12
Sie hatten Lorraine noch nie so glücklich gesehen. Sie war nicht nur für Samstagabend mit Adrian verabredet, sondern konnte auch einen Flecken von der Größe eines Bundeslandes vom Teppich entfernen. Das war für sie himmlisch. Sie schaffte es sogar, sich zu setzen und gemeinsam mit ihnen zu frühstücken.
Doch Marilyns Gedanken waren offensichtlich woanders. Seitdem sie Liesel einen Becher Tee gereicht hatte, sah sie sie immer wieder vielsagend an.
Endlich sprach sie es aus.
»Wann wirst du denn dein Versprechen einlösen?«
Liesel blinzelte die Schwester verständnislos an.
»Wie meinst du das denn?«
»Der gut aussehende Tierarzt. Du hast Lorraine versprochen, es ihr nachzumachen, wenn sie sich ein Herz fasst.«
»Wenn ich ihn unter normalen Umständen wiedersehe, kann ich mich ihm immer noch an den Hals werfen. Das versichere ich dir.«
»Worauf wartest du? Du könntest zu ihm gehen, damit er sich deinen Daumen nochmal ansieht.«
»Ich kann wohl kaum beim Tierarzt anrufen und einen Termin für mich selbst ausmachen.«
»Und für Godrich?«
»Der ist nicht krank, das weißt du genau.«
»Okay, Godrich geht es vielleicht besser, aber er ist nicht das einzige Tier im Haus.«
»Du meinst das Kätzchen?«
Marilyn nickte. »Wir sollten sie gründlich untersuchen lassen, auch prüfen, ob sie nicht einen anderen Besitzer hat. Vielleicht sucht sie in diesem Moment jemand...«
»In dem Zustand? Sie ist eindeutig eine herrenlose Katze.«
»Aber wir sollten sie in jedem Fall von einem Tierarzt untersuchen lassen. Sie muss ja auch geimpft werden. Es wäre grobe Vernachlässigung, wenn wir das nicht täten.«
»Meinst du?«
»Ich bin sicher. Richtig grausam wäre es.«
»Und du willst, dass ich sie hinbringe?«
»Du würdest mir einen Riesengefallen tun, denn ich habe einen Termin mit dem Tourismusamt wegen irgendeiner Werbung.«
»Wenn du mich tatsächlich dafür brauchst...«
»Mach schon«, drängte Marilyn sie lächelnd. »Geh ans Telefon und verabrede einen Termin. Immerhin...«, fügte sie jodelnd hinzu: »Wenn der Hund beißt und die Katz stinkt, wenn du traurig bist, dann denk einfach an deinen Lieblingstierarzt, und die Welt ist schöööön.«
 
Es war ein notwendiger Besuch, aber warum fühlte sie sich so dämlich in dem Wartezimmer, umgeben von Tieren und deren Besitzern? Das Kätzchen, das sie Mätzchen getauft hatten - eine Kombination aus Mutter und Kätzchen, saß auf einem Kissen in dem Tragekorb wie ein Osterei, das vom Osterhasen persönlich abgeliefert wird. Es war, als könnten alle anderen Liesels Gedanken lesen und wüssten genau, warum sie hier saß. Sie war auf der Jagd, auf der Jagd nach einem Mann, und schämte sich schrecklich dafür. Das Blödeste aber war, dass Tom Spencer vielleicht gar nicht Dienst hatte, sondern der süße Adrian oder der schicke Mr. Childs.
»Mätzchen Hamilton, Raum drei, bitte«, rief die Sprechstundenhilfe.
Liesel musste sich beherrschen, nicht aufzulachen. Es war wirklich süß, wie sie hier die Tiere beim Namen aufriefen. Bisher hatte es geklungen wie bei einem Playboy-Treffen: Boots McKenzie, Bunny Ryder, Pinky Jackson und Fluffy Hoolahan waren vor ihr an die Reihe gekommen. Raum drei. Na, drei war eine Glückszahl. »Alles okay«, versicherte sie Mätzchen, als sie den nach Desinfektionsmitteln riechenden Gang entlanggingen.
Vorsichtig stieß sie die Tür auf und sah einen Kopf, der sich über den Untersuchungstisch beugte: Haar, das im Neonlicht glänzte wie eine Kastanie. Lächelnd blickte Tom hoch.
»Guten Morgen.«
Irgendwie sah er Joaquin Phoenix in Gladiator ähnlich, fand Liesel und erwiderte das Lächeln. Das lag an der Mundlinie und den gemeißelten Wangenknochen. Ob das gut oder schlecht war, wusste sie nicht. Alle Leute, die sie kannte, hatten für Russell Crowe geschwärmt, doch sie schwärmte im Kino immer für die Bösen, und wenn sie Tom jetzt positiv mit ihm verglich, dann konnte sie überhaupt nicht mehr bestreiten, dass sie ihn attraktiv fand. Und das war gleichzeitig sehr gut und sehr, sehr schlecht. Es war schön, jemanden richtig nett zu finden, so ein warmes, schönes Gefühl, aber wenn Liesel jemanden sehr attraktiv fand, dann rastete ihr Verstand immer so seltsam aus. Es war, als würden dem Gehirn kleine Beine wachsen und als würde es in ein dunkle Ecke rennen, wo es sich weigerte, mit dem Rest des Körpers zu kommunizieren. Der schleppte sich dann weiter wie ein Bus ohne Fahrer, vor allem ihr Mund, der ganz besonders dämlich daherredete, ohne dass irgendein Verstand eine Kontrolle ausübte.
»Godrich lässt schön grüßen«, war der erste völlig blöde Satz, den sie unfreiwillig aussprach.
Seine Mundwinkel zuckten zu einem schrägen Lächeln hoch, worauf Liesel sofort dachte, wie schön es wäre, ihn zu küssen. Das machte alles nur noch schlimmer.
»Was macht der Daumen?«
Liesel hielt den sorgfältig gewickelten Verband hoch.
»Pulsiert«, sagte sie und errötete tief. Sie biss sich auf die Lippen. »Danke, dass Sie mich so schön verbunden haben.«
Oh, mein Gott, kann ich denn rein gar nichts Vernünftiges sagen? Liesel zuckte innerlich zusammen. Leicht war das nicht. Vermutlich sah sie aus, als müsste sie dringend aufs Klo. Es war ein völlig alberner Zustand, doch er konzentrierte sich zum Glück auf seine Arbeit.
»Was können wir denn heute für Sie tun?«
Liesel hob den Katzenkorb hoch. Mätzchen wählte genau den richtigen Augenblick, die Pfötchen über den Rand zu stecken, die Augen groß wie Scheinwerfer aufzureißen und kläglich zu miauen.
Zu Liesels Erleichterung lächelte Tom.
»Ich wusste nicht, dass Sie eine Katze hatten.«
»Hatten wir bis vor Kurzem auch nicht.«
»Woher kommt sie?«
»Wir haben sie bei den Mülltonnen gefunden. Ich glaube, sie gehört niemandem.«
»Jetzt doch.«
»Ja, sie gehört zur Familie.«
»Die Glückliche!« Tom lächelte. Und Liesel spürte, dass ihr Magen sich drehte wie die Waschmaschine, die sie den ganzen Morgen zu reparieren versucht hatte. »Schön für Sie. Wenn doch mehr Leute streunende Katzen aufnähmen. Wie geht es übrigens Godrich?«
»Also, sein Bauch scheint viel besser, seitdem er richtig gefüttert wird, aber er hasst uns deswegen. Wenn er bei uns Schokolade am Atem oder an den Händen nur riecht, sieht er uns derart niedergeschlagen an, dass man fast mit dem Tierschutzverein rechnet, der einen Rettungstrupp ausschickt.«
»Sie müssen einfach weiterhin daran denken, dass Schokolade auf Hunde wie Gift wirkt und Sie ihm keinen Gefallen tun, wenn Sie ihm welche geben, egal wie sehr er sie zu lieben scheint.«
»Das ist schon fatal, nicht wahr, dass man sich absolut nach Dingen verzehrt, die völlig schlecht für einen sind.«
»Wie findet er denn dieses kleine Ding hier?«
»Momentan straft er sie mit Verachtung, aber das ist immer noch besser, als sie gleich aufzufressen.«
»Sie muss also geimpft werden?«
»Ja, bitte. Und schauen Sie bitte nach, ob sie einen Chip hat, um sicher zu sein, dass sie nicht jemandem gehört. Ich weiß, wir würden sie nicht gerne wieder verlieren, aber wenn sie jemandem gehört... doch wenn sie noch keinen Chip hat, würden Sie ihr bitte einen verpassen?«
»Natürlich.«
Bei Liesels Worten hatte er das Kätzchen aus dem Korb gehoben und untersuchte es nun sehr sanft. Mätzchen schnurrte so laut wie ein Dieselmotor.
Die hat’s gut, seufzte Liesel innerlich.
»Sie verstehen es wirklich... ich meine... äh... mit Tieren umzugehen. Was natürlich gut ist... äh... für einen Tierarzt. Vielleicht sind Sie ja auch deswegen Tierarzt geworden... weil...äh... Sie es... äh... verstehen. Mit Tieren umzugehen.« Sie kam stolpernd zum Stillstand, als sie merkte, dass er sie ansah. Ein Mundwinkel war schräg und amüsiert hochgezogen.
Das war kein lockeres Geplauder wie gestern Abend im Badezimmer, als der Schock und der Wein die offensichtlich einseitige sexuelle Anziehung gedämpft hatten.
Am besten sagte sie jetzt erst mal gar nichts, und so wechselte Liesel von ununterbrochenem Geplapper zu absolutem Schweigen, eine Kehrtwende, die sie vermutlich noch seltsamer wirken ließ, aber ihr blieb nun nichts anders übrig.
Als Mätzchen anschließend die Injektionen bekommen sollte, wurde Liesel voll von ihrer Nadelphobie getroffen und musste sich mit einem Glas Wasser setzen. Dafür entschuldigte sie sich ausgiebig.
Als Mätzchen endlich untersucht, entwurmt, geimpft und gechipt war, wollte Liesel so dringend aus der Praxis fliehen wie das arme kleine Kätzchen.
Sie ließ sich auf den Fahrersitz des Wagens fallen, schloss die Augen und seufzte schwer. Mätzchen war beim Tierarzt gewesen, jetzt brauchte Liesel selbst einen Arzt. Einen Spezialisten für seelische Probleme.
 
»Na, wie war es?«, fragte Marilyn sofort, als sie zurückkam.
»Also, eigentlich hätte ich eher einen Arzt gebraucht als Mätzchen.«
»Wie meinst du das denn?«
»Verbaler Durchfall.«
»Wie würde Maria Trapp ein solches Problem lösen?« Marilyn schüttelte mitfühlend den Kopf
Liesel nickte kummervoll.
»Und als ich ihn wiedersah, wurde mir noch klarer, wie ungeheuer attraktiv er ist. Er ist derart toll, dass jemand wie ich nicht im Traum damit rechnen kann, dass er sich für mich interessiert.«
»Wie hält man Mondstrahlen in einer Hand?«, fragte Marilyn und tätschelte tröstend Liesels Hand.
Endlich fiel der Groschen bei Liesel, und sie rümpfte entrüstet die Nase.
»Du alte Kuh. Ich schütte dir mein Herz aus, und du nimmst mich auf den Arm.«
»Ich bin deine Schwester. Es ist meine Aufgabe, dich auf dem Boden zu halten.« Marilyn bohrte Liesel einen Finger in die Rippen. »Lach nur, denn das ist besser für dich.«
»Nein, stimmt nicht«, erwiderte Liesel so ärgerlich wie sie nur konnte, musste sich aber Mühe geben, dass ihre Mundwinkel weiterhin herabhingen. »Außerdem stehe ich jetzt wieder auf Keuschheit.«
»Ehrlich?«
Sie nickte entschlossen. »Das Leben hat mehr zu bieten als bloß Männer.«
»Oh, sicher.«
»Dieses Hotel zum Beispiel. Wir haben hier jede Menge Arbeit. Wo ist mein Schraubenschlüssel?«
»Willst du etwas reparieren?«
»Nein, ich muss mir endlich Vernunft einbläuen.«
 
Am folgenden Morgen kam Liesel nach unten, um Eric mit dem Frühstück zu helfen, fand aber nur Kashia vor, die wütend Speck und Würstchen briet und dabei so wild darin herumstocherte, als müsste das arme Schwein, das sie geliefert hatte, zweimal sterben. Und sie war entschlossen, dafür zu sorgen.
»Kashia, was machst du da?«
»Eric angerufen. Schon wieder krank.« Kashia verdrehte die Augen. »Ich habe Schweinsdinge für Frühstück angefangen, sonst nicht fertig.«
Dann kam Marilyn pfeifend durch die Schwingtür.
»Kein Eric?«, fragte sie, als sie Kashia sah, die weiterhin furios in den Würstchen stocherte, die daraufhin explodierten und den Herd bespritzten.
»Er hat sich wieder krankgemeldet«, seufzte Liesel. »Das ist nicht gut. Der arme Mann, er ist zu oft krank. Ich werde ihn einfach besuchen. Kommt ihr alleine mit dem Frühstück zurecht?«
»Natürlich.«
Liesel war erst einmal bei Eric zu Hause gewesen. Sie hatte ihn nach der Arbeit heimgebracht, als er sich auch wieder »etwas angeschlagen« gefühlt hatte. Er lebte in einem Wohnhaus mit sogenannten Studio-Apartments, aber in Wirklichkeit war es ein viktorianisches Haus, in dem der Besitzer Zimmer vermietete. Die Haustür stand offen, daher ging Liesel gleich in den ersten Stock und klopfte vorsichtig an die Tür.
»Hi, Eric, ich bin’s, Liesel. Ich bringe Ihnen etwas vorbei.«
Sie klopfte wieder. Nach ein paar Sekunden öffnete Eric die Tür. Er trug einen Bademantel. Seine Augen waren blutunterlaufen und lagen tief in den Höhlen.
Liesel hielt ihm eine Thermoskanne und eine Tüte entgegen.
»Eine Suppe und Brote«, bot sie an.
Das Zimmer war winzig, wenn man bedachte, dass es Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer zugleich war, doch es war sehr aufgeräumt und sauber. Die Wände hingegen waren absolut vollgeklebt mit Fotos, so dass keine freie Fläche zu sehen war.
Die meisten waren von einer dunkelhaarigen Frau mit einem schmalen Gesicht und einem süßen Lächeln, die anderen vermutlich von Erics Sohn in den verschiedenen Stadien vom Kind zum Mann. Das neueste, mit einem Ehrenplatz neben dem Bett, war ein Gruppenfoto vom Cornucopia beim Picknick am Strand.
Liesel war nicht sicher gewesen, wie Eric sie empfangen würde, daher war sie erleichtert, dass er sich über ihren Besuch zu freuen schien. Falls sie leise Zweifel an seiner letzten Krankmeldung gehabt hatte, konnte sie nun mit einem Blick feststellen, dass er fürchterlich aussah.
Aber irgendetwas verbarg er.
Er strahlte aus, was Liesel als männliches Schuldbewusstsein bezeichnete, etwas, was jede Frau, die jemals von einem Mann angelogen wurde, sofort erkennt, ohne es benennen zu können. Sie hatte es früher bei Nick beobachtet, wenn er vorgab, völlig ehrlich zu sein. Seitdem reagierte sie so sensibel darauf wie ein Schwein auf Trüffel, die sonst niemand riechen kann.
Erst nach zwei Bechern Hühnersuppe und einer Plauderei über das Hotel, Alex und die Menüs entdeckte sie die fast leere Whiskeyflasche, die rasch hinter einem Kissen auf dem Sofa versteckt worden war. Damit war plötzlich alles sonnenklar.
Vielleicht hatte sie nicht bloß das Schuldgefühl gerochen.
Sie wusste genau, dass er bei der Arbeit nicht trank. Sie hatte es nie gesehen und auch nie etwas gerochen, noch irgendwelche anderen Zeichen von Beschwipstheit bemerkt. Sie hatte ihm auf seinen Wunsch hin Dinge aus seiner Tasche gebracht, und er hatte nie den Anschein erweckt, dass er etwas vor ihr verbergen wollte.
Daher steuerte sie die Unterhaltung nun sehr vorsichtig auf die Frau auf den Fotos, die den Raum beherrschten.
Es war seine Frau, wie sie vermutet hatte. Sie hieß Jean und war vor zwanzig Jahren unerwartet bei einem Unfall gestorben, als Ed, ihr Sohn, erst fünfzehn war.
»Genauso alt wie ich, als meine Eltern starben«, murmelte Liesel.
Eric seufzte. In seinen Augen quollen Tränen auf
»Sind Sie das?« Liesel hielt das Foto eines jungen Mannes in Uniform hoch.
»Ja, als ich bei der Marine war.«
»Ich wusste immer schon, dass sie ein gut aussehender Bursche waren, Eric.«
Eric lächelte mühsam.
»Ich war ein frecher Bengel und glaubte nicht an Liebe auf den ersten Blick. Doch dann kam Jean. Ich wusste im selben Moment, als ich sie sah, dass ich sie liebte. Sie lächelte mich an, und das war es. Ich war hingerissen.«
»Ach, wie schön.«
»Ehrlich gesagt, wäre ich am liebsten weggerannt. Ich war so erschrocken. Ich wusste, dass es mich erwischt hatte. Ich hatte meine Junggesellenzeit sehr genossen und wusste nun, damit hatte es sich. Vorbei. Vergangenheit. Ein Mann für nur eine Frau, und zwar für den Rest meines Lebens.« Er hielt inne und wandte sich ab. Liesel wusste, dass er weinte und nicht wollte, dass sie es sah. Sie wandte sich zur Anrichte und tat, als würde sie weitere Fotos betrachten, bis er sich wieder gefasst hatte.
»Es tut auch nach all den Jahren immer noch sehr weh!«, sagte er schließlich mit brüchiger Stimme.
»Das verstehe ich.«
»Ay, das stimmt, Miss Liesel. Und daher schäme ich mich umso mehr, wenn ich manchmal einfach...« Er brach ab und deutete auf die Whiskeyflasche. »Nicht immer. So bin ich nicht. Nur manchmal ist es das Einzige, was den Schmerz betäuben kann. Man würde denken, nach all den Jahren hätte ich gelernt, damit fertigzuwerden, eh?«
Liesel schüttelte den Kopf »Dafür gibt es keine Regeln.«
»Sie haben Ihre Mutter und Ihren Vater verloren und scheinen damit zurechtzukommen«, sagte er beschämt.
»Ich hatte aber Marilyn und Alex. Ohne sie wäre ich heute in einer ganz anderen Verfassung.«
»Meinen Sie?«
Liesel nickte überzeugend. »Sicher. Ohne sie wäre ich nicht damit fertiggeworden. Es ging mir lange Zeit sehr schlecht.«
»Ach, ja, es trifft einen eben immer wieder. Ich bin nicht gut damit fertiggeworden.«
Es war, als wäre Liesels Bekenntnis genau der richtige Auslöser gewesen, sich ihr zu öffnen. Er erzählte ihr, wie er manchmal in die schwärzeste Depression verfiel, die ihn fast umbrachte. Dann half der Schnaps ihm, sich in ein Vergessen zu stürzen, das schrecklich war, aber immer noch besser als die öde Wirklichkeit, die ihn immer wieder voll ins Gesicht traf, als wäre alles gerade erst geschehen. Und schließlich bekannte er seine Schuld, die er seitdem wie eine Last mit sich getragen hatte.
»Es war nämlich meine Schuld. Ich hätte bei ihr sein sollen, aber man hatte mir Überstunden angeboten. Sie fuhr nachts nicht gerne alleine...«
Er hatte alles relativ gut im Griff gehabt für den Sohn, aber als Ed beschloss, auf eine Weltreise zu gehen, gab es nichts mehr, das ihn abhalten konnte, immer öfter in das zu verfallen, was er seine große Schwäche nannte.
Als all dies aus ihm herausbrach wie eine Lawine, sah er noch schuldbewusster aus und sagte leise: »Es tut mir aufrichtig leid, dass es meine Arbeit im Hotel beeinträchtigt, Miss Liesel. Ich reiche Ihnen morgen früh meine Kündigung ein.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, erwiderte Liesel.
»Es wäre nur recht. Überall sonst hätte man mich schon lange rausgeworfen.«
Aber Liesel ignorierte ihn und hielt ihm eine Hand hin.
»Kommen Sie«, sagte sie.
Er sah sie fragend an.
»Sie kommen einfach zu uns und wohnen da. Ich lasse Sie hier nicht alleine.«
»Aber ich habe Ihnen gerade meine Kündigung angeboten.«
»Ich weiß, aber ich habe mich geweigert, sie anzunehmen.« Dann kniete sie sich neben seine gebeugte Gestalt und sagte leise: »Sie brauchen nicht alleine zu leben, Eric. Jetzt nicht mehr. Sie haben jetzt uns. Kommen Sie, ich helfe Ihnen packen. Sie kommen jetzt mit mir.«
»Das kann ich nicht.«
»Doch. Wenn Sie nur wollen...« Sie streckte ihm eine Hand hin. »Kommen Sie, wir gehen nach Hause.«
 
Marilyn saß am Empfang. Als sie aufblickte, erfasste sie die Situation sofort.
»Ich habe Eric mitgebracht«, sagte Liesel einfach nur.
Marilyn stellte keine einzige Frage. Sie nickte Liesel nur zu und lächelte Eric an, ehe sie ihn zum Sofa führte und Lorraine bat, eine Decke zu holen. Als er mit einer Tasse Tee, ein paar Plätzchen und einem alten Spielfilm im Fernsehen versorgt war, ging sie mit Liesel in die Küche, wo sie schweigend zuhörte, wie Liesel den Grund für Erics häufige Abwesenheit erklärte. Sie seufzte schwer, als das Trinken erwähnt wurde, aber noch mehr, als Liesel sein Zuhause beschrieb.
»Er ist so allein. Kein Wunder, dass er depressiv wird. Ich kann ihn nicht dorthin zurückkehren lassen, Marilyn.« Ihre Augen blickten genauso flehend wie in dem Moment, als sie das Kätzchen behalten wollte. Dies hier aber war anders. Eric war kein Kätzchen. Er war ein erwachsener Mann von sechzig Jahren.
»Er hat seinen Stolz, Liesel, er wird es nicht akzeptieren, weil er es für Mitleid hält.«
»Ich weiß, und ich würde ihn nie im Leben beleidigen, indem ich ihm das anböte. Aber wir können ihm hier ein Zimmer vermieten. Ich weiß, was er zahlen kann, ist kaum das, was wir normalerweise für ein Zimmer bekommen. Aber wir wissen genau, dass manche Dinge im Leben wichtiger sind als Geld. Außerdem platzen wir in punkto Gästen nicht gerade aus den Nähten, oder? Und wenn es, Wunder über Wunder, dazu kommen sollte und wir alle Zimmer brauchen, dann kann er immer noch in meinem Zimmer schlafen, wenn du nichts dagegen hast, dass ich bei dir nächtige.«
»Das wird dann so wie früher«, lachte Marilyn.
»Ist das also ein Ja?«
Marilyn nickte. »Natürlich.«
»Oh, du bist die beste Schwester der Welt!«, rief Liesel und nahm sie fest in den Arm.
»Solange Eric das auch will. Wir können ihn nicht zwingen, hier zu wohnen, wenn er das nicht will.«
»Oh, das will er schon«, meinte Liesel ein wenig zu schnell.
Marilyn trat mit verschränkten Armen einen Schritt zurück und kniff die Augen zusammen.
»Du hast es ihm schon angeboten, nicht wahr?«
Liesel biss sich auf die Unterlippe und versuchte ein Lächeln. »Ich habe vielleicht auf der Fahrt hierher eine Andeutung gemacht...« Aber zu ihrer Erleichterung schüttelte Marilyn bloß den Kopf und lachte.
»Du bist mir eine!«
»Sorry... ich weiß, ich hätte dich erst fragen sollen. Aber ich wusste, dass du nicht nein sagen würdest.«
»Nein, aber könntest du noch ein paar Minuten mit deinen Tricks weitermachen?«
»So bin ich eigentlich nicht, aber da du mich bittest... warum?«
»Ich möchte, dass du Eric sein Handy klaust.«
»Wozu in aller Welt?«
»Sein Sohn muss das erfahren.«
»Und wir müssen es ihm mitteilen?«
»Eigentlich nicht, nein. Aber irgendjemand muss es tun. Eric kann nicht vor aller Welt verbergen, wie es ihm geht. Er braucht Hilfe, und er braucht seine Familie. Wenn das mir passierte, würdest du Bescheid wissen wollen?«
»Natürlich.«
»Und was würdest du tun, falls dich jemand anriefe und sagte, ich würde dich brauchen?«
»Ich würde sofort losrennen.«
»Na, also.«
Liesel sah immer noch nicht ganz überzeugt aus, daher rief Marilyn Lorraine, die gerade unter einem Riesenstapel Bettwäsche vorbeiwankte.
»Wie ist Erics Sohn, Lorraine?«, fragte sie und begann automatisch, Lorraine die Hälfte des Stapels abzunehmen.
»Ich habe ihn nur einmal gesehen, aber er scheint in Ordnung.«
Marilyn nickte bestätigend. Wenn Lorraine jemanden in Ordnung fand, war das ein Riesenkompliment.
»Na, dann ist es also abgemacht. Ich werde ihn anrufen. Er muss erfahren, dass es seinem Vater nicht gut geht. Lies?«
»May?«
»Bitte?«
Liesel seufzte. »Okay, ich besorge das Handy.«
 
Als Liesel ins Wohnzimmer zurückkam, war Eric eingeschlafen. Er sah so schwach, erschöpft und ausgelaugt aus. Während die meisten Menschen im Schlaf jünger aussehen, wirkte er älter und verbrauchter. Tiefe Furchen waren in seine Züge eingegraben. Als Liesel leise die Taschen seines Jacketts durchsuchte, das über der Sofalehne hing, fühlte sie sich wie eine Diebin, die ein Vertrauen missbraucht. Es war für Eric sehr wichtig, einen Anschein seiner alten Kontrolle aufrechtzuerhalten. Wenn sein Sohn keine Ahnung von seiner Depression hatte, dann, weil Eric es so wollte. Er hatte Liesel erzählt, dass sein Sohn immer davon geträumt hatte, zu reisen, dass er sich die Reise um die Welt erarbeitet hatte, wie stolz Eric deshalb auf ihn war und wie sehr er es hassen würde, etwas zu tun, was dieses große Abenteuer stören würde. Diese Selbstlosigkeit hatte nun zur Folge, dass Eric völlig allein war.
Liesel konnte es sich nicht einmal vorstellen, völlig allein zu sein. Sie hatte immer Marilyn gehabt. Sie hatte nie an den Spruch geglaubt, man könne sich seine Freunde aussuchen, aber nicht die Familie. Falls sie sich ihre Familie wählen könnte, würde sie genau die aussuchen, die sie hatte. Freunde waren in ihrem Leben gekommen und gegangen... bis jetzt.
Sie wusste, dass sie einander zwar nur kurze Zeit kannten, aber Eric alles für sie tun würde. Seit ihrer Ankunft war er ihnen ein guter Freund gewesen, und jetzt zahlten sie es ihm zurück. May machte es wie immer richtig. Liesel griff in die Innentasche, zog ein altmodisches Handy heraus und ging auf Zehenspitzen in die Küche.
»Sehr gut«, flüsterte Marilyn, obwohl sie sich auf der anderen Seite des Hauses befanden. Sie nahm das Handy entgegen und schaltete es ein. Erics Liste von Namen war sehr kurz.
»Kennst du irgendjemanden, der nur fünf Telefonnummern in seinem Handy hat?«, seufzte sie. »Der arme Kerl, die meisten Anrufe sind von uns. Ah, hier. Ed...« Sie speicherte die Nummer in ihr Telefon.
»Hi, ist da Ed?«
Beim Sprechen ging sie nach draußen. Liesel, die spürte, dass die Schwester ungestört sein wollte, folgte ihr nicht. Schließlich kam Marilyn wieder in die Küche. Liesel war neugierig.
»Er kommt her.«
»Einfach so?«
»Einfach so. Ich brauchte überhaupt nichts zu sagen, nur wer wir sind und dass wir uns um Eric Sorgen machen. Er klang ebenfalls sehr besorgt. Sagte, es sei eine lange Geschichte, und wenn wir nichts dagegen hätten, käme er her. Er wollte ein Zimmer buchen. Ich habe ihm gesagt, er solle nicht albern sein und sich als unser Gast betrachten.«
»Noch mehr Streuner«, lächelte Liesel.
»Du hast doch nichts dagegen, oder?«
Liesel umarmte die Schwester.
»Natürlich nicht. Ich hätte etwas dagegen, wenn du es ihm nicht angeboten hättest.«