20
Es war sieben Uhr, und Liesel wartete fertig angezogen in der Halle auf Sean Sutton.
Leider traf das auch auf alle anderen zu, von Eric bis Alex. Selbst die Gäste, Mr. und Mrs. Polbrook und die Garrity-Schwestern, die an ihren Tischen saßen und auf die Tagessuppe warteten, leckten sich die Lippen und schnalzten mit den Gebissen und hatten sich alle versammelt, um zu sehen, wohin die schöne Liesel in ihrem hübschen Kleid heute Abend ausging. Wichtiger noch war, mit wem sie ausging.
»Wow! Sieh dir das an!« Das war Alex, der das Auftauchen der schwarzen Limousine ankündigte, die fast zu lang war, um die steile Einfahrt hinabzufahren.
»Du hast einen Chauffeur«, bemerkte Marilyn trocken.
»Ach ja.« Liesel zuckte bloß die Achseln.
Alex war natürlich sehr beeindruckt, aber Marilyn war nicht sicher, ob das auch auf ihre Schwester zutraf. Liesel sah ziemlich entsetzt aus. Sie hatte nicht gewusst, was sie zu erwarten hatte, aber sicher nicht das hier.
Sean Sutton saß auf dem Rücksitz und winkte Liesel durch das heruntergelassene Fenster zu. Sie seufzte tief
Er hatte offensichtlich auch vor, viel zu trinken und außerdem Nachtisch zu essen. Was für ein Auto. Es war derart angeberisch, dass die Fahrt eher peinlich sein würde statt ein Vergnügen, wie er es offensichtlich geplant hatte.
Die Erkenntnis, dass sie einander nicht kannten und die Verabredung ihrerseits nur stattfand, weil ihr Selbstbewusstsein aufgepäppelt werden musste, und seinerseits, weil ihm ihr Äußeres gefiel, war kein guter Start für einen Abend.
Liesel wurde plötzlich ungeheuer nervös - nun, nicht gerade nervös, sondern eher ängstlich. Es war ein Gefühl, wie wenn man plötzlich merkt, dass das, was man vorhat, überhaupt keine gute Idee war. Aber jetzt war es zu spät, um abzusagen. Da stand sie in ihrem feinen Kleid, und er stieg aus dem Wagen in seiner schicken Hose und dem Sportjackett. Sie konnte sich jetzt nicht auf dem Absatz umdrehen, ins Haus rennen und sich in ihrem Turmzimmer einsperren.
Sean war augenscheinlich von dem nicht besonders herzlichen Begrüßungskomitee unbeeindruckt, nahm ihre Hände, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange.
»Liesel, du siehst absolut umwerfend aus. Die Kutsche wartet, Prinzessin.«
Marilyn unterdrückte ein Kichern, Alex blieb der Mund offen stehen, Lorraine fiel fast in Ohnmacht, und Kashia, Ed und Eric waren bereit, auf ein Stichwort hin jemanden umzubringen. Liesel war sich fast sicher, dass Ed »Angeber« murmelte. Liesel dankte Sean höflich, warf der Gruppe hinter sich ein letztes Lächeln über die Schulter zu und stieg in die Limousine ein, als käme das jeden Tag vor und wäre nicht das erste Mal für sie.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie ihre Stimme wiederfand.
»Wohin fahren wir denn?«
»Wir gehen in eines meiner Lieblingsrestaurants in Padstow.« Sean strahlte vor Freude über diesen Plan. »Normalerweise dauerte es Monate, bis man dort einen Tisch bekommt, aber der Besitzer ist ein persönlicher Freund von mir. Ich glaube, es wird dir gefallen. Das Essen ist phänomenal, die Atmosphäre sehr nett. Es gibt den besten Fisch in ganz Cornwall. Die Brasse mit Fenchelsoße ist einfach göttlich.«
»Göttlich«, wiederholte Liesel erstaunt über diese Wortwahl.
»Oh ja. Eine ungeheure Erfahrung. Es wird dir gefallen.«
Wie herablassend er mich behandelt, dachte sie verärgert. Anzunehmen, dass ich es nicht gewohnt bin, in guten Restaurants zu essen oder von einem Chauffeur herumgefahren zu werden. Nun, es stimmt, sagte sie sich dann, normal ist das nicht. Ich bediene normalerweise Leute, die in guten Restaurants essen und von einem Chaffeur herumgefahren werden. Verlegen zog sie an ihrem Kleidersaum, der in der Sicherheit des Cornucopia in Ordnung gewesen war, inzwischen aber um mehrere Zentimeter geschrumpft zu sein schien. Aber daraufhin blickte er bloß auf ihre Beine, was sie noch verlegener machte. Eine verlegene Liesel schnatterte normalerweise ununterbrochen, aber heute fiel ihr nicht ein einziger Satz ein, und sie hielt den Mund fest geschlossen.
Sean Sutton, der normalerweise endlos lange nur über sich selbst reden konnte, tat das eine Weile, aber ohne eine Reaktion. Dann beschloss er, das Schweigen zu mildern, indem er den Reiseführer mimte und ihr jeden Zentimeter der Küstenstraße erklärte, auf der sie fuhren. Er deutete auf Jamie Olivers Restaurant, das Restaurant in Watergate Bay, Bedruthan Steps und erzählte, dass John Betjeman auf der Pentire-Halbinsel gelebt hatte.
Für Liesel, die wie ausgehungert auf alle möglichen Informationen über ihre Umgegend war, war dies das beste Rezept, ihr Interesse zu wecken und sie zu entspannen. Seine Begeisterung war außerdem ziemlich ansteckend. Als sie ihr Ziel erreichten, waren beide etwas lockerer geworden.
Padstow selbst war sehr hübsch. Eine steile, gewundene Straße führte wie eine Rennstrecke hinab zu dem malerischsten Hafen, den Liesel je gesehen hatte. Das Restaurant lag in einem restaurierten Hafenmeisterhaus, hatte breite Fenster auf den Hafen hinaus, einen dunklen Schieferboden und niedrige Balkendecken. Im Hintergrund spielte leise Jazzmusik.
Sie wurden von einem geschniegelten kleinen Franzosen begrüßt, den Sean als Evariste vorstellte. Das war auch der Name des Restaurants.
Nachdem die Männer einander die Hände geschüttelt und sich gegenseitig auf den Rücken geklopft hatten, bekam Liesel drei Begrüßungsküsse auf die Wangen - auf die eine, dann die andere, und nochmal auf die erste. Dann führte Evariste sie an ihren Tisch mit einem schönen Blick auf die Flussmündung. Der Chef setzte sich einen Moment zu ihnen und erzählte Liesel mit großer Begeisterung die Geschichte des kleinen Hafens.
Als einen Moment später eine Flasche Champagner gebracht wurde, musste Liesel zugeben, dass ihr die Sache Spaß zu machen begann, was sich noch verstärkte, als sie die Speisekarte las. Wie verlockend das alles klang. Leider ging von der Vorspeise an alles ein wenig bergab. Liesels wunderbar klingender Hummer-Zitronen-Salat war bloß ein hübsches Muster auf dem Teller und sah aus wie die Reste eines anderen Gastes, so wenig war es.
»Ich glaube, sie haben den Hummer dabei vergessen«, scherzte sie und stocherte mit der Gabel in dem kleinen Häufchen. »Oh, nein, da ist er ja. Ich glaube zumindest, dass es der Hummer ist, denn bei der Größe könnte sich auch eine Krabbe als Hummer verkleidet haben. Der heutige Trend zur Miniaturisierung hat sich wohl auch auf die Schalentiere ausgeweitet.«
Grinsend blickte sie auf, ob Sean lachte, aber er lächelte nur nachsichtig wie ein Vater über ein wenig amüsantes kleines Kind. Und dann begann er, über das Cornucopia zu reden, womit sie fest gerechnet hatte. Er fragte nicht direkt nach dem Hotel selbst, sondern redete eher darum herum, stellte verwandte Fragen, die einem weniger aufmerksamen Zuhörer nicht sonderlich aufschlussreich erschienen wären, ihm aber die Antworten gaben, die er brauchte. Fragen, wie Alex sich in der neuen Schule zurechtfand, ob er Freunde gefunden hatte oder London vermisste - alles Fakten, die ihm ein Bild vermittelten, ob sie vorhatten, zurückzuziehen und das Hotel zu verkaufen oder nicht. Nach außer hin wirkte er weiterhin aufrichtig interessiert an dem Wohlergehen der Familie. Er war offensichtlich immer noch schärfer darauf aus, das Hotel zu kaufen, als seine kühle Ablehnung an dem Fischabend hatte vermuten lassen.
Na, aalglatt konnte man auch zu zweit spielen, und Liesel hatte in den letzten Wochen genügend Übung gehabt, das Thema zu vermeiden. Alles, was er fragte, lenkte sie daher ab. Als er Alex erwähnte, fragte sie, ob er selbst Kinder habe, als er über Arbeitsplätze sprach, fragte sie nach seinem Büro. Als er London erwähnte, bog sie die Unterhaltung auf seine eigenen Besuche dort um. In welchen Hotels er abstieg, welche Restaurants er besuchte. Er bekam nicht eine einzige direkte Antwort, bis zu der Frage: »Möchtest du einen Nachtisch?«
Zu ihrer Enttäuschung gab es keinen Toffee-Pudding. Sean bestellte einen Kaffee und einen Whiskey. Liesel war fest entschlossen, das Beste aus dem Abend zu machen, und entschied sich für etwas Kalorienhaltiges mit Schokolade, doch dann war es ihr peinlich, sich vor seinen Augen vollzustopfen, weil er ja nichts aß, nahm einen Löffel voll und entschuldigte sich dann, um aufs Klo zu gehen.
Nach kurzem Pinkeln verbrachte sie längere Zeit vor dem Spiegel.
Ihr Gesicht war gerötet. Sie spritzte kaltes Wasser auf die Wangen, überlegte, ob sie den Lippenstift nachziehen sollte, dachte dann aber, dass er das vielleicht merken und denken würde, es sei ihm zuliebe. Das wollte sie wirklich nicht. Sie wollte nicht, dass er falsche Erwartungen hegte und vielleicht annahm, sie fände ihn attraktiv, denn ehrlich gesagt mochte sie ihn überhaupt nicht.
Doch er war nicht ganz so schlimm, wie sie zuallererst gedacht hatte. Jaja, er war ein bisschen egozentrisch, aber nicht unangenehm. Und sicher wusste er, wie man eine Frau behandeln musste. Sie musste gestehen, dass sich ihre Meinung über ihn leicht geändert hatte. Bei ihm war vermutlich das Gleiche passiert, nur umgekehrt. Sie war heute Abend nicht gerade eine aufregende Begleiterin gewesen. Sie überlegte, ob sie sich dafür entschuldigen sollte, aber was konnte sie schon sagen? Tut mir leid, dass ich eine muffige alte Kuh war, aber ich habe mich in einen Mann verknallt, der nicht zu haben ist, daher war es wohl ein Riesenfehler, mit dir auszugehen?
Doch vielleicht schmeichelte sie sich damit. Er hatte den ganzen Abend viel über sich geredet, und zwar so, dass es für Liesel nicht unangenehm war. Aber wahrscheinlich redete er vermutlich so viel, weil sie so still gewesen war. Irgendwann war er verstummt, hatte ihr tief in die Augen gesehen und gesagt: »Erzähl mir was von dir.« Aber seine Intensität hatte sie so geärgert, dass sie bloß gemurmelt hatte: »Da gibt es nicht viel zu erzählen.« Vermutlich textete er gerade einem Freund, ihm zur Hilfe zu kommen, während sie sich noch im Klo versteckte. Doch als sie an den Tisch zurückkehrte, stand zu ihrer Überraschung ein weiteres Glas Champagner vor ihr.
»Man würde denken, du willst mich betrunken machen«, lächelte sie nervös.
Der lustvolle Blick kam wie erwartet, doch dann überraschte er sie völlig, indem er sich entschuldigte und eine Flasche Wasser bestellte.
Als sie gegessen hatten, nahm sie an, dass er ebenso verzweifelt gehen wollte wie sie selbst, doch stattdessen stand er auf, zog ihren Stuhl zurück und schlug vor: »Wir können in der Bar noch einen trinken.« Da sie sich inzwischen sehr schuldig fühlte, weil sie so langweilig gewesen war, nickte sie fröhlich und stimmte zu, entschlossen, ihm immerhin ein bisschen Gegenwert zu liefern. Sie hatte einen verstohlenen Blick auf die Rechnung geworfen, als er mit Evariste plauderte, und wusste, dafür musste sie ihm eigentlich eine interessantere Show bieten, doch sie hatte ihm bereits ihre besten schlechten Witze erzählt, über die er pflichtschuldig gelacht hatte, und daher erzählte sie ihm noch einen. Vier schlechte Witze später lachte er lauthals und übernahm den nächsten. Als er einen weiteren Drink vorschlug, nickte sie, ohne zu überlegen.
Da entdeckte sie ihn auf der anderen Seite der Bar mit ein paar Freunden.
»Tom!«, rief sie laut, ohne nachzudenken.
»Wie bitte?« Sean Sutton sah sie fragend an.
»Tom... äh... ich meine, Tommy Cooper. Ich fand Tommy Cooper immer ziemlich toll.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du alt genug bist, um dich an ihn zu erinnern.«
»Alles Wiederholungen«, murmelte Liesel und glitt von ihrem Barhocker. »Würdest du mich bitte einen Moment entschuldigen? Ich muss mein Näschen pudern.«
Seit dem Kuss hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Das hier war bestimmt kein Zufall. Cornwall war eine der größten Grafschaften in England. Er sah sie und löste sich ein wenig aus der Gruppe. Es sah so aus, als begegneten zwei Bekannte sich zufällig.
»Was machst du denn hier?« Seine Frage traf sie unerwartet.
»Ich wollte gerade dasselbe fragen.«
»Ich habe aber zuerst gefragt.«
»Ich habe hier gegessen«, antwortete sie vorsichtig.
»Mit dem da?« Er nickte in Richung Sean, der sich glücklicherweise wieder mit Evariste unterhielt.
Liesel nickte.
»Was in aller Welt hast du denn mit Sean Sutton zu tun?«
»Wie ich schon sagte, wir waren essen«, wiederholte Liesel vorsichtig. Sie wurde immer verwirrter über Toms Anwesenheit hier.
»Du weißt, wie ich das meine.«
»Warum sollte ich denn nicht mit ihm ausgehen? Wir sind doch beide ungebunden«, sagte sie spitz. »Er sieht gut aus, ist erfolgreich und intelligent...«
»Er ist ein Idiot.«
Einen Moment lang starrten sie einander wütend an, doch dann konnte Liesel nicht anders, als den Mund zu einem Lächeln zu verziehen. Sie konnte sich auch nicht beherrschen, rasch und verlegen zu flüstern: »Ja, ich weiß«. Doch dann wandte sie sich trotzig zu den Tischen. »Und was machst du hier?«
»Ich bin mit Freunden hier auf einen Drink.«
»Gehst du oft hierher?«
»Nein, sonst nie. Mir ist es zu protzig und viel zu teuer.«
»Ja, was machst du dann heute Abend hier?«, fragte sie, wusste die Antwort aber, noch ehe er sie aussprach. »Woher wusstest du, dass ich hier sein würde?«, fragte sie.
»Ist das nicht ein bisschen arrogant?« Er versuchte beleidigt auszusehen, was ihm aber völlig misslang. »Okay, vielleicht hat die Tatsache etwas damit zu tun, dass eure Kellnerin heute Abend eine gute Freundin von Lorraine ist...«
Dann biss er sich auf die Unterlippe und sah so süß aus, dass sie ihm alles verziehen hätte.
»Vielleicht hat sie ihr eine SMS geschickt, und Lorraine hat es vielleicht Adrian gegenüber erwähnt...«
Die gute Lorraine. Aber Liesels absurde Freude darüber wurde weiter von Unverständnis getrübt.
»Also gut, ich weiß jetzt, dass die Buschtrommeln hier lauter trommeln als anderswo, aber ich versuche es nochmal.« Die Antwort war für sie sehr wichtig. »Was machst du hier?«
Tom blickte zu Boden, rieb sich die Nase mit einem Finger und schnappte dann die Unterlippe mit den Zähnen, was eine Angewohnheit zu sein schien.
»Also, ich hatte die verrückte Idee, herzukommen und Sean Sutton mit einem Stein an den Füßen in den Hafen zu werfen, um dich anschließend zu fragen, ob du mit mir durchbrennst.«
Liesel unterdrückte aus Selbstschutz das Lächeln, das sich ihr auf die Lippen drängte, spähte stattdessen in sein Glas und roch daran.
»Was hast du getrunken?«
»Tonicwasser. Brenn mit mir durch, Liesel.«
»Tonicwasser mit drei Gins?«
»Nur Tonic. Ich will, das du mit mir wegläufst«, wiederholte er. »jetzt. In diesem Augenblick. Lass den Mann da sitzen und geh mit mir fort.«
»Das kann ich nicht. Du bist praktisch verheiratet.«
»Bin ich nicht...«, begann er, doch Liesel unterbrach ihn, ehe er Hoffnung schöpfen konnte.
»Außerdem wäre das sehr unhöflich gegenüber Sean. Er ist vielleicht ein Idiot, aber er hat mich heute Abend sehr nett behandelt. Ich meine, wenn er ein Arschloch wäre und du würdest mich vor ihm retten, das wäre etwas anderes, aber eigentlich ist er ein ganz netter Mann.«
»Hm-hm. Ich verstehe.«Tom überlegte einen Moment und sah sie dann voller Hoffnung an. »Aber langweilt er dich nicht zu Tode?«
»Oh, mein Gott, ja!«
»Na!«
»Ja und?«
»Ach, Langeweile ist doch genauso schlimm wie schlechte Behandlung.«
»Möglich, möglich.« Liesel nickte. Sie musste aber einfach lächeln. »Wenn ich allerdings völlig ehrlich sein will, dann muss ich sagen, dass ich ihn ebenso langweile wie er mich... du weißt, wie es ist, wenn man es sehr schwierig findet, mit jemandem zu reden, dass man dann einfach den Mund hält? Also, eigentlich schweige ich ja nie viel, aber mit ihm - Totenstille.«
»Du langweilst ihn also auch?«
»Oh ja, absolut. Der arme Mann. Der Tischschmuck hat ihn besser unterhalten.«
»Du hast bei ihm einfach abgeschaltet.«
Liesel dachte darüber nach. Das war gut ausgedrückt.
Ganz egal, wie gut aussehend und erfolgreich der Mann auch war, genau das tat er. Er schaltete sie ab, statt sie anzumachen. Während Tom... nun, es war unter den Umständen sehr ungerecht, aber er brachte sie genauso zum Strahlen wie irgendein berühmter Popstar, der die Weihnachtsbeleuchtung auf der Oxford Street anknipste.
»Also komm, lass uns gehen...«
»Tom, nein... bitte.«
»Ich meine das ernst. Komm mit mir.«
»Das kann ich nicht. Ich würde es mir nie verzeihen, jemanden so schrecklich zu behandeln.«
Da nahm er ihre Hand, woraufhin sie zusammenzuckte, und sagte so ernsthaft, dass alle Arroganz in der Bemerkung davon ausgelöscht wurde: »Was würdest du morgen früh mehr bereuen, mit mir gegangen zu sein oder nicht mit mir gegangen zu sein?«
»Du weißt, was du hier sagst, nicht wahr?«
»Genau. Ich bin arrogant und nehme einfach an, dass du dich ebenso fühlst wie ich.«
»Das weißt du doch. Aber wichtiger ist, dass du zugibst, mich auch zu wollen.«
»Das weißt du doch.« Er wiederholte dieselben Worte ganz bewusst.
Einen Moment lang schwieg sie, bis er sanft einen Finger auf ihren Mund legte.
»Bitte. Keine Worte, die mit V oder C anfangen«, murmelte er leise.
Liesel sah ihn verwirrt an.
»Verlobt und Caroline«, erklärte er.
»Und S?«, fragte sie und nahm seinen Finger fort. Er sah sie fragend an.
»S für Schuldgefühle.« Sie zuckte die Achseln.
»Haben wir denn irgendwas getan, wofür wir uns schuldig fühlen müssten?«
»Nein, noch nicht.«
»Das klingt gut.«
»Was?«
»Das noch. Das heißt, es besteht die Möglichkeit.«
»Bist du sicher, dass du nicht betrunken bist?«
»Ich bin nicht betrunken. Und du?«
»Nein.«
»Dann sind wir also nichts und niemandem irgendetwas schuldig.«
Liesel nickte.
»Du wirst also mit mir kommen?«
»Ja«, flüsterte sie.
 
Von Padstow nach Port Isaac. Keine sehr weite Entfernung in Meilen, aber eine verdammt lange Fahrt für jemanden, der sich so zerrissen fühlte, dass sie geschworen hätte, zwei Seelen in ihrer Brust zu haben.
Vom Restaurant zu Toms Auto. Ein kleiner Schritt für Liesel, ein Riesenschritt in Richtung Unhöflichkeit.
Eine auf eine Papierserviette gekritzelte Entschuldigung, als Vorwand eine Familienkrise, war nicht die richtige Art, Sean Sutton für das unglaublich teure Essen zu danken.
Liesel war eine Weltmeisterin in Sachen Schuldgefühle.
Er hat ein Verlobte, sagte sie sich wiederholt, selbst wenn ihre Finger danach zuckten, sie auf seinen Schenkel zu legen, der sich beim Schalten immer so verlockend spannte.
Eine Verlobte, die meilenweit weg lebte, die angeblich seine Anrufe nicht beantwortete und ständig ihre Besuche wieder absagte. Eine, die ihn unglücklich machte, während er bei Liesel ständig lächelte.
Doch egal, wie sehr sie es auch zu rechtfertigen versuchte, wer sie war und mit wem, es war ihr unbehaglich dabei. Vielleicht war sie eine Krabbe, die sich als Hummer verkleidete.
Was machte sie bloß hier?
Wie gut kannte sie diesen Mann überhaupt?
Ehrlich gesagt überhaupt nicht. Ein paar Stunden Hundeschule, und sie legte sich willig auf den Rücken und bettelte.
Sie blickte Tom auf dem Fahrersitz von der Seite her an und betrachtete sein perfektes Profil.
»Gehen wir zu dir«, dachte sie, konnte sich aber nicht durchringen, es laut auszusprechen. Sie kannte den Unterschied zwischen richtig und falsch sehr gut, und momentan konnte sie sich nicht dazu bringen, das Richtige zu tun, weil sich das Falsche so richtig fühlte.
In Port Isaac manövrierte er den Wagen durch die schmalen Straßen zum Hafen hinab. Der große Wagen wurde immer langsamer, weil die Straße so steil wurde, und blieb schließlich vor einem hohen Reihenhaus stehen.
Er stellte den Motor ab, aber sie regten sich beide nicht, um auszusteigen.
Liesel hörte in der Stille, wie die Wellen gegen die Hafenmauer schlugen.
»Hier sind wir«, sagte Tom schließlich und hielt weiter das Lenkrad umklammert wie einen Rettungsring.
Beide wussten sie, warum sie hier waren. Brenn mit mir durch, hatte er gesagt. Komm mit mir, vergiss alles und tu so, als hätten wir keinerlei Verantwortung. Schaffen wir uns eine Weile unsere eigene kleine Welt, in der nichts wichtig ist außer uns beiden.
Aber das Problem mit anderen Welten war, dass sie nur im Roman vorkamen. Narnia zum Beispiel. Wie viele Menschen haben sich davon anregen lassen und sind in einen Schrank gesprungen, um enttäuscht und nach muffigen Kleidern riechend wieder herauszukommen. Das wahre Leben hatte es an sich, immer wieder eine scharfe Ecke durch die Glitzerblase zu stoßen, in denen andere Welten immer zu schweben scheinen. Und schon liegt man platt mit dem Hintern wieder auf dem Boden der Tatsachen und leckt sich weinend die Wunden.
Ganz egal, wie sehr sie ihn begehrte, die schmutzige Wahrheit lautete, dass er nicht frei war. Warum kam die schmutzige Wahrheit nur immer dann heraus, wenn man gerade gedacht hatte, dass man sie im Griff hatte?
»Vielleicht sollten wir eine Weile bloß Freunde bleiben.« Das hatte sie nicht sagen wollen, glaubte aber, es sagen zu müssen.
Er sah sie von der Seite her an und löste den Sicherheitsgurt, um ihr richtig ins Gesicht blicken zu können.
»Falls du das vergessen hast, waren das meine Worte vor ein paar Wochen.«
»Ich habe nur gerade gemerkt, dass du Recht hattest. Willst du wirklich dein Leben für jemanden aufs Spiel setzen, den du erst seit fünf Minuten kennst?«
»Wer hat denn gesagt, dass ich mein Leben aufs Spiel setze?«
»Du bist in einer Beziehung, und ich bin in Beziehungen nie sehr gut. Das ist ein schlechter Ausgangspunkt.«
»Stimmt.«
»Außerdem bin ich chronisch monogam«, platzte Liesel heraus, die verzweifelt nach anderen Gründen suchte.
»Besser als eine Massenmörderin.«
»Du hast zwar gebeten, keine Worte zu erwähnen, die mit V oder C anfangen, aber du bist V mit C und ich glaube nicht, dass C sehr froh wäre, mich hier zu sehen.«
»Das ist wahr.« Sein Mund verzog sich ironisch.
»Und wir können die Tatsache nicht ignorieren, dass du V bist, sosehr du und ich uns vielleicht auch wünschen mögen ...« Sie hielt inne, weil sie sich plötzlich sehr albern und verletzlich vorkam.
»Du wünschst dir was? Sag mir, Liesel Ellis, was möchtest du am liebsten?«
Sie sah ihn unter ihren dichten dunklen Wimpern hervor an, und obwohl sie kein Wort sagte, konnte er die Antwort an ihren Augen ablesen.
»Dich«, schrien sie. »Ich wünschte, ich könnte dich für mich haben!«
Und Tom wusste in diesem Augenblick, in genau dieser Sekunde, dass jeder Widerstand zwecklos war. Daher ignorierte er seine Moral und seine Manieren und seine Mutter und seine Erziehung und alles, was ihm seit der Kindheit eingetrichtert worden war, wie man sich im Leben benehmen solle. Dass die Gefühle anderer immer Vorrang haben müssen. Zum ersten Mal folgte er einfach seinem Instinkt, und sein Instinkt riet ihm nun, sich vorzubeugen, ihr Kinn mit einem Finger anzuheben und sie ach so sanft auf den Mund zu küssen. Es war ein Kuss, der unmerklich von zärtlich und sanft an Intensität zunahm, bis sie sich einfach emotional wie körperlich in ein wunderbares Kuschelkissen von Gefühlen fallen ließen. Dieser Kuss war ganz anders als die Kollision ihres ersten Kusses, aber genauso intensiv, vielleicht weil ihm dieser kurze Moment der Entscheidung vorausgegangen war.
Und mit diesem Kuss wussten beide, dass jegliche Hoffnung darauf, anständig und gut und ehrlich zu sein, dahingeschmolzen war.
»Kommst du mit rein?«, fragte er leise und löste sich zögernd von ihr.
Liesel bekam kein Wort heraus, sondern nickte nur.