9
Liesel träumte.
Sie ritt auf einem weißen Pferd einen Strand entlang und galoppierte durch die Brandung, die sich auf dem Sand brach. Dann drehte sich das Pferd mitten in einer Welle um, und sie fiel ins Meer. Salzwasser bedeckte ihr Gesicht und überschwemmte sie, so dass sie keine Luft mehr bekam...
»Tante Lies, Tante Lies, wach auf!«
Liesel schoss erschrocken hoch und spuckte die Ecke der Bettdecke aus, die sie aus Versehen in den Mund bekommen hatte. Alex hüpfte aufgeregt auf der Bettkante herum.
»Was ist denn?«, fragte sie ängstlich, weil sie an seinem besorgten Gesichtsausdruck und der panischen Stimme erkennen konnte, dass mindestens das Hotel in Flammen stand.
»Godrich!«
»Oh nein«, stöhnte Liesel. »Was hat dieser blöde Hund denn nun schon wieder gemacht?«
Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und blickte auf den Wecker auf dem Nachttisch. Es war zehn vor vier. Sie hatte genau zwei Stunden und zwanzig Minuten geschlafen und musste um sechs Uhr wieder raus.
»Ich bin wach geworden, und da war er verschwunden. Ich bin ihn suchen gegangen, aber jemand hatte die Turmtür offen gelassen, und er ist in den Speisesaal gegangen und hat sich in dem großen Schrank festgeklemmt, wo Kashia ihr Zeugs aufbewahrt. Und jetzt kommt er da nicht mehr raus!«
»Was?« Liesel war nicht sicher, ob sie immer noch träumte. Was Alex da sagte, ergab irgendwie keinen Sinn.
»Er steckt fest!«, wiederholte Alex, nahm ihre Hand und zerrte sie aus dem Bett und die enge Treppe hinunter bis in den Speisesaal.
Der Hund hatte es irgendwie geschafft, den Kopf in das durchbrochene Schnitzwerk der Tür zu stecken. Das wurmzerfressene Holz war so mürbe, dass er es hinein geschafft hatte, aber nicht wieder zurückkam. Als Godrich unglücklich aufjaulte, wusste Liesel nicht, ob sie lachen oder in Panik geraten sollte.
»Was hat er denn bloß da gesucht?«
»Ich glaube, er wollte das da.« Alex deutete auf einen Teller mit verschrumpeltem Essen ganz hinten im Schrank.
»Dahin ist Lorraines Portion also verschwunden. Warum würde jemand denn so was verstecken... und, ach du liebe Güte!«, rief Liesel, weil ihr ein fauliger Geruch in die Nase stieg. »Warum ist das so schnell verdorben?«
»Ich glaube nicht, dass Lorraines Essen so stinkt, ich glaube, es ist Godrich. Er hat sich übergeben«, erwiderte Alex und rümpfte die Nase.
»In dem Schrank?«
Der Junge nickte.
»Wo ist der Schlüssel?«
»Den hat Kashia.«
»Toll.«
Der Hund begann wieder zu jaulen.
»Können wir ihn mit einer Säge befreien?«, flehte Alex.
»Das könnten wir versuchen, aber ich möchte ihn dabei nicht verletzen. Er steckt da so fest drin, dass ich glaube, wir müssen den Tierarzt rufen.«
»Aber es ist vier Uhr morgens.«
»Als ob ich das nicht wüsste«, erwiderte Liesel, gähnte lauthals und lächelte dann Alex beruhigend an, der ganz entsetzt aussah. »Keine Sorge, es gibt sicher eine Nummer für Notfälle. Irgendjemand wird kommen, besonders, weil er sich übergeben hat. Ich gehe jetzt zum Telefon, und du suchst das Branchenverzeichnis.«
Als sie sich entfernten, verwandelte sich Godrichs Jaulen in ein lautes Geheul.
»So weckt er uns das ganze Hotel auf«, meinte Liesel. Sie rannten zurück in den Speisesaal. Liesel wählte die Nummer, die Alex ihr aus dem Telefonbuch zurief.
»Hallo, machen Sie Hausbesuche? Unser Hund sitzt nämlich fest und kotzt...«
Dann bedeckte Liesel den Hörer mit der Hand und fragte Alex lautlos: »Was ist er?«
»Ein Hund, du Dumme«, erwiderte Alex.
»Ich meine, was für eine Rasse?«
Alex zuckte die Achseln. »Ein großer?«, versuchte er.
»Ein großer«, wiederholte Liesel zum Telefon. »Ein großer, lauter«, fügte sie hinzu, weil Godrich wieder zu heulen begann. »Tut mir leid, aber wir sind nicht sicher. Wir wissen nur, dass er sich mehrfach übergeben hat... was? Sie wollen, dass wir ihn bringen?«
Sie blickte zu Godrich, dessen Kopf fest in der Schranktür der riesigen Anrichte steckte.
»Also, ja... vielleicht kann ich eine Säge finden...«, begann sie zögernd und lächelte dann erleichtert. »Sie schicken gleich jemanden vorbei? Oh, das ist ja wunderbar. Vielen Dank!«
Godrich gelang es trotz seiner eingeschnürten Kehle, sehr laut und traurig aufzuheulen.
»Hallo?«, hörte man da eine zittrige Stimme. Es war Marilyn in Pantoffeln und Bademantel. Sie sah sehr müde aus und hatte Ringe unter den Augen. »Was ist denn bloß hier los? Man kann Godrich überall hören.«
»Selbst zu dieser Nachtzeit bist du noch auf den Beinen.«
»Ich bin immerhin deine Schwester. Daher ist es mein Job«, grinste Marilyn.
»Also, dann ist es auch dein Job, dich um Godrich zu kümmern.«
»Was ist denn mit ihm?«
»Er sitzt fest und hat gekotzt«, erwiderte Liesel schlicht, trat einen Schritt zurück und gab den Blick auf Godrichs Notlage frei.
Marilyn schüttete verwundert den Kopf
»Ich will gar nicht fragen, warum und wie.«
Da heulte Godrich wieder auf. Im Flur hörte man weitere Schritte.
Es war eine Abordnung der Gäste: Mr. und Mrs. Emerson. Mrs. Emerson sah mit ihrem Kopf voller Lockenwickler wunderbar aus. Dicht hinter ihnen folgten Mr. und Mrs. Golightly. Sie taumelten leicht und waren wohl noch leicht beschwipst von der Party.
»Ist alles in Ordnung, meine Lieben?«
Liesel brauchte es nicht noch einmal zu erklären. Sie erfassten die Lage mit einem Blick.
»Wir haben einen großen Topf Vaseline im Zimmer«, bot Mr. Golightly an.
Glücklicherweise bemerkten nur Liesel und Marilyn die aufgerissenen Augen und den Stoß mit dem Ellbogen seitens Mrs. Golightly. Alex saß auf der Fensterbank und beobachtete alles angstvoll.
»Der Tierarzt ist da!«, brüllte er und rannte los, ihn hereinzulassen.
»Gott sei Dank«, seufzte Liesel, die sich nicht darauf gefreut hatte, den Arm bis zum Ellbogen in Mr. und Mrs. Golightlys Vaseline zu stecken, um damit Godrich einzureiben. Jetzt hörte sie auf, den zitternden Hund zu streicheln, und wandte sich um, noch auf den Knien. Da sah sie, dass Marilyn der Mund offen stand. Mrs. Emerson zerrte rasch die Lockenwickler aus den Haaren, und selbst die korpulente Mrs. Golightly arrangierte das Dekollete ihres Bademantels, um ein wenig mehr zu enthüllen. Das wiederum wurde von Mr. Golightly bemerkt, der darauf reagierte, indem er den Brustkorb aufblähte, seine Frau bei der Hand nahm und sie zurück aufs Zimmer führte.
Liesel versuchte, seitlich an ihnen vorbei zu sehen, worum es bei alldem ging, aber Mrs. Emerson versperrte ihr resolut den Blick. Dann heulte Godrich wieder kummervoll auf. Sie trat rasch zur Seite, um den Tierarzt zu ihm zu lassen.
Sein Gesicht konnte Liesel nicht sehen, sie sah nur einen ansehnlichen Männerkörper. Liesel mochte ansehnliche Männerkörper - so wie alle Mädchen, aber wenn Marilyn so völlig hingerissen aussah, dann war er wohl mehr als bloß ansehnlich.
Er hatte die Wachsjacke auf den Boden neben der Anrichte gelegt. Nun hockte er da: breiter Brustkorb, brauner Kaschmirpullover. Darunter trug er ein Hemd zu braunen Jeans, die seine Schenkel eng umspannten. Die Caterpillar-Stiefel rutschten neben Liesels nackte Füße, als er sich neben sie kniete und sie ihn endlich voll sehen konnte. Nun, zumindest das Profil.
Er hatte dunkle Haare, das in einer seidigen langen Strähne ins Gesicht fiel, als er sich vorbeugte, um das Tier zu beruhigen. Darunter konnte Liesel so eben eine gerade Nase erkennen, einen festen Mund, lange Wimpern und eine derart schöne Haut, um die ihn jedes Mädchen beneidet hätte.
Er war ein hinreißend aussehender Mann - ja, fast schön zu nennen.
Und absolut nicht ihr Typ.
Liesel fühlte sich immer vom gleichen Typ angezogen: freches Lächeln und ständig redend. Sie mochte gerne einen etwas schrägen Mund, eine leicht schiefe oder gekrümmte Nase, die vielleicht auch ein wenig zu groß war - eben schöne Unebenheiten. Gut aussehende Männer waren nicht ihr Ding.
»Das ist Godrich«, sagte sie und streichelte die zitternde Flanke des Hundes.
»Ich weiß. Godrich und ich sind alte Freunde.«
»Und warum überrascht mich das nicht?«
Seine geschickten Hände befreiten Godrich rasch mithilfe einer kleinen Säge. Dann untersuchte der Tierarzt sanft die Augen und den Bauch des Hundes und hockte sich anschließend zurück auf die Fersen.
»Nichts passiert, ich habe aber den Eindruck, dass wir nicht dasselbe über das Möbelstück hier sagen können.«
»Er ist also in Ordnung?«, fragte Liesel und lächelte Alex aufmunternd zu.
»Er ist in Ordnung. Nicht wahr, Godrich? Ich kann Ihnen allerdings sagen, was Ihnen vermutlich niemand verraten hat. Godrich hat ein Reflux-Problem. Das bedeutet, wenn er nervös oder gestresst ist, hat er Schwierigkeiten, sein Essen richtig zu verdauen.«
»Dann kotzt er«, übersetzte Alex es.
Der Tierarzt nickte. »Nancy hat ihm immer besonderes Futter gegeben.«
»Sie kannten Nancy?«
»Nun, wenn man bedenkt, dass Godrich das Gegenstück zu Miles & More für seine Trips in meine Praxis bekommt, würde ich sagen, ich kannte sie sehr gut.«
»Wie war sie?«
»Clever. Aber wenn es um diesen Hund ging, völlig daneben. Abgesehen von dem Reflux-Problem ist er nämlich ziemlich gesund, aber er hat rasch gelernt, dass Kranksein besondere Zuwendung heißt.«
»Ist er ein Hypochonder-Hund?«, fragte Liesel.
»Genau.« Nun richtete er sich auf. »Sehen Sie?«, fügte er hinzu, als der gerade erste befreite Godrich die Augen verdrehte, seitwärts taumelte und sich dann wie eine Diva auf den Boden fallen ließ. Nach ein paar Sekunden öffnete er ein Auge, um zu sehen, wer inzwischen herbeigestürzt war, um sich um ihn zu kümmern.
»Ich muss zugeben, wir haben unsere Problemchen mit ihm gehabt.«
»Also, Tiere haben nicht die gleichen komplexen Gefühle wie Menschen, aber sie sind auch nicht so schlicht, wie manche Menschen meinen.«
»Sie meinen also, er ist...«
»Eine komische Nummer.« Der Tierarzt nickte und lächelte Marilyn an. »Nancy Hamilton hat ihn sehr verwöhnt. Ich glaube, wenn man ihn eher wie einen Hund behandelt statt wie einen Kindersatz, könnte ihm das guttun.«
Marilyn nickte zustimmend.
»Vielen Dank, Mr....«
»Tom Spencer.« Er streckte ihr die Hand hin. »Ich fürchte, wir werden einander öfter begegnen.«
»Ich bin Marilyn, das hier ist mein Sohn Alex. Das ist meine Schwester...«
Er schüttete Marilyns Hand, dann Alex’ und wandte sich schließlich zu Liesel, die ihm ebenfalls die Hand entgegenstreckte - aber halbwegs irgendwie aufgab, denn sie sah ihn nun direkt an und bemerkte zum ersten Mal seine Augen.
Sie waren mandelförmig. Die Farbe schien zwischen Gold und Grün hin- und herzuflackern.
Wenn Liesel auf eine Sache stand, dann waren es schöne Augen, und verdammt, dieser Mann hatte die tollsten Augen überhaupt.
»Hi... Ich bin... Lie...Lie...«, stammelte sie wie hypnotisiert.
Sie kam erst wieder zu Sinnen, als sie Marilyns ersticktes Lachen hörte.
»Liesel.« Das platzte heraus wie ein Niesen.
»Gesundheit«, flüsterte Marilyn hinter ihm.
Tom Spencer lächelte, und, dem Himmel sei Dank, sein Lächeln war schief, eines, bei dem der eine Mundwinkel etwas höher gezogen wird als der andere.
»Ihre Mutter war wohl ein Fan der Trapp-Familie?«
»Ich... äh... äh...« Wieder begann sie zu stottern, ermahnte sich dann aber streng, sich zusammenzureißen, und schaffte es glücklicherweise, sich auf seine sehr regelmäßigen Züge zu konzentrieren, um weiterreden zu können. »Wie haben Sie das erraten? Ich meine, natürlich ist das ziemlich offensichtlich, aber nicht immer wird das so rasch erkannt.«
»Meine Mutter war genauso.«
»Mit Tom Cruise?«, versuchte es Marilyn.
Er schüttelte den Kopf »Nein, schlimmer. Ich fürchte, als Teenager war sie fürchterlich in Tom Jones verknallt.«
»Na, it’s not unusal...«, scherzte Liesel und zwinkerte der Schwester zu.
Jetzt verdrehte Tom die Augen genauso wie sie, wenn jemand sie an die Trapp-Familie erinnerte.
»Ich bekomme das ständig zu hören«, meinte Liesel mitfühlend. »Sie ahnen ja gar nicht, wie viele Leute die Trapp-Familie kennen und Witze darüber machen.«
»Ich weiß. Für mich ist es am schlimmsten, weil ich ja Tierarzt bin, wenn sie What’s new Pussycat? singen.«
»Und jetzt können Sie jedes Mal, wenn Sie eine Ziege verarzten, an Liesel denken«, schlug Marilyn vor.
Wieder grinste er. Diesmal bemerkte Liesel, dass er einen ziemlich schiefen Eckzahn hatte. Oh Herr, noch ein Schönheitsfehler!
In dem Moment piepte sein Handy.
»Oh, schon wieder ein Anruf. Ich muss fort.«
Plötzlich sah er so müde aus, dass Liesel den unwiderstehlichen Drang bekämpfen musste, ihm ihr Bett für ein kleines Nickerchen anzubieten.
»Die ganze Nacht auf den Beinen?«, fragte sie und errötete dann heftig wegen der Anspielung. Dann vertiefte sich ihre Röte noch, weil sie es bemerkte und ihr die Anspielung nun peinlichst bewusst war.
Aber in dem Moment legte Mrs. Emerson Tom Spencer eine Hand auf den Arm und fragte: »Sie können nicht vielleicht eben meine Brust abhorchen, ehe Sie verschwinden?«
»Er ist Tierarzt, Schatz, kein Doktor«, warf ihr Mann ein und schüttelte lachend den Kopf
»Ich weiß, aber ich hätte nichts dagegen, wenn er sich meine Brust anhört«, kicherte sie.
Liesel hätte sie am liebsten umarmt. Es ging einem immer gleich besser, wenn jemand anderer sich noch mehr zum Narren machte als man selbst.
 
»Wenn ich groß bin, möchte ich Tierarzt werden«, verkündete Alex, als sie Tom Spencer nachsahen, der in seinem großen schwarzen Range Rover davonfuhr.
»Und wenn Liesel groß wird, will sie einen Tierarzt haben«, meinte Marilyn mit einem Augenzwinkern zu Liesel.
»Wie meinst du das, Mum?«
»Oh, nur so«, griente Marilyn, schlang ihm einen Arm um den Hals und küsste seine zerzausten Haare. »Komm, du und Godrich, ihr gehört jetzt ins Bett, ja?«
»Du meinst, dass Tante Lies auf den Tom scharf ist, stimmt’s?«, hörte Liesel gerade noch, ehe Alex und Marilyn verschwanden.
»Nein, ist sie nicht«, protestiere Liesel eine Nuance zu laut.
»Wenn Frauen die Augen fast aus dem Kopf quellen wie in einem Comic, heißt das, dass sie auf einen scharf sind?«
»Jaja, ziemlich oft«, antwortete Marilyn und grinste die Schwester über die Schulter hinweg an.
»Dann war also Mrs. Emerson auch scharf auf Tom den Tierarzt?«
»Oh ja, ganz bestimmt.«
»Und das Kätzchen ist scharf auf Mäuse.«
»Nein, wenn das Kätzchen die Augen aufreißt, dann will es die Mäuse fressen.«
»Möchte Tante Lies denn Tom auffressen?«, scherzte Alex.
»Ja, Alex, ich glaube tatsächlich, dass sie ihn am liebsten auffressen würde.«
 
Die Witzeleien setzten sich beim Frühstück am Samstagmorgen fort, als sie ihre Eier mit Speck verspeisten. Sie wurden allerdings immer schlechter.
»Bist du scharf auf Tom...atenketchup auf deinem Brot, Liesel?«, war der faulste Witz von Marilyn.
»Ich meine, es gibt Wichtigeres zu besprechen als die Tatsache, dass ich den Tierarzt gestern Abend recht attraktiv fand.« Liesel, die versucht hatte, sämtliche Bemerkungen zu ignorieren, wehrte sich endlich.
»Du meinst den Hosenklau?« Marilyn war in bester Laune.
»Genau.« Diesmal gelang Liesel ein Lächeln.
»Wir müssen mit ihnen reden. So geht das nicht weiter.«
»Bin ganz deiner Meinung.«
»Nimm du dir Kashia vor, und ich rede mit Lorraine.«
»Großartig. Du kriegst die Pussikatze, und ich versuche, der Tigerin einen Stachel aus der Pfote zu ziehen.«
»Na, du sagst doch immer, dass du Menschen gern magst... aber wenn du meinst, du würdest nicht mit Kashia fertig...«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Dann redest du also mit ihr?«
»Klar.«
»Noch vor dem Frühstück?«
»Noch vor dem Frühstück«, bestätigte Liesel.
»Gut.« Marilyn schob eins von Alex’ frisch gewaschenen Superman-Capes auf sie zu. »Nimm eins mit, falls du rasch entkommen musst.«
 
Liesel erwischte Kashia im Speisesaal, wo sie gerade die Cornflakes austeilte.
»Ich Essen verstecken, weil Lorraine meine Hose gestohlen«, verkündete Kashia. Mit ihrem starken Akzent wirkte es, als würde sie den Namen mit mörderischer Lust ausspucken.
»Wir haben gestern Abend mit Lorraine darüber geredet, und sie hat Ihre Hose nicht gestohlen, Kashia.«
»Sie hat Hose genommen und nicht zurückgegeben.«
»Warum würde Lorraine denn Ihre Hose stehlen?«
»Sie mich nicht leiden. Sie gemein zu mir.«
»Und weil Sie denken, sie hätte Ihre Hose gestohlen, haben Sie ihr Essen im Schrank versteckt?«
Kashia nickte triumphierend. »Sie Hose gestohlen. Ich Essen verstecken. Retourkarre.«
»Sie meint Retourkutsche«, flötete eine Stimme von der Tür her.
»Danke, Alex.«
»Ich bringe ihr Englisch bei«, fügte er stolz hinzu und trat näher.
»Wo wir gerade Englisch erwähnen, hat deine Mutter nicht etwas von Schulaufgaben gesagt?«, fragte Liesel gezielt.
»Er ist guter Junge«, sagte Kashia und sah ihm nach, bis er ihr in der Tür noch einmal zuwinkte. »Er mein Freund.«
»Ich wünschte, Sie und Lorraine könnten auch Freunde sein.«
Kashia schnaubte nur verächtlich statt einer Antwort.
»Warum kommen Sie bloß nicht miteinander aus?«
»Wir zwei verschiedene Menschen.«
»Aber verschieden sein ist etwas Gutes. Verschieden kann ergänzen.«
»Sie verrückt mit Putzen. Wie sagt man? Besessen. Sie macht mich verrückt, immer mit Staubtuch und Politur. Immer fleißig. Immer alles tun, was schon getan ist. Wissen Sie, wie oft sie dieselbe Stelle putzt? Nie gut genug. Mit mir fast gleich. Was ich tue, nie gut genug. Sie macht mich verrückt, weil sie verrückt ist. Ist nicht fair.«
»Okay, ich stimme zu, sie ist manchmal ein bisschen obsessiv.«
»Was ist obsessiv?«
»Zu eifrig. Sie muss alles immer richtig machen, was ja gut ist, aber sie arbeitet viel zu schwer, damit alles seine Ordnung hat.«
Kashia nickte. »Ist wahr. Sie Recht haben. Sie versucht, wie es mit erster Mrs. Hamilton war, aber das ist falsch. Ich nie sprechen schlecht von Tote, aber ist gut, dass erste Mrs. Hamilton nicht mehr hier. Harte Frau. Ihre Mrs. Hamilton viel bessere Lady. Gerecht. Sie sagt, ich mache gute Arbeit. Sie nicht sagen, ich muss mehr schaffen. Weil ich immer versuche, sehr schwer zu arbeiten.«
»Wir wissen, dass Sie gute Arbeit leisten, Kashia«, sagte Liesel aufrichtig. »Wir sind sehr zufrieden mit Ihnen.«
Einen Moment lang blickte Kashia sie misstrauisch an. Aber dann sah Liesel, wie ihre Verletzlichkeit aufbrach. Kashia sah plötzlich so angreifbar aus, dass sie fast geweint hätte.
»Sie denken, ich gut?«
»Ja, das denken wir... ich meine, wir finden Sie gut. Wir finden Sie sogar ausgezeichnet, und wir kämen ohne Sie nicht aus. Wir sind so mit Ihnen zufrieden, dass wir Sie bitten wollen, auch beim Abendessen zu servieren.«
»Sie mich brauchen?«
Liesel nickte heftig. Das war nicht gerade eine Lüge, denn sie hatte die Möglichkeit vorher mit Marilyn besprochen. Es würde bedeuten, dass sie weniger Geld zur Verfügung hatten, aber da würden sie schon einen Weg finden.
»Was meinen Sie? Wäre das gut?«
»Ich habe Abendjob, aber nicht gut. Der Mann in der Bar ist nicht nett. Er böse. Er ist Satan.«
»Na, dann rufen Sie doch Satan an und sagen ihm, sie hören auf«
»Sie meinen ernst? Sie mich wollen abends?«
Liesel nickte. »Ja, aber nicht mehr Lorraine ärgern, okay?«
»Wie meinen ärgern?«
»Ärgern«, wiederholte Liesel. »Bedeutet das hier...« Sie bohrte Kashia sanft einen Finger zwischen die Rippen, bis diese auflachte.
»Oh, ich verstehe«, sagte Kashia, wich seitlich aus und fasste sich wieder. »Ärgern ist sehr dumm.«
»Genau«, grinste Liesel.
»Okay. Wenn Sie versprechen, dass Lorraine mich nicht mehr ärgert, dann ärgere ich nicht mehr mit Lorraine.«
Liesel nickte zustimmend und streckte dann die Hand aus, um es zu bekräftigen.
»Abgemacht«, sagte sie.
»Abgemacht«, wiederholte Kashia, nahm die Hand und schüttelte sie. Und dann nahm sie Liesel zu deren Überraschung einfach in den Arm.
 
Beim Frühstück war fast ebenso viel los wie beim Abendessen. Eric hatte sich wieder krankgemeldet, daher übernahm Liesel das Braten von Speck und Würstchen, während Marilyn versuchte, Erics berühmtes Rührei nachzumachen. Lorraine machte Tee und Kaffee und rührte die Bohnen und Tomaten um, und Kashia, deren gute Laune durch Erics Abwesenheit ruiniert war, murmelte ständig etwas in Polnisch vor sich hin, während sie mürrisch zwei Brotlaibe sehr dunkel toastete und grob mit Butter bestrich. Sie spießte die goldgelbe Landbutter wütend mit dem Messer auf und schwenkte es wie eine Massenmörderin.
Liesel warf einen Seitenblick zu Kashia, merkte, dass sie zu sehr mit dem Toast beschäftigt war, um sie zu hören, und flüsterte:
»Wir hatten doch besprochen, dass Kashia abends serviert, damit wir beide mehr Zeit für Alex haben...«
»Ja, und wir waren einer Meinung, dass es sehr gut wäre, wir es uns aber nicht leisten könnten...« Marilyn verstummte, als sie sah, dass Liesel ihr »Bitte verzeih mir...«-Gesicht aufgesetzt hatte. »Du hast es ihr also angeboten?«
»Tut mir leid, May. Es schien der richtige Zug. Sie ist so unsicher. Ich glaube, das Problem zwischen ihr und Lorraine könnte sich geben, wenn sie mehr hier wäre... und wenn wir ehrlich sind, dann täte uns das auch sehr gut. Ich weiß, die finanzielle Lage ist nicht gerade rosig...«
Marilyn unterbrach ihre Schwester, indem sie den Schneebesen hob. »Wir regeln das schon.«
»Oh, ich wusste, dass du das sagen würdest.« Liesel strahlte.
»Ehrlich gesagt, mit Eric und seinen ständigen Krankheiten brauchen wir die Hilfe sogar noch mehr«, fügte Marilyn hinzu.
»Ich hoffe nur, dass er in Ordnung ist.«
»Er hat gestern Abend plötzlich abgebaut. Als er kam, war alles in Ordnung, und er hat richtig geschuftet, bis das Jubelpaar kam, ihn zu begrüßen. Da ist er in sich zusammengefallen wie eine Blume ohne Wasser. Findest du übrigens nicht, dass Godrich auch ein bisschen blass um die Lefzen aussieht?«
Liesel runzelte bei dem unvermittelten Themawechsel verwirrt die Stirn. Für sie sah Godrich topfit aus.
»Findest du, dass er krank wirkt?«
»Na...« Marilyn schnalzte mit der Zunge und atmetete dann hörbar aus wie ein Mechaniker, der einen Motor anschaut. »Schwer zu sagen, denn ich bin kein Experte. Ich finde, wir brauchen die Meinung... von einem Tierarzt vielleicht?«
»Ach, Marilyn, fang doch nicht schon wieder an!«
»Warum denn nicht? Er war ziemlich toll, und das weißt du genau.«
»Aber überhaupt nicht mein Typ.«
»Gut. Es ist auch höchste Zeit, dass du ein bisschen Abwechslung hast, wenn man bedenkt, dass deine normalen Typen eine ziemliche Zeitverschwendung sind.«
Liesel wollte das gerade abstreiten, aber dann wurde ihr klar, dass Marilyn Recht hatte, und sie lachte lieber.
»Ja, vielleicht. Aber gib ruhig den Löffel ab, Marilyn, denn ich habe nicht die geringste Absicht, mich hier auf irgendetwas einzulassen.«
»Ich weiß, ich weiß. Dein Schwur, keusch zu sein oder Single oder was auch immer.«
»Beides«, erwiderte Liesel bestimmt. Nach einem Moment fügte sie fast nonchalant hinzu: »Jemand, der so gut aussieht, ist vermutlich schon längst gebunden.«
»An dem Finger hatte er keinen Ring.«
»Ist dir das aufgefallen?«
»Ja, mir und außer dir allen anderen Frauen im Raum.«
»Alle anderen Frauen waren im Rentenalter.«
»Ja, aber hingeguckt haben sie immer noch. Das sagt dir doch einiges.«
»Okay, er hatte eine gewisse Ausstrahlung.«
»Ausstrahlung?«, wiederholte Marilyn. »Liesel, der Typ war absolute Spitze. Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, hätte ich mich selbst auf ihn gestürzt.«
»Ein paar Jahre jünger? Ihr seid doch vermutlich gleich alt.«
»Genau. Was heißt, er ist zu jung für mich. Tu dich nie mit jemandem zusammen, der genauso alt ist wie du.«
»Und warum in aller Welt nicht?«
»Weil Männer irgendwie besser altern, und man will doch nicht älter aussehen als der Partner.«
»Oder hässlicher?«
»Er ist nicht schöner als du. Du siehst toll aus.«
»Du bist aber voreingenommen.«
»Ja, vielleicht, aber Recht hab ich trotzdem. Ihr würdet ein wunderbares Paar abgeben.«
»Marilyn, wie kannst du so was sagen? Wir kennen den Typen doch gar nicht.«
»Ich bin ausnahmsweise mal oberflächlich und gehe nur nach dem Aussehen.«
»Er sah wirklich toll aus, nicht?«
»Endlich nimmt sie Vernunft an.«
»Aber ich würde mich trotzdem zum Narren machen, wenn ich Godrich dahin schleppte, weil es ihm ausgesprochen gutgeht.«