20
Es war sieben Uhr, und Liesel wartete fertig
angezogen in der Halle auf Sean Sutton.
Leider traf das auch auf alle anderen zu, von Eric
bis Alex. Selbst die Gäste, Mr. und Mrs. Polbrook und die
Garrity-Schwestern, die an ihren Tischen saßen und auf die
Tagessuppe warteten, leckten sich die Lippen und schnalzten mit den
Gebissen und hatten sich alle versammelt, um zu sehen, wohin die
schöne Liesel in ihrem hübschen Kleid heute Abend ausging.
Wichtiger noch war, mit wem sie ausging.
»Wow! Sieh dir das an!« Das war Alex, der das
Auftauchen der schwarzen Limousine ankündigte, die fast zu lang
war, um die steile Einfahrt hinabzufahren.
»Du hast einen Chauffeur«, bemerkte Marilyn
trocken.
»Ach ja.« Liesel zuckte bloß die Achseln.
Alex war natürlich sehr beeindruckt, aber Marilyn
war nicht sicher, ob das auch auf ihre Schwester zutraf. Liesel sah
ziemlich entsetzt aus. Sie hatte nicht gewusst, was sie zu erwarten
hatte, aber sicher nicht das hier.
Sean Sutton saß auf dem Rücksitz und winkte Liesel
durch das heruntergelassene Fenster zu. Sie seufzte tief
Er hatte offensichtlich auch vor, viel zu trinken
und außerdem Nachtisch zu essen. Was für ein Auto. Es war derart
angeberisch, dass die Fahrt eher peinlich sein würde statt ein
Vergnügen, wie er es offensichtlich geplant hatte.
Die Erkenntnis, dass sie einander nicht kannten und
die Verabredung ihrerseits nur stattfand, weil ihr
Selbstbewusstsein aufgepäppelt werden musste, und seinerseits, weil
ihm ihr Äußeres gefiel, war kein guter Start für einen Abend.
Liesel wurde plötzlich ungeheuer nervös - nun,
nicht gerade nervös, sondern eher ängstlich. Es war ein Gefühl, wie
wenn man plötzlich merkt, dass das, was man vorhat, überhaupt keine
gute Idee war. Aber jetzt war es zu spät, um abzusagen. Da stand
sie in ihrem feinen Kleid, und er stieg aus dem Wagen in seiner
schicken Hose und dem Sportjackett. Sie konnte sich jetzt nicht auf
dem Absatz umdrehen, ins Haus rennen und sich in ihrem Turmzimmer
einsperren.
Sean war augenscheinlich von dem nicht besonders
herzlichen Begrüßungskomitee unbeeindruckt, nahm ihre Hände, beugte
sich vor und küsste sie auf die Wange.
»Liesel, du siehst absolut umwerfend aus. Die
Kutsche wartet, Prinzessin.«
Marilyn unterdrückte ein Kichern, Alex blieb der
Mund offen stehen, Lorraine fiel fast in Ohnmacht, und Kashia, Ed
und Eric waren bereit, auf ein Stichwort hin jemanden umzubringen.
Liesel war sich fast sicher, dass Ed »Angeber« murmelte. Liesel
dankte Sean höflich, warf der Gruppe hinter sich ein letztes
Lächeln über die Schulter zu und stieg in die Limousine ein, als
käme das jeden Tag vor und wäre nicht das erste Mal für sie.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie ihre Stimme
wiederfand.
»Wohin fahren wir denn?«
»Wir gehen in eines meiner Lieblingsrestaurants in
Padstow.« Sean strahlte vor Freude über diesen Plan. »Normalerweise
dauerte es Monate, bis man dort einen Tisch bekommt, aber der
Besitzer ist ein persönlicher Freund von mir. Ich glaube, es wird
dir gefallen. Das Essen ist phänomenal, die Atmosphäre sehr nett.
Es gibt den besten Fisch in ganz Cornwall. Die Brasse mit
Fenchelsoße ist einfach göttlich.«
»Göttlich«, wiederholte Liesel erstaunt über diese
Wortwahl.
»Oh ja. Eine ungeheure Erfahrung. Es wird dir
gefallen.«
Wie herablassend er mich behandelt, dachte sie
verärgert. Anzunehmen, dass ich es nicht gewohnt bin, in guten
Restaurants zu essen oder von einem Chauffeur herumgefahren zu
werden. Nun, es stimmt, sagte sie sich dann, normal ist das nicht.
Ich bediene normalerweise Leute, die in guten Restaurants essen und
von einem Chaffeur herumgefahren werden. Verlegen zog sie an ihrem
Kleidersaum, der in der Sicherheit des Cornucopia in Ordnung gewesen war, inzwischen aber
um mehrere Zentimeter geschrumpft zu sein schien. Aber daraufhin
blickte er bloß auf ihre Beine, was sie noch verlegener machte.
Eine verlegene Liesel schnatterte normalerweise ununterbrochen,
aber heute fiel ihr nicht ein einziger Satz ein, und sie hielt den
Mund fest geschlossen.
Sean Sutton, der normalerweise endlos lange nur
über sich selbst reden konnte, tat das eine Weile, aber ohne eine
Reaktion. Dann beschloss er, das Schweigen zu mildern, indem er den
Reiseführer mimte und ihr jeden Zentimeter der Küstenstraße
erklärte, auf der sie fuhren. Er deutete auf Jamie Olivers
Restaurant, das Restaurant in Watergate Bay, Bedruthan Steps und
erzählte, dass John Betjeman auf der Pentire-Halbinsel gelebt
hatte.
Für Liesel, die wie ausgehungert auf alle möglichen
Informationen über ihre Umgegend war, war dies das beste Rezept,
ihr Interesse zu wecken und sie zu entspannen. Seine Begeisterung
war außerdem ziemlich ansteckend. Als sie ihr Ziel erreichten,
waren beide etwas lockerer geworden.
Padstow selbst war sehr hübsch. Eine steile,
gewundene Straße führte wie eine Rennstrecke hinab zu dem
malerischsten
Hafen, den Liesel je gesehen hatte. Das Restaurant lag in einem
restaurierten Hafenmeisterhaus, hatte breite Fenster auf den Hafen
hinaus, einen dunklen Schieferboden und niedrige Balkendecken. Im
Hintergrund spielte leise Jazzmusik.
Sie wurden von einem geschniegelten kleinen
Franzosen begrüßt, den Sean als Evariste vorstellte. Das war auch
der Name des Restaurants.
Nachdem die Männer einander die Hände geschüttelt
und sich gegenseitig auf den Rücken geklopft hatten, bekam Liesel
drei Begrüßungsküsse auf die Wangen - auf die eine, dann die
andere, und nochmal auf die erste. Dann führte Evariste sie an
ihren Tisch mit einem schönen Blick auf die Flussmündung. Der Chef
setzte sich einen Moment zu ihnen und erzählte Liesel mit großer
Begeisterung die Geschichte des kleinen Hafens.
Als einen Moment später eine Flasche Champagner
gebracht wurde, musste Liesel zugeben, dass ihr die Sache Spaß zu
machen begann, was sich noch verstärkte, als sie die Speisekarte
las. Wie verlockend das alles klang. Leider ging von der Vorspeise
an alles ein wenig bergab. Liesels wunderbar klingender
Hummer-Zitronen-Salat war bloß ein hübsches Muster auf dem Teller
und sah aus wie die Reste eines anderen Gastes, so wenig war
es.
»Ich glaube, sie haben den Hummer dabei vergessen«,
scherzte sie und stocherte mit der Gabel in dem kleinen Häufchen.
»Oh, nein, da ist er ja. Ich glaube zumindest, dass es der Hummer
ist, denn bei der Größe könnte sich auch eine Krabbe als Hummer
verkleidet haben. Der heutige Trend zur Miniaturisierung hat sich
wohl auch auf die Schalentiere ausgeweitet.«
Grinsend blickte sie auf, ob Sean lachte, aber er
lächelte
nur nachsichtig wie ein Vater über ein wenig amüsantes kleines
Kind. Und dann begann er, über das Cornucopia
zu reden, womit sie fest gerechnet hatte. Er fragte nicht
direkt nach dem Hotel selbst, sondern redete eher darum herum,
stellte verwandte Fragen, die einem weniger aufmerksamen Zuhörer
nicht sonderlich aufschlussreich erschienen wären, ihm aber die
Antworten gaben, die er brauchte. Fragen, wie Alex sich in der
neuen Schule zurechtfand, ob er Freunde gefunden hatte oder London
vermisste - alles Fakten, die ihm ein Bild vermittelten, ob sie
vorhatten, zurückzuziehen und das Hotel zu verkaufen oder nicht.
Nach außer hin wirkte er weiterhin aufrichtig interessiert an dem
Wohlergehen der Familie. Er war offensichtlich immer noch schärfer
darauf aus, das Hotel zu kaufen, als seine kühle Ablehnung an dem
Fischabend hatte vermuten lassen.
Na, aalglatt konnte man auch zu zweit spielen, und
Liesel hatte in den letzten Wochen genügend Übung gehabt, das Thema
zu vermeiden. Alles, was er fragte, lenkte sie daher ab. Als er
Alex erwähnte, fragte sie, ob er selbst Kinder habe, als er über
Arbeitsplätze sprach, fragte sie nach seinem Büro. Als er London
erwähnte, bog sie die Unterhaltung auf seine eigenen Besuche dort
um. In welchen Hotels er abstieg, welche Restaurants er besuchte.
Er bekam nicht eine einzige direkte Antwort, bis zu der Frage:
»Möchtest du einen Nachtisch?«
Zu ihrer Enttäuschung gab es keinen Toffee-Pudding.
Sean bestellte einen Kaffee und einen Whiskey. Liesel war fest
entschlossen, das Beste aus dem Abend zu machen, und entschied sich
für etwas Kalorienhaltiges mit Schokolade, doch dann war es ihr
peinlich, sich vor seinen Augen vollzustopfen, weil er ja nichts
aß, nahm einen Löffel voll und entschuldigte sich dann, um aufs Klo
zu gehen.
Nach kurzem Pinkeln verbrachte sie längere Zeit vor
dem Spiegel.
Ihr Gesicht war gerötet. Sie spritzte kaltes Wasser
auf die Wangen, überlegte, ob sie den Lippenstift nachziehen
sollte, dachte dann aber, dass er das vielleicht merken und denken
würde, es sei ihm zuliebe. Das wollte sie wirklich nicht. Sie
wollte nicht, dass er falsche Erwartungen hegte und vielleicht
annahm, sie fände ihn attraktiv, denn ehrlich gesagt mochte sie ihn
überhaupt nicht.
Doch er war nicht ganz so schlimm, wie sie
zuallererst gedacht hatte. Jaja, er war ein bisschen egozentrisch,
aber nicht unangenehm. Und sicher wusste er, wie man eine Frau
behandeln musste. Sie musste gestehen, dass sich ihre Meinung über
ihn leicht geändert hatte. Bei ihm war vermutlich das Gleiche
passiert, nur umgekehrt. Sie war heute Abend nicht gerade eine
aufregende Begleiterin gewesen. Sie überlegte, ob sie sich dafür
entschuldigen sollte, aber was konnte sie schon sagen? Tut mir
leid, dass ich eine muffige alte Kuh war, aber ich habe mich in
einen Mann verknallt, der nicht zu haben ist, daher war es wohl ein
Riesenfehler, mit dir auszugehen?
Doch vielleicht schmeichelte sie sich damit. Er
hatte den ganzen Abend viel über sich geredet, und zwar so, dass es
für Liesel nicht unangenehm war. Aber wahrscheinlich redete er
vermutlich so viel, weil sie so still gewesen war. Irgendwann war
er verstummt, hatte ihr tief in die Augen gesehen und gesagt:
»Erzähl mir was von dir.« Aber seine Intensität hatte sie so
geärgert, dass sie bloß gemurmelt hatte: »Da gibt es nicht viel zu
erzählen.« Vermutlich textete er gerade einem Freund, ihm zur Hilfe
zu kommen, während sie sich noch im Klo versteckte. Doch als sie an
den Tisch zurückkehrte, stand zu ihrer Überraschung ein weiteres
Glas Champagner vor ihr.
»Man würde denken, du willst mich betrunken
machen«, lächelte sie nervös.
Der lustvolle Blick kam wie erwartet, doch dann
überraschte er sie völlig, indem er sich entschuldigte und eine
Flasche Wasser bestellte.
Als sie gegessen hatten, nahm sie an, dass er
ebenso verzweifelt gehen wollte wie sie selbst, doch stattdessen
stand er auf, zog ihren Stuhl zurück und schlug vor: »Wir können in
der Bar noch einen trinken.« Da sie sich inzwischen sehr schuldig
fühlte, weil sie so langweilig gewesen war, nickte sie fröhlich und
stimmte zu, entschlossen, ihm immerhin ein bisschen Gegenwert zu
liefern. Sie hatte einen verstohlenen Blick auf die Rechnung
geworfen, als er mit Evariste plauderte, und wusste, dafür musste
sie ihm eigentlich eine interessantere Show bieten, doch sie hatte
ihm bereits ihre besten schlechten Witze erzählt, über die er
pflichtschuldig gelacht hatte, und daher erzählte sie ihm noch
einen. Vier schlechte Witze später lachte er lauthals und übernahm
den nächsten. Als er einen weiteren Drink vorschlug, nickte sie,
ohne zu überlegen.
Da entdeckte sie ihn auf der anderen Seite der Bar
mit ein paar Freunden.
»Tom!«, rief sie laut, ohne nachzudenken.
»Wie bitte?« Sean Sutton sah sie fragend an.
»Tom... äh... ich meine, Tommy Cooper. Ich fand
Tommy Cooper immer ziemlich toll.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du alt genug bist,
um dich an ihn zu erinnern.«
»Alles Wiederholungen«, murmelte Liesel und glitt
von ihrem Barhocker. »Würdest du mich bitte einen Moment
entschuldigen? Ich muss mein Näschen pudern.«
Seit dem Kuss hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Das
hier
war bestimmt kein Zufall. Cornwall war eine der größten
Grafschaften in England. Er sah sie und löste sich ein wenig aus
der Gruppe. Es sah so aus, als begegneten zwei Bekannte sich
zufällig.
»Was machst du denn hier?« Seine Frage traf sie
unerwartet.
»Ich wollte gerade dasselbe fragen.«
»Ich habe aber zuerst gefragt.«
»Ich habe hier gegessen«, antwortete sie
vorsichtig.
»Mit dem da?« Er nickte in Richung Sean, der sich
glücklicherweise wieder mit Evariste unterhielt.
Liesel nickte.
»Was in aller Welt hast du denn mit Sean Sutton zu
tun?«
»Wie ich schon sagte, wir waren essen«, wiederholte
Liesel vorsichtig. Sie wurde immer verwirrter über Toms Anwesenheit
hier.
»Du weißt, wie ich das meine.«
»Warum sollte ich denn nicht mit ihm ausgehen? Wir
sind doch beide ungebunden«, sagte sie spitz. »Er sieht gut aus,
ist erfolgreich und intelligent...«
»Er ist ein Idiot.«
Einen Moment lang starrten sie einander wütend an,
doch dann konnte Liesel nicht anders, als den Mund zu einem Lächeln
zu verziehen. Sie konnte sich auch nicht beherrschen, rasch und
verlegen zu flüstern: »Ja, ich weiß«. Doch dann wandte sie sich
trotzig zu den Tischen. »Und was machst du hier?«
»Ich bin mit Freunden hier auf einen Drink.«
»Gehst du oft hierher?«
»Nein, sonst nie. Mir ist es zu protzig und viel zu
teuer.«
»Ja, was machst du dann heute Abend hier?«, fragte
sie, wusste die Antwort aber, noch ehe er sie aussprach. »Woher
wusstest du, dass ich hier sein würde?«, fragte sie.
»Ist das nicht ein bisschen arrogant?« Er versuchte
beleidigt auszusehen, was ihm aber völlig misslang. »Okay,
vielleicht hat die Tatsache etwas damit zu tun, dass eure Kellnerin
heute Abend eine gute Freundin von Lorraine ist...«
Dann biss er sich auf die Unterlippe und sah so süß
aus, dass sie ihm alles verziehen hätte.
»Vielleicht hat sie ihr eine SMS geschickt, und
Lorraine hat es vielleicht Adrian gegenüber erwähnt...«
Die gute Lorraine. Aber Liesels absurde Freude
darüber wurde weiter von Unverständnis getrübt.
»Also gut, ich weiß jetzt, dass die Buschtrommeln
hier lauter trommeln als anderswo, aber ich versuche es nochmal.«
Die Antwort war für sie sehr wichtig. »Was machst du hier?«
Tom blickte zu Boden, rieb sich die Nase mit einem
Finger und schnappte dann die Unterlippe mit den Zähnen, was eine
Angewohnheit zu sein schien.
»Also, ich hatte die verrückte Idee, herzukommen
und Sean Sutton mit einem Stein an den Füßen in den Hafen zu
werfen, um dich anschließend zu fragen, ob du mit mir
durchbrennst.«
Liesel unterdrückte aus Selbstschutz das Lächeln,
das sich ihr auf die Lippen drängte, spähte stattdessen in sein
Glas und roch daran.
»Was hast du getrunken?«
»Tonicwasser. Brenn mit mir durch, Liesel.«
»Tonicwasser mit drei Gins?«
»Nur Tonic. Ich will, das du mit mir wegläufst«,
wiederholte er. »jetzt. In diesem Augenblick. Lass den Mann da
sitzen und geh mit mir fort.«
»Das kann ich nicht. Du bist praktisch
verheiratet.«
»Bin ich nicht...«, begann er, doch Liesel
unterbrach ihn, ehe er Hoffnung schöpfen konnte.
»Außerdem wäre das sehr unhöflich gegenüber Sean.
Er ist vielleicht ein Idiot, aber er hat mich heute Abend sehr nett
behandelt. Ich meine, wenn er ein Arschloch wäre und du würdest
mich vor ihm retten, das wäre etwas anderes, aber eigentlich ist er
ein ganz netter Mann.«
»Hm-hm. Ich verstehe.«Tom überlegte einen Moment
und sah sie dann voller Hoffnung an. »Aber langweilt er dich nicht
zu Tode?«
»Oh, mein Gott, ja!«
»Na!«
»Ja und?«
»Ach, Langeweile ist doch genauso schlimm wie
schlechte Behandlung.«
»Möglich, möglich.« Liesel nickte. Sie musste aber
einfach lächeln. »Wenn ich allerdings völlig ehrlich sein will,
dann muss ich sagen, dass ich ihn ebenso langweile wie er mich...
du weißt, wie es ist, wenn man es sehr schwierig findet, mit
jemandem zu reden, dass man dann einfach den Mund hält? Also,
eigentlich schweige ich ja nie viel, aber mit ihm -
Totenstille.«
»Du langweilst ihn also auch?«
»Oh ja, absolut. Der arme Mann. Der Tischschmuck
hat ihn besser unterhalten.«
»Du hast bei ihm einfach abgeschaltet.«
Liesel dachte darüber nach. Das war gut
ausgedrückt.
Ganz egal, wie gut aussehend und erfolgreich der
Mann auch war, genau das tat er. Er schaltete sie ab, statt sie
anzumachen. Während Tom... nun, es war unter den Umständen sehr
ungerecht, aber er brachte sie genauso zum Strahlen wie irgendein
berühmter Popstar, der die Weihnachtsbeleuchtung auf der Oxford
Street anknipste.
»Also komm, lass uns gehen...«
»Tom, nein... bitte.«
»Ich meine das ernst. Komm mit mir.«
»Das kann ich nicht. Ich würde es mir nie
verzeihen, jemanden so schrecklich zu behandeln.«
Da nahm er ihre Hand, woraufhin sie zusammenzuckte,
und sagte so ernsthaft, dass alle Arroganz in der Bemerkung davon
ausgelöscht wurde: »Was würdest du morgen früh mehr bereuen, mit
mir gegangen zu sein oder nicht mit mir gegangen zu sein?«
»Du weißt, was du hier sagst, nicht wahr?«
»Genau. Ich bin arrogant und nehme einfach an, dass
du dich ebenso fühlst wie ich.«
»Das weißt du doch. Aber wichtiger ist, dass du
zugibst, mich auch zu wollen.«
»Das weißt du doch.« Er wiederholte dieselben Worte
ganz bewusst.
Einen Moment lang schwieg sie, bis er sanft einen
Finger auf ihren Mund legte.
»Bitte. Keine Worte, die mit V oder C anfangen«,
murmelte er leise.
Liesel sah ihn verwirrt an.
»Verlobt und Caroline«, erklärte er.
»Und S?«, fragte sie und nahm seinen Finger fort.
Er sah sie fragend an.
»S für Schuldgefühle.« Sie zuckte die
Achseln.
»Haben wir denn irgendwas getan, wofür wir uns
schuldig fühlen müssten?«
»Nein, noch nicht.«
»Das klingt gut.«
»Was?«
»Das noch. Das heißt, es
besteht die Möglichkeit.«
»Bist du sicher, dass du nicht betrunken
bist?«
»Ich bin nicht betrunken. Und du?«
»Nein.«
»Dann sind wir also nichts und niemandem
irgendetwas schuldig.«
Liesel nickte.
»Du wirst also mit mir kommen?«
»Ja«, flüsterte sie.
Von Padstow nach Port Isaac. Keine sehr weite
Entfernung in Meilen, aber eine verdammt lange Fahrt für jemanden,
der sich so zerrissen fühlte, dass sie geschworen hätte, zwei
Seelen in ihrer Brust zu haben.
Vom Restaurant zu Toms Auto. Ein kleiner Schritt
für Liesel, ein Riesenschritt in Richtung Unhöflichkeit.
Eine auf eine Papierserviette gekritzelte
Entschuldigung, als Vorwand eine Familienkrise, war nicht die
richtige Art, Sean Sutton für das unglaublich teure Essen zu
danken.
Liesel war eine Weltmeisterin in Sachen
Schuldgefühle.
Er hat ein Verlobte, sagte
sie sich wiederholt, selbst wenn ihre Finger danach zuckten, sie
auf seinen Schenkel zu legen, der sich beim Schalten immer so
verlockend spannte.
Eine Verlobte, die meilenweit weg lebte, die
angeblich seine Anrufe nicht beantwortete und ständig ihre Besuche
wieder absagte. Eine, die ihn unglücklich machte, während er bei
Liesel ständig lächelte.
Doch egal, wie sehr sie es auch zu rechtfertigen
versuchte, wer sie war und mit wem, es war ihr unbehaglich dabei.
Vielleicht war sie eine Krabbe, die sich als Hummer
verkleidete.
Was machte sie bloß hier?
Wie gut kannte sie diesen Mann überhaupt?
Ehrlich gesagt überhaupt nicht. Ein paar Stunden
Hundeschule, und sie legte sich willig auf den Rücken und
bettelte.
Sie blickte Tom auf dem Fahrersitz von der Seite
her an und betrachtete sein perfektes Profil.
»Gehen wir zu dir«, dachte sie, konnte sich aber
nicht durchringen, es laut auszusprechen. Sie kannte den
Unterschied zwischen richtig und falsch sehr gut, und momentan
konnte sie sich nicht dazu bringen, das Richtige zu tun, weil sich
das Falsche so richtig fühlte.
In Port Isaac manövrierte er den Wagen durch die
schmalen Straßen zum Hafen hinab. Der große Wagen wurde immer
langsamer, weil die Straße so steil wurde, und blieb schließlich
vor einem hohen Reihenhaus stehen.
Er stellte den Motor ab, aber sie regten sich beide
nicht, um auszusteigen.
Liesel hörte in der Stille, wie die Wellen gegen
die Hafenmauer schlugen.
»Hier sind wir«, sagte Tom schließlich und hielt
weiter das Lenkrad umklammert wie einen Rettungsring.
Beide wussten sie, warum sie hier waren. Brenn mit mir durch, hatte er gesagt. Komm mit mir, vergiss alles und tu so, als hätten wir
keinerlei Verantwortung. Schaffen wir uns eine Weile unsere eigene
kleine Welt, in der nichts wichtig ist außer uns beiden.
Aber das Problem mit anderen Welten war, dass sie
nur im Roman vorkamen. Narnia zum Beispiel. Wie viele Menschen
haben sich davon anregen lassen und sind in einen Schrank
gesprungen, um enttäuscht und nach muffigen Kleidern riechend
wieder herauszukommen. Das wahre Leben hatte es an sich, immer
wieder eine scharfe Ecke durch die Glitzerblase
zu stoßen, in denen andere Welten immer zu schweben scheinen. Und
schon liegt man platt mit dem Hintern wieder auf dem Boden der
Tatsachen und leckt sich weinend die Wunden.
Ganz egal, wie sehr sie ihn begehrte, die
schmutzige Wahrheit lautete, dass er nicht frei war. Warum kam die
schmutzige Wahrheit nur immer dann heraus, wenn man gerade gedacht
hatte, dass man sie im Griff hatte?
»Vielleicht sollten wir eine Weile bloß Freunde
bleiben.« Das hatte sie nicht sagen wollen, glaubte aber, es sagen
zu müssen.
Er sah sie von der Seite her an und löste den
Sicherheitsgurt, um ihr richtig ins Gesicht blicken zu
können.
»Falls du das vergessen hast, waren das meine Worte
vor ein paar Wochen.«
»Ich habe nur gerade gemerkt, dass du Recht
hattest. Willst du wirklich dein Leben für jemanden aufs Spiel
setzen, den du erst seit fünf Minuten kennst?«
»Wer hat denn gesagt, dass ich mein Leben aufs
Spiel setze?«
»Du bist in einer Beziehung, und ich bin in
Beziehungen nie sehr gut. Das ist ein schlechter
Ausgangspunkt.«
»Stimmt.«
»Außerdem bin ich chronisch monogam«, platzte
Liesel heraus, die verzweifelt nach anderen Gründen suchte.
»Besser als eine Massenmörderin.«
»Du hast zwar gebeten, keine Worte zu erwähnen, die
mit V oder C anfangen, aber du bist V mit C und ich glaube nicht,
dass C sehr froh wäre, mich hier zu sehen.«
»Das ist wahr.« Sein Mund verzog sich
ironisch.
»Und wir können die Tatsache nicht ignorieren, dass
du V bist, sosehr du und ich uns vielleicht auch wünschen mögen
...« Sie hielt inne, weil sie sich plötzlich sehr albern und
verletzlich vorkam.
»Du wünschst dir was? Sag mir, Liesel Ellis, was
möchtest du am liebsten?«
Sie sah ihn unter ihren dichten dunklen Wimpern
hervor an, und obwohl sie kein Wort sagte, konnte er die Antwort an
ihren Augen ablesen.
»Dich«, schrien sie. »Ich wünschte, ich könnte dich
für mich haben!«
Und Tom wusste in diesem Augenblick, in genau
dieser Sekunde, dass jeder Widerstand zwecklos war. Daher
ignorierte er seine Moral und seine Manieren und seine Mutter und
seine Erziehung und alles, was ihm seit der Kindheit eingetrichtert
worden war, wie man sich im Leben benehmen solle. Dass die Gefühle
anderer immer Vorrang haben müssen. Zum ersten Mal folgte er
einfach seinem Instinkt, und sein Instinkt riet ihm nun, sich
vorzubeugen, ihr Kinn mit einem Finger anzuheben und sie ach so
sanft auf den Mund zu küssen. Es war ein Kuss, der unmerklich von
zärtlich und sanft an Intensität zunahm, bis sie sich einfach
emotional wie körperlich in ein wunderbares Kuschelkissen von
Gefühlen fallen ließen. Dieser Kuss war ganz anders als die
Kollision ihres ersten Kusses, aber genauso intensiv, vielleicht
weil ihm dieser kurze Moment der Entscheidung vorausgegangen
war.
Und mit diesem Kuss wussten beide, dass jegliche
Hoffnung darauf, anständig und gut und ehrlich zu sein,
dahingeschmolzen war.
»Kommst du mit rein?«, fragte er leise und löste
sich zögernd von ihr.
Liesel bekam kein Wort heraus, sondern nickte
nur.