recht gut aussehend, Typ Nachrichtensprecher, mit drahtigen Haaren und einem Sportjackett. Doch sein Erscheinen machte das Fehlen des dritten Tierarztes gewissermaßen noch auffallender.
»Ich frage mich, warum er nicht gekommen ist. Adrian hat es offensichtlich weitererzählt. Das Mädchen da drüben ist eine der Sprechstundenhilfen in seiner Praxis«, sagte Liesel.
»Bist du enttäuscht?«, fragte Marilyn.
»Das hier ist für Lorraine, nicht für mich.«
»Ich weiß, aber es wäre auch schön, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.«
»Kann ja noch kommen.« Liesel deutete auf Jonathan Childs. »Für einen älteren Mann ist er sehr attraktiv.«
»Und angeblich verheiratet mit drei Kindern und fünf Enkelkindern.«
»Verdammt. Dann muss ich weiterhin mit meiner hoffnungslosen Lust nach seinem abwesenden Partner leben, eh?«
»Du gibst es also zu, dass du Lust auf ihn hast?«
»Habe ich das jemals abgestritten? Aber nur, weil ich unheimlich auf Bono stehe, heißt das noch lange nicht, dass ich den nächsten Flug nach Dublin buche und ihm mein Spitzenhöschen anbiete. Nein, heute Abend versuchen wir, Lorraines Liebesleben ein bisschen anzuheizen, nicht meins.«
Kashia vertrat Liesel an der Bar. Lorraine, die sich am liebsten hinter dem Porzellan beim Servieren versteckt hätte, reichte die Knabbereien herum.
»Es ist eine Schande, dass sie den ganzen Abend schon versucht, ihn zu vermeiden, nicht wahr?«, bemerkte Marilyn, als Lorraine zum wiederholten Mal einen Halbkreis um den Tisch zog und dabei den Teil, wo Adrian Lee stand, völlig ausklammerte.
Liesel winkte sie zu sich.
»Ich glaube, Adrian sieht hungrig aus, oder?« Dabei legte sie Lorraine sanft eine Hand ins Kreuz und schob sie in seine Richtung. Lorraine schien sich dabei aber zu schnell zu bewegen, schoss an ihm vorbei und warf ihm geradezu ein Käsebällchen zu, ehe sie sich in der Küche hinter Eric versteckte.
Liesel sah seufzend auf die Uhr.
»Er ist jetzt schon eine ganze Stunde hier, und sie hat ihn nicht einmal begrüßt. Er wird bald wieder verschwinden, wenn sie sich nicht endlich zusammenreißt. Dann wäre der ganze Abend eine völlige Zeitverschwendung.«
»Halt du ihn hier. Ich versuche, sie aus der Küche zu locken«, schlug Marilyn vor.
»Wenn ich noch weiter mit ihm plaudere, denkt er, ich bin es, die sich für ihn interessiert, und dann wird alles furchtbar kompliziert. Warum packt sie nicht einfach den Stier bei den Hörnern und redet mit dem Typen?«
»Wir wissen nicht ganz genau, ob Adrian Lee ungebunden ist.«
»Oh doch.«
»Wirklich?«
»Ja, ich habe mich eine halbe Stunde mit dem Mann unterhalten. Ich glaube, ich weiß alles über ihn, von seinen Innenbeinmaßen bis zum schlimmsten Albtraum seiner Kindheit. Ich weiß auch, dass er sie sehr nett findet.«
»Das weißt du sicher?«
Liesel nickte.
»Du hast ihn wohl gefragt?«
Wieder nickte sie.
»Ganz direkt?«
»Na ja.«
»So subtil wie eine Fußballerfrau im Pelzmantel bei einer Party der Tierfreunde?«
»Ich spiele doch bloß Amor.«
»Amor in einem Panzerwagen.«
»Sie sind beide schüchtern, sie brauchen Hilfe, und mit Diskretion kommt man da nicht weit. Immerhin sitzt mein Herz am rechten Fleck.«
»Dein Herz sitzt momentan in Tom Spencers Boxershorts, was heißt, dass dein Verstand durch Hormone umwölkt ist. Du verweigerst dir die Chance auf eine Liebesbeziehung, weil du einen albernen Pakt mit dir selbst geschlossen hast, und überkompensierst das, indem du Lorraine verkuppelst.«
»Was sagst du da?«
»Genau das, was du zu Lorraine gesagt hast. Du magst ihn doch, Liesel. Warum versuchst du nicht herauszubekommen, ob an der Sache mehr dran ist?«
»Das ist wirklich leicht zu rechtfertigen, nicht wahr?«
Einen Moment lang starrten sie einander an, ehe Liesel nachgab, die Hände in die Luft warf und sagte: »Okay, ich verspreche dir, ich werfe mich Tom Spencer an den Hals, wenn ich ihn das nächste Mal sehe, wenn du nur Adrian lange genug fesselst, bis ich Lorraine aus der Küche gelotst habe, damit sie mit ihm redet.«
»Abgemacht.« Marilyn streckte ihr die Hand hin, und Liesel schlug ein.
»Ich verlange allerdings nicht von dir, dass du dich jemandem an den Hals wirfst, ich bitte dich bloß, etwas zu akzeptieren.«
»Also tu nichts, was ich tue, sondern nur, was ich dir sage?«
»Genau. Als deine ältere Schwester betrachte ich es als meine pädagogische Aufgabe. Jetzt geh und hol Lorraine aus der Küche.«
»Jawoll!«, salutierte Liesel.
 
Lorraine war alles so peinlich, dass sie sich praktisch auf dem Regal in der Speisekammer versteckt hatte, als Liesel sie suchte. Technisch gesehen hatte Lorraine heute Abend Dienst, daher konnte Liesel sie beauftragen, in den Speisesaal zu gehen. Sie wusste auch, dass Lorraine folgen würde. Aber das war nicht Liesels Stil. Stattdessen setzte sie sich neben Lorraine auf einen dicken Sack Mehl, nahm einen Moment lang ihre kalte Hand und drückte sie beruhigend, ehe sie sie wieder losließ.
»Du weißt, dass wir das heute Abend arrangiert haben, nicht wahr?«, fragte sie, weil sie beschlossen hatte, dass Ehrlichkeit wohl am besten wäre.
Lorraine nickte. Ihre Unterlippe begann zu zittern.
»Habe ich etwas falsch gemacht? Warst du nicht scharf darauf, mit jemandem zusammengebracht zu werden?«
Immer noch Schweigen.
»Es tut mir wirklich leid. Ich hätte das besser gelassen...« Liesel war plötzlich völlig schuldbewusst, doch dann sagte Lorraine endlich etwas.
»Bitte, keine Ursache. Ich bin es, die sich entschuldigen sollte. Ihr habt euch große Mühe gegeben... nur für mich. Das hat noch niemals jemand...« Dabei brach ihre Stimme, und Liesel sah, wie sie sich zusammenreißen musste, ehe sie fortfuhr: »Niemand hat sich je genug Gedanken um mich gemacht, um so was zu tun. Ich bin bloß so... so...«
»Ist das alles ein bisschen zu viel für dich?«
»Ja.«
»Aber du magst Adrian gern?«
»Ja.«
»Und du hättest auch gerne eine Beziehung?«
Lorraine nickte langsam. »Ich würde furchtbar gerne mit jemandem zusammen sein. Ich bin immer nur allein gewesen. Ich will nicht behaupten, dass mich noch nie jemand geküsst hat, aber... es war noch nie romantisch. Eine Beziehung. Ein Freund.« Das letzte Wort wurde fast geflüstert. »Es macht mir aber Angst. Warum sollte mich jemand wollen? Wenn ich bloß so wäre wie du...«
»Wie ich?«, rief Liesel überrascht. »Wie ich willst du nicht sein. Alle Typen, mit denen ich jemals verabredet war, haben mich sitzen gelassen. Absolut jeder. Und wir reden hier nicht nur von einer Hand voll, wir reden hier von Dutzenden. Ich bin in Sachen Beziehungen eine völlige Versagerin, Lol, eine absolute Niete. Ich suche mir die schrecklichsten Männer aus, und du... nun, da du den armen Kerl ja völlig ignoriert hast, musste ich den ganzen Abend mit Adrian reden. Glaub mir, er ist ein sehr netter Typ. Da hast du dir einen Guten ausgesucht, Lorraine... und was das betrifft, dass niemand dich will, nun, er will dich.«
»Glaubst du das wirklich?« Die Hoffnung in Lorraines Blick war herzzerreißend.
»Ich weiß es, und du magst ihn auch, nicht wahr? Es ist nicht so, dass ich einfach bloß manisch bin.«
Lorraine lächelte so süß, wie Liesel es noch nie gesehen hatte, denn normalerweise sah sie immer nur besorgt aus.
»Er ist so lieb«, murmelte sie.
»Dann verabreden wir jetzt etwas. Wir sind zusammen ganz mutig, ja? Wenn du das heute Abend schaffst, dir einfach einen Ruck zu geben, dann helfe ich dir dabei. Dafür hilfst du mir, auch einen so guten Mann zu finden. Was meinst du?« Sie streckte eine Hand aus.
Lorraine zögerte einen Sekundenbruchteil, ehe sich ihr sanftes, leicht besorgtes Lächeln in ein entschiedenes verwandelte. Sie nickte und schlug ein.
»Okay«, sagte sie und atmete tief aus.
»Großartig. Dann komm jetzt aus der Speisekammer und geh hinaus.«
Lorraine nickte.
»Und lass das Bedienen. Misch dich einfach unter die Gäste.«
Wieder nickte Lorraine, aber nicht ganz so entschieden.
»Mit mir zusammen. Nicht alleine. Ich bleibe direkt neben dir. Die ganze Zeit.«
»Okay.«
»Also los. Auf die Romanze!«
 
Liesel spielte zwanzig Minuten lang das fünfte Rad am Wagen, doch dann kamen Jimmy und David. Lorraine schien sich inzwischen in Adrians Gesellschaft so wohlzufühlen, dass Liesel sie beruhigt allein lassen konnte, um die beiden neuen Freunde zu begrüßen.
Wie versprochen brachten sie weitere Gäste mit, eine fröhliche zehnköpfige Gesellschaft, die alle wie sie waren: freundlich, lustig und mit überschwenglichen Komplimenten für sie.
»Fantastischer Abend... Ihre süße Schwester... Sie sollten das öfter machen... wunderbarer Wein... das Haus sieht toll aus... das Essen ist fantastisch... seht doch mal den Blick...«
Sie schienen jedermann zu kennen, sogar die beiden Paare, die im Hotel wohnten. Bald schon plauderte jeder mit jedem. Dann schlug Jimmy vor, Musik zu spielen und zu tanzen, und da der reichlich fließende Wein die restliche Reserviertheit genommen hatte, war bald eine richtiggehende Party in vollem Schwung.
Jimmy übernahm sogar Liesels Rolle als Amor und trat zu der Gruppe um Adrian und Lorraine. Er bezauberte sie so wirksam, dass Adrian Lorraine schließlich um eine Verabredung bat.
»Nächste Woche ist ein Abendessen mit Tanz für alle Tierärzte, und er hat mich gebeten, ihn dorthin zu begleiten«, sang Lorraine, nachdem sie praktisch auf Liesel zugetanzt war.
»Sie sind ein Star!« Liesel gratulierte Jimmy, denn sie hatte mitbekommen, mit welcher Leichtigkeit er die Unterhaltung auf Wege geleitet hatte, die dieses Wunder ermöglicht hatten.
»Ich bin die Wiedergeburt von Fred Astaire.« Er hielt ihr den Arm hin. »Würden Sie einen Foxtrott mit mir tanzen?«
Glücklicherweise wechselte die Musik zu etwas Leichterem. Jimmy führte Liesel in einen langsamen Walzer, ehe die Musik wieder schneller wurde.
»Sie haben es also geschafft«, lobte er sie, als sie leichtfüßig eine Rumba begannen. »Ist Ihnen aufgefallen, dass das junge Paar sich gerade nach draußen in den Mondschein verdrückt hat?«
»Wirklich?« Liesel strahlte vor Freude und reckte den Hals, um durch die tanzenden, fröhlichen Paare hindurch zur Terrasse zu blicken. »Dieser Abend hat sich so viel besser entwickelt, als ich erwartet hatte.«
Doch als die Musik wieder schneller wurde, tanzte Mrs. Milner, die dem südafrikanischen Pinotage ein wenig zu begeistert zugesprochen hatte, im Cha-Cha-Cha-Schritt rückwärts auf den Beistelltisch mit zahlreichen leeren Flaschen zu. Der leichte Tisch seufzte dankbar für die Gelegenheit, endlich den Geist aufgeben zu dürfen, und brach zusammen. Liesel sprang vor, um Sonny, den jungen Sommelier, aus dem Weg zu stoßen, und verschwand unter der Lawine von Flaschen, Gläsern, dem Tischtuch und Blumen.
Einen Moment lang herrschte besorgte Stille im Raum, doch dann stürzte Marilyn sich auf den Haufen, dicht gefolgt von Eric und Kashia.
»Liesel, alles in Ordnung?«
Liesel richtete sich auf, schüttelte die Kartoffelchips aus den Haaren und streckte der Schwester die Hand hin. In ihrem Daumen steckte eine Glasscherbe von der Größe einer Münze.
»Ist vielleicht ein Arzt hier?«, scherzte Liesel kläglich. Ihr Gesicht war so weiß wie das Tischtuch, das sie noch halb bedeckte.
Marilyn unterdrückte einen Schrei, aber Kashia blieb ganz still. Dann brachte eine ruhige Stimme das ausbrechende Chaos zum Schweigen.
»Nein, aber tut es auch ein Tierarzt?«
Leider musste Liesel die Augen schließen, als Tom die Glasscherbe geschickt mit einer Pinzette entfernte. Sie freute sich derart, ihn zu sehen, dass die Schmetterlinge in der Magengrube schlimmer waren als der pulsierende Schmerz im Daumen. Eigentlich wollte sie ihn bloß ansehen, lange und ausgiebig ansehen, um herauszufinden, warum sie sich so komisch fühlte.
Sie waren im Badezimmer im Turm, nur sie beide.
Ärzte waren keine im Haus gewesen, und von den dreiTierärzten waren zwei betrunken, der eine vom Wein, der andere von der Liebe. Da Tom gerade erst angekommen war, war er als Einziger nüchtern genug, um die Scherbe zu entfernen.
»Soooo«, sagte er, während er mit äußerster Konzentration das Glas herauszog und in den Spülstein legte. Dann bedeckte er die Schnittwunde mit einem Wattebausch, den er in Alkohol getränkt hatte.
»Entschuldigen Sie«, murmelte er, als Liesel dabei zusammenzuckte. »Es müsste eigentlich genäht werden. Trauen Sie mir das zu, oder sollen wir Sie lieber zum Notarzt bringen?«
»Es wäre gut, wenn Sie es machten, aber ich warne Sie, ich kann Nadeln nicht ausstehen.«
»Dann schließen Sie wieder die Augen.«
Liesel schloss gehorsam die Augen und wünschte sich, so mutig zu sein, dass sie sie öffnen und ihn weiterhin ansehen konnte. Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, welche Farbe seine Augen hatten.
»Ich werde es jetzt mit einem antiseptischen Spray örtlich betäuben, aber es brennt beim Nähen vermutlich trotzdem. Ich brauche bloß zwei Stiche zu setzen, was gut ist, denn es dauert nicht lange.«
Dann verstummte er und trat einen Schritt zurück. Erst da merkte Liesel, dass er tatsächlich ihren Daumen beim Reden vernäht hatte, ohne dass sie das Geringste gemerkt hatte.
»Wow, Sie sind aber geschickt!«, rief sie. Seine Augen waren tief goldbraun.
»Das macht die Übung. In ein paar Jahren kann ich vermutlich auch Vorhänge zusammennähen.«
»Haben Sie jemals überlegt, Arzt zu werden?«, fragte sie nun, sah auf seinen lächelnden Mund und überlegte, ob man ihn wohl überreden konnte, den Daumen wieder gesund zu küssen.
»Ist mir ehrlich gesagt nie in den Sinn gekommen. Ich liebe Tiere.«
»Ich auch«, antwortete Liesel aufrichtig. »Die Ausbildung zum Tierarzt dauert vermutlich länger - all die verschiedenen Arten... nun... wir Menschen haben ja alles an der gleichen Stelle... natürlich sind die Geschlechter unterschiedlich... aber, ach... Sie wissen schon, was ich meine.«
Er hielt beim Bandagieren inne und lächelte sie an. Dieses Lächeln brachte sie wirksamer zum Schweigen als alle Worte.
Seine Augen waren nämlich eigentlich grün.
Er vollendete den Verband schweigend, während Liesel die Luft so lange anhielt, bis ihr fast schwindlig wurde. Wenn sie ohnmächtig wurde, würde er vielleicht Mund-zu-Mund-Beatmung machen? Was für eine gute Idee. Oh, Gott, sie musste damit aufhören. Er half ihr ja bloß, ob er sie nun gesund küsste oder ihr einen Wiederbelebungskuss gab oder ganz schlicht einen Kuss, der das Vorspiel zu atemberaubendem Sex war... allerdings stand all dies nicht auf dem Plan.
»So, fertig«, sagte er, steckte das lose Ende in den Verband und trat zurück.
»Danke.«
»Achten Sie darauf, ob es rot oder heiß wird oder juckt. Dann gehen Sie zum Arzt. Okay?«
»Okay.«
»Na, die Party ist vermutlich bald vorbei.«
Sie nickte. »Man kann nur schwer weiter Wein probieren, wenn das meiste schon auf dem Teppich ist.«
»Wussten Sie, dass Adrian normalerweise keinen Wein trinkt?«
»Dann muss er Lorraine sehr mögen.«
»Er hat seit dem letzten Wochenende ununterbrochen von ihr geredet.«
»Ehrlich?«, fragte Liesel entzückt.
»Hat mich gebeten, heute Abend vorbeizukommen, um ihn ein bisschen zu unterstützen, aber es sah nicht so aus, als ob er das bräuchte. Als ich ankam, waren sie beide draußen und starrten den Mond an.«
»Haben sie geredet?«, fragte Liesel. »Sich geküsst?« Ihre Stimme klang voller Hoffnung.
»Nein, bloß gestarrt. Ich dachte fast, sie würden jeden Moment anfangen zu heulen«, scherzte er. Dann blickte er auf seine Uhr. »Na, ich gehe besser zurück in die Praxis. Ich habe immer noch Notdienst.«
»Danke, dass Sie mich so gut versorgt haben.«
»Jederzeit.« Als er die Tasche zuschnappen ließ, sah er sie von der Seite her an und sagte: »Und danke, dass Sie das mit Adrian so gut eingefädelt haben...«
»Ich?« Liesel spielte die Unschuldige. »Glauben Sie etwa, dass ich irgendetwas damit zu tun habe?«
»Na, sagen wir, das hat mir ein Vögelchen verraten.«
»Oh, Sie reden also auch mit den Tieren?«
»Ja, ich bin ein richtiger Dr. Dolittle. Nein, ich meine, er ist ein netter Typ und verdient etwas Besseres. Es war sehr nett von Ihnen, das zu veranlassen.«
»Sie meinen nicht, dass ich mich besser nicht eingemischt hätte?«
»Nein, denn Ihr Herz sitzt am rechten Fleck.«
»Haben Sie das erkannt, als Sie meinen Daumen verbunden haben?«, fragte Liesel, ganz Unschuld.
Er begann zu lachen.
»Gute Nacht, Liesel.«
»Gute Nacht, Tom.«
»So long, farewell, auf Wiedersehn, Good-bye...«
»Ich finde, Sie gehen jetzt besser, ehe ich anfange, What’s new, Pussycat zu singen.«
»Ja, das denke ich auch.«