12
Die Weihnachtsbescherung in der Schule war am Mittwoch Abend, und die Kinder waren außer Rand und Band, wie immer um diese Jahreszeit. Am aufregendsten war die Aussicht auf den Ausflug in die Stadt, ausnahmsweise unter der Obhut ihrer Väter. Die Männer waren unserem Rat gefolgt und fuhren mit zwei Autos. Paul sollte in unserem Auto einen Teil der Kinder mitnehmen, (»Aber haltet die Zwillinge getrennt, wenn ihr das irgendwie schafft«, sagte Anne) und Tim und Sam im anderen Wagen die ungebärdigeren Geister, um notfalls zu zweit eingreifen zu können. Die Kinder redeten nur noch davon, daß sie Santa Claus sehen, Lift und Rolltreppe fahren und ins Kino gehen würden.
Die Schulfeier war verhältnismäßig harmlos. Wie gewöhnlich gab es vorher und nachher viel zu tun, und als Frau des Vorsitzenden mußte ich den Christbaum schmücken, die Geschenke ordnen, die Blumen richten und das ganze Schulzimmer für das abendliche Fest herrichten. Ich schnappte mir Larry, und wir verbrachten einen langen, heißen Nachmittag damit, Luftballons aufzublasen, Sterne und Kerzen am Baum zu befestigen und Päckchen mit Namen zu versehen. Dann eilten wir nach Hause und richteten die »Platten«, was bedeutete, daß wir Kuchen und Kekse buken. Dann fingen wir unsere Kinder ein, zogen sie anständig an und versuchten sie dazu zu bringen, viel zu essen, damit sie nicht wie die Wölfe über die Tische mit dem Abendessen herfielen.
Der Abend verlief wie alle Schulfeste: Ein paar Lieder und Tänze von den Kindern, die sie schlecht und mit viel Gekicher aufführten, ein paar kurze Reden von Erwachsenen, die jeder schon einmal gehört hatte, die Verteilung der Geschenke an die Kinder, zu denen auch ein brüllendes Baby gehörte, dessen Mutter stolz ein Geschenk in Empfang nahm, und zuletzt ein paar Gesellschaftsspiele, die mit Streit und Raufereien endeten. Ich dachte voll Sehnsucht an unseren früheren Lehrer, der sogar auf einer Schulfeier Ordnung halten konnte, und verglich ihn mit dem armen Bertie, der gerade erfolglos versuchte, einen von den Großen zu überreden, den Kleineren nicht alle Luftballons kaputt zu machen.
Ursula war nicht zu übersehen. Sie gab damit an, daß sie die Geschenke ausgesucht hatte und tat so, als hätte sie sich einen ganzen Nachmittag damit abgeplagt. Es war mein Glück, daß ich gerade in der Küche war, als Christopher und der große Junge, der die Kleinen geärgert hatte, aufeinander losgingen. Unsere sechs schlossen sich begeistert zusammen, und natürlich war es Ursula, die sie trennte. Ich hörte sie sagen, die Kinder in Neuseeland seien wirklich kleine Barbaren, aber was sollten die Väter dagegen tun, da sie ja den ganzen Tag arbeiteten.
Wir brachten unsere Sprößlinge früh heim und entschuldigten uns mit dem Ausflug in die Stadt am nächsten Tag, steckten sie ins Bett und erklärten, daß sie Santa Claus nicht sehen würden, wenn wir noch einen Ton hörten. Diesmal wenigstens fielen sie in erschöpften Schlaf und ließen ihre Spielsachen, die wir unter solchen Schwierigkeiten gekauft hatten, unbeachtet auf dem Küchenboden liegen.
Am nächsten Morgen legten Larry und ich sorgfältig die Kleider zurecht, die unser Nachwuchs in der Stadt tragen sollte, und überließen den Rest den Vätern. Wir hatten genug zu tun, das Schlachtfeld in der Schule aufzuräumen. Während wir welke Blumen hinauswarfen, das Geschirr sortierten und das meiste noch einmal abspülten, sagte Larry schlecht gelaunt: »Jetzt könnte Ursula sich wirklich nützlich machen. Sie hat gestern abend lange genug alle herumkommandiert und damit angegeben, daß wir ohne sie gar keine Geschenke bekommen hätten.«
»Das stimmt. Sie erzählte Alison, daß die arme Susan ihr Bestes tat, aber einfach nicht mit den Verkäufern fertig werden konnte.«
Larry lachte. »Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als ich ihr erzählte, daß die Männer die Kinder heute in die Stadt mitnehmen. >Aber doch nicht allein?< fragte sie. >Aber was passiert, wenn die Mädchen auf die Toilette müssen?<«
»Und was hast du gesagt?«
»Daß es schon komisch wäre, wenn Paul und Tim und Sam über gewisse Tatsachen noch nicht Bescheid wüßten. Sie erwiderte: >Aber es geht nicht ohne eine Frau! Soll ich ihnen nicht helfen?<«
»Hoffentlich hast du sie nicht davon abgehalten. Ich hätte mit Vergnügen zugeschaut, wie sie sich mit Ursula und den sechs Kindern auf den Weg machen.«
»Ich hab’ sie auch nicht abgehalten, sondern Paul. Ich weiß nicht recht, aber seit der Geschichte mit dem Eis ist er nicht mehr so begeistert von ihr. Jedenfalls schaffte er es, ohne sie zu beleidigen, denn ich hörte gleich darauf ihr kurzes, wieherndes Lachen, und sie sagte zu ein paar Leuten: >Die Väter in Neuseeland sind einfach wunderbar.<«
Als wir fertig waren, schlichen wir müde heim, tranken Tee und genossen die Ruhe im Haus. Larry sagte unbehaglich, sie hoffe, daß die Kinder sich anständig benähmen, denn es war das erste Mal, daß die Männer sie allein in die Stadt mitgenommen hatten.
Als sie abends um acht wiederkamen, merkte ich sofort, daß sie so etwas sicher nicht noch einmal tun würden. So müde war Paul sonst nicht einmal, wenn er den ganzen Tag bei den Schafen gearbeitet hatte. Christopher war blaß, und es war ihm auf der Heimfahrt zweimal schlecht geworden, und Patience war so klebrig, daß ich sie nur mit Mühe vom Rücksitz herunterbrachte. Sie wollten beide keinen Tee mehr, und Paul sagte mit leisem Stöhnen: »Ich lieber auch nicht. Sie haben ununterbrochen gegessen. Mein Gott, was für ein Tag!«
Als ich die Kinder ins Bett gebracht und meinem Mann einen Schnaps gegeben hatte, erfuhr ich ein paar Einzelheiten. Den Rest hörte ich von den Kindern selbst, und von Larry und Anne.
Sie waren früh aufgebrochen, und die Kinder hatten ordentlich ausgesehen in den Sachen, die wir bereitgelegt hatten.
Sie hatten die Kinder nach unserem Vorschlag aufgeteilt, Paul hatte den einen Teil in sein Auto gepackt, und Tim und Sam den Rest.
»Aber irgendwie kamen sie durcheinander. Wir hielten bei der Farm von Atkins, um eine Decke mitzunehmen, die ich ihm geliehen hatte, und Tim pumpte einen Hinterreifen auf. Als wir wieder losfuhren, hatte ich plötzlich beide Zwillinge im Auto.«
»Aber ihr müßt doch gemerkt haben, daß sie die Plätze getauscht hatten?«
Paul hatte ein schlechtes Gewissen. »Wir unterhielten uns mit Atkins. Er hat eines von diesen neuen Dingern, mit denen man Krankheitserreger im Gras feststellen kann, und...«
»Ach so, wenn ihr geschwätzt habt...«
Paul sagte würdevoll, daß man so was nicht Geschwätz nennen könne, und daß, wenn Kinder immer folgen würden, und so weiter ...
Die Fahrt in die Stadt war ein Alptraum für Paul gewesen. »Wie kann man bei so einem Verkehr auch noch auf Kinder aufpassen? Sie waren überall, kletterten in dem Moment nach vorn, als ein Polizist vorbei kam, rauften auf dem Rücksitz und stießen mich immer dann, wenn eine heikle Stelle kam. Bei den anderen war es nicht so schlimm. Sie waren ja zu zweit.«
»Du Ärmster. Du hättest Ursulas Angebot annehmen sollen.«
Er warf mir einen beleidigenden Blick zu und fuhr fort: »Und als wir dann in der Stadt waren, verschwanden die Zwillinge. Sie waren auf einmal weg. Ich verstehe nicht, wie Kinder das fertigbringen.«
»Teils Übung, teils eine Art Hexerei. Waren sie lange weg?«
»Nein, leider. Wir fanden sie bei Woolworth, wo sie sich gerade mit Süßigkeiten vollstopften.«
»Ist auch dumm, ihnen Geld zu geben.«
»Haben wir auch nicht. Sie hatten keinen Pfennig.«
»Du meinst — sie haben die Süßigkeiten geklaut?«
»Muß wohl so sein, denn niemand hat ihnen welche gegeben, und sie haben sie sicher nicht gekauft.«
»Hoffentlich habt ihr sie bezahlt!«
Paul fühlte sich sichtlich unwohl. »Nein, wir schafften sie nur schnell hinaus. Es waren so viele Leute da, und wir hätten nur lange herumreden müssen.«
»So habt ihr euch also mit der Beute davongeschlichen?«
»Aber was denkst du denn! Sie stopften alles in den Mund, als sie uns kommen sahen. Was hätten wir denn tun sollen? Einen Scheck ausstellen für die paar armseligen Süßigkeiten? So ein Geschäft macht deshalb nicht Pleite.«
»Du hast immer gesagt, daß es darum gar nicht geht. Aber erzähl ruhig weiter.«
»Das Essen war entsetzlich. Die Zwillinge hatten noch nie Papierservietten gesehen.«
»Wie sollten sie auch? Die Enkel des Colonel!«
»Sie machten sich Papierhüte daraus, und als Tim sie ihnen wegnahm, kreischten sie los. So eine Art Duett, wobei Elizabeth die Oberstimme übernahm. Diese Zwillinge sind schlimmer als ein Sack Flöhe. Tim wird überhaupt nicht mit ihnen fertig.«
»Hoffentlich bist du mit unseren zurecht gekommen. Haben sie sich besser benommen?«
»Ach wo! Christopher überfraß sich, und Patience wollte ihren Salat nicht essen. Ich befahl es ihr und glaubte, sie hätte gefolgt. Aber nachher fand ich ihn in meiner Jackentasche wieder — Tomaten und alles. Ich glaube, du solltest sie öfter in die Stadt mitnehmen.«
»Besten Dank. Dir scheint es gefallen zu haben.«
»Ich will ja nur sagen, daß wir sie nicht wie die Wilden aufwachsen lassen können.«
»Besser so, als ohne Mutter. Was passierte nach dem Essen?«
Paul zögerte und sagte dann: »Wir gingen mit ihnen in eins von den Kaufhäusern, die alles mögliche technische Spielzeug haben. Modelleisenbahnen und so was.«
»Das hat ihnen sicher Spaß gemacht.«
Paul sah nun entschieden schuldbewußt aus. Es stellte sich heraus, daß die Kinder davon nichts gesehen, sondern sich auf den Rolltreppen vergnügt hatten. Bis schließlich über den Lautsprecher ausgerufen wurde, daß sich dort sechs Kinder seit einer halben Stunde herumtrieben und offensichtlich ihre Eltern verloren hätten.
»Aber was habt ihr drei gemacht?«
»Weißt du, diese automatischen Dinger sind einfach Klasse, und...«
An diesem Punkt beendete ich das Kreuzverhör und schenkte meinem Mann noch einen Schnaps ein.
Am nächsten Tag erzählte mir Larry, daß die Männer ihre Sprößlinge über allem möglichen kindischen Spielzeug restlos vergessen hatten. Später hatten sie sie von der Rolltreppe geholt, zu einem schwitzenden Santa Claus mitgenommen, und wieder verloren. Schließlich hatten sie sich in ein Kino durchgekämpft, wo sie sich schrecklich für ihre Kinder schämen mußten. Mit letzter Kraft ergriff jeder zwei, sie bekamen aber nur sehr schlechte Plätze in der ersten Reihe, weit auseinander, und sahen einen sehr langweiligen Film.
»Sam hat einen ganz steifen Hals«, sagte Larry. »Und Anne sagt, daß Tim seither Kopfweh hat.«
Dann hat Patience sich anscheinend in einer Damentoilette eingesperrt. Als ihnen ihr langes Ausbleiben auffiel, klopfte Paul schüchtern an die äußere Türe, aber ein resolute Person in einer weißen, gestärkten Schürze versperrte ihm den Weg und sagte: »Nur für Damen! Können Sie nicht lesen?«
Danach nahmen sie ihren ganzen Mut zusammen und überredeten im nächsten Laden ein Mädchen, Patience zu retten. Die hatte sich inzwischen damit vergnügt, für alle Helme aus Toilettenpapier zu machen.
»Und während sie damit zu tun hatten, war Christopher in eine Telefonzelle gegangen und versuchte, die Pennies aus dem Apparat zu holen. Sam meint, es wird wirklich Zeit, daß wir mit diesen Kindern etwas unternehmen. Vielleicht sollten wir ein paar ins Internat schicken.«
Worauf ich empört sagte: »Drei Männer und sechs kleine Kinder. Die Väter in Neuseeland sind einfach wunderbar.«
Diese letzte Woche vor Weihnachten war eine fürchterliche Hetze. Das Sportfest am Samstag machte alles noch komplizierter, und es war für mich einfach unmöglich, noch einmal nach Te Rimu zu kommen. Aber als Tony hinfuhr, gab ich ihr eine ellenlange Liste mit, und es gelang ihr tatsächlich, alles zu besorgen. Wir waren in einen wahren Strudel von Geschenken hineingeraten, und trotz Tonys Hilfe hatte ich nichts für fast ein Dutzend Leute, die mir unerwartet Geschenke geschickt hatten. Ich rief Larry an.
»Ich weiß, daß wir beschlossen hatten, dieses Weihnachten hart zu bleiben, aber...«
»Hör bloß auf! Mir geht es genauso. Im Oktober hat man leicht reden. Was machen wir jetzt nur?«
Zuletzt beschlossen wir, schnell nach Tiri hinunter zu fahren, den Supermarkt zu plündern und Geschenkpapier bei Tony zu kaufen. Auf dem Heimweg konnten wir dann die Geschenke in die verschiedenen Briefkästen stecken.
Einige Frauen suchten in den Regalen, als wir kamen, aber wenigstens war einmal keiner von Tonys jungen Männern da. Edith Stewart war zum Aushelfen gekommen. Sie sah sehr glücklich aus und flüsterte mir zu, daß alles herrlich sei. »Was für ein Segen, daß diese Rechnungen nicht mehr kommen. Sie haben es anscheinend aufgegeben. Kein Wort von ihnen, seit wir wieder zu Hause sind!«
Ich sagte, das freue mich sehr, vermied es aber, Tony anzuschauen.
Caleb fuhrwerkte herum, versuchte zu helfen und war überall im Weg. Sein Kater war nirgends zu sehen, und ich dachte, daß sie ihn jetzt vielleicht einsperrten, wenn im Laden viel Kundschaft war. Tony kam mit Caleb ausgezeichnet zurecht, gab ihm alle möglichen Kleinigkeiten zu tun, kommandierte ihn aber nie herum; und ich konnte nicht umhin, ihre Methoden mit Ursulas zu vergleichen.
Bevor wir von zu Hause weggefahren waren, hatte ich sie angerufen und ihr unsere Notlage geschildert, und sie hatte sich tatsächlich die Zeit genommen, uns ein paar nützliche Kleinigkeiten als Geschenke in letzter Minute herauszusuchen.
»Und nehmt lieber noch ein paar mehr mit, falls noch andere Leute auftauchen«, schlug Tony vor, denn sie war sehr geschäftstüchtig.
Kurz darauf, als wir gerade gehen wollten, kam Colin Manson daher. Er hatte seinen Hund Lass im Auto und erklärte, er habe sich ein paar junge Schafe angeschaut. Er war in der gleichen mißlichen Lage wie wir.
»Dieser Weihnachtsrummel und die Freude des Schenkens machen mich ganz fertig. Komm, Tony, du bist ein Mädchen mit Phantasie, und ich hab’ es eilig.«
Schon war sie mit ihm hinter einem Regal verschwunden, und man sah ihr nichts mehr von dem Ärger an, den es bei ihrem letzten Zusammentreffen gegeben hatte. Schnell hatte er alles Nötige beisammen und wollte gerade davonstürzen, als draußen ein Riesenkrach losging — wütendes Bellen und das Fauchen einer gereizten Katze. Wieder einmal Annabella.
Bevor wir noch eingreifen konnten, ging das Katzengeschrei in ein seltsames, tiefes Wimmern über. Caleb stürzte händeringend hinaus und stammelte: »Etwas Schreckliches ... Annabella in Nöten... Bitte, entschuldigen Sie mich...«
Wir folgten ihm mit noch einigen Frauen, die gerade im Laden waren. Caleb starrte nach oben, sprachlos vor Entsetzen. Lass sprang kläffend um eine hohe Telegrafenstange herum, und ganz oben balancierte Annabella, mit gesträubten Haaren und hervortretenden Augen. Sein tiefes, flehendes Schreien war voll panischer Angst.
Colin lachte. »Lass hat es diesem Vieh gezeigt — und es war höchste Zeit dafür. Als ich das letzte Mal hier war, überfiel es mich aus den Tomaten.«
Tony war halb wahnsinnig vor Angst. »Er wird sich umbringen! Er wird an die Drähte kommen! Was können wir bloß tun?«
Larry sagte schnell: »Telefonleitungen sind nicht gefährlich. Ich glaube, solange er da oben bleibt, kann ihm nichts passieren. Er scheint sich zu überlegen, ob er zu diesem Hochspannungsmast hinüberspringen soll. Das darf er nicht tun!«
Nicht weit weg war ein Mast der Hochspannungsleitung. Annabella machte einen Buckel und schien sich auf einen verzweifelten Sprung vorzubereiten. Caleb rief: »Miez... Miez... Komm herunter, Annabella!« Es klang sehr hilflos, und Annabella nahm keinerlei Notiz davon, sondern sah sich nach einem noch höheren Platz um, wo er vor dem kläffenden Hund sicher wäre. Falls er den Hochspannungsmast erreichen sollte, sah es ziemlich schlecht aus. Auch wenn er keinen Schlag bekam, so hatten wir doch keine Leiter, die lang genug war.
Colin schien sich königlich zu amüsieren und rief dem Hund zu: »Gut gemacht, Lass! Das geschieht dem Biest ganz recht.«
Lass war erfreut über dieses Lob und bellte nur noch lauter. Annabella begann wieder mit dem schrillen Geschrei und schätzte offensichtlich die Entfernung für den selbstmörderischen Sprung ab. Caleb rang immer noch die Hände, und Tony stürzte sich wie eine Furie auf Colin.
»Ruf deinen Köter zurück! Steck ihn ins Auto! Siehst du denn nicht, daß er den Kater verrückt macht? Ihr bringt ihn noch so weit, daß er tatsächlich springt!«
Colin ärgerte sich sichtlich über ihren Ton, lächelte aber nur aufreizend und sagte: »Unsinn. Der Hund hat das gleiche Recht, hier zu sein, wie der Kater. Sie ergänzen einander vorzüglich. Ich hab’ lang auf etwas gewartet, was dem Biest Vernunft beibringt.«
Tony verlor die Beherrschung und stampfte mit dem Fuß auf: »Wenn du den Hund nicht ins Auto schaffst, tu ich’s!«
»Wobei du sicherlich gebissen wirst, meine kleine Kratzbürste.«
Larry griff ein. »Seien Sie kein Esel, Colin. Tun Sie den Hund wieder ins Auto. Sehen Sie nicht, daß Caleb außer sich ist?«
Er murmelte: »Das stört mich wenig.« Dann fühlte er, daß die öffentliche Meinung gegen ihn war, zuckte die Achseln und sagte: »Gut, Mrs. Lee, Ihnen zuliebe — nicht wegen Tony oder dem Katzenvieh — werde ich den Hund wieder ins Auto tun. Komm her, Lass!« Und er sperrte den Hund ins Auto. Dann sagte er freundlich: »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte meine Einkäufe holen und fahren.« Damit verschwand er im Supermarkt und kam gleich darauf mit seinen Sachen wieder.
Tony war entgeistert. »Aber du kannst doch nicht so gehen! Du kannst Annabella nicht da oben lassen!«
»Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Hoffentlich bleibt er da oben, bis er sich bessere Manieren angewöhnt hat, oder bis er einen Schlag bekommen hat — was. das allerbeste wäre. Also, tschüß allerseits!«
Tony klammerte sich an die Türe seines Autos.
»Aber es ist doch deine Schuld. Es war dein Hund, der ihn da hinaufgescheucht hat. Du mußt einfach etwas tun!«
Colin blickte lässig nach oben, wo Annabella immer noch wie ein verschreckter Vogel saß. »Ich bin nicht sehr geschult im Klettern, selbst wenn ich mein Leben für das häßliche Vieh riskieren wollte«, sagte er ruhig und ließ den Motor an.
Tony brüllte ihn tatsächlich durch das offene Fenster an: »Du bist ekelhaft! Ein gemeiner, egoistischer Feigling, ich kann dich nicht mehr sehen!«
Mir wurde heiß. Tony läßt sich selten von dem hinreißen, was Paul ihr »rothaariges Temperament« nennt, aber wenn es so weit kommt, ist es allen ihren Freunden sehr unangenehm. Natürlich behielt Colin das letzte Wort. »Wirklich, Liebling?« fragte er sanft. »Eigentlich hatte ich nie diesen Eindruck. Eher das Gegenteil. Ich muß mich jetzt auf die Socken machen, bin aber auf das Ende des Dramas gespannt!«
Die Szene hatte nur wenige Minuten gedauert, und Caleb rief immer noch verzweifelt »Miez!«, während Annabella immer noch vor sich hin wimmerte.
Larry sah mich an und sagte: »Wir müssen etwas unternehmen. Der Kater kommt von selbst nicht mehr herunter und vielleicht setzt er es sich in den Kopf, doch noch zu dem anderen Mast zu springen. Hat Miss Adams eine Leiter?«
Tony hatte sich wieder in der Hand, und die meisten Zuschauer waren in den Supermarkt zurückgegangen, wo sie von Edith eifrig bedient wurden. Caleb meinte: »Ja, eine Leiter ist schon da, aber sie ist nicht lang genug und sehr wackelig.«
Tony rief begeistert: »Holen wir sie! Mich hält sie schon aus, und ich komm’ ganz rauf, wenn ich mich auf die oberste Sprosse stelle.«
Ich war entsetzt, besonders, als sie mit der Leiter zurückkamen, die jeden Moment auseinanderzufallen drohte. Caleb erklärte, daß es an ihm sei, hinaufzusteigen, aber ich stimmte Tony zu, die meinte, daß er zu alt und unsicher sei. Zugleich war ich fest entschlossen, sie kein gebrochenes Bein riskieren zu lassen, und sagte: »Warten wir ein paar Minuten. Vielleicht kommt ein Mann vorbei, und seit der Hund weg ist, scheint Annabella auch nicht mehr springen zu wollen.«
Wir stritten uns immer noch, als ein Auto angebraust kam, und Peter Anstruther ausstieg. Er sagte: »Tony, ich hab’ es verteufelt eilig. Könnten Sie mir...« Und dann plötzlich: »Was ist denn los?«
Tony zeigte, den Tränen nahe, auf die Stange, und Peter pfiff durch die Zähne: »Himmel, was ist denn in ihn gefahren?«
»Colins Köter hat ihn da hinaufgejagt, und er hat nur darüber gelacht. Aber wir haben eine Leiter. Und wenn Susan kein Theater machen würde, dann könnte ich hinaufklettern. Peter, sagen Sie ihr, daß es nicht gefährlich ist, wenn man so leicht ist wie ich.« Dann erinnerte sie sich an ihre Pflicht und sagte: »Aber Sie haben es eilig. Was hätten Sie gerne?«
»Das kann warten. Der Kater kann nicht — oder wird nicht ... Ich werde es versuchen, Tony!«
Ich sagte: »Aber die Leiter ist nicht stabil. Sie sind schwerer als Tony.«
»Wird schon gehen, glaub’ ich. Besonders, wenn ihr alle sie festhaltet. Aber wenn sie zu krachen anfängt, dann schaut, daß ihr drunter wegkommt!«
»Wie ist das mit Annabella?« fragte Larry sachlich. »Wird er nicht furchtbar Angst haben, wenn Sie nach ihm greifen?«
»Ich glaub’ nicht. Er und ich, wir haben uns eigentlich immer recht gut vertragen.«
Ich war erstaunt: »Ich hab’ nicht gewußt, daß sich irgendwer mit Annabella gut verträgt.« Aber Tony sagte: »Es stimmt, Peter ist der einzige, von dem er sich überhaupt streicheln läßt, außer von Caleb und mir. Aber das wird ihn jetzt nicht hindern, jeden zu kratzen, weil er so Angst hat. Peter, lassen Sie es mich machen. Ich weiß, daß ich es kann. Mir ist noch nie schwindlig geworden.«
Aber Peter verlor keine Zeit mit Streitereien. Er erkletterte bereits die ersten wackeligen Sprossen, und ohne weitere Worte klammerten Tony, Larry und ich uns an die Leiter und versuchten, sie ruhig zu halten.
Tony schrie eine letzte Warnung: »Seien Sie vorsichtig, Peter! Ich weiß, daß Annabella Sie mag, aber er ist verrückt vor Angst. Er wird Ihren Arm ganz schön zurichten!«
Wir hörten ihn vergnügt lachen: »So ein Kratzer bringt mich nicht um. Auf geht’s.«
Die Leiter reichte gerade aus, wenn Peter sich auf die oberste Sprosse stellte und sie mit beiden Händen losließ. Dafür, daß er so groß war, kletterte er schnell und geschickt. Er redete dauernd beruhigend auf Annabella ein, während er ihm näher kam. Das verfehlte seine Wirkung nicht, denn der Kater hörte mit dem schrecklichen Wimmern auf und begann zu miauen, was schon wieder ganz nach einer normalen Katze klang. Der unangenehme Augenblick kam, als Peter die letzte Sprosse erreichte, und für einen Moment schloß ich die Augen.
Larry murmelte: »Er hat losgelassen. Halt fest, daß die Leiter nicht wackelt«, und ich zwang mich, wieder hinzuschauen.
Peter hatte den Kater mit beiden Händen gepackt, und obwohl die Leiter zu meinem Entsetzen gefährlich ins Wanken kam, nahm er ihn unter den Arm und begann langsam und vorsichtig den Abstieg. Da krachte die Leiter bedrohlich, und er rief: »Schaut, daß ihr wegkommt, ihr drei! Der Kater und ich werden schon auf die Füße fallen.«
»Aus fünf Metern geht das nicht!« murmelte Tony und klammerte sich nur noch fester an die Leiter. Und wie durch ein Wunder hielt sie. Erst als Peter den Boden fast erreicht hatte, zerbrach sie krachend. Er sprang, wir auch; Annabella segelte in hohem Bogen durch die Luft und schoß schreiend um die Ecke. Wir lagen alle übereinander auf dem Boden, niemand war verletzt, außer Tony, die einen langen Kratzer von einem Splitter am Arm hatte, und Peter, der einen noch längeren und schlimmeren von Annabellas undankbaren Krallen hatte.
Als Larry bei dessen Anblick aufschrie, lachte er und sagte: »Kriegsverletzung! Tony hat auch eine.«
»Sie waren fabelhaft, Peter!«, rief Tony. »Dieser widerliche Colin, wenn ich an den bloß denk’! Lacht nur und fährt davon.«
»Ach, ich wollte schon immer Feuerwehrhauptmann werden. Gehen wir lieber in den Supermarkt, Tony, und verbinden einander die Wunden.«
Für Peter war das ein recht gewagter Ausspruch, bemerkte Larry auf dem Heimweg nachdenklich. Es war eine lange Fahrt, denn wir mußten verschiedene Seitenstraßen hinauffahren und kleine Päckchen in die Briefkästen werfen. — »Nur ein paar kleine Aufmerksamkeiten«, wie Larry sie nannte.
»Nun«, bemerkte sie plötzlich, »das war das Ende von Colin Manson, sollte man meinen. Er hat zwar nie einen ernsthaften Anfang gemacht, das Ende war jedoch recht dramatisch.«
»Häßlich, wie er Tony angeredet hat. Für sie hab’ ich mich richtig geschämt.«
»Unnötig. Ihr war es egal.«
»Ich bin froh, daß wir ihn nicht zu Weihnachten eingeladen haben.«
»Er wäre bestimmt nicht gekommen. Die Gordons geben eine große Party, und da ist er sicher eingeladen. Ich glaub’, da gibt’s bald eine Verlobung.«
»Dann war es gemein von ihm, weiter mit Tony zu flirten.«
»Unsinn! Wir leben in einem freien Land. Wenn ein Mädchen zeigt, daß es flirtbereit ist (wirklich hübsches Wort!), kann man einem jungen Mann keine Vorwürfe machen, wenn er seinen Spaß haben will.«
Und damit erfaßte sie genau die Lage.
Dann sagte Larry: »Ich hätte nicht erwartet, daß Peter auf der Leiter einen Beinbruch riskiert. Er wäre ganz schön wild geworden, wenn er mit einem Gipsbein einen Monat lang nicht hätte arbeiten können.«
»Tony sagt ja, daß er nett ist, und der arme Caleb war völlig verzweifelt.«
Larry warf mir einen Blick zu und lachte. »Die vorsichtige Susan! Du hast tatsächlich etwas dazugelernt.«
Das stimmte. Ich würde nie mehr Pläne schmieden für Tony. Darüber grübelte ich noch nach, nachdem ich Larry heimgebracht hatte, und als Paul herauskam, um mir meine Pakete ins Haus zu tragen, sagte ich noch vor mich hin: »Ich mach keine Heiratspläne für andere Leute mehr. Dabei kommt nichts Gutes heraus.«
Paul war erstaunt. »Ich bin völlig deiner Meinung. Aber wovon redest du?«
»Ach, es war Calebs Kater«, sagte ich heftig, und Paul sagte: »Also wirklich, Susan!«