6
Die Nervosität wurde von Aufregung überdeckt. Die ersten Gäste sollten erst nach dem Mittagessen ankommen, aber Liesel, die nicht schlafen konnte, war schon um fünf Uhr auf den Beinen und ging den gesamten Fluss entlang zum Strand, wo die hereinrollende Flut auf sie wartete, um sie zurückzubegleiten. Sie ließ den Fluss zu prächtiger Größe anschwellen und verwandelte das Cornucopia in eine Burg mit Wassergraben.
Liesel staunte so sehr über die Schönheit, dass sie beschloss, Marilyn und Alex das Frühstück auf der Steinterrasse zu servieren, obwohl es nicht gerade warm war. Aber irgendwie schien es sehr verlockend, in warme Pullover eingewickelt in der schwachen Sonne zu sitzen, kalten Toast zu knabbern und den schnell abkühlenden Tee zu trinken, während das Meer vor ihnen fast in den Garten schwappte.
Die ersten Gäste, die Heathers, kamen pünktlich und wie verabredet um drei Uhr an. Sie waren sehr nett, verliebten sich sofort in Alex, der sie an ihren eigenen Enkel erinnerte, und waren für alles, was man ihnen servierte, so überwältigend dankbar, dass es ein Vergnügen war, sie als Gäste zu haben.
»Wo sind denn die anderen sechs?«, flüsterte Liesel Marilyn zu, als sie den Heathers halfen, die Koffer in das Zimmer zu tragen.
»Wie bitte?«
»Die Zwerge. Wir haben hier Happy in zweifacher Ausführung. Sie sind wirklich ein süßes Paar, wie aus dem Märchen. Aber sonst ist niemand so niedlich und freundlich.«
»Und auch nicht so klein«, nickte Marilyn zustimmend. »Ich muss gestehen, man erwartet jeden Augenblick, dass sie anfangen zu singen.«
Das einzige kleine Problem trat auf, als das ältliche Ehepaar bat, den Nachmittagstee auf der Terrasse einnehmen zu können statt im Salon.
»Nachmittagstee?«, fragte Liesel Lorraine, die nickte.
»Wir servieren um vier Uhr nachmittags immer Tee und Kuchen, wenn das gewünscht wird, entweder im Salon oder auf der Terrasse. Das hängt natürlich vom Wetter ab.« Sie nickte langsam, als würde sie ein fast allmächtiges Geheimnis verraten.
»Ob es regnet oder nicht?«
»Absolut.«
»Na gut. Das ist ja in Ordnung.«
»Ja, es wäre in Ordnung, wenn...«
»Wenn?«
»Wir haben keinen Kuchen. Eric backt sonst immer frisch gleich nach dem Frühstück.«
»Und Eric war nicht zum Frühstück hier, weil nur wir hier waren und keine Gäste.«
»Genau. Er kommt erst um fünf, um das Abendessen vorzubereiten, aber das ist zu spät für den Tee um vier, nicht wahr...«
»Na, der Einzige, der hier weiß, wie man einen halbwegs anständigen Kuchen backt, ist Alex. Das hat er in der Schule gelernt. Und das Rezept kennt er sicher auswendig«, meinte Marilyn zögernd. »Für einen Achtjährigen mit einem süßen Zahn war das ganz einfach. Er macht einen wunderbaren Sandkuchen, aber reicht das?«
Lorraine nickte begeistert. »Mr. und Mrs. Heather lieben guten Sandkuchen.«
Liesel fand Alex im Garten, wo er einen sehr zögernden Godrich an der Leine herumführte. Der Hund trug ein altes Superman-Cape um die Lefzen gewickelt.
»Hallo, Kid, has du Lust, einen Kuchen zu backen?«
»Kann Godrich mithelfen?«
»Du weißt, er darf nicht in die Küche.«
Alex legte beim Nachdenken den Kopf schräg.
»Nein danke. Ich spiele lieber hier draußen mit Godrich.«
Nach dem märtyrerhaften Gesichtsausdruck des Hundes zu urteilen, teilte er diese Vorliebe überhaupt nicht.
Liesel überlegte rasch.
»Du kannst ja einen Kuchen nur für Godrich backen, wenn du willst...«
Liesel kannte ihren Neffen sehr gut. Fünf Minuten später stand ein rasch gewaschener Superman mit einer Schürze und einer Kochmütze in der Küche. Sein Gesicht war mehlfleckig. Draußen vergrub ein sehr erleichterter Godrich das Superman-Cape unter den Azaleen.
Der Tee wurde nur eine Viertelstunde später als angekündigt serviert. Die Einzige, die das offensichtlich störte, war Lorraine, die zwischen fünf vor vier und Viertel nach das Händeringen zur olympischen Sportart machte.
Um fünf Uhr eilte Lorraine in die Küche, wo Marilyn gerade die Vorräte überprüfte. Ihre großen Augen quollen vor Sorge noch weiter aus dem Kopf. Eric hatte sich krankgemeldet. Es sah aus, als würde Lorraine seinem Beispiel folgen. Ihr Gesicht war gerötet, die Hände zitterten. Man konnte ihren Herzschlag fast hören.
Marilyn sah hoch und lächelte sie beruhigend an.
»Ich glaube, ich schaffe es gerade eben, Dinner für acht Personen zu kochen.«
»Heute Abend haben wir vier im Speisesaal.«
»Und vier hier in der Küche.«
Marilyn sah, wie Lorraine im Geiste durchzählte: Liesel, Marilyn, Alex. Man sah, wie sie versuchsweise Godrich mitzählte, ehe sie schließlich die Tatsache akzeptierte, dass Marilyn sie beim Essen mit einschloss.
Ihre Überraschung war eigentlich sehr traurig.
»Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie sonst ohne einen Bissen durcharbeiten?«
»Nun, wenn ich ein wenig hungrig bin, mache ich mir rasch ein Käsebrot.«
»Wenn wir für alle anderen kochen, wäre es albern, nicht so viel vorzubereiten, dass wir alle mitessen können.«
Da ertönte die Glocke im Empfang. Lorraine sprang fast an die Decke.
»Die Sedgwicks!«, schrie sie panisch, als verkündete sie, dass Attila der Hunnenkönig mit seinen Horden plündernd ins Hotel eingedrungen wäre. Da sie an diesem ersten Tag für den Empfang zuständig war, schoss sie hinaus.
»Kannst du Lorraine ein paar Beruhigungspillen ins Essen schmuggeln?«, scherzte Liesel. »Ihre Nerven sind so zerrüttet, dass man glauben könnte, ihr letzter Job war Zielscheibe auf einem Schießstand.«
»Ich weiß, es ist so, als erwarte sie ständig, dass man sie für alles, was schiefgeht, anschreit, ob es nun ihre Schuld ist oder nicht«, stimmte Marilyn zu. »Na, und jetzt...« Sie blickte auf die Uhr. »... müssen wir das Essen kochen. Was meinst du, können wir das?«
»Du sagst doch immer, man kann alles, wenn man es sich nur ernsthaft vornimmt.«
»Ja, aber du weißt genau, dass ich das nicht kann, wenn ich zu nervös bin.«
»Ein bisschen Psychologie wirkt oft Wunder«, grinste Liesel. »Komm, schauen wir mal, was wir im Haus haben, ehe wir die Restaurants in der Stadt anrufen.«
Bei einer weiteren Erkundung der Küche hatten sie einen riesigen begehbaren Kühlschrank entdeckt, auf den Marilyn nun zuging. Ihre Nerven waren wieder straff gespannt.
»Na, was haben wir denn hier?«, fragte sie und öffnete die Kühlschranktüren.
Marilyn war eine gute Köchin für den Hausgebrauch, wie ihre Großmutter immer zu sagen pflegte. Sie und Liesel waren auch sehr gut in der Lage, aus fast nichts etwas zu zaubern - wie die meisten Menschen, die mit einem schmalen Budget leben mussten.
Eine Stunde später wurde als Hauptgang ein wunderbares Rindergulasch in Biersoße mit gebutterten Ofenkartoffeln und frischem Gemüse angeboten. Liesel hatte einen Krabbencocktail hübsch hergerichtet, und Alex’ federlockerer Sandkuchen war mit Sahne und Sirup zu einem Toffee-Pudding aufgemotzt worden.
Lorraine hatte angeboten, zu helfen, aber da Marilyn, Liesel und Alex in der Küche ein gutes Team waren, hatte sie sich zurückgezogen und ehrfürchtig zugeschaut, wie geschickt die drei alles zustande brachten. Sie summten nur so nebeneinander her, gingen einander geschickt aus dem Weg, wuschen das Nötigste gleich wieder ab, rissen Töpfe vom Herd, sobald sie damit fertig waren, tauchten sie in siedendheißes Wasser und schrubbten sie gründlich.
Liesel, die erfahrene Kellnerin, bestand darauf, zu bedienen. Lorraine, die unbedingt helfen wollte, war beeindruckt von ihrem Tempo und ihrer Geschicklichkeit und wie viele Teller sie mit einer Hand tragen konnte.
Als die Gäste fertig gegessen und sich zu Kaffee und Schokolade niedergelassen hatten, setzten sich die vier ebenfalls zum Essen hin. Lorraine wirkte dabei schrecklich unsicher und wurde noch verlegener, als die anderen sie in ihre Unterhaltung einbeziehen wollten, um ihre Anspannung zu lindern. Sie schlang ihr Gericht so rasch hinunter, dass sie vermutlich schreckliches Sodbrennen bekam. Anschließend eilte sie sofort davon, angeblich, um ein letztes Mal den Wäscheschrank zu kontrollieren, ehe Marilyn sie am Arm erwischte und sanft zur Tür führte, damit sie nach Hause ging. Es war fast ebenso schwer, Alex aus der Küche zu vertreiben und etwas mehr Kindgerechtes zu tun, zum Beispiel fernsehen.
»Das hat wirklich Spaß gemacht, Mum«, sagte er, als wären Kochen und Abwaschen ein seltenes Vergnügen. »Viel besser als Fernsehen und Computerspiele. Kann ich das morgen wieder machen?«
»Ja, vielleicht«, lächelte Marilyn und sah Liesel mit einer hochgezogenen Braue an, als Alex endlich in ihre Privaträume überwechselte. »Man wird mich wegen Kindersklaverei verhaften, wenn ich ihn noch mehr tun lasse.« Sie seufzte.
»Es hat ihm aber Spaß gemacht.«
»Ja, nicht wahr?« Marilyns Stirn glättete sich. Sie nickte.
»Und wir waren sehr gut, stimmt’s?«, bohrte Liesel nach.
»Wir haben es geschafft, aber ich weiß nicht, was wird, wenn der Laden wirklich voll ist. Der Speiseaal hat dreißig Gedecke.«
»Gedecke?«
»Das heißt, wir können bei voller Kapazität dreißig Gäste bedienen.«
»Oh, hör sich das einer an. Du hast ja schon die Fachsprache drauf«, scherzte Liesel. »Aber der Raum wirkt sogar noch größer.«
»Das sind Sitzplätze.«
»Ach so.«
»Falls wir jemals ausgebucht sind.« Die vorsichtige Marilyn musste diesen Dämpfer hinzufügen.
»Natürlich sind wir das bald.« Liesel legte beruhigend einen Arm um die Schwester. »Das wird das beste Hotel in ganz Piran Cove. Die Küche ist jetzt schon großartig. Ich kümmere mich jetzt um die Bar.«
»Und ich überrede meinen Sohn, dass er endlich ins Bett geht.«
»Na, ich weiß, welcher Job mir lieber ist.«
Liesel war noch nie in einer so leeren, ruhigen Bar. Die Sedgewicks hatten nach dem Dinner je einen kleinen Sherry getrunken und waren um neun ins Bett gegangen. Da blieben Liesel nur die Heathers, die nach ihren je zwei Brandys lebhafter wurden, aber auch müde von der Reise waren und sich kurz darauf zurückzogen. Sie schloss die Bar, ging nach draußen auf die Terrasse, lehnte sich an die Steinbalustrade und beobachtete den Mond, der sich unten im Wasser spiegelte, und dankte den glänzenden Sternen über ihr für den ruhigen Abend.
Ein paar Minuten später gesellte sich Marilyn zu ihr, die den aufgeregten Alex nur mit Mühe ins Bett bekommen hatte. Sie hatte ihn mit Kakao bestochen, mit einem Butterkeks für ihn und Godrich und einem Video auf seinem tragbaren Fernseher.
Die beiden Schwestern standen in entspanntem Schweigen nebeneinander. Beide mussten erst einmal ihre Gedanken sammeln, sich umsehen, wo sie waren, und ein stummes Dankgebet gen Himmel schicken.
»Na, wie fandest du deinen ersten richtigen Tag?«, fragte Marilyn schließlich.
»Himmlisch!«, hauchte Liesel und beugte sich weiter vor, um die frische, würzige Nachtluft tief einzuatmen statt nur Auspuffgase und Diesel.
Marilyn nickte nur.
 
Der Wecker klingelte am nächsten Morgen um fünf Uhr.
Liesel fiel fast aus dem Bett, tapste benommen zur Tür und landete auch prompt in ihrem Schrank.
War das nicht schrecklich, aufzuwachen und nicht zu wissen, wo man war? Im Halbschlaf war sie wie immer dem Weg in der Wohnung in Hackney vom Bett zum Bad gefolgt. Stattdessen taumelte sie nun zum Fenster, zog die Vorhänge auf und ließ das erste Licht des neuen Tages herein.
Sie hatte sich bereits in ihr neues Zimmer verliebt - trotz der rosa Blümchentapete, die aussah, als hätte ein Nylonnachthemd den Aufstand geprobt, trotz des rotgemusterten Teppichs, der überhaupt nicht zu der Tapete passte. Er wirkte so aggressiv, dass er eigentlich einen Kapuzenpulli tragen müsste und auf den Knöcheln die Tätowierungen HASS und LIEBE.
Sie hatte sich schon überlegt, die Dielen freizulegen und hell aufzupolieren; die Wände würde sie in einem sanften Gelbton streichen, um das Sonnenlicht zu spiegeln, das sich schon mit zögernden Fingern durch die Spalte der stumpfbraunen Vorhänge tastete.
Von ihrem Zimmer aus konnte sie das Meer nicht sehen, denn es lag nicht hoch genug, aber sie hatte einen wunderbaren Blick auf den Fluss, und wenn sie auf der Fensterbank saß und sich so weit wie möglich zurücklehnte, konnte sie den Strand sehen - bei Flut auch eine kleine Ecke des Meeres.
An diesem Morgen war Flut, und die Landschaft war wieder wie verwandelt. Das Wasser schlängelte sich fast um das ganze Haus, so dass man sich wie auf einer Insel fühlte.
Liesel ging ihre Schwester suchen. Es war seltsam, nicht das Zimmer mit Marilyn zu teilen. Einerseits war es schön, allein zu sein, aber auch schrecklich, Marilyn nicht ständig bei sich zu haben.
Marilyns Zimmer, ein Stockwerk höher, lag noch im Dunkeln. Liesel stieß leise die Tür einen Spalt auf. Das Zimmer war genau wie ihres ein weiteres Denkmal für schlechten Geschmack, aber mit dem gesammelten Potenzial eines neuen Schülers, der für eine alte, gute Schule ein Stipendium gewonnen hat.
Marilyn schlief zusammengerollt wie eine Waldmaus und wirkte trotzdem völlig entspannt. Seitdem sie vor zwei Tagen hier angekommen waren, hatte sie ununterbrochen geschuftet und nicht nur alles gelernt, was Lorraine ihr beibringen konnte, sondern auch tapfer versucht, alle Kisten auszupacken. Sie hatte sogar begonnen, Alex zu helfen, sein Zimmer in das eines Achtjährigen zu verwandeln statt das einer Achtundsiebzigjährigen, und zahllose Müllsäcke mit Strohblumen und Spitzendeckchen gefüllt.
Liesel hatte nicht das Herz, sie zu wecken. Falls Eric nicht auftauchte, würde sie es sicher schaffen, viermal warmes Frühstück zuzubereiten. Das konnte doch jeder. Lorraine hatte ihnen am Vorabend versichert, dass Kashia, die Kellnerin, sehr zuverlässig sei - doch dann hatte sie leise geschnieft, was andere Probleme andeutete. Sie würde sicher heute Morgen zum Bedienen erscheinen.
Liesel stellte den Wecker der Schwester auf halb neun, schloss leise die Zimmertür und ging hinauf, um nach Alex zu sehen. Wenn Godrich auf dem Bett und Alex im Hundekorb gelegen hätte, wäre sie nicht überrascht gewesen - das hätte dem momentanen Stand ihrer neuen Beziehung entsprochen.
Aber so schlimm war es nicht. Sie lagen beide im Bett, beide mit offenem Mund und schwer atmend. Godrich nahm zwei Drittel des großen Doppelbetts in Beschlag. Seine Beine zuckten heftig, weil er von irgendeiner Hundetätigkeit träumte, und traten Alex mit jedem imaginären Sprung heftig in den Rücken.
Liesel lächelte. Wie schön, dass Alex trotz dieser Störungen so tief schlief. Nächste Woche würde er in der neuen Schule beginnen, und sie rechnete damit, dass es mit dem ruhigen Schlaf dann erst einmal vorbei war. Der erste Tag kostete immer viel Nerven. Wie die neue Klasse ihn wohl aufnehmen würde? Die neue Schule hatte auch sehr strenge Regeln hinsichtlich der Uniform, und Alex war klar, dass seine Mutter ihn endlich aus seinem geliebten Superman-Cape und den blauen Strumpfhosen herausschälen würde.
Alex sagte nie sehr viel, aber Liesel kannte ihn in- und auswendig. Sie wusste daher, je näher dieser Tag rückte, desto stärker würde Alex sich zurückziehen, sich ängstlich und scheu hinter seinem Cape verstecken und immer öfter morgens in aller Frühe in ihr oder Marilyns Bett kriechen.
Liesel ignorierte die große Badewanne, die sie zu rufen schien wie eine Schiffssirene einen Matrosen, duschte stattdessen nur rasch, zog sich an und ging nach unten. Das Klappern von Besteck, das sie beim Betreten der Halle hörte, beruhigte sie. Kashia war wie versprochen aufgetaucht.
In der Tat war eine Frau im Speisesaal damit beschäftigt, die zwei Tische einzudecken. Sie war das völlige Gegenteil zu der kleinen, fülligen Lorraine mit dem strähnigen Haar. Kashia war groß, blond und üppig. Man hätte sie sogar glamourös nennen können, wenn ihre Augen nicht so misstrauisch geblickt und ihre Mundwinkel nicht so nach unten gezogen gewesen wären.
»Hi, Sie müssen Kashia sein«, rief Liesel fröhlich, hüpfte lächelnd ins Zimmer und streckte der anderen die Hand hin.
Die Frau trat allerdings einen Schritt zurück, als wäre sie von Liesels Begeisterung mehr erschrocken als durch deren plötzliches Auftauchen.
»Sie sind doch Kashia, oder? Keine verrückte Einbrecherin, die uns alles klaut, aber vorher den seltsamen Drang verspürt, den Tisch zu decken?« Liesel war verunsichert, verschanzte sich aber wie immer hinter einem Witz, der auch von einem Lächeln belohnt wurde. Es war ein gepresstes, kein offenes Lächeln. Aber immerhin...
»Ja, ich Kashia Fabriziowitsch.«
»Ich bin Liesel.«
»Ah, das Fräulein. Ja.«
»Bitte, Liesel reicht.«
»Deutscher Name, ja? Sie Deutsche?«
»Nein, meine Mutter war begeisterte Anhängerin der Trapp-Familie.«
Kashias auffallend graue Augen sahen sie verständnislos an.
»Ein Mädchen in dem Film heißt so.«
»Ah, okay«, sagte Kaisha ohne besonderes Interesse und wandte sich wieder den Tischen zu.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Ich nicht brauchen Hilfe bei vier Gäste.«
»Das stimmt. Eh, wissen Sie, ob Eric heute da ist?«
»Er ist in Küche.«
»Großartig. Gut! Ich schaue mal nach, ob der Hilfe braucht.« Aber Kashia hatte sich bereits wieder abgewandt und polierte konzentriert die Löffel. »Nett, Sie kennenzulernen«, rief Liesel ihr noch zu.
Kashia war wohl eine harte Nuss, aber Liesel liebte Herausforderungen. Sie war überzeugt, dass selbst der griesgrämigste Mensch im Kern gut war und Menschen, die nicht so fröhlich waren wie sie, damit tief sitzende Probleme verbargen, und wenn jemand Probleme hatte... nun, Marilyn hatte immer gesagt, dass man Probleme mit denjenigen verarbeiten sollte, die einen lieben.
Vielleicht gab es für Kashia niemanden, der sie liebte. Liesel fragte sich auf dem Gang in die Küche beiläufig, ob es in Piran Cove und Piran Bay alleinstehende Männer gab. Nicht, dass sie selbst einen suchte, dafür hatte sie in der letzten Zeit zu viele Enttäuschungen erlebt, um es so bald nochmal zu versuchen. Aber wenn Kashia alleine lebte - und sie hatte keine Ringe getragen -, dann hätte Liesel nichts dagegen, ein bisschen Romantik zu stiften.
Vielleicht war der bisher unsichtbare Eric ein Single? Aber dann fiel ihr wieder ein, dass Lorraine gesagt hatte, er sei beträchtlich älter als sie alle.
Am Küchentisch stand ein großer, dünner Mann und rührte heftig in einer Schüssel, die er in der Armbeuge hielt. Er wirkte so zart, dass Liesel dachte, die Erschütterungen dieser Tätigkeit würden ihn eher umwerfen.
Er hatte ein langes, schmales Gesicht, das zu seinem langen, dünnen Körper passte, graue Augen hinter dicken Brillengläsern und graue Haare, die in dichten Büscheln abstanden wie bei einem kleinen Spielzeugtroll. Seine Augen waren blutunterlaufen und schielten vor Müdigkeit, was die dicken Linsen noch betonten. Liesel sah ein Straßennetz von geplatzten Äderchen auf der trüben gelblichen Iris. Aber es waren freundliche Augen, die durch mehr als normale Erschöpfung ermüdet waren - überwältigend freundliche Augen sogar.
»Sie sehen aber nicht sehr gesund aus«, murmelte sie mitfühlend.
Der Mann blickte auf und sah sie überrascht an.
»Entschuldigen Sie«, sagte Liesel und streckte ihm eine Hand hin. »Ich bin Liesel. Sie sind sicher Eric.« Er nickte und ergriff ihre Hand. Sie war warm und zitterte wie ein Blatt im Wind.
»Geht es Ihnen heute besser? Ich finde, Sie sehen etwas krank aus. Möchten Sie vielleicht einen Tee?«
Eric nickte dankbar. »Das wäre sehr nett, Miss. Falls es keine Umstände macht.«
»Nennen Sie mich bitte Liesel. Sind Sie sicher, dass sie gesund genug sind, um zu arbeiten?«
»Oh, ja. Tut mir leid wegen gestern Abend, Miss...« Er verstummte, weil Liesel nun lachend ihren Namen noch einmal flüsterte. »Äh... ich meine, Miss Liesel.«
»Ja, aber Sie können doch nichts dafür, dass Sie krank sind. Ich weiß, wenn es mir nicht gutgeht, dann habe ich zum Kochen überhaupt keine Lust. Es wäre auch schrecklich, wenn sich Mr. und Mrs. Heather ansteckten. Sie wirken so, als könnte Sie schon die kleinste Brise umwerfen, ganz zu schweigen von ein paar schrecklichen Bazillen.«
Eric gelang ein kurzes Lachen.
»Glauben Sie mir, es ist nicht ansteckend.«
Liesel runzelte die Stirn. »Aber sind Sie wirklich sicher, dass Sie fit genug sind, um zu arbeiten?«
Er nickte.
»Gut. Na, dann mache ich uns einen Tee, suche mir eine Schürze, und Sie können mir sagen, wie ich Ihnen helfen kann.«
Liesel goss drei Becher Tee ein und brachte einen zu Kashia, die völlig überrascht war und den Becher so zögernd entgegennahm, als würde Liesel ihr einen Kelch mit schäumendem Gift reichen statt eine Tasse English Breakfast Tea.
»Eindeutig Probleme«, murmelte Liesel auf dem Rückweg in die Küche vor sich hin. Eric hingegen war das völlige Gegenteil. Als er seine anfängliche Schüchternheit überwunden hatte, stellte er sich als lustig und freundlich heraus. Nachdem sie eine Stunde lang über sich selbst geplaudert hatte, damit er sich entspannte, redeten sie miteinander wie zwei alte Freunde. Er erzählte ihr aus seiner Jugend und teilte auch ein paar Einzelheiten über sein Leben mit. Liesel fand heraus, dass er seine Lehre als Koch in der Armee absolviert hatte, dass er allein ein Stück weiter die Küste entlang bei Newquai wohnte, einen erwachsenen Sohn hatte, der im Ausland lebte, und Witwer war. Darüber sagte er nichts weiter, und Liesel war erfahren genug, ihn nicht nach Einzelheiten über einen verlorenen Menschen zu bedrängen. Wenn jemand darüber reden wollte, dann würde er das auch ohne eine Aufforderung dazu tun.
Außerdem war er ein geschickter, rasch arbeitender Koch und schien eine natürliche Begabung zu haben, alles nett anzurichten. Trotz Lorraines Warnung vor seinen häufigen Fehlzeiten konnte Liesel genau erkennen, warum Großtante Nancy ihn weiter beschäftigt hatte. Alles, was er anfasste, verwandelte sich in kulinarisches Gold. Sein Speck und die Würstchen waren perfekt gebraten, eine schlichte Grilltomate wurde mit ein paar Kräutern und Parmesankrumen zur Delikatesse. Liesel nannte diese Fähigkeit »Erics Händchen«. Damit machte er das lockerste, butterigste Rührei, das Liesel je gegessen hatte, und pochierte die Eier perfekt, was Liesel vollends beeindruckte, denn jedes Mal, wenn sie das ausprobierte, endete sie mit grau-gelben harten Kugeln.
Marilyn kam gähnend und sich reckend herunter und sah sich schuldbewusst, aber mit den rosigen Wangen um, die man vom unerwarteten Ausschlafen bekommt. Die Heathers und die Sedgewicks waren da nicht bloß versorgt, sondern zusammen auf einen Ausflug nach St. Ives aufgebrochen. Liesel war völlig satt von mindestens zwei Frühstücken, denn sie hatte der Versuchung nicht widerstehen können, alles zu probieren. Nun versuchte sie Kalorien loszuwerden, indem sie Eric mit aller Kraft beim Aufräumen der Küche half.
»Guten Morgen! Oh, Liesel, sei ein Schatz und mach mir einen Becher Tee, bitte«, bettelte Marilyn mit einem Blick auf Liesels dritte heiße Tasse Tee.
»Trink die hier. Ich hatte schon zwei Becher.«
»Danke, Schwester.« Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm sie den Becher entgegen. »Du bist schon seit Stunden auf, und ich habe weiter wie ein Warzenschwein geschnarcht. Ich fühle mich richtig schuldig, dass du mich so lange hast schlafen lassen.«
»Keine Ursache. Du verdienst es, dich auszuschlafen, und Eric und ich haben es zusammen gut bewältigt, stimmt’s, Eric?«
»Das stimmt, Miss Liesel.« Er nickte zufrieden.
»Eric, das ist meine Schwester Marilyn, Marilyn, das ist Eric, der berühmte Küchenchef.«
Eric reagierte verlegen auf das Kompliment, wischte sich die Hände an der Schürze ab und reichte eine Marilyn.
Er wirkte so schmächtig, dass Marilyns Mutterinstinkt sofort geweckt wurde.
»Wie schön, Sie kennenzulernen, aber Sie sehen nicht gut aus, wenn ich das so sagen darf Sind Sie sicher, dass Sie fit genug sind, um zu arbeiten?«
Eric sah Liesel kurz an.
»Das haben wir schon beredet, May. Wir haben das Frühstück auch schon gepackt, was bedeutet, dass Eric jetzt nach Hause gehen kann, nicht wahr?«
Eric sah Marilyn zweifelnd an.
»Ich muss noch die Kuchen backen, Mrs. Hamilton.«
»Nennen Sie mich bitte Marilyn. Und keine Sorge wegen der Kuchen. Alex hat mich gefragt, ob er heute wieder backen darf, weil ihm das gestern so viel Spaß gemacht hat. Wenn Sie nichts dagegen haben, natürlich.«
»Wenn der junge Mann dazu Lust hat, Miss Marilyn. Aber ich könnte auch bleiben und ihm zur Hand gehen. Ich kenne ein paar sehr schöne Rezepte, die ich gerne jemandem verrate, der gerne kocht.«
»Ich glaube, das würde Alex Spaß machen.« Marilyn lächelte und fand, dass sie den großen, krank aussehenden Mann sehr mochte.
»Was würde mir Spaß machen, Mum?« Alex sprang in die Küche. Sein neuestes Superman-Kostüm, dessen leuchtend rotes Cape noch nicht von der Wäsche ausgebleicht war, flatterte hinter ihm her. Er wirkte zwar sehr fröhlich und unbesiegbar, aber sobald er Eric sah, versteckte er sich hinter seiner Mutter.
»Alex, das ist Eric. Er ist der Chefkoch.«
»Sie sind ein Koch?«, hauchte Alex begeistert, als hätte seine Mum ihm gerade verraten, dass Eric ebenfalls hautenge Lycrahosen trug und fliegen könnte.
»Und du bist der Superheld!«, rief Eric und bückte sich, um Alex auf Augenhöhe die Hand zu schütteln. »Wir beide werden die fantastischsten Kuchen backen.«
 
»Was meinst du?«, fragte Marilyn leise, während Eric Alex zeigte, wie man sich eine echte Kochschürze umband.
»Ich bin sehr beeindruckt. Weißt du, dass er bei der Marine war, Koch auf einem Kampfschiff, und einmal bei Windstärke zehn ein Essen für hundert Personen gekocht hat? Außerdem ist er sehr nett, ein richtiger Schatz. Ein lieber Mann. In seiner Jugend hat er vermutlich auch noch gut ausgesehen.«
»Meinst du?« Marilyn sah nicht sehr überzeugt aus.
»Ja, mit diesen Augen. Die haben so ein Funkeln, obwohl sie so blutunterlaufen sind.«
»Du hast dich also schon verknallt?«
»Ja, total! Ich glaube, ich habe hier einen neuen Freund gefunden.«
»Na, ich wusste ja, dass das schnell bei dir geht, aber das übertrifft meine sämtlichen Erwartungen.«
Liesel streckte der Schwester die Zunge heraus.
»Ich suche keinen neuen Mann... bestimmt nicht!«, fügte sie beleidigt hinzu, als Marilyn die Brauen hochzog. »Jedenfalls nicht für mich selbst. Ich glaube aber, dass Kashia einen braucht.«
»Du hast Kashia kennengelernt?«
Liesel nickte.
»Wie ist sie denn?«
»Kratzbürstig«, antwortete Liesel. »Sehr attraktiv. Ein bisschen wie Sharon Stone. Allerdings üppiger. Nicht so ein dürres Gestell. Ihr Gesicht ist auch nicht so schmal, vielleicht eher wie Scarlett Johansson, aber nein... dafür ist sie zu alt...«
»Alt?«
»Anfang vierzig vielleicht. Aber ziemlich gut in Schuss, mehr wie Scarlett Johanssons gut aussehende Mutter.«
»Dann also überhaupt nicht wie Sharon Stone?«, fragte Marilyn mit einem verschmitzten Lächeln.
»Vielleicht nicht«, lachte Liesel.
»Meinst du, wir bekommen mit den beiden Probleme?«
»Na, Lorraine ist nicht gerade sehr normal, oder? Und Kashia sieht eher so aus, als wollte sie einen erstechen als einem die Hand geben. Die beiden sind ziemlich verklemmt, aber auf unterschiedliche Art. Vielleicht brauchen sie beide einen ordentlichen...«
»Liesel!«, schrie Marilyn, noch ehe die Schwester genau das aussprechen würde, was Marilyn erwartete. »Nicht alles hat mit Sex zu tun oder dem anderen Geschlecht.«
»Was mich betrifft, läuft alles daraufhin hinaus.« Liesel sagte es scherzend, aber Marilyns Antwort überraschte sie dennoch.
»Na, vermutlich ist es nicht deine Schuld, weil du so unwiderstehlich aussiehst.« Marilyn zuckte die Achseln und begann dann zu lachen, weil Liesel sich so sehr verschluckte, dass sie ein großes Stück halb gekauten Toast wieder ausspuckte. »Sehr nett.« Sie holte die Kehrichtschaufel. »Aber kaum unwiderstehlich, wenn du dein Essen ausspuckst.«
»Ich bin überhaupt nicht unwiderstehlich!«, rief Liesel, als hätte ihre Schwester sie gerade tödlich beleidigt.
»Wenn du nicht unwiderstehlich bist, warum laufen dir dann so viele Männer hinterher? Du bist wie ein süßes kleines Kätzchen, mit großen Augen und glänzenden Haaren und verspielt. Kätzchen will doch jeder streicheln.«
»Und dann wird das Kätzchen größer, und man setzt es auf der Autobahn am Randstreifen aus.« Liesel, die Tiere liebte, schauderte bei diesem Vergleich.
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Was du meinst, ist, dass Männer sich von meinem Aussehen angezogen fühlen und sich sofort verdrücken, wenn sie herausfinden, was für eine furchbare Person ich bin?«
»Das habe ich überhaupt nicht gemeint!«, sagte Marilyn beleidigt. »Ich meine, dass du toll aussiehst und immer jede Menge Aufmerksamkeit bekommst. Und nicht alle geben das zu, weil sie befürchten, für oberflächlich gehalten zu werden. Aber die meisten Leute gehen erst mal nach dem Äußeren. Was du anziehst, ist die Sorte Mann, die dich anguckt und denkt: >Wow, ist die toll!< Und dann wird er nicht mit der Tatsache fertig, dass du es auf eine stabile Beziehung abgesehen hast und nicht bloß das Schmuckstück an seinem Arm sein willst.«
Liesel blieb einen Moment lang stumm, um das zu verdauen, und dann sah sie die Schwester traurig mit großen Augen und einer zitternden Unterlippe an, wie ein Hundejunges, das man gerade ausgeschimpft hat. Sie fragte: »Wie viele Freunde habe ich bisher gehabt?«
»Ist das eine Fangfrage?«
»Nein, das meine ich ernst.« Liesel gab der Schwester einen gutmütigen Klaps auf den Arm. »Wie viele?«
»Erwartest du etwa, dass ich mich an alle erinnere?«, scherzte Marilyn, und Liesel verstummte wieder.
»Genau das meine ich. Es sind zu viele, als dass man sich an auch nur einen erinnern würde.«
»Ich habe doch bloß Spaß gemacht. Du hattest bloß zwei richtige Freunde. Das ist nicht sehr viel.«
»Vielleicht. Aber sieh dir mal all die Zwischenstadien an. Die man nur einmal trifft. Die über zwei Wochen gehen. Die Dinner-Dates. Diejenigen, die es einen Monat aushalten und erst dann merken, dass ich nicht mit ihnen schlafe, nur weil sie mich zum Essen eingeladen haben. Es gab zu viele Männer in meinem Leben - und nicht genug Männer in meinem Leben. Du verstehst?«
»Ich glaube, ja«, gab Marilyn unsicher zurück. »Zu viele von der falschen Sorte.«
»Genau. Was bedeutet, dass ich das andere Geschlecht ziemlich schlecht beurteilen kann.«
»Ich würde nicht sagen, dass du nicht genau urteilst, du bist bloß... ein bisschen... zu offen? Du siehst immer nur die guten Seiten in Menschen. Wenn ein Mann sich mit dir verabreden will, sagst du immer Ja, weil du ihn nicht verletzen willst. Daher gehst du mit vielen völlig unpassenden Männern aus.«
»Vielleicht hast du Recht. Vielleicht sollte ich eine Pause von der Romantik nehmen. Ich bin noch nie wirklich alleine gewesen, und wir werden vermutlich so viel zu tun haben, dass jetzt ein guter Zeitpunkt dazu wäre...« Liesel verstummte, weil sie merkte, dass Marilyn sie mit verschränkten Armen und einem ungläubigen Lächeln ansah. »Ich meine das ernst, May.«
»Klar doch.«
»Keine Männer mehr. Jedenfalls für eine Weile. Ich brauche Zeit für mich selbst.«
Marilyn nickte, aber es war ein Nicken und ein Blick, die deutlich sagten, wie ungläubig sie war.
»Du glaubst mir nicht, stimmt’s?«
»Ich glaube dir, aber... meinst du nicht, das ist ein bisschen melodramatisch? Liesel Ellis schwört: Keine Männergeschichten mehr!« Marilyn hob die Stimme wie zu einer Ansage.
»Du traust mir das nicht zu?«, rief Liesel beleidigt.
»Du kannst alles, wenn du es dir nur ernsthaft vornimmst.« Das war die alte Marilyn-Maxime.
»Nur das nicht?«
»Nicht bei allem im Leben gilt: alles oder nichts. Vielleicht suchst du hier nach einem Gleichgewicht oder zumindest nach einem Mann, der nicht nur wegen deines Aussehens mit dir zusammen sein will. Du willst etwas Ernsthafteres. Nein, ich finde deinen Keuschheitsschwur nicht sehr glaubwürdig, meine aber, du müsstest ein bisschen vorsichtiger sein, mit wem du dich in Zukunft verabredest.«
Marilyn gelang es schließlich, ihre Zunge unter Kontrolle zu bringen und sich in Erinnerung zu rufen, dass sie zwar wie eine Mutter für Liesel war, aber doch nicht ganz. Manchmal musste sie das Bedürfnis unterdrücken, ihr Vorhaltungen zu machen und Ratschläge zu geben, wie sie es bei Alex tat. Immerhin war Liesel erwachsen, hatte ein Recht auf ihre eigene Meinung und darauf, ihre eigenen Fehler zu machen... oh, zum Teufel, wem sagte sie das? Sie würde ebenso wenig zulassen, dass ihre Schwester Schmerzen erduldete, die sie hätte verhindern können, wie sie es bei ihrem achtjährigen Sohn tat. Daher redete sie weiter.
»Ich meine, dieser Satz, dass Männer vom Mars sind und Frauen von der Venus, ist ja schön und gut, aber ein anständiger Mensch ist immer noch ein anständiger Mensch, und ein Arschloch ist ein Arschloch, ob männlich, weiblich, Hermaphrodit oder vom Mars. Ich versuche ja nur zu sagen, dass du auf deine eigene Weise ebenso großartig aussiehst wie Sharon Stone oder Scarlett Johansson, aber du bleibst meine kleine Liesel und du musst besser aufpassen als wir gewöhnlichen Sterblichen. Das ist alles, was ich sagen möchte.«
Dann brach sie ab, weil sie sah, dass ihre Schwester sie mit offenem Mund anstarrte.
»Hast du das verstanden?«, fragte Marilyn.
Liesel nickte. »Du hast gerade gesagt, dass ich bei Männern besser aufpassen soll, weil ich so gut aussehe. Findest du wirklich, dass ich gut aussehe?« Liesel, die mit echten Komplimenten nicht gut umgehen konnte, schmollte und klimperte mit den Wimpern.
»Du hast das Aussehen mitgekriegt, ich den Verstand«, scherzte Marilyn.
»He!«
»Du siehst genauso aus wie Mum, als sie in deinem Alter war«, meinte Marilyn versöhnlich.
»Findest du wirklich?«, strahlte Liesel.
»Das weißt du doch. Weißt du noch, wie ich dir das Foto gezeigt habe, wo wir alle auf dem Snowdon sind?«
Das war es. Sie waren verschwunden. Die Küche war leer, die Arbeit vergessen, und sie holten die zerdellte Schachtel mit den Familienfotos hervor, die sie ehrfürchtig in der Anrichte in ihrem privaten Wohnzimmer verstaut hatten.
Bald waren der Boden und der entsetzliche Teppich von alten Fotos übersät. Dann holten sie Alex’ Babyfotos hervor, und als Alex mit den Kuchen zum Probieren hereinkam, gefolgt von Eric mit einem Tablett mit Tee, baten sie Eric zu bleiben. Lorraine wurde gezwungen, sich von ihrem Staubtuch zu trennen, um sich zu ihnen zu gesellen, und das Ganze entwickelte sich zu einer fröhlichen Party. Irgendwann legte Liesel Marilyn eine Hand auf den Arm und sagte leise: »Guck mal, Lorraine!«
Marilyn blickte auf und sah, dass Lorraine tatsächlich lächelte.