9
Liesel träumte.
Sie ritt auf einem weißen Pferd einen Strand
entlang und galoppierte durch die Brandung, die sich auf dem Sand
brach. Dann drehte sich das Pferd mitten in einer Welle um, und sie
fiel ins Meer. Salzwasser bedeckte ihr Gesicht und überschwemmte
sie, so dass sie keine Luft mehr bekam...
»Tante Lies, Tante Lies, wach auf!«
Liesel schoss erschrocken hoch und spuckte die Ecke
der Bettdecke aus, die sie aus Versehen in den Mund bekommen hatte.
Alex hüpfte aufgeregt auf der Bettkante herum.
»Was ist denn?«, fragte sie ängstlich, weil sie an
seinem besorgten Gesichtsausdruck und der panischen Stimme erkennen
konnte, dass mindestens das Hotel in Flammen stand.
»Godrich!«
»Oh nein«, stöhnte Liesel. »Was hat dieser blöde
Hund denn nun schon wieder gemacht?«
Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und blickte
auf den Wecker auf dem Nachttisch. Es war zehn vor vier. Sie hatte
genau zwei Stunden und zwanzig Minuten geschlafen und musste um
sechs Uhr wieder raus.
»Ich bin wach geworden, und da war er verschwunden.
Ich bin ihn suchen gegangen, aber jemand hatte die Turmtür offen
gelassen, und er ist in den Speisesaal gegangen und hat sich in dem
großen Schrank festgeklemmt, wo Kashia ihr Zeugs aufbewahrt. Und
jetzt kommt er da nicht mehr raus!«
»Was?« Liesel war nicht sicher, ob sie immer noch
träumte. Was Alex da sagte, ergab irgendwie keinen Sinn.
»Er steckt fest!«, wiederholte Alex, nahm ihre Hand
und zerrte sie aus dem Bett und die enge Treppe hinunter bis in den
Speisesaal.
Der Hund hatte es irgendwie geschafft, den Kopf in
das durchbrochene Schnitzwerk der Tür zu stecken. Das
wurmzerfressene Holz war so mürbe, dass er es hinein geschafft
hatte, aber nicht wieder zurückkam. Als Godrich unglücklich
aufjaulte, wusste Liesel nicht, ob sie lachen oder in Panik geraten
sollte.
»Was hat er denn bloß da gesucht?«
»Ich glaube, er wollte das da.« Alex deutete auf
einen Teller mit verschrumpeltem Essen ganz hinten im
Schrank.
»Dahin ist Lorraines Portion also verschwunden.
Warum würde jemand denn so was verstecken... und, ach du liebe
Güte!«, rief Liesel, weil ihr ein fauliger Geruch in die Nase
stieg. »Warum ist das so schnell verdorben?«
»Ich glaube nicht, dass Lorraines Essen so stinkt,
ich glaube, es ist Godrich. Er hat sich übergeben«, erwiderte Alex
und rümpfte die Nase.
»In dem Schrank?«
Der Junge nickte.
»Wo ist der Schlüssel?«
»Den hat Kashia.«
»Toll.«
Der Hund begann wieder zu jaulen.
»Können wir ihn mit einer Säge befreien?«, flehte
Alex.
»Das könnten wir versuchen, aber ich möchte ihn
dabei nicht verletzen. Er steckt da so fest drin, dass ich glaube,
wir müssen den Tierarzt rufen.«
»Aber es ist vier Uhr morgens.«
»Als ob ich das nicht wüsste«, erwiderte Liesel,
gähnte lauthals und lächelte dann Alex beruhigend an, der ganz
entsetzt aussah. »Keine Sorge, es gibt sicher eine Nummer für
Notfälle. Irgendjemand wird kommen, besonders, weil er sich
übergeben hat. Ich gehe jetzt zum Telefon, und du suchst das
Branchenverzeichnis.«
Als sie sich entfernten, verwandelte sich Godrichs
Jaulen in ein lautes Geheul.
»So weckt er uns das ganze Hotel auf«, meinte
Liesel. Sie rannten zurück in den Speisesaal. Liesel wählte die
Nummer, die Alex ihr aus dem Telefonbuch zurief.
»Hallo, machen Sie Hausbesuche? Unser Hund sitzt
nämlich fest und kotzt...«
Dann bedeckte Liesel den Hörer mit der Hand und
fragte Alex lautlos: »Was ist er?«
»Ein Hund, du Dumme«, erwiderte Alex.
»Ich meine, was für eine Rasse?«
Alex zuckte die Achseln. »Ein großer?«, versuchte
er.
»Ein großer«, wiederholte Liesel zum Telefon. »Ein
großer, lauter«, fügte sie hinzu, weil Godrich wieder zu heulen
begann. »Tut mir leid, aber wir sind nicht sicher. Wir wissen nur,
dass er sich mehrfach übergeben hat... was? Sie wollen, dass wir
ihn bringen?«
Sie blickte zu Godrich, dessen Kopf fest in der
Schranktür der riesigen Anrichte steckte.
»Also, ja... vielleicht kann ich eine Säge
finden...«, begann sie zögernd und lächelte dann erleichtert. »Sie
schicken gleich jemanden vorbei? Oh, das ist ja wunderbar. Vielen
Dank!«
Godrich gelang es trotz seiner eingeschnürten
Kehle, sehr laut und traurig aufzuheulen.
»Hallo?«, hörte man da eine zittrige Stimme. Es war
Marilyn in Pantoffeln und Bademantel. Sie sah sehr müde aus und
hatte Ringe unter den Augen. »Was ist denn bloß hier los? Man kann
Godrich überall hören.«
»Selbst zu dieser Nachtzeit bist du noch auf den
Beinen.«
»Ich bin immerhin deine Schwester. Daher ist es
mein Job«, grinste Marilyn.
»Also, dann ist es auch dein Job, dich um Godrich
zu kümmern.«
»Was ist denn mit ihm?«
»Er sitzt fest und hat gekotzt«, erwiderte Liesel
schlicht, trat einen Schritt zurück und gab den Blick auf Godrichs
Notlage frei.
Marilyn schüttete verwundert den Kopf
»Ich will gar nicht fragen, warum und wie.«
Da heulte Godrich wieder auf. Im Flur hörte man
weitere Schritte.
Es war eine Abordnung der Gäste: Mr. und Mrs.
Emerson. Mrs. Emerson sah mit ihrem Kopf voller Lockenwickler
wunderbar aus. Dicht hinter ihnen folgten Mr. und Mrs. Golightly.
Sie taumelten leicht und waren wohl noch leicht beschwipst von der
Party.
»Ist alles in Ordnung, meine Lieben?«
Liesel brauchte es nicht noch einmal zu erklären.
Sie erfassten die Lage mit einem Blick.
»Wir haben einen großen Topf Vaseline im Zimmer«,
bot Mr. Golightly an.
Glücklicherweise bemerkten nur Liesel und Marilyn
die aufgerissenen Augen und den Stoß mit dem Ellbogen seitens Mrs.
Golightly. Alex saß auf der Fensterbank und beobachtete alles
angstvoll.
»Der Tierarzt ist da!«, brüllte er und rannte los,
ihn hereinzulassen.
»Gott sei Dank«, seufzte Liesel, die sich nicht
darauf gefreut hatte, den Arm bis zum Ellbogen in Mr. und Mrs.
Golightlys Vaseline zu stecken, um damit Godrich einzureiben. Jetzt
hörte sie auf, den zitternden Hund zu streicheln, und wandte sich
um, noch auf den Knien. Da sah sie, dass Marilyn der Mund offen
stand. Mrs. Emerson zerrte rasch die Lockenwickler aus den Haaren,
und selbst die korpulente Mrs. Golightly arrangierte das Dekollete
ihres Bademantels, um ein wenig mehr zu enthüllen. Das wiederum
wurde von Mr. Golightly bemerkt, der darauf reagierte, indem er den
Brustkorb aufblähte, seine Frau bei der Hand nahm und sie zurück
aufs Zimmer führte.
Liesel versuchte, seitlich an ihnen vorbei zu
sehen, worum es bei alldem ging, aber Mrs. Emerson versperrte ihr
resolut
den Blick. Dann heulte Godrich wieder kummervoll auf. Sie trat
rasch zur Seite, um den Tierarzt zu ihm zu lassen.
Sein Gesicht konnte Liesel nicht sehen, sie sah nur
einen ansehnlichen Männerkörper. Liesel mochte ansehnliche
Männerkörper - so wie alle Mädchen, aber wenn Marilyn so völlig
hingerissen aussah, dann war er wohl mehr als bloß
ansehnlich.
Er hatte die Wachsjacke auf den Boden neben der
Anrichte gelegt. Nun hockte er da: breiter Brustkorb, brauner
Kaschmirpullover. Darunter trug er ein Hemd zu braunen Jeans, die
seine Schenkel eng umspannten. Die Caterpillar-Stiefel rutschten
neben Liesels nackte Füße, als er sich neben sie kniete und sie ihn
endlich voll sehen konnte. Nun, zumindest das Profil.
Er hatte dunkle Haare, das in einer seidigen langen
Strähne ins Gesicht fiel, als er sich vorbeugte, um das Tier zu
beruhigen. Darunter konnte Liesel so eben eine gerade Nase
erkennen, einen festen Mund, lange Wimpern und eine derart schöne
Haut, um die ihn jedes Mädchen beneidet hätte.
Er war ein hinreißend aussehender Mann - ja, fast
schön zu nennen.
Und absolut nicht ihr Typ.
Liesel fühlte sich immer vom gleichen Typ
angezogen: freches Lächeln und ständig redend. Sie mochte gerne
einen etwas schrägen Mund, eine leicht schiefe oder gekrümmte Nase,
die vielleicht auch ein wenig zu groß war - eben schöne
Unebenheiten. Gut aussehende Männer waren nicht ihr Ding.
»Das ist Godrich«, sagte sie und streichelte die
zitternde Flanke des Hundes.
»Ich weiß. Godrich und ich sind alte
Freunde.«
»Und warum überrascht mich das nicht?«
Seine geschickten Hände befreiten Godrich rasch
mithilfe einer kleinen Säge. Dann untersuchte der Tierarzt sanft
die Augen und den Bauch des Hundes und hockte sich anschließend
zurück auf die Fersen.
»Nichts passiert, ich habe aber den Eindruck, dass
wir nicht dasselbe über das Möbelstück hier sagen können.«
»Er ist also in Ordnung?«, fragte Liesel und
lächelte Alex aufmunternd zu.
»Er ist in Ordnung. Nicht wahr, Godrich? Ich kann
Ihnen allerdings sagen, was Ihnen vermutlich niemand verraten hat.
Godrich hat ein Reflux-Problem. Das bedeutet, wenn er nervös oder
gestresst ist, hat er Schwierigkeiten, sein Essen richtig zu
verdauen.«
»Dann kotzt er«, übersetzte Alex es.
Der Tierarzt nickte. »Nancy hat ihm immer
besonderes Futter gegeben.«
»Sie kannten Nancy?«
»Nun, wenn man bedenkt, dass Godrich das Gegenstück
zu Miles & More für seine Trips in meine Praxis bekommt, würde
ich sagen, ich kannte sie sehr gut.«
»Wie war sie?«
»Clever. Aber wenn es um diesen Hund ging, völlig
daneben. Abgesehen von dem Reflux-Problem ist er nämlich ziemlich
gesund, aber er hat rasch gelernt, dass Kranksein besondere
Zuwendung heißt.«
»Ist er ein Hypochonder-Hund?«, fragte
Liesel.
»Genau.« Nun richtete er sich auf. »Sehen Sie?«,
fügte er hinzu, als der gerade erste befreite Godrich die Augen
verdrehte, seitwärts taumelte und sich dann wie eine Diva auf den
Boden fallen ließ. Nach ein paar Sekunden öffnete er ein
Auge, um zu sehen, wer inzwischen herbeigestürzt war, um sich um
ihn zu kümmern.
»Ich muss zugeben, wir haben unsere Problemchen mit
ihm gehabt.«
»Also, Tiere haben nicht die gleichen komplexen
Gefühle wie Menschen, aber sie sind auch nicht so schlicht, wie
manche Menschen meinen.«
»Sie meinen also, er ist...«
»Eine komische Nummer.« Der Tierarzt nickte und
lächelte Marilyn an. »Nancy Hamilton hat ihn sehr verwöhnt. Ich
glaube, wenn man ihn eher wie einen Hund behandelt statt wie einen
Kindersatz, könnte ihm das guttun.«
Marilyn nickte zustimmend.
»Vielen Dank, Mr....«
»Tom Spencer.« Er streckte ihr die Hand hin. »Ich
fürchte, wir werden einander öfter begegnen.«
»Ich bin Marilyn, das hier ist mein Sohn Alex. Das
ist meine Schwester...«
Er schüttete Marilyns Hand, dann Alex’ und wandte
sich schließlich zu Liesel, die ihm ebenfalls die Hand
entgegenstreckte - aber halbwegs irgendwie aufgab, denn sie sah ihn
nun direkt an und bemerkte zum ersten Mal seine Augen.
Sie waren mandelförmig. Die Farbe schien zwischen
Gold und Grün hin- und herzuflackern.
Wenn Liesel auf eine Sache stand, dann waren es
schöne Augen, und verdammt, dieser Mann hatte die tollsten Augen
überhaupt.
»Hi... Ich bin... Lie...Lie...«, stammelte sie wie
hypnotisiert.
Sie kam erst wieder zu Sinnen, als sie Marilyns
ersticktes Lachen hörte.
»Liesel.« Das platzte heraus wie ein Niesen.
»Gesundheit«, flüsterte Marilyn hinter ihm.
Tom Spencer lächelte, und, dem Himmel sei Dank,
sein Lächeln war schief, eines, bei dem der eine Mundwinkel etwas
höher gezogen wird als der andere.
»Ihre Mutter war wohl ein Fan der
Trapp-Familie?«
»Ich... äh... äh...« Wieder begann sie zu stottern,
ermahnte sich dann aber streng, sich zusammenzureißen, und schaffte
es glücklicherweise, sich auf seine sehr regelmäßigen Züge zu
konzentrieren, um weiterreden zu können. »Wie haben Sie das
erraten? Ich meine, natürlich ist das ziemlich offensichtlich, aber
nicht immer wird das so rasch erkannt.«
»Meine Mutter war genauso.«
»Mit Tom Cruise?«, versuchte es Marilyn.
Er schüttelte den Kopf »Nein, schlimmer. Ich
fürchte, als Teenager war sie fürchterlich in Tom Jones
verknallt.«
»Na, it’s not unusal...«,
scherzte Liesel und zwinkerte der Schwester zu.
Jetzt verdrehte Tom die Augen genauso wie sie, wenn
jemand sie an die Trapp-Familie erinnerte.
»Ich bekomme das ständig zu hören«, meinte Liesel
mitfühlend. »Sie ahnen ja gar nicht, wie viele Leute die
Trapp-Familie kennen und Witze darüber machen.«
»Ich weiß. Für mich ist es am schlimmsten, weil ich
ja Tierarzt bin, wenn sie What’s new
Pussycat? singen.«
»Und jetzt können Sie jedes Mal, wenn Sie eine
Ziege verarzten, an Liesel denken«, schlug Marilyn vor.
Wieder grinste er. Diesmal bemerkte Liesel, dass er
einen ziemlich schiefen Eckzahn hatte. Oh Herr, noch ein
Schönheitsfehler!
In dem Moment piepte sein Handy.
»Oh, schon wieder ein Anruf. Ich muss fort.«
Plötzlich sah er so müde aus, dass Liesel den
unwiderstehlichen Drang bekämpfen musste, ihm ihr Bett für ein
kleines Nickerchen anzubieten.
»Die ganze Nacht auf den Beinen?«, fragte sie und
errötete dann heftig wegen der Anspielung. Dann vertiefte sich ihre
Röte noch, weil sie es bemerkte und ihr die Anspielung nun
peinlichst bewusst war.
Aber in dem Moment legte Mrs. Emerson Tom Spencer
eine Hand auf den Arm und fragte: »Sie können nicht vielleicht eben
meine Brust abhorchen, ehe Sie verschwinden?«
»Er ist Tierarzt, Schatz, kein Doktor«, warf ihr
Mann ein und schüttelte lachend den Kopf
»Ich weiß, aber ich hätte nichts dagegen, wenn er
sich meine Brust anhört«, kicherte sie.
Liesel hätte sie am liebsten umarmt. Es ging einem
immer gleich besser, wenn jemand anderer sich noch mehr zum Narren
machte als man selbst.
»Wenn ich groß bin, möchte ich Tierarzt werden«,
verkündete Alex, als sie Tom Spencer nachsahen, der in seinem
großen schwarzen Range Rover davonfuhr.
»Und wenn Liesel groß wird, will sie einen Tierarzt
haben«, meinte Marilyn mit einem
Augenzwinkern zu Liesel.
»Wie meinst du das, Mum?«
»Oh, nur so«, griente Marilyn, schlang ihm einen
Arm um den Hals und küsste seine zerzausten Haare. »Komm, du und
Godrich, ihr gehört jetzt ins Bett, ja?«
»Du meinst, dass Tante Lies auf den Tom scharf ist,
stimmt’s?«, hörte Liesel gerade noch, ehe Alex und Marilyn
verschwanden.
»Nein, ist sie nicht«, protestiere Liesel eine
Nuance zu laut.
»Wenn Frauen die Augen fast aus dem Kopf quellen
wie in einem Comic, heißt das, dass sie auf einen scharf
sind?«
»Jaja, ziemlich oft«, antwortete Marilyn und
grinste die Schwester über die Schulter hinweg an.
»Dann war also Mrs. Emerson auch scharf auf Tom den
Tierarzt?«
»Oh ja, ganz bestimmt.«
»Und das Kätzchen ist scharf auf Mäuse.«
»Nein, wenn das Kätzchen die Augen aufreißt, dann
will es die Mäuse fressen.«
»Möchte Tante Lies denn Tom auffressen?«, scherzte
Alex.
»Ja, Alex, ich glaube tatsächlich, dass sie ihn am
liebsten auffressen würde.«
Die Witzeleien setzten sich beim Frühstück am
Samstagmorgen fort, als sie ihre Eier mit Speck verspeisten. Sie
wurden allerdings immer schlechter.
»Bist du scharf auf Tom...atenketchup auf deinem
Brot, Liesel?«, war der faulste Witz von Marilyn.
»Ich meine, es gibt Wichtigeres zu besprechen als
die Tatsache, dass ich den Tierarzt gestern Abend recht attraktiv
fand.« Liesel, die versucht hatte, sämtliche Bemerkungen zu
ignorieren, wehrte sich endlich.
»Du meinst den Hosenklau?« Marilyn war in bester
Laune.
»Genau.« Diesmal gelang Liesel ein Lächeln.
»Wir müssen mit ihnen reden. So geht das nicht
weiter.«
»Bin ganz deiner Meinung.«
»Nimm du dir Kashia vor, und ich rede mit
Lorraine.«
»Großartig. Du kriegst die Pussikatze, und ich
versuche, der Tigerin einen Stachel aus der Pfote zu ziehen.«
»Na, du sagst doch immer, dass du Menschen gern
magst... aber wenn du meinst, du würdest nicht mit Kashia
fertig...«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Dann redest du also mit ihr?«
»Klar.«
»Noch vor dem Frühstück?«
»Noch vor dem Frühstück«, bestätigte Liesel.
»Gut.« Marilyn schob eins von Alex’ frisch
gewaschenen Superman-Capes auf sie zu. »Nimm eins mit, falls du
rasch entkommen musst.«
Liesel erwischte Kashia im Speisesaal, wo sie
gerade die Cornflakes austeilte.
»Ich Essen verstecken, weil Lorraine meine Hose
gestohlen«, verkündete Kashia. Mit ihrem starken Akzent wirkte es,
als würde sie den Namen mit mörderischer Lust ausspucken.
»Wir haben gestern Abend mit Lorraine darüber
geredet, und sie hat Ihre Hose nicht gestohlen, Kashia.«
»Sie hat Hose genommen und nicht
zurückgegeben.«
»Warum würde Lorraine denn Ihre Hose
stehlen?«
»Sie mich nicht leiden. Sie gemein zu mir.«
»Und weil Sie denken, sie hätte Ihre Hose
gestohlen, haben Sie ihr Essen im Schrank versteckt?«
Kashia nickte triumphierend. »Sie Hose gestohlen.
Ich Essen verstecken. Retourkarre.«
»Sie meint Retourkutsche«, flötete eine Stimme von
der Tür her.
»Danke, Alex.«
»Ich bringe ihr Englisch bei«, fügte er stolz hinzu
und trat näher.
»Wo wir gerade Englisch erwähnen, hat deine Mutter
nicht etwas von Schulaufgaben gesagt?«, fragte Liesel
gezielt.
»Er ist guter Junge«, sagte Kashia und sah ihm
nach, bis er ihr in der Tür noch einmal zuwinkte. »Er mein
Freund.«
»Ich wünschte, Sie und Lorraine könnten auch
Freunde sein.«
Kashia schnaubte nur verächtlich statt einer
Antwort.
»Warum kommen Sie bloß nicht miteinander
aus?«
»Wir zwei verschiedene Menschen.«
»Aber verschieden sein ist etwas Gutes. Verschieden
kann ergänzen.«
»Sie verrückt mit Putzen. Wie sagt man? Besessen.
Sie macht mich verrückt, immer mit Staubtuch und Politur. Immer
fleißig. Immer alles tun, was schon getan ist. Wissen Sie, wie oft
sie dieselbe Stelle putzt? Nie gut genug. Mit mir fast gleich. Was
ich tue, nie gut genug. Sie macht mich verrückt, weil sie verrückt
ist. Ist nicht fair.«
»Okay, ich stimme zu, sie ist manchmal ein bisschen
obsessiv.«
»Was ist obsessiv?«
»Zu eifrig. Sie muss alles immer richtig machen,
was ja gut ist, aber sie arbeitet viel zu schwer, damit alles seine
Ordnung hat.«
Kashia nickte. »Ist wahr. Sie Recht haben. Sie
versucht, wie es mit erster Mrs. Hamilton war, aber das ist falsch.
Ich nie sprechen schlecht von Tote, aber ist gut, dass erste Mrs.
Hamilton nicht mehr hier. Harte Frau. Ihre Mrs. Hamilton viel
bessere Lady. Gerecht. Sie sagt, ich mache gute Arbeit. Sie nicht
sagen, ich muss mehr schaffen. Weil ich immer versuche, sehr schwer
zu arbeiten.«
»Wir wissen, dass Sie gute Arbeit leisten, Kashia«,
sagte Liesel aufrichtig. »Wir sind sehr zufrieden mit Ihnen.«
Einen Moment lang blickte Kashia sie misstrauisch
an. Aber dann sah Liesel, wie ihre Verletzlichkeit aufbrach. Kashia
sah plötzlich so angreifbar aus, dass sie fast geweint hätte.
»Sie denken, ich gut?«
»Ja, das denken wir... ich meine, wir finden Sie
gut. Wir finden Sie sogar ausgezeichnet, und wir kämen ohne Sie
nicht aus. Wir sind so mit Ihnen zufrieden, dass wir Sie bitten
wollen, auch beim Abendessen zu servieren.«
»Sie mich brauchen?«
Liesel nickte heftig. Das war nicht gerade eine
Lüge, denn sie hatte die Möglichkeit vorher mit Marilyn besprochen.
Es würde bedeuten, dass sie weniger Geld zur Verfügung hatten, aber
da würden sie schon einen Weg finden.
»Was meinen Sie? Wäre das gut?«
»Ich habe Abendjob, aber nicht gut. Der Mann in der
Bar ist nicht nett. Er böse. Er ist Satan.«
»Na, dann rufen Sie doch Satan an und sagen ihm,
sie hören auf«
»Sie meinen ernst? Sie mich wollen abends?«
Liesel nickte. »Ja, aber nicht mehr Lorraine
ärgern, okay?«
»Wie meinen ärgern?«
»Ärgern«, wiederholte Liesel. »Bedeutet das
hier...« Sie bohrte Kashia sanft einen Finger zwischen die Rippen,
bis diese auflachte.
»Oh, ich verstehe«, sagte Kashia, wich seitlich aus
und fasste sich wieder. »Ärgern ist sehr dumm.«
»Genau«, grinste Liesel.
»Okay. Wenn Sie versprechen, dass Lorraine mich
nicht mehr ärgert, dann ärgere ich nicht mehr mit Lorraine.«
Liesel nickte zustimmend und streckte dann die Hand
aus, um es zu bekräftigen.
»Abgemacht«, sagte sie.
»Abgemacht«, wiederholte Kashia, nahm die Hand und
schüttelte sie. Und dann nahm sie Liesel zu deren Überraschung
einfach in den Arm.
Beim Frühstück war fast ebenso viel los wie beim
Abendessen. Eric hatte sich wieder krankgemeldet, daher übernahm
Liesel das Braten von Speck und Würstchen, während Marilyn
versuchte, Erics berühmtes Rührei nachzumachen. Lorraine machte Tee
und Kaffee und rührte die Bohnen und Tomaten um, und Kashia, deren
gute Laune durch Erics Abwesenheit ruiniert war, murmelte ständig
etwas in Polnisch vor sich hin, während sie mürrisch zwei Brotlaibe
sehr dunkel toastete und grob mit Butter bestrich. Sie spießte die
goldgelbe Landbutter wütend mit dem Messer auf und schwenkte es wie
eine Massenmörderin.
Liesel warf einen Seitenblick zu Kashia, merkte,
dass sie zu sehr mit dem Toast beschäftigt war, um sie zu hören,
und flüsterte:
»Wir hatten doch besprochen, dass Kashia abends
serviert, damit wir beide mehr Zeit für Alex haben...«
»Ja, und wir waren einer Meinung, dass es sehr gut
wäre, wir es uns aber nicht leisten könnten...« Marilyn verstummte,
als sie sah, dass Liesel ihr »Bitte verzeih mir...«-Gesicht
aufgesetzt hatte. »Du hast es ihr also angeboten?«
»Tut mir leid, May. Es schien der richtige Zug. Sie
ist so unsicher. Ich glaube, das Problem zwischen ihr und Lorraine
könnte sich geben, wenn sie mehr hier wäre... und wenn wir ehrlich
sind, dann täte uns das auch sehr gut. Ich weiß, die finanzielle
Lage ist nicht gerade rosig...«
Marilyn unterbrach ihre Schwester, indem sie den
Schneebesen hob. »Wir regeln das schon.«
»Oh, ich wusste, dass du das sagen würdest.« Liesel
strahlte.
»Ehrlich gesagt, mit Eric und seinen ständigen
Krankheiten brauchen wir die Hilfe sogar noch mehr«, fügte Marilyn
hinzu.
»Ich hoffe nur, dass er in Ordnung ist.«
»Er hat gestern Abend plötzlich abgebaut. Als er
kam, war alles in Ordnung, und er hat richtig geschuftet, bis das
Jubelpaar kam, ihn zu begrüßen. Da ist er in sich zusammengefallen
wie eine Blume ohne Wasser. Findest du übrigens nicht, dass Godrich
auch ein bisschen blass um die Lefzen aussieht?«
Liesel runzelte bei dem unvermittelten Themawechsel
verwirrt die Stirn. Für sie sah Godrich topfit aus.
»Findest du, dass er krank wirkt?«
»Na...« Marilyn schnalzte mit der Zunge und
atmetete dann hörbar aus wie ein Mechaniker, der einen Motor
anschaut. »Schwer zu sagen, denn ich bin kein Experte. Ich finde,
wir brauchen die Meinung... von einem Tierarzt vielleicht?«
»Ach, Marilyn, fang doch nicht schon wieder
an!«
»Warum denn nicht? Er war ziemlich toll, und das
weißt du genau.«
»Aber überhaupt nicht mein Typ.«
»Gut. Es ist auch höchste Zeit, dass du ein
bisschen Abwechslung hast, wenn man bedenkt, dass deine normalen
Typen eine ziemliche Zeitverschwendung sind.«
Liesel wollte das gerade abstreiten, aber dann
wurde ihr klar, dass Marilyn Recht hatte, und sie lachte
lieber.
»Ja, vielleicht. Aber gib ruhig den Löffel ab,
Marilyn, denn ich habe nicht die geringste Absicht, mich hier auf
irgendetwas einzulassen.«
»Ich weiß, ich weiß. Dein Schwur, keusch zu sein
oder Single oder was auch immer.«
»Beides«, erwiderte Liesel bestimmt. Nach einem
Moment fügte sie fast nonchalant hinzu: »Jemand, der so gut
aussieht, ist vermutlich schon längst gebunden.«
»An dem Finger hatte er keinen Ring.«
»Ist dir das aufgefallen?«
»Ja, mir und außer dir allen anderen Frauen im
Raum.«
»Alle anderen Frauen waren im Rentenalter.«
»Ja, aber hingeguckt haben sie immer noch. Das sagt
dir doch einiges.«
»Okay, er hatte eine gewisse Ausstrahlung.«
»Ausstrahlung?«, wiederholte Marilyn. »Liesel, der
Typ war absolute Spitze. Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, hätte
ich mich selbst auf ihn gestürzt.«
»Ein paar Jahre jünger? Ihr seid doch vermutlich
gleich alt.«
»Genau. Was heißt, er ist zu jung für mich. Tu dich
nie mit jemandem zusammen, der genauso alt ist wie du.«
»Und warum in aller Welt nicht?«
»Weil Männer irgendwie besser altern, und man will
doch nicht älter aussehen als der Partner.«
»Oder hässlicher?«
»Er ist nicht schöner als du. Du siehst toll
aus.«
»Du bist aber voreingenommen.«
»Ja, vielleicht, aber Recht hab ich trotzdem. Ihr
würdet ein wunderbares Paar abgeben.«
»Marilyn, wie kannst du so was sagen? Wir kennen
den Typen doch gar nicht.«
»Ich bin ausnahmsweise mal oberflächlich und gehe
nur nach dem Aussehen.«
»Er sah wirklich toll aus, nicht?«
»Endlich nimmt sie Vernunft an.«
»Aber ich würde mich trotzdem zum Narren machen,
wenn ich Godrich dahin schleppte, weil es ihm ausgesprochen
gutgeht.«