17
Mit dem Ende der Schulferien wurde es im Camp ruhiger. Wir hatten zwar noch eine Menge Gäste, aber viele von ihnen waren ältere Leute im Ruhestand oder Eltern mit kleinen Kindern. Die meisten hatten Wohnwagen, waren also vom Wetter ziemlich unabhängig. Und das war gut so, denn dem unentwegt schönen Wetter vom Januar war unser übliches mit Wechsel zwischen Sonnenschein und Regen gefolgt. In den nicht mehr ganz so vollen Tiergehegen wohnten noch genug Lieblinge, um Mrs. Morris in Tätigkeit zu halten.
Sie hatte sich in ihre Aufgaben eigentlich recht gut hineingefunden. Natürlich gab es jetzt keine Späße und kein ausgelassenes Lachen mehr wie bei Trina — die uns viel zu oft anrief, die geradezu verschwenderisch mit den Ferngesprächen war — , immerhin taute Mrs. Morris schon bald ein bißchen auf und wurde freundlich. Das war Peter zuzuschreiben, denn ich kann mit Menschen, die Hemmungen haben, nicht geschickt umgehen, und ihr ständiges >Mr.< Morris und >Miss< Wallace irritierte mich. Ehrlich gesagt, ich war in jener Zeit allzu leicht reizbar und schämte mich deshalb; aber ich bestärkte mich natürlich energisch in der Ansicht, daß nur die Erschöpfung daran schuld war.
Eines Morgens fragte Peter beiläufig Mrs. Morris: »Übrigens, wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen? >Mrs. Morris< finde ich so gewichtig. Sind Sie nicht Phyllis?«
Erst sah sie ein Weilchen erstaunt und etwas pikiert aus, dann lächelte sie. »Ja, ich bin Phyllis. Gewiß finden Sie mich sehr altmodisch, aber — Mr. Morris kann es durchaus nicht leiden, daß die Leute sich heutzutage alle mit Vornamen anreden.«
»Dann werden wir seinen nur nennen, wenn er nicht dabei ist. Wie heißt er denn? Aber kein >Mr.< Morris mehr, das macht mich ganz scheu. Klingt zu intim!« setzte er ironisch hinzu.
Leider hieß er Cyril, woran wir uns aber allmählich gewöhnten. Es war immerhin besser als das ewige >Mr.<. Phyllis drückte sich anfangs um unsere Vornamen, doch da wir sie, taktloserweise, immer mit dem ihren ansprachen, ging sie schließlich auch dazu über, so daß die Atmosphäre gemütlicher wurde.
Der nächste Schritt erfolgte, als sie eines Morgens an meine Tür klopfte und mich gerade bei meiner Gesichtspflege überraschte. Sie blieb so erschrocken und verlegen stehen, als hätte sie mich in der Badewanne überrascht, und wollte rasch rückwärts wieder hinausgehen. Da sagte ich: »Halt. Kommen Sie nur herein. Was Sie auf dem Herzen haben, können Sie mir auch bei dieser Beschäftigung anvertrauen. Finden Sie etwas dabei? Natürlich nicht. Ich habe keine Toilettengeheimnisse.«
Sie sah mir beinah entgeistert, aber fasziniert zu. Als ich fertig war, sagte ich fröhlich: »Na, schauen Sie, finden Sie’s so nicht besser?« Und ganz zaghaft antwortete sie: »Oh, ja, wirklich. Manchmal möchte ich...« — hielt aber wohl ihren Wunsch für zu unbescheiden, um ihn auszusprechen, und schwieg. Das war meine Chance.
»Die Kniffe möchten Sie kennen? Nun, Phyllis, die werde ich Ihnen zeigen. Kommen Sie her, lassen Sie’s mich bloß aus Spaß mal machen. Sie werden kaum glauben, wie das den Menschen hebt, nicht bloß das arme alte Gesicht, sondern auch die Selbstachtung und das allgemeine Wohlbefinden.«
»Aber Mr. Morris — ich meine: Cyril — würde entsetzt sein.«
»Den Männern tut manchmal ein bißchen Entsetzen ganz gut. Und lange wird es damit auch nicht dauern. Bald wird er sich gebauchpinselt fühlen. Zuerst wird er wahrscheinlich schimpfen, daß man Lilien nicht vergoldet, aber davon nehmen Sie einfach keine Notiz. Also passen Sie jetzt genau auf, wie ich’s mache.«
Nach der Behandlung sah sie wirklich nach etwas aus. Sie hatte einen sehr schönen Teint und große Augen mit langen Wimpern. Als nun ihre Lippen nicht mehr blaß und blutarm wirkten und die Augenbrauen etwas retuschiert waren, sah sie sehr hübsch aus. Ich rief nach Peter und forderte ihn — trotz ihrer nervösen Proteste — auf, hereinzukommen und sein Urteil zu fällen. Er war begeistert. »Sieht ja fein aus. Wirklich flott. Nur mit dem Haar stimmt’s noch nicht.«
Phyllis fragte gekränkt: »Was soll daran denn falsch sein? Cyril mag es gern so.«
»Ich ja auch«, entgegnete er diplomatisch, »es ist aber so straff nach hinten gekämmt, daß es Ihre Augenbrauen hochzieht und dann wirkt die Frisur gar nicht. Helen, was ließe sich da machen?«
»Zu meiner netten Friseuse in Thurston fahren und tun, was sie sagt«, reagierte ich prompt. »Die kennt sich aus. Also Phyllis, Sie sind ja tatsächlich eine Schönheit!«
Sie errötete wie ein Schulmädchen und murmelte ängstlich etwas von Cyril, was Peter jedoch in freundlich forschem Ton abtat. »Kümmern Sie sich gar nicht um das, was Ihr Alter sagt. Sie sind richtig so und er wird sehr bald einverstanden sein, vor allem, wenn das Haar erst sitzt, wie es müßte. Machen Sie einfach rücksichtslos so weiter.«
Sie fuhr mit etwas nervöser Miene nach Hause, aber ausgerüstet mit einem Lippenstift, Augenbrauenstift und etwas gutem Puder von mir. »Und kommen Sie morgen nicht wieder mit nacktem Gesicht her«, drohte ich. Sie lachte verlegen.
Am folgenden Morgen kam sie etwas verspätet, gewiß weil ihr der Umgang mit dem Make-up noch zu langsam von der Hand ging, aber das Ergebnis war tadellos. Sie hatte wirklich Talent, ihr Gesicht zu verschönen. Schade um all die vergeudeten Jahre, dachte ich. Als ich fragte, wie Cyril die Veränderung aufgenommen habe, antwortete sie zögernd: »Anfangs so, als wenn ich etwas ganz Empörendes getan hätte, eine ganz leichtsinnige Person geworden wäre.«
»Dank unseres üblen Einflusses, natürlich.«
Sie lachte. »Oh, je... Aber es schien ihm dann doch ganz gut zu gefallen, wenn er’s auch nicht zugeben will. Miss Wallace gefiel es auch. Sie meinte, vielleicht ginge sie bald mal zum Friseur, und ich bot ihr an, meinen Lippenstift auszuprobieren.«
Mein gutes Werk schien also Kreise zu ziehen. In Lena Wallace hatte Cyril eine sehr tüchtige Assistentin gefunden, doch leider sah sie so auch aus. Falls wir sie dazu veranlassen konnten, sich ihr dickes glattes Haar ondulieren zu lassen, wirkte sie vielleicht schon nicht mehr ganz so tüchtig, hatte aber mehr Freude am Leben. Es ließ sich vielversprechend an, und als Trina wieder anrief, erzählte ich ihr davon, was sie sehr entzückte.
Wir vermißten sie sehr. Niemand konnte sie uns künftig ersetzen, und Peter litt zeitweise unter Depressionen, deren Ursache unschwer zu erraten war. Ein Gutes hatte ihr Fortgehen immerhin — er schrieb jetzt wie toll. Er hatte an einen Agenten in Übersee mehrere Artikel geschickt und arbeitete jetzt intensiv an der Einleitung eines Romans. Nun, da er draußen weniger zu tun hatte, vertiefte er sich so ins Schreiben, wie er das nie getan hätte, solange die reizende Kameradin Trina noch da war.
Mitte Februar, als es im Camp ruhig wurde, weil viele Gäste abgereist und erst wenig neue gekommen waren, fuhren wir auf Besuch zu Trina und Angus.
Phyllis erbot sich inzwischen tatsächlich, den ganzen Tag zu kommen, und versicherte uns, daß sie mit Andy zusammen alles schaffen könne. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß sie verstünde, wie sehr wir uns nach Trina sehnten. Ohne Zweifel hatten die Gesichtspflege und die neue Frisur in ihr viel menschliches Verständnis erweckt.
Trina war, wie wir’s nicht anders erwarteten, glücklich und zufrieden. Sie kam uns wie ein Kind vor, zum Anbeten niedlich, als sie uns die Räume ihres Hauses zeigte, uns schilderte, wie sie den Garten anlegen wollte — >Angus will die Graberei machen< — , und uns zuletzt zu dem ruhigen, reinrassigen Pferd führte, das Angus ihr gekauft hatte. »Und ich reite fast jeden Tag, aber wenn Angus zu Hause ist, natürlich nicht«, schloß sie triumphierend und stolz die Besichtigungstour.
»Vermutlich ist er nicht oft zu Hause, aber einsam fühlst du dich doch nicht?«
»Nein, kein bißchen. Mich besuchen auch Leute, aber nicht so förmlich wie damals in der Stadt, und Parties gibt es überhaupt nicht. Es sind eben Leute vom Lande, die schauen mal herein, wenn sie ihre Einkäufe machen oder Angus konsultieren, und das Leben ist so ähnlich wie früher auf der Farm. Keiner erwartet von mir, daß ich Bridge oder Golf spiele, und ich brauche nichts extra zu kochen oder eine Menge Kuchen zu backen. Aber für euch habe ich einen, ihr Goldkinder.«
Mit viel Stolz setzte sie uns den vor. Es war ein sonderbares Produkt, teils hart, teils schwammig, doch wir aßen ihn mit anerkennenden Worten und kauften uns auf der Rückfahrt doppeltkohlensaures Natron in einer Milchbar. Angus kam noch, ehe wir abfuhren, und bemühte sich ersichtlich, uns — vor allem Peter — zu zeigen, was für ein vorbildliches Ehepaar sie waren. »Eine Ehe«, sagte Peter nachher unterwegs ärgerlich, »in der Weibilein schon mit Männis Pantoffeln wartet, wenn er müde heimkommt! Immer bloß trautes Heim und Langeweile.«
»Das glaub nur ja nicht — zumindest nicht die Langeweile«, erwiderte ich. »Es wird bei ihnen noch Stürme geben, doch die zwei werden sehr glücklich sein.« Ich merkte, daß ich einen sentimentalen, ganz backfischhaften Seufzer von mir gegeben hatte.
Wieder zu Hause, stellten wir fest, daß das Camp unsere Abwesenheit bestens überstanden hatte. Und der erhabene Cyril war tatsächlich abends mit dem Wagen gekommen, um seine Frau abzuholen. Bei einer kleinen Krise, die es im Tiergehege gab, hatte er ihr geholfen, weil Andy, der inzwischen ein Boot verankerte, gerade nicht da war. Ein Hund, dessen Herrin den ganzen Tag über fort war, hatte es fertiggebracht, mit dem Kopf in einem Gitter steckenzubleiben, als er seinem Nachbarn einen Knochen stehlen wollte. Das Tier war vollkommen verängstigt, doch Phyllis verstand sehr gut, es zu beruhigen, und befreite es mit Cyrils Hilfe. Sobald der Spektakel aufhörte, machte Cyril selbstzufrieden die Bemerkung, daß seine Frau großes Talent im Umgang mit Tieren habe. »Ich überlege schon ernstlich, ob ich ihr nicht einen Hund kaufen soll. Einen kleinen natürlich. Selber mache ich mir zwar nichts aus Tieren, aber vielleicht ist es für sie interessant.«
Das klang doch sehr fortschrittlich. Vielleicht kam Cyril sogar bald auf den Gedanken, daß für seine Frau ein Kind noch viel interessanter sein würde — .
Der Tagesablauf wurde uns so zur Routine, wie wir es nie gekannt hatten, als Trina bei uns war. Einerseits, weil wir uns langweilten, und andererseits, weil es weniger zu tun gab. Für den März waren nur sehr wenige Plätze belegt, zu Ostern war noch ein kurzfristiger Ansturm zu erwarten, nachher nur noch Gelegenheitsgäste oder Leute, die für eine Woche oder zwei eine Kabine mieteten. Dann hatten wir unendlich viel Muße, und ich konnte mir nicht vorstellen, was ich damit anfangen sollte.
Für Peter war es kein Problem, wie er seine Zeit ausfüllte, denn das Schreiben fesselte ihn immer stärker und sonderte ihn ab. Mein Leben war deshalb eintönig, aber er tat ja, was ich so sehr gewünscht hatte; deshalb war es dumm von mir, wenn ich ihm das übelnahm. Aber einsam fühlte ich mich trotzdem und ein bißchen bedrückt von der Langeweile.
John Muir spürte das, als er an einem Sonntagnachmittag kam und mich halb schlafend auf der Veranda fand, während Peter im Wohnzimmer fleißig tippte.
»Sehnsucht nach den Lichtern der Großstadt und der Zeitungsredaktion?« fragte er, indem er sich aufs Geländer der Veranda setzte. »Vermutlich haben Sie jetzt zum ersten Male Gelegenheit, diese Sehnsucht richtig zu spüren?«
»Ja, bisher war gar keine Zeit dafür. Ich weiß nicht, ob mir dieses müßige Dasein im Winter noch behagen wird. Könnte mich um eine Halbtagsbeschäftigung in Thurston bemühen.«
»Hat das Camp Ihre Erwartungen finanziell nicht erfüllt?«
»Doch, das Ergebnis ist sehr gut. Wir müßten in ein paar Jahren die elende Hypothek abdecken können, und die Zinsen scheinen ständig gesichert zu sein.«
»Warum dann also nach einer Stellung suchen?«
»Wegen Mangel an Beschäftigung. Peter ist in seinen Roman vertieft und Andy ganz von Venedig und dem nächsten Wurf Welpen in Anspruch genommen.«
»Und Sie sind in gar nichts vertieft?«
»Das ist vermutlich der Kern des Übels. Ich werde lässig und faul.«
»Körperliche Bewegung ist ein gutes Gegenmittel. Kommen Sie mit auf einen Spaziergang, anstatt hier zu dösen.«
»Wohin denn? Spaziergänge ohne Ziel mag ich nicht, und wir können doch nicht bloß am Strand hin und her laufen.«
»Na, dann sehen Sie sich einmal den anderen Teil meiner Farm jenseits der Landstraße an. Da sind Sie doch noch nie gewesen, oder?«
»Wie sollte ich wohl? Bei all den bedrohlichen Schildern.«
Wir gingen durchs Tor und stiegen den Hügel hinauf. John zeigte mir die einzelnen Koppeln, und ich bewunderte aus der Entfernung seine hornlosen Rinder und die Zuchtböcke. Ohne vorherige Andeutung sagte er plötzlich: »Wollen Sie nicht, anstatt eine Stellung in Thurston anzunehmen, meine Frau werden?«
Für einen Moment war ich verblüfft. Mir fällt zum Vergleich nur die dumme Redensart ein, daß man mich >mit einer Feder hätte umstoßen können<. Wie soll ich nur mein äußerstes Erstaunen und den Schock jenes Augenblicks treffend beschreiben? Ich blickte John sprachlos an. Sein Gesicht war ebenso ruhig wie seine Stimme. Als hätte er mich nur nach der Uhrzeit gefragt, nicht einen Heiratsantrag gemacht. Plötzlich wurde ich zornig und sagte kalt: »Soll ich das etwa beantworten, oder ist es nur ein Beispiel Ihres schlecht angebrachten Humors!«
»Schlecht angebrachten Humor gibt’s bei mir nicht und ich meine es vollkommen ernst.«
»Aber — eine sehr seltsame Art, einen Menschen zu fragen, ob er Sie heiraten will. Das ist — ist ja lachhaft.«
»Im Gegenteil, es ist sehr vernünftig und entspricht — wenn ich Sie recht verstanden hatte — ganz Ihren schönsten Vorstellungen vom Heiraten: Keine falschen Gefühlsausbrüche, kein scheues Abwehren, keine leidenschaftlichen Beteuerungen. Alles gemäßigt, wohlüberlegt und schön beherrscht. Eine Kameradschaft, wie Sie es nannten. Und warum regt eine Kameradschaft Sie auf?«
Ich kam mir sehr töricht vor, überzeugt, daß er sich auf merkwürdige und verletzende Weise über mich amüsierte. Aber er wartete, unbewegt und in höflicher Haltung, und sagte nach kurzem Schweigen: »Ich glaube, wir könnten nett und vernünftig miteinander umgehen und sehr glücklich werden und, recht besehen, wäre das gewiß besser als eine Stellung in Thurston.«
Ganz leidenschaftslos und vernünftig. Nicht einmal meine Hand hatte er berührt. Überhaupt nicht versucht, mich zu küssen. Keine Silbe von Liebe in seinem ganzen >Antrag<! Da ich nicht wußte, ob ich das als Kompliment oder als Beleidigung empfinden sollte, entschloß ich mich, einen mittleren Kurs zu steuern und ebenso sachlich kühl zu bleiben wie er.
»Schönen Dank für den Vorschlag, doch es läßt sich nicht machen«, sagte ich gemessen.
»Und warum nicht?«
»Ich könnte Peter nicht im Stich lassen, ihm auch nicht die ganze Verantwortung für das Camp aufpacken. Daran bin ich jetzt gebunden, auch wenn ich vielleicht etwas anderes tun möchte.«
»Glauben Sie bitte nicht, ich hätte meinen Vorschlag übereilt oder ohne gründliches Nachdenken gemacht«, fuhr er mit einer Ruhe fort, die mich auf die Palme bringen konnte. »Ich halte es für die beste Lösung, wenn meine Tante, die sich — wie Bruce auch — in Ihrem Hause sehr wohl fühlen würde, künftig Peter und auch Andy betreute. Beide haben Peter gern, und Bruce hat keine Lust, Farmer zu werden. Es würde ihm Freude machen, im Camp mitzuhelfen; er und Andy könnten alle Arbeit tun, und Peter würde nicht zu sehr in Anspruch genommen. Bruce könnte außerdem, wenn er will, noch für mich einiges arbeiten. Peter hätte also Zeit, an seinem Buch weiterzuschreiben, und Sie wären ganz in seiner Nähe, falls er Sie mal brauchte. Ich glaube, das ist ein sehr vernünftiger Plan, und ich möchte Sie bitten, es sich einmal richtig zu überlegen.«
Nun wurde ich aber wirklich zornig. Was für eine Methode, so ein Heiratsantrag! Das war ja ein rein geschäftlicher Vorschlag, und das Beleidigende daran war, wie sicher John sich gefühlt hatte, daß ich ja sagen würde! So sicher, daß er schon Zukunftspläne für uns alle machte! Wahrscheinlich hatte er sich sogar dazu verstiegen, vorher mit Mrs. Warren darüber zu sprechen! Doch einerlei, wie es gekommen sein mochte — ich mußte mich unbedingt beherrschen und ihm nicht zeigen, wie empfindlich mich das getroffen hatte.
»Ich glaube, Überlegung ist wirklich nicht nötig, denn ich kann’s Ihnen sofort beantworten«, gab ich zurück. »Meine Ansicht ist, daß es nicht gutgehen würde. Sagen Sie mir doch einmal — ich frage aus reiner Neugier — , weshalb Sie sich verheiraten wollen.«
In wohlberechneter Absicht bot er mir eine Zigarette an, und als ich hochmütig ablehnte, begann er selbst zu rauchen und schwieg ein Weilchen, bevor er sagte: »Aus vielerlei Gründen. Einige können Sie gewiß nicht recht würdigen, für die rein praktischen aber haben Sie sicher Verständnis. Meine Ansicht ist, daß jeder Mann lieber heiraten als alleinbleiben sollte, und ich bin jetzt vierunddreißig. Also durchaus ehereif. Im übrigen glaube ich ganz fest daran, daß solche — eh — solche Kameradschaften glücken können und finde, daß Sie und ich gut zusammenpassen würden. Sie sind weltklug und kühl, erliegen keinen Illusionen, sind außerordentlich tüchtig und eine vortreffliche Hausfrau und Gastgeberin. Ich bewundere Sie sehr und bin überzeugt, wir würden gut miteinander auskommen.«
Er machte eine Pause, während ich meine Hände zusammenpreßte, um ihm nicht empört auf den Kopf zuzusagen, was ich von ihm und seinem gräßlichen Vorschlag dachte.
»Das ist also mein Standpunkt, doch ich habe auch an Ihren gedacht«, begann er wieder. »Sie haben hier sehr viel geleistet, aber doch ausschließlich im Interesse Ihres Bruders. Seine Gesundheit war Ihr Problem. Aber jetzt geht es ihm wieder gut; Sie würden in seiner Nähe bleiben und könnten ihn immer noch mit mütterlichem Auge bewachen. Meine Tante würde ihn vortrefflich pflegen, und mit Bruce ist er ja gut befreundet. Seine schriftstellerische Arbeit absorbiert ihn immer mehr; deshalb müßte im nächsten Jahr dafür gesorgt werden, daß der Hauptteil der Arbeit auf andere Schultern übertragen wird. Es gibt heutzutage ein System, wobei quartiersuchende Feriengäste sich zu einem Verband zusammentun und für jedes Jahr diesselben Campingplätze fest buchen, so daß der Besitzer nur wenig Arbeit hat. Ich habe genaue Einzelheiten angefordert.«
Mit ungeheurer Anstrengung konnte ich mich darauf beschränken, ruhig zu sagen: »Wie gründlich Sie sind und Ihrer Sache so sicher!«
»Keineswegs, doch ich spreche ja mit einer Geschäftsfrau; deshalb ordne ich alle zweckdienlichen Tatsachen sauber ein. Andererseits dürften Sie ein Leben ganz nach eigenem Geschmack führen, sich nach Belieben gesellschaftliche Vergnügungen in Thurston gönnen und jederzeit Ihre Freunde aus der Großstadt zu Besuch einladen. Ich bin nicht arm und gewiß in der Lage, Ihnen fast jeden Wunsch zu erfüllen, auch das, was Sie so hoch bewerten: Sicherheit.«
Eine lange Pause folgte, weil ich mir eine vernünftige Antwort einfach nicht zutraute. Dann lachte John plötzlich. »Mein Gott, ich habe noch nie so viel geredet; ich finde aber, daß bei einer Kameradschaft alles offen ausgesprochen werden sollte. Und so haben Sie’s ja auch gern, nicht wahr?«
So hätte ich’s gern! Das war ja der Gipfel seiner Frechheit. Trotzdem gelang es mir, mit ruhiger Stimme zu sagen: »Sie sind ein sehr kluger Mann und haben sich das alles fein ausgemalt. Ich hoffe nur, daß Sie bei dem nächsten weiblichen Wesen, dem Sie einen derartigen Antrag unterbreiten, mehr Glück haben als bei mir, denn mir gefällt er kein bißchen. Ich brauch’ es mir gar nicht zu überlegen. Kurz und bündig gesagt: Sie können sich das ganz aus dem Kopf schlagen.« Ich erhob mich — wir hatten an einem Grabenrand gesessen — in vermeintlich enorm würdevoller Haltung und spendete ihm ein Lächeln.
Er schien jedoch nicht im mindesten erschüttert zu sein, denn sein Gesicht zeigte noch dieselbe kühle Ruhe, als er sagte: »Jammerschade! das wäre also erledigt. Worüber wollen wir jetzt reden? Sie müßten es wissen. Was sagten Sie eigentlich, als Sie die Anträge Luigis und der anderen Bewerber ablehnten?«
Nun platzte mir aber gewissermaßen der Kragen. Meine Selbstbeherrschung reichte gerade noch aus, um zu verhindern, daß ich ihn anbrüllte — und das war gut, weil wir inzwischen ans Tor gelangt waren und einige unserer Campgäste sich auf der Landstraße näherten — , aber meine Stimme bebte doch vor Zorn, als ich sagte: »Ich glaube, Sie sind der unangenehmste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Das dachte ich gleich, als wir uns zum ersten Male trafen, und... und...«
Indem er mir höflich das Tor aufhielt, gab er zurück: »Und es war gerade hier, wo wir uns zuerst trafen, nicht wahr? Wie sich die Weltgeschichte doch wiederholt! Ah, da kommt uns Venedig entgegen!«
In dieser Zeit, als wir im Camp wenig Gäste hatten, durfte Venedig einen Abendspaziergang machen, und so kam sie nun daher, ein Stück vor Andy, in gedämpfter Freude leise wimmernd. Sie sah genauso aus wie ein halbes Jahr vorher: dickleibig, aber sanft und freundlich. »Hallo, Schöne«, sagte ich und bückte mich, um sie zu streicheln. Sie hob den Kopf und legte ihre große weiche Schnauze in meine Hand. Das war sonderbar tröstlich, doch für mich vernichtend, denn, ohne daß ich wußte, warum fühlte ich — wie demütigend! — Tränen in meine Augen steigen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung, die teils John, teils den Campgästen galt, machte ich kehrt und rannte ins Haus.