11
Es war Montagmorgen, und eine schrecklich
verkaterte Liesel stand mit einer sorgenvollen Marilyn und Alex in
der Eingangshalle.
»Alex? Ach, komm schon, wir haben das doch alles
gestern Abend besprochen«, bettelte Marilyn.
Da durchquerte Kashia die Halle, einen vollen
Milchkrug für die Frühstücksflocken im Speisesaal in der
Hand.
»Gibt es Problem?«
»In der Schule muss man eine Uniform tragen.«
Marilyn deutete mit dem Kopf auf ihren Sohn. Keine weitere
Erklärung war nötig. Alex stand da in seinem Superman-Kostüm und
hatte resolut die Arme vor der Brust verschränkt. Marilyn hatte
eine graue Hose und ein Hemd in der Hand, Liesel eine Krawatte und
einen Blazer.
»Ach so.« Kashia setzte vorsichtig den Krug auf
einen Beistelltisch, ging zu Alex, bückte sich und sah ihm in die
Augen.
»Du bist Superman, ja?«, fragte sie leise.
Alex nickte. Seine Augen waren feucht von
ungeweinten Tränen.
»Das heißt, du bist auch Clark Kent?«
Darüber musste Alex einen Moment nachdenken, doch
dann nickte er schließlich.
»Also, Clark Kent, er trägt glänzende Superman-Hose
unter Anzug, nein? Dann kann keiner sehen, wer er ist, aber er
immer noch tragen, okay?«
Marilyn und Liesel tauschten einen verblüfften
Blick aus. Nachdem Alex eine Weile angestrengt nachgedacht hatte,
sah er Kashia wieder an und nickte, diesmal aber entschiedener.
Dann schniefte er ausgiebig alle ungeweinten Tränen fort, nahm
ruhig die Uniform aus den Händen seiner Mutter und Tante und begann
sie anzuziehen.
Über das Superman-Kostüm.
Dann lächelte er. Strahlend.
Kashia erwiderte das Lächeln und ging zurück zu
ihrer Milch.
Am nächsten Tag brachte Kashia eine Tube Haargel
mit.
»Für Superman glatte Haare«, sagte sie zu Alex.
»Hilft bei verkleiden.«
Am nächsten Tag brachte sie ihm einen
Superman-Stift und ein Heft mit.
»Superman Top-Reporter, nein? Du gut zuhören in
Englisch, vielleicht du auch eines Tages.«
Am Freitag beschloss Alex sogar, er könnte die
Schule auch ohne sein Cape überstehen. Marilyn war sehr froh.
»Jetzt sieht er nicht mehr so aus wie das Kind vom
Glöckner von Notre Dame«, sagte sie fröhlich zu Liesel. »Kashia sei
es gedankt.«
Am Samstag hatte Liesel genügend Rückmeldungen für
die Weinprobe, dass sie sich ganz entspannt darauf freuen
konnte.
Obwohl es ein warmer Sommerabend war, bestand sie
darauf, den Kamin anzuheizen, weil sie fand, das würde zu der
Atmosphäre beitragen, die sie im Sinn hatte.
»Elegant, dabei geht es bei einer Weinprobe«, sagte
sie zu Marilyn und polierte eifrig die neuen Weingläser, die der
nette, aber absurd junge Vertreter der Brauerei vorbeigebracht
hatte. Er hatte auch den Wein abgeliefert und sich selbst als
Sommelier vorgestellt. Da er viel zu früh
da war, spielte er gerade mit Alex in dessen Zimmer
Computerspiele.
»In Eleganz sind wir gut. Wir können nämlich alles,
wenn wir es uns nur fest vornehmen, du weißt schon. Aber wir
brauchen noch mehr Knabberzeug«, meinte Liesel und klaute ein
Gürkchen von dem Tisch beim Fenster, auf dem Eric die Leckerbissen
aufgereiht hatte. »Wir haben einen schönen Stilton-Käse, den könnte
ich aufschneiden und mit Crackern servieren.«
»Ja, aber weißt du, wie viel uns dieser wunderbare
große Stilton-Käse gekostet hat?«
»Es ist die Sache wert. Stilton ist sehr salzig.
Dann trinken die Leute mehr.«
»Wollen wir denn, dass die Leute mehr
trinken?«
»Natürlich. Die Weinprobe ist umsonst.« Liesel
deutete auf die Reihe von Flaschen auf dem Tisch. »Aber wenn man
ein volles Glas möchte, muss man bezahlen.«
»Ach so, das ist also eine Übung in Geldverdienen,
nicht bloß eine Party, um unsere geliebte, aber etwas
zurückgebliebene Management-Assistentin mit einem Tierarzt zu
verkuppeln, der zwar einer Kuh die Hand in den Arsch schieben kann,
aber nicht die Nerven hat, ein Mädchen um ein Date zu
bitten?«
»Dieser Abend ist nicht nur zum Vorteil für
Lorraine, sondern auch für unseren Umsatz.«
»Kluges Kind.«
»Glaub mir, noch ehe der Abend zu Ende ist, sind
die beiden verlobt.«
Auf den Einladungen hatte gestanden, dass die
Weinprobe um acht begann, daher drängten sie die vier Hausgäste
sanft
mit dem Versprechen durch ein etwas früheres Abendessen,
anschließend freie Getränke zu servieren. Um halb acht trafen sie
sich wieder in der Halle.
Liesel hatte die schwarze Hose gegen ein kleines
schwarzes Kleid eingetauscht, das sie für drei Pfund bei eBay
erstanden hatte. Sie sah umwerfend darin aus, und Marilyn fragte
sich, ob sie vielleicht heimlich hoffte, dass heute Abend mehr als
nur ein Tierarzt auftauchte.
Doch als Adrian Lee pünktlich um acht Uhr erschien,
war er zwar nicht alleine, aber sein Begleiter war nicht Tom
Spencer, sondern der dritte Partner des Trios, Jonathan
Childs.
Childs war nicht wie erwartet zweiundsiebzig und
humpelte auch nicht. Er war Mitte fünfzig und recht gut aussehend,
Typ Nachrichtensprecher, mit drahtigen Haaren und einem
Sportjackett. Doch sein Erscheinen machte das Fehlen des dritten
Tierarztes gewissermaßen noch auffallender.
»Ich frage mich, warum er nicht gekommen ist.
Adrian hat es offensichtlich weitererzählt. Das Mädchen da drüben
ist eine der Sprechstundenhilfen in seiner Praxis«, sagte
Liesel.
»Bist du enttäuscht?«, fragte Marilyn.
»Das hier ist für Lorraine, nicht für mich.«
»Ich weiß, aber es wäre auch schön, zwei Fliegen
mit einer Klappe zu schlagen.«
»Kann ja noch kommen.« Liesel deutete auf Jonathan
Childs. »Für einen älteren Mann ist er sehr attraktiv.«
»Und angeblich verheiratet mit drei Kindern und
fünf Enkelkindern.«
»Verdammt. Dann muss ich weiterhin mit meiner
hoffnungslosen Lust nach seinem abwesenden Partner leben,
eh?«
»Du gibst es also zu, dass du Lust auf ihn
hast?«
»Habe ich das jemals abgestritten? Aber nur, weil
ich unheimlich
auf Bono stehe, heißt das noch lange nicht, dass ich den nächsten
Flug nach Dublin buche und ihm mein Spitzenhöschen anbiete. Nein,
heute Abend versuchen wir, Lorraines Liebesleben ein bisschen
anzuheizen, nicht meins.«
Kashia vertrat Liesel an der Bar. Lorraine, die
sich am liebsten hinter dem Porzellan beim Servieren versteckt
hätte, reichte die Knabbereien herum.
»Es ist eine Schande, dass sie den ganzen Abend
schon versucht, ihn zu vermeiden, nicht wahr?«, bemerkte Marilyn,
als Lorraine zum wiederholten Mal einen Halbkreis um den Tisch zog
und dabei den Teil, wo Adrian Lee stand, völlig ausklammerte.
Liesel winkte sie zu sich.
»Ich glaube, Adrian sieht hungrig aus, oder?« Dabei
legte sie Lorraine sanft eine Hand ins Kreuz und schob sie in seine
Richtung. Lorraine schien sich dabei aber zu schnell zu bewegen,
schoss an ihm vorbei und warf ihm geradezu ein Käsebällchen zu, ehe
sie sich in der Küche hinter Eric versteckte.
Liesel sah seufzend auf die Uhr.
»Er ist jetzt schon eine ganze Stunde hier, und sie
hat ihn nicht einmal begrüßt. Er wird bald wieder verschwinden,
wenn sie sich nicht endlich zusammenreißt. Dann wäre der ganze
Abend eine völlige Zeitverschwendung.«
»Halt du ihn hier. Ich versuche, sie aus der Küche
zu locken«, schlug Marilyn vor.
»Wenn ich noch weiter mit ihm plaudere, denkt er,
ich bin es, die sich für ihn interessiert, und dann wird alles
furchtbar kompliziert. Warum packt sie nicht einfach den Stier bei
den Hörnern und redet mit dem Typen?«
»Wir wissen nicht ganz genau, ob Adrian Lee
ungebunden ist.«
»Oh doch.«
»Wirklich?«
»Ja, ich habe mich eine halbe Stunde mit dem Mann
unterhalten. Ich glaube, ich weiß alles über ihn, von seinen
Innenbeinmaßen bis zum schlimmsten Albtraum seiner Kindheit. Ich
weiß auch, dass er sie sehr nett findet.«
»Das weißt du sicher?«
Liesel nickte.
»Du hast ihn wohl gefragt?«
Wieder nickte sie.
»Ganz direkt?«
»Na ja.«
»So subtil wie eine Fußballerfrau im Pelzmantel bei
einer Party der Tierfreunde?«
»Ich spiele doch bloß Amor.«
»Amor in einem Panzerwagen.«
»Sie sind beide schüchtern, sie brauchen Hilfe, und
mit Diskretion kommt man da nicht weit. Immerhin sitzt mein Herz am
rechten Fleck.«
»Dein Herz sitzt momentan in Tom Spencers
Boxershorts, was heißt, dass dein Verstand durch Hormone umwölkt
ist. Du verweigerst dir die Chance auf eine Liebesbeziehung, weil
du einen albernen Pakt mit dir selbst geschlossen hast, und
überkompensierst das, indem du Lorraine verkuppelst.«
»Was sagst du da?«
»Genau das, was du zu Lorraine gesagt hast. Du
magst ihn doch, Liesel. Warum versuchst du nicht herauszubekommen,
ob an der Sache mehr dran ist?«
»Das ist wirklich leicht zu rechtfertigen, nicht
wahr?«
Einen Moment lang starrten sie einander an, ehe
Liesel nachgab, die Hände in die Luft warf und sagte: »Okay, ich
verspreche dir, ich werfe mich Tom Spencer an den Hals, wenn ich
ihn das nächste Mal sehe, wenn du nur Adrian lange genug fesselst,
bis ich Lorraine aus der Küche gelotst habe, damit sie mit ihm
redet.«
»Abgemacht.« Marilyn streckte ihr die Hand hin, und
Liesel schlug ein.
»Ich verlange allerdings nicht von dir, dass du
dich jemandem an den Hals wirfst, ich bitte dich bloß, etwas zu
akzeptieren.«
»Also tu nichts, was ich tue, sondern nur, was ich
dir sage?«
»Genau. Als deine ältere Schwester betrachte ich es
als meine pädagogische Aufgabe. Jetzt geh und hol Lorraine aus der
Küche.«
»Jawoll!«, salutierte Liesel.
Lorraine war alles so peinlich, dass sie sich
praktisch auf dem Regal in der Speisekammer versteckt hatte, als
Liesel sie suchte. Technisch gesehen hatte Lorraine heute Abend
Dienst, daher konnte Liesel sie beauftragen, in den Speisesaal zu
gehen. Sie wusste auch, dass Lorraine folgen würde. Aber das war
nicht Liesels Stil. Stattdessen setzte sie sich neben Lorraine auf
einen dicken Sack Mehl, nahm einen Moment lang ihre kalte Hand und
drückte sie beruhigend, ehe sie sie wieder losließ.
»Du weißt, dass wir das heute Abend arrangiert
haben, nicht wahr?«, fragte sie, weil sie beschlossen hatte, dass
Ehrlichkeit wohl am besten wäre.
Lorraine nickte. Ihre Unterlippe begann zu
zittern.
»Habe ich etwas falsch gemacht? Warst du nicht
scharf darauf, mit jemandem zusammengebracht zu werden?«
Immer noch Schweigen.
»Es tut mir wirklich leid. Ich hätte das besser
gelassen...«
Liesel war plötzlich völlig schuldbewusst, doch dann sagte
Lorraine endlich etwas.
»Bitte, keine Ursache. Ich bin es, die sich
entschuldigen sollte. Ihr habt euch große Mühe gegeben... nur für
mich. Das hat noch niemals jemand...« Dabei brach ihre Stimme, und
Liesel sah, wie sie sich zusammenreißen musste, ehe sie fortfuhr:
»Niemand hat sich je genug Gedanken um mich gemacht, um so was zu
tun. Ich bin bloß so... so...«
»Ist das alles ein bisschen zu viel für
dich?«
»Ja.«
»Aber du magst Adrian gern?«
»Ja.«
»Und du hättest auch gerne eine Beziehung?«
Lorraine nickte langsam. »Ich würde furchtbar gerne
mit jemandem zusammen sein. Ich bin immer nur allein gewesen. Ich
will nicht behaupten, dass mich noch nie jemand geküsst hat,
aber... es war noch nie romantisch. Eine Beziehung. Ein Freund.«
Das letzte Wort wurde fast geflüstert. »Es macht mir aber Angst.
Warum sollte mich jemand wollen? Wenn ich bloß so wäre wie
du...«
»Wie ich?«, rief Liesel überrascht. »Wie ich willst
du nicht sein. Alle Typen, mit denen ich jemals verabredet war,
haben mich sitzen gelassen. Absolut jeder. Und wir reden hier nicht
nur von einer Hand voll, wir reden hier von Dutzenden. Ich bin in
Sachen Beziehungen eine völlige Versagerin, Lol, eine absolute
Niete. Ich suche mir die schrecklichsten Männer aus, und du... nun,
da du den armen Kerl ja völlig ignoriert hast, musste ich den
ganzen Abend mit Adrian reden. Glaub mir, er ist ein sehr netter
Typ. Da hast du dir einen Guten ausgesucht, Lorraine... und was das
betrifft, dass niemand dich will, nun, er will dich.«
»Glaubst du das wirklich?« Die Hoffnung in
Lorraines Blick war herzzerreißend.
»Ich weiß es, und du magst ihn auch, nicht wahr? Es
ist nicht so, dass ich einfach bloß manisch bin.«
Lorraine lächelte so süß, wie Liesel es noch nie
gesehen hatte, denn normalerweise sah sie immer nur besorgt
aus.
»Er ist so lieb«, murmelte sie.
»Dann verabreden wir jetzt etwas. Wir sind zusammen
ganz mutig, ja? Wenn du das heute Abend schaffst, dir einfach einen
Ruck zu geben, dann helfe ich dir dabei. Dafür hilfst du mir, auch
einen so guten Mann zu finden. Was meinst du?« Sie streckte eine
Hand aus.
Lorraine zögerte einen Sekundenbruchteil, ehe sich
ihr sanftes, leicht besorgtes Lächeln in ein entschiedenes
verwandelte. Sie nickte und schlug ein.
»Okay«, sagte sie und atmete tief aus.
»Großartig. Dann komm jetzt aus der Speisekammer
und geh hinaus.«
Lorraine nickte.
»Und lass das Bedienen. Misch dich einfach unter
die Gäste.«
Wieder nickte Lorraine, aber nicht ganz so
entschieden.
»Mit mir zusammen. Nicht alleine. Ich bleibe direkt
neben dir. Die ganze Zeit.«
»Okay.«
»Also los. Auf die Romanze!«
Liesel spielte zwanzig Minuten lang das fünfte Rad
am Wagen, doch dann kamen Jimmy und David. Lorraine schien sich
inzwischen in Adrians Gesellschaft so wohlzufühlen, dass Liesel sie
beruhigt allein lassen konnte, um die beiden neuen Freunde zu
begrüßen.
Wie versprochen brachten sie weitere Gäste mit,
eine fröhliche zehnköpfige Gesellschaft, die alle wie sie waren:
freundlich, lustig und mit überschwenglichen Komplimenten für
sie.
»Fantastischer Abend... Ihre süße Schwester... Sie
sollten das öfter machen... wunderbarer Wein... das Haus sieht toll
aus... das Essen ist fantastisch... seht doch mal den
Blick...«
Sie schienen jedermann zu kennen, sogar die beiden
Paare, die im Hotel wohnten. Bald schon plauderte jeder mit jedem.
Dann schlug Jimmy vor, Musik zu spielen und zu tanzen, und da der
reichlich fließende Wein die restliche Reserviertheit genommen
hatte, war bald eine richtiggehende Party in vollem Schwung.
Jimmy übernahm sogar Liesels Rolle als Amor und
trat zu der Gruppe um Adrian und Lorraine. Er bezauberte sie so
wirksam, dass Adrian Lorraine schließlich um eine Verabredung
bat.
»Nächste Woche ist ein Abendessen mit Tanz für alle
Tierärzte, und er hat mich gebeten, ihn dorthin zu begleiten«, sang
Lorraine, nachdem sie praktisch auf Liesel zugetanzt war.
»Sie sind ein Star!« Liesel gratulierte Jimmy, denn
sie hatte mitbekommen, mit welcher Leichtigkeit er die Unterhaltung
auf Wege geleitet hatte, die dieses Wunder ermöglicht hatten.
»Ich bin die Wiedergeburt von Fred Astaire.« Er
hielt ihr den Arm hin. »Würden Sie einen Foxtrott mit mir
tanzen?«
Glücklicherweise wechselte die Musik zu etwas
Leichterem. Jimmy führte Liesel in einen langsamen Walzer, ehe die
Musik wieder schneller wurde.
»Sie haben es also geschafft«, lobte er sie, als
sie leichtfüßig eine Rumba begannen. »Ist Ihnen aufgefallen, dass
das junge
Paar sich gerade nach draußen in den Mondschein verdrückt
hat?«
»Wirklich?« Liesel strahlte vor Freude und reckte
den Hals, um durch die tanzenden, fröhlichen Paare hindurch zur
Terrasse zu blicken. »Dieser Abend hat sich so viel besser
entwickelt, als ich erwartet hatte.«
Doch als die Musik wieder schneller wurde, tanzte
Mrs. Milner, die dem südafrikanischen Pinotage ein wenig zu
begeistert zugesprochen hatte, im Cha-Cha-Cha-Schritt rückwärts auf
den Beistelltisch mit zahlreichen leeren Flaschen zu. Der leichte
Tisch seufzte dankbar für die Gelegenheit, endlich den Geist
aufgeben zu dürfen, und brach zusammen. Liesel sprang vor, um
Sonny, den jungen Sommelier, aus dem Weg zu stoßen, und verschwand
unter der Lawine von Flaschen, Gläsern, dem Tischtuch und
Blumen.
Einen Moment lang herrschte besorgte Stille im
Raum, doch dann stürzte Marilyn sich auf den Haufen, dicht gefolgt
von Eric und Kashia.
»Liesel, alles in Ordnung?«
Liesel richtete sich auf, schüttelte die
Kartoffelchips aus den Haaren und streckte der Schwester die Hand
hin. In ihrem Daumen steckte eine Glasscherbe von der Größe einer
Münze.
»Ist vielleicht ein Arzt hier?«, scherzte Liesel
kläglich. Ihr Gesicht war so weiß wie das Tischtuch, das sie noch
halb bedeckte.
Marilyn unterdrückte einen Schrei, aber Kashia
blieb ganz still. Dann brachte eine ruhige Stimme das ausbrechende
Chaos zum Schweigen.
»Nein, aber tut es auch ein Tierarzt?«
Leider musste Liesel die Augen schließen, als Tom
die Glasscherbe geschickt mit einer Pinzette entfernte. Sie freute
sich derart, ihn zu sehen, dass die Schmetterlinge in der
Magengrube schlimmer waren als der pulsierende Schmerz im Daumen.
Eigentlich wollte sie ihn bloß ansehen, lange und ausgiebig
ansehen, um herauszufinden, warum sie sich so komisch fühlte.
Sie waren im Badezimmer im Turm, nur sie
beide.
Ärzte waren keine im Haus gewesen, und von den
dreiTierärzten waren zwei betrunken, der eine vom Wein, der andere
von der Liebe. Da Tom gerade erst angekommen war, war er als
Einziger nüchtern genug, um die Scherbe zu entfernen.
»Soooo«, sagte er, während er mit äußerster
Konzentration das Glas herauszog und in den Spülstein legte. Dann
bedeckte er die Schnittwunde mit einem Wattebausch, den er in
Alkohol getränkt hatte.
»Entschuldigen Sie«, murmelte er, als Liesel dabei
zusammenzuckte. »Es müsste eigentlich genäht werden. Trauen Sie mir
das zu, oder sollen wir Sie lieber zum Notarzt bringen?«
»Es wäre gut, wenn Sie es machten, aber ich warne
Sie, ich kann Nadeln nicht ausstehen.«
»Dann schließen Sie wieder die Augen.«
Liesel schloss gehorsam die Augen und wünschte
sich, so mutig zu sein, dass sie sie öffnen und ihn weiterhin
ansehen konnte. Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, welche
Farbe seine Augen hatten.
»Ich werde es jetzt mit einem antiseptischen Spray
örtlich betäuben, aber es brennt beim Nähen vermutlich trotzdem.
Ich brauche bloß zwei Stiche zu setzen, was gut ist, denn es dauert
nicht lange.«
Dann verstummte er und trat einen Schritt zurück.
Erst
da merkte Liesel, dass er tatsächlich ihren Daumen beim Reden
vernäht hatte, ohne dass sie das Geringste gemerkt hatte.
»Wow, Sie sind aber
geschickt!«, rief sie. Seine Augen waren tief goldbraun.
»Das macht die Übung. In ein paar Jahren kann ich
vermutlich auch Vorhänge zusammennähen.«
»Haben Sie jemals überlegt, Arzt zu werden?«,
fragte sie nun, sah auf seinen lächelnden Mund und überlegte, ob
man ihn wohl überreden konnte, den Daumen wieder gesund zu
küssen.
»Ist mir ehrlich gesagt nie in den Sinn gekommen.
Ich liebe Tiere.«
»Ich auch«, antwortete Liesel aufrichtig. »Die
Ausbildung zum Tierarzt dauert vermutlich länger - all die
verschiedenen Arten... nun... wir Menschen haben ja alles an der
gleichen Stelle... natürlich sind die Geschlechter
unterschiedlich... aber, ach... Sie wissen schon, was ich
meine.«
Er hielt beim Bandagieren inne und lächelte sie an.
Dieses Lächeln brachte sie wirksamer zum Schweigen als alle
Worte.
Seine Augen waren nämlich eigentlich grün.
Er vollendete den Verband schweigend, während
Liesel die Luft so lange anhielt, bis ihr fast schwindlig wurde.
Wenn sie ohnmächtig wurde, würde er vielleicht
Mund-zu-Mund-Beatmung machen? Was für eine gute Idee. Oh, Gott, sie
musste damit aufhören. Er half ihr ja bloß, ob er sie nun gesund
küsste oder ihr einen Wiederbelebungskuss gab oder ganz schlicht
einen Kuss, der das Vorspiel zu atemberaubendem Sex war...
allerdings stand all dies nicht auf dem Plan.
»So, fertig«, sagte er, steckte das lose Ende in
den Verband und trat zurück.
»Danke.«
»Achten Sie darauf, ob es rot oder heiß wird oder
juckt. Dann gehen Sie zum Arzt. Okay?«
»Okay.«
»Na, die Party ist vermutlich bald vorbei.«
Sie nickte. »Man kann nur schwer weiter Wein
probieren, wenn das meiste schon auf dem Teppich ist.«
»Wussten Sie, dass Adrian normalerweise keinen Wein
trinkt?«
»Dann muss er Lorraine sehr mögen.«
»Er hat seit dem letzten Wochenende ununterbrochen
von ihr geredet.«
»Ehrlich?«, fragte Liesel entzückt.
»Hat mich gebeten, heute Abend vorbeizukommen, um
ihn ein bisschen zu unterstützen, aber es sah nicht so aus, als ob
er das bräuchte. Als ich ankam, waren sie beide draußen und
starrten den Mond an.«
»Haben sie geredet?«, fragte Liesel. »Sich
geküsst?« Ihre Stimme klang voller Hoffnung.
»Nein, bloß gestarrt. Ich dachte fast, sie würden
jeden Moment anfangen zu heulen«, scherzte er. Dann blickte er auf
seine Uhr. »Na, ich gehe besser zurück in die Praxis. Ich habe
immer noch Notdienst.«
»Danke, dass Sie mich so gut versorgt haben.«
»Jederzeit.« Als er die Tasche zuschnappen ließ,
sah er sie von der Seite her an und sagte: »Und danke, dass Sie das
mit Adrian so gut eingefädelt haben...«
»Ich?« Liesel spielte die Unschuldige. »Glauben Sie
etwa, dass ich irgendetwas damit zu tun habe?«
»Na, sagen wir, das hat mir ein Vögelchen
verraten.«
»Oh, Sie reden also auch mit den Tieren?«
»Ja, ich bin ein richtiger Dr. Dolittle. Nein, ich
meine, er ist
ein netter Typ und verdient etwas Besseres. Es war sehr nett von
Ihnen, das zu veranlassen.«
»Sie meinen nicht, dass ich mich besser nicht
eingemischt hätte?«
»Nein, denn Ihr Herz sitzt am rechten Fleck.«
»Haben Sie das erkannt, als Sie meinen Daumen
verbunden haben?«, fragte Liesel, ganz Unschuld.
Er begann zu lachen.
»Gute Nacht, Liesel.«
»Gute Nacht, Tom.«
»So long, farewell, auf Wiedersehn,
Good-bye...«
»Ich finde, Sie gehen jetzt besser, ehe ich
anfange, What’s new, Pussycat zu
singen.«
»Ja, das denke ich auch.«