9
Als sich an diesem Wochenende die Aufregung über Calebs Führerschein gelegt hatte, schien Tony recht niedergeschlagen. Ihre Fröhlichkeit wirkte gezwungen, offensichtlich bedrückte sie etwas. Als Larry am Samstag Vormittag herüberkam, sagte ich zu ihr, als wir einmal allein waren: »Irgend etwas stimmt nicht mit Tony. Kann etwas mit Colin Manson los sein? Ist sie verliebt in ihn? Irgendwer hat mir erzählt, er sei für seine Flirts bekannt, und ich glaub’ nicht, daß er im Moment ans Heiraten denkt.«
Larry sagte aufreizend gönnerhaft: »Meine liebe, arme Susan, genau das hab’ ich befürchtet. Du spinnst tatsächlich. Mütterliche Fürsorge in ihrem gefährlichsten Stadium. Hast du nicht genug zum Nachdenken über deine eigenen Kinder? Wenn ich eine fürsorgliche Mutter wäre, würde ich mir wegen dieser elenden Schule Sorgen machen. Bertie Dier ist schon langsam eine Zumutung.«
»Das weiß ich, aber es heißt, daß er am Jahresende geht. Ist etwas Besonderes los? Es stimmt, daß er keine Disziplin hält, aber was können wir dagegen machen?«
»Weiß ich nicht, aber es ist wirklich traurig, daß die Kinder sich alle zu Kriminellen entwickeln werden. Du hast doch sicher von ihren Taten am Freitag nachmittag gehört?«
Das hatte ich nicht, obwohl mir aufgefallen war, daß Christopher ungewöhnlich still und brav gewesen und mir sehr auffällig aus dem Wege gegangen war.
»Sind dir diese lammfrommen Gesichter nicht merkwürdig vorgekommen? Ich wußte sofort, daß sie etwas angestellt hatten, als Christopher mir anbot, Kartoffeln zu schälen. Normalerweise kann ich sie nirgends finden, wenn ich ihre Hilfe brauche.«
»Wer hat dir davon erzählt?« fragte ich, denn ich wußte nur zu gut, daß unsere Bande — wie ich sie in Gedanken immer nannte — zusammenhielt wie Pech und Schwefel. Sie würden einander nicht verraten.
»Mrs. White. Sie tat es mit Vergnügen, denn ihr kleiner Bertie ist so vorbildlich.«
Mrs. White hatte entdeckt, daß die Zwillinge und unsere beiden nicht nur Mr. Diers Weihnachtspflaumen gestohlen hatten, sondern sich auch noch mit ihrer Beute zum Bach hinunter verzogen und sie dort mit ihrem Pausebrot verzehrt hatten. Der arme Bertie, der keine Frau hatte, die seinen Besitz beschützen konnte, hatte ohne besonderen Nachdruck nach ihnen gesucht und es bald aufgegeben, wie gewöhnlich.
»Irgendetwas muß geschehen!« sagte ich schwach. »Unsere zwei sind schlimm genug gewesen, aber seit die Zwillinge auch in der Schule sind, kann man sie überhaupt nicht mehr bändigen.«
»Und denk nur an nächstes Jahr, da werden Patience und Mark die Bande vervollständigen«, sagte Larry zu meinem Trost. »Aber was sollen wir tun? Wenn sie uns alles erzählt hätten, dann hätten wir etwas unternehmen können, aber sie werden so hinterhältig. Über die Streiche bin ich gar nicht so böse wie darüber, daß sie nichts erzählen. Zu Sam hab’ ich kein Wort davon gesagt, du weißt ja, wie Männer sind. Sie wollen immer etwas tun, und ich kann mir nicht vorstellen, was man hier tun könnte. Unsere einzige Hoffnung besteht darin, daß Bertie wirklich geht.«
»Soviel ich weiß, geht er. Paul sagt ja kein Wort. Kann er auch nicht, weil er der Vorsitzende vom Schulausschuß ist, aber ich weiß, daß Bertie ein miserables Zeugnis bekommen hat, und daß er mit einem Mädchen verlobt ist, dessen Vater ein Textilgeschäft hat. Ich kann ihn mir gut vorstellen, wie er Stoff abmißt und Strümpfe verkauft.«
»Hoffentlich stimmt das. Jedenfalls dauert die Schule jetzt nur noch eine Woche, da kann nicht mehr viel passieren.«
»Da hast du recht. Aber ich wollte wirklich, sie würden alles offen zugeben. Ich kann alles ertragen, wenn sie nur ehrlich sind.«
»Ich auch, ich hasse Unehrlichkeit.«
Tony kam herein und hörte noch die letzten Worte. »Wer soll was offen zugeben?« fragte sie, und Larry blickte sie scharf an. Ihr gefiel der Tonfall nicht.
Wir erzählten ihr die Geschichte, und sie sagte: »Keine Angst. Bertie geht. Einer vom Schulausschuß, der es nicht so genau nimmt wie Paul, hat es mir verraten. Einen noch schlechteren Lehrer könnt ihr gar nicht kriegen, also wird aus den Kindern vielleicht doch noch was. Aber ich versteh’ nicht, warum sie gleich hinterhältig sein sollen, nur weil sie euch nichts von ihren Streichen erzählen.«
Ich sagte hitzig: »Natürlich sind sie es. Ich kann alles vergeben, wenn man es offen zugibt.«
Tony sagte: »Das hab’ ich schon oft genug gehört. Von Mutter zum Beispiel, und wenn ich dann was erzählt hab’, dann hat sie ein gräßliches Theater gemacht. Erst sagen sie einem, es würde alles vergessen, und dann machen sie einem die Hölle heiß fürs Erzählen.«
Ich sagte: »Das tu’ ich aber nicht. Ich meine auch, was ich sage. Ich mache niemandem Vorwürfe, wenn er aus eigenem Antrieb zu mir kommt und mir alles erzählt — nicht einmal, wenn es um Berties Pflaumen geht.«
»Das glaub’ ich dir gerne, Susan. Du reitest nachher nicht drauf herum. Deshalb bekommst du auch viel erzählt.«
»Von meinen eigenen Kindern anscheinend nicht«, sagte ich ziemlich verbittert, aber Larry hatte diesen Wortwechsel verfolgt und sagte plötzlich: »Was ist passiert, Tony? Hast du die Ladenkasse geklaut oder Kunden geküßt? Beichte am besten. Das ist angeblich gut für die Seele, obwohl ich davon noch nie etwas gemerkt hab’.«
Larrys Worte überraschten mich, und ich schaute Tony an. Hatte sie wirklich etwas, was sie sich von der Seele reden wollte? Sie sah tatsächlich schuldbewußt aus. Ihr Gesicht glühte, ihre Augen glänzten, sie war offensichtlich den Tränen nahe. Sie sagte: »Gut, ich kann es euch ja erzählen, aber schimpft mich bloß nicht! Du und Larry, ihr schimpft ja auch nicht, aber Paul. Trotzdem erzähl’ ich es euch lieber, ich fühle mich nämlich scheußlich.«
Dann kam die Geschichte recht unzusammenhängend heraus. Tony hatte anscheinend in der Post ihrer Majestät herumgepfuscht, und das war die einzige Sünde, die Tantchen nicht vergeben konnte. Das wußte ich, denn Larry und ich hatten einmal versucht, sie zu überreden, einen Brief nur für vierundzwanzig Stunden zurückzubehalten, und wir hatten eine böse Abfuhr erlitten. Wir hatten die Sache dann selbstverständlich in unsere eigenen Hände genommen und die Telefonleitung abgeschnitten, aber wir waren schließlich keine Beamten und durch keinen Eid gebunden. Was Tony getan hatte, war viel schlimmer.
»Wißt ihr«, verteidigte sie sich. »Edith hat eine schlimme Zeit gehabt mit den Rechnungen von Freman. Ich hab’ euch erzählt, was für Sorgen sie sich deshalb macht. Ich seh’ nicht ein, was sie damit zu tun hat, aber sie hat sich geplagt, soviel wie möglich zu zahlen, und diese Firma ist einfach gemein.«
»Das weiß ich alles«, unterbrach ich. »Komm zur Sache!«
»Will ich ja, aber jetzt wirst du schon böse! Diese Firma ist an allem schuld. Sie sind Gauner, und Tantchen bestellt nie was bei ihnen. Sie sagt, Freeman war verrückt, solche Schulden zusammenkommen zu lassen. Aber die Rechnungen kamen immer weiter mit so schlimmen Drohungen, und Edith hatte so Angst, daß das nach ihrer Hochzeit weitergehen würde, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Ted die Rechnungen von Freeman bezahlen müsse. Sie schauten herein, als sie von ihrer Hochzeitreise zurückkamen, sie erwischte mich allein und fragte so verängstigt nach einem Brief, daß ich richtig froh war, als ich sie beruhigen konnte. Was ist mir dann anderes übriggeblieben?«
»Es war nicht deine Sache«, sagte ich streng. »Aber was hast du denn eigentlich getan?«
Larry sagte freundlich: »Das kann ich mir denken. Es ist doch noch ein Brief gekommen, nicht wahr, Tony?«
»Damals noch nicht, aber ein paar Tage später. Und sie sind so glücklich gewesen…« Diesmal standen ihr tatsächlich Tränen in den Augen. Sie schluckte und sagte: »Und... und...«
Larry lachte. »Und dann ging der Brief verloren?«
»Nein, das nicht. Er war eingeschrieben.«
»Eingeschrieben? Aber Tony!« Mein Humor war restlos zu Ende, Larrys aber nicht.
»Hast du — hast du ihn verbrannt?«
»Natürlich nicht«, sagte Tony entrüstet. »Das darf man doch nicht. Aber — ich hab’ ihn niemand gezeigt. Ich hab’ an diesem Nachmittag die Post sortiert, und deshalb ist das gegangen.«
Ich war verzweifelt. Miss Adams ist unbestechlich mit der Post, und sie hatte Tony vertraut. Ich blickte Larry hilflos an und wußte nicht, was ich sagen sollte. Sie fragte: »An wen war er adressiert?«
»An Mrs. Freeman natürlich.«
Larry triumphierte. »Es gibt keine Mrs. Freeman!«
Das stimmte, aber es tröstete mich nicht. »Du meinst, weil sie jetzt Stewart heißt?«
»Das auch, aber ich meine noch etwas anderes. Sie ist nie Mrs. Freeman gewesen. Ich glaub’ nicht, daß sie irgendein Recht gehabt haben, ihr diese Rechnungen zu schicken. Sie ist nie seine Frau gewesen. Warum soll sie dann dafür verantwortlich sein?«
Tony strahlte. »Eben. Es gibt keine Mrs. Freeman. Das war nicht Ediths Rechnung. Eigentlich hätte ich den Brief an diese Frau in Australien schicken sollen, aber ich hab’ keine Ahnung, wo sie wohnt.«
Ich sagte streng: »Eigentlich hättest du ihn Miss Adams zeigen und sie fragen sollen, was du damit tun sollst. Außerdem mußte man Edith damit belangen können, sonst hätte sie keine von diesen Rechnungen bezahlt. Noch dazu war es ein eingeschriebener Brief.«
»Ach, Susan, sei doch nicht so stur«, sagte Larry. »Man kann keinen Brief, nicht einmal einen eingeschriebenen, an jemand schicken, der tot ist, oder den es nie gegeben hat. Genauso wenig wie an ein ungeborenes Baby.«
Das war zu hoch für mich. Ich sagte schwach: »Das ist nicht der springende Punkt. Es geht überhaupt nicht um die abscheuliche Firma — es geht um Tantchen.«
»Wieso?« fragte Larry. »Sie weiß gar nichts davon. Sie hat mit der Sache nichts zu tun.«
»Sie ist die Posthalterin, und Tony ist nur ihre Angestellte. Deshalb ist sie verantwortlich für das, was Tony tut.«
Tony hatte wieder den Kopf hängen lassen. Aber sie hatte ein wenig Hoffnung, denn Larry brachte ihre Argumente so geschickt, daß sie fast vernünftig klangen. »Aber was hat Tony denn getan? Nur einen Brief jemand nicht zugestellt, den es nicht gibt! Ich nenne das schlicht und einfach vernünftig.«
Es war unser Pech, daß gerade da Paul hereinkam und diese letzte Bemerkung noch hörte.
»Was ist so vernünftig? Wenn Larry das sagt, dann wette ich meinen letzten Dollar, daß da etwas faul ist.«
Larry lachte und hätte sicher von etwas anderem angefangen, aber Tony machte ein unglückliches Gesicht. Sie sagte mit dünner Stimme: »Susan, du bist schockiert, und dabei hast du versprochen, daß du nicht böse bist, wenn ich nur alles erzähle. Ich kann das nicht aushalten, wenn du mir böse bist, Susan.«
Paul blickte uns der Reihe nach an. Tony hatte einen roten Kopf, Larry war streitsüchtig und bereit, sich in den Kampf zu stürzen, und ich fühlte mich elend. Ich liebte Tony sehr, aber ich liebte Tantchen auch, und mein Herz wurde hin und her gerissen. Ich sagte: »Ach, bei der Sache können wir jetzt sowieso nichts machen, Paul, also reden wir nicht darüber.« Ich habe vor Paul nur sehr ungern Geheimnisse, aber ich wußte, wieviel Tony daran lag, daß er nichts erfuhr. Aber ich hatte mich verrechnet. Sie wollte jetzt unbedingt alles gestehen und sagte zu meiner Überraschung: »Ach, hören wir doch mit dieser Betrügerei auf! Das ist ja schlimmer als bei den Kindern. Ich erzähl’ Paul die Geschichte lieber, dann bin ich es los.« Und sie berichtete es ihm auf der Stelle.
Als sie geendet hatte, schwieg Paul eine ganze Weile. Er hatte sie nicht unterbrochen, und sein Gesicht war ernst. Dann begann er langsam: »Du hast recht damit, daß man die arme kleine Frau für Schulden schröpft, die sie nie gemacht hat.«
Larry genügte das, und sie sagte: »Mein lieber Paul, ich bin stolz auf dich. Diesmal bist du wirklich vernünftig. Selbstverständlich hätte man diese Halsabschneider nie beachten sollen. Es ist ein Jammer, daß Edith sich so lange mit dem Zahlen abgemüht hat.«
Er fuhr fort, als hätte sie nichts gesagt: »Der springende Punkt ist aber, daß dir die Post anvertraut ist, Tony. Du hättest den Brief entweder an Edith Stewart schicken müssen, dann hätte Ted die Sache in die Hand genommen, oder Miss Adams um Rat fragen sollen. Erzähl’ noch einmal genau, was du mit dem Brief gemacht hast.«
»Ich hab’ ihn zurückgeschickt und drauf geschrieben: >Name und Adresse unbekannt.<«
»Und das ist auch wahr«, unterbrach Larry. »Den Namen gibt es bei uns nicht. Es gibt keine Mrs. Freeman, und es hat sie nie gegeben. Außer der Frau, die in Australien lebt, wie Tony sagt, und du hättest doch sicher nicht erwartet, daß sie den Brief umadressiert an >Mrs. Freeman, irgendwo in Australien.< Ich will damit nur sagen, daß man unmöglich einen Brief jemand zustellen kann, den es gar nicht gibt.«
Paul betrachtete sie mißbilligend. »Das ist Haarspalterei, das weißt du ganz genau. Es geht weder um die Firma noch um Edith Stewart.«
»Männliche Logik«, warf Larry ein. Sie wollte ihn unbedingt ablenken. »Natürlich geht es um Edith. Ein Jahr lang hat sie geschuftet, um diese Schulden zu bezahlen. Jetzt ist sie endlich frei und glücklich verheiratet, und da versuchen die, es ihr zu verderben. Paul, wie kannst du nur sagen, daß es nicht um sie geht?«
Diesen Ausbruch überhörte Paul in einer höchst aufreizenden Weise. »Du mußt an Miss Adams denken, Tony. Du arbeitest bei ihr. Sie vertraut dir, und, was noch mehr ist, sie hat dich sehr gerne. Und jetzt pfuschst du mit der Post herum!«
Tony war völlig geknickt. Es sah so aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen, und Larry warf Paul einen wütenden Blick zu. Ich saß stumm da und war unglücklich. Wenn Tony ihre Stellung aufgeben müßte, was würde dann geschehen? Tantchen brauchte sie dringend. Tony war glücklich und gab sich Mühe. Es wäre falsch, sie auf der Farm zu behalten. Das würde bedeuten, daß sie uns verlassen müßte um Sekretärin oder Krankenschwester zu werden. Sie würde jemanden in der Stadt heiraten und keinen netten Farmer hier aus der Gegend. Alles wäre verdorben.
Endlich sprach sie mit sehr unsicherer Stimme: »Dann meinst du, es ist besser, ich erzähl’ die ganze Geschichte Miss Adams?«
Paul sagte zu meiner Überraschung: »Das nützt jetzt gar nichts mehr. Sie würde sich nur aufregen. Hinauswerfen würde sie dich wohl nicht, aber sie würde dir nie wieder die Post anvertrauen, und das würde viel ausmachen. Sie ist nicht mehr die jüngste, und sie hat viel zu viel zu tun. Du bist ihr eine große Hilfe.«
»Aber ich würde es ihr lieber erzählen. Ich hasse es, etwas zu verbergen. Besonders jetzt, wo du es für so wichtig hältst.«
Paul sagte freundlich: »Ich weiß, daß du niemanden gerne betrügst, aber wir müssen jetzt an Miss Adams denken. Eigentlich hat es keinen Sinn, ihr die Geschichte zu erzählen. Dich würde es vielleicht glücklicher machen, aber das ist dein Problem. Wenn man so etwas tut, muß man dafür bezahlen, und du mußt eben den Mund halten.«
Larry sagte: »Paul, du bist ganz schön eklig. Dabei hat sie doch nur jemandem einen Gefallen tun wollen.«
»Sie hat ihre Nase in fremde Angelegenheiten gesteckt. Das nimmt noch ein böses Ende, Tony.«
Larry überging das und fuhr fort: »Du kannst nicht erwarten, daß Susan und ich über Tony zu Gericht sitzen. Es ist nichts gegen das, was wir vor Jahren gemacht haben.«
»Ich weiß, was ihr angestellt habt. Die Telefonleitung abgeschnitten, damit der Colonel Annes Hochzeit nicht verhindern konnte. Das werd’ ich nie vergessen. Aber ihr wart zwei junge Dummköpfe ohne irgendein Verantwortungsbewußtsein.«
»Besten Dank. Auf alle Fälle hat es genützt, und Tantchen hat deshalb nie ein Theater gemacht.«
»Weil sie es nie genau gewußt hat. Sie hat es sich denken können, aber ihr habt wenigstens den Anstand besessen, nicht herumzurennen und die Sache zu erzählen. Dann hätte sie etwas unternehmen müssen, so wie sie es jetzt muß, wenn Tony ihr Gewissen durch eine Beichte erleichtert. Das nützt jetzt nichts mehr.«
»Aber ich fühle mich scheußlich«, jammerte Tony, die wieder einmal den Tränen nahe war. »Ich hab’ der lieben Miss Adams etwas Schreckliches angetan, und dabei wollte ich doch nur jemand anderem einen Gefallen tun.«
»Den Fehler machst du gerne«, sagte Paul unerbittlich. »Laß es dir eine Lehre sein. Renn nicht zu Miss Adams und belaste sie damit. Kopf hoch, du stehst es schon durch.«
»Lebe im Bewußtsein deiner Schuld«, mokierte sich Larry. »Ehrlich, Paul, so einen Unsinn hab’ ich noch nie gehört. Es ist kein Verbrechen, klarzustellen, daß es keine Mrs. Freeman gibt, denn es ist wahr.«
»Liebe Larry«, begann Paul vorsichtig, »dein größter Fehler ist, daß du kein Verständnis für Gut und Böse hast« — und dann merkte er, daß er genau das tat, was Larry wollte. Sie hatte seine Aufmerksamkeit von Tony abgelenkt und ihr so Zeit verschafft, sich wieder zu fangen. Sie lachte aufreizend und sagte: »Ich muß schon sagen, Paul, deine unschuldigen Kinder tun mir leid. Du redest wie ein Vater aus dem vorigen Jahrhundert. Der Himmel stehe Christopher und Patience bei, wenn sie älter werden.«
Tony hatte sich in der Zwischenzeit erholt und sagte mit dünner Stimme: »Gut, Paul, ich erzähl’ ihr nichts, obwohl es mir viel lieber wäre. Ich hab’ immer das Gefühl, daß ich sie betrüge.«
»Du wirst es überleben. Aber noch etwas, Tony. Larry kann so viel spotten, wie sie will, und behaupten, daß ich ein altmodischer Vater bin — aber ich bin tatsächlich für dich verantwortlich. Als deine Eltern dich hier gelassen haben...«
»Vertrauten sie es deiner zärtlichen Fürsorge an, das arme kleine Ding«, warf Larry vergnügt ein. »Und jetzt verschüchterst du sie...«
Paul unterbrach sanft: »Rechtmäßig bin ich mehr oder weniger dein Vormund, Tony, bis du einundzwanzig bist. Deshalb halte ich es für richtig, dich um ein Versprechen zu bitten.« Tony blickte sehr ernst, aber sie fühlte plötzlich, daß alles wieder gut werden würde. Paul redete immer noch — ein sehr ungewöhnliches Ereignis bei ihm. »Vergiß die ganze Geschichte mit dem eingeschriebenen Brief. Erzähl niemandem davon. Du bist zwar möglicherweise im Recht, aber Tantchen gegenüber war es nicht richtig. Gib mir dein Wort, daß du nicht mehr mit der Post herumpfuschst, was immer auch geschehen mag. Das meine ich wortwörtlich, auch wenn du meinst, du vollbringst eine edle Tat und rettest ein Leben. Auch dann darfst du nichts tun, ohne Miss Adams um Rat zu fragen.«
Tonys Augen waren groß und feierlich. »Ja Paul, das verspreche ich. Was auch immer geschehen mag, ich tue mit der Post nur noch das, was mir Miss Adams anschafft. Aber stellt euch bloß vor, wenn jemand versucht, Mick O’Connor zu erpressen oder Caleb Drohbriefe zu schreiben!«
Wir lachten alle los. Die Idee, daß jemand Mick O’Connor erpressen könnte, war zu komisch. Paul sagte übertrieben dramatisch: »Sogar wenn Larry und Susan darin verwickelt sind, sogar wenn du glaubst, du könntest meine Ehre retten, wenn du einen Brief vernichtest — sogar dann, Tony!«
»Sogar dann, das verspreche ich. Aber ist das wirklich richtig, Paul? Soll ich Miss Adams nichts erzählen?«
»Vollkommen richtig. Du würdest nur dich selbst glücklicher machen, aber sie würde sich Sorgen machen.«
»Kurz gesagt: Schweigen!« ahmte Larry ihn nach. »Immerwährendes Schweigen! Ach, was für ein Lärm um nichts. Paul, du wirst humorlos. Vergessen wir die ganze Geschichte und machen uns auf die Suche nach unseren schrecklichen Kindern. Wende deine Aufmerksamkeit lieber deiner eigenen Familie zu, denn wenn es je eine Bande von potentiellen Verbrechern gegeben hat...«
Aber so schnell konnte Tony sich nicht erholen. Sie kam nicht mit uns, um nach den Kindern zu sehen, sondern schlenderte allein in den Garten. Ich hatte Larry ein Stück begleitet und kam über die Koppel zurück, als ich ein Auto vor dem Tor halten sah, aus dem Peter Anstruther ausstieg. Ich hoffte, er würde Tony nicht in Tränen aufgelöst im Garten finden.
Im nächsten Moment hörte ich ihre Stimmen durch die Hecke. Tony versuchte gerade, tapfer zu sein: »Nein, nichts, nur ein bißchen verschnupft. Bin irgendwo in den Zug gekommen«. Und er antwortete: »Scheußlich lästig, so was.«
Es entstand eine Pause, dann sagte Tony plötzlich: »Wirklich nett von Ihnen, daß Sie so tun, als hätten Sie nichts gemerkt. Ich hab’ mich benommen wie ein kleines Kind. Keine Erkältung. Mein schlechtes Gewissen.«
»Anstrengend, so ein schlechtes Gewissen. Kann mir nicht vorstellen, wofür wir so was haben.« Peter versuchte, leicht darüber hinwegzugehen, aber es klang nicht sehr überzeugt.
Tony sagte unvermittelt: »Die Sache ist so, daß ich etwas Schlimmes getan hab’ und es gerne gestehen möchte. Keine Angst, nicht Ihnen! Sondern dem, den die Sache angeht. Aber alle sagen, ich soll es nicht tun.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Oft besser, den Mund zu halten als zu reden.«
»Meinen Sie wirklich? Aber Geständnisse sind so eine Erleichterung.«
»Das ist es ja. Man selbst ist erleichtert. Aber der nicht, dem man es auflädt beim Abladen.«
Das war ein komischer Satz, aber Tony verstand ihn, denn ich hörte sie seufzen, anscheinend war Schweigen eine schwere Strafe für sie. Ich beeilte mich und lauschte nicht weiter, aber als sie ins Haus kamen, schaute Peter Tony an, als sähe er sie zum erstenmal. Sie war plötzlich eine selbständige Persönlichkeit, nicht nur Pauls hübsche Nichte.
Er blieb nicht lange. Er machte uns fast nie einen richtigen Besuch, und wenn er kam, weil er etwas zu sagen hatte, dann sagte er das und ging wieder. Er war wirklich nicht sehr gesellig, aber wir mochten ihn alle sehr gerne, trotz seiner Schweigsamkeit und seiner Zurückhaltung. Bevor er ging, strengte er sich jedoch ungewöhnlich an, offensichtlich tat ihm Tonys Niedergeschlagenheit leid, und brachte das Gespräch auf das Sportfest und ihr Pony.
»Wie geht das Springen?«
»Ganz toll. Larry sagt, daß Babette leicht zu reiten ist. Überhaupt nicht nervös, und sie springt gerne. Sie kommen doch zum Sportfest, oder?«
»Natürlich, obwohl es ja recht unpraktisch liegt, zwei Tage vor Weihnachten. Es kommen ja nie viele von auswärts, aber dieses Jahr kommt sicher gar niemand. Warum reiten Sie Ihr Pony nicht selbst?«
»Ich reite nicht gut genug, und sie muß unbedingt gewinnen. Wissen Sie, Ursula Maitland reitet Sahib.«
Er grinste. »Aha… Nun, nächstes Jahr werden Sie sie selbst reiten können. Macht mehr Spaß. Larry ist schon eine ausgezeichnete Reiterin.«
»Oh, glauben Sie, daß sie wirklich Chancen gegen Ursula hat?« Tony glühte vor Begeisterung, und die Tragödie war vergessen.
»Weiß ich nicht. Hab’ das andere Pferd noch nie gesehen, aber Babette ist ein sehr gutes Pony«, und Tony sah aus, als wollte sie ihm um den Hals fallen.
Als sie seinem Auto nachsah, sagte sie: »Peter hat heute tatsächlich mehr zu mir gesagt, als alle die Male zusammen, die ich ihn bisher getroffen hab’. Wohl weil er mich schniefend im Garten erwischt hat. Er ist richtig nett und sympathisch, findest du nicht auch?«
Ich sagte, daß ich ihn für sehr nett hielte, aber daß es schwer sei, ihn näher kennenzulernen. Und an diesem Abend, als die anderen schon im Bett waren, sagte ich zu Paul: »Ich wollte, Peter würde etwas mehr aus sich heraus gehen. Vermutlich haben die Jahre mit seiner Mutter Hemmungen in ihm erzeugt, die er jetzt nicht wieder los wird.«
Paul schaute mich an, als wäre ich leicht verrückt, und sagte: »Er ist verdammt nett. Daß ihr Frauen immer wollt, daß ein Mann geschwätzig ist«, was ich unfair fand und was mich veranlaßte, mich in beleidigtes Schweigen zu hüllen. Paul brach es mit der Bemerkung: »An deiner Stelle würde ich aufhören, mir wegen Tony Sorgen zu machen. So was macht sie sicher nicht noch einmal.«
»Ich weiß nicht, ob es Tantchen gegenüber richtig ist. Sie vertraut uns allen.«
»Es macht alles nur schlimmer, wenn wir ihr die Sache auftischen. Das Mädchen arbeitet gut, und Tantchen ist so zufrieden mit ihr. Laß sie in Ruhe.«
Ich sagte mürrisch, daß ich auch nichts anderes vorgehabt hätte. »Schließlich war es auch kein großes Verbrechen. Larry versuchte ja zu erklären, daß wir wirklich keine Mrs. Freeman kennen.«
»Ach, Larry«, sagte Paul nur müde.