1

 

Wie ich das gräßliche Nebelhorn haßte! Immer weckte es mich und war der einzige Nachteil meiner himmlischen Wohnung. Ich liebte den Blick aufs Meer — und bezahlte dafür tüchtig — doch dieses Horn riß mich zu unirdischen Stunden aus dem Schlaf und machte mich stets schwermütig, obwohl es weit entfernt war.

An diesem Augustmorgen jedoch klang es sonderbar nah und laut. Ich schaute stöhnend auf meine Uhr. Knapp sieben. Die Gardine beiseite schiebend, spähte ich durchs Fenster. Kein Zeichen von Nebel auf der grauen stillen Wasserfläche. Warum also dieses brüllende Horn?

Im selben Moment ging es wieder los und klang so laut, als befände es sich an meiner eigenen Haustür. Laut, tief und melancholisch dröhnte es. Ich sprang aus dem Bett. Das war ja gar nicht das Nebelhorn! Dicht vor dem Hause mußte etwas Furchtbares im Gange sein.

Ich zog nicht erst den Morgenrock an, sondern lief durch den kleinen Flur und öffnete die Haustür. Entsetzt prallte ich zurück, denn ich blickte geradenwegs in die Augen eines riesigen Hundes, die fast in gleicher Höhe mit meinen zu sein schienen. Doch das kam, weil es eine Dänische Dogge war, die sich, nicht zufrieden mit diesem sehr ausgiebigen Blick von ihrem Niveau aus, auf die Hinterbeine gestellt und die Pfoten auf das Geländer des Vorbaus gelegt hatte. Wie ich schon sagte, war die Aussicht schön und teuer, schien aber dem Hund nicht zu gefallen. Vermutlich hatte er deshalb so geheult.

»Herrjeh!« murmelte ich, nicht der Situation gemäß, und stand wie gebannt da.

Ehe ich mich zusammennehmen konnte, gab es einen lauten Knall, und knapp drei Meter entfernt, nur durch eine winzige Rasenfläche von mir getrennt, sprang der widerliche dicke kleine Hinton wie ein Gummispielzeug aus seiner Tür.

»Was ist’n los?« begann er wütend, dann blieb er mit offenem Mund und glotzenden Augen stehen. Ach so, mein Pyjama! Ich konnte mir denken, was er nachher zu seiner Frau darüber sagen würde, aber im Augenblick hatte er seine Freude daran. Um die Sache noch schlimmer zu machen, gab ein alberner Jüngling, der auf dem Rade vorbeifuhr, einen lauten Pfiff anzüglicher Bewunderung von sich. Hinter Mr. Hinton erschien dessen Gattin. Mir war’s egal, ich hatte nur Augen für den Hund. Der füllte ja auch den ganzen Vordergrund der Szene.

Also, eine Hundefreundin bin ich nicht gerade. Ich hatte noch wenig mit dieser Tierart zu tun gehabt, und das Theater, das etliche meiner Bekannten um ihre Pudel und Corgis machten, war geradezu ekelhaft. Ich wurde vor diesem klobigen Untier ziemlich nervös und streckte ängstlich eine Hand aus. »Braver Hund«, murmelte ich optimistisch.

Das war ein Fehler, denn sogleich sprang die Kreatur freudig gegen mich und stieß mich zurück, so daß ich mit dem Kopf hart an den Türpfosten fiel. Leider wählte Mrs. Hinton — sehr manierlich in einen rosa Morgenrock gehüllt — diesen Moment, um schrill zu schreien: »Miss Napier! Miss Napier, ist das Ihr Hund? Den dürfen Sie hier nicht halten! Haustiere sind hier verboten! Außerdem hat er mich mit seinem Gebell geweckt.«

Ich erwiderte, meinen Hinterkopf sanft betastend, mit Nachdruck: »Seien Sie nicht so albern. Natürlich gehört der Hund nicht mir. So eine verrückte Idee! Muß ein entlaufener sein.«

»Ein entlaufener? Du meine Güte — denken Sie an die vielen Blasenwurmkranken! Wie die Fliegen sind die Leute daran gestorben. Rufen Sie sofort den Tierschutzverein an.«

Das sagte Miss Cole von gegenüber, die einen wattierten Hausmantel aus Seide anhatte. Da ich sehr viel auf Kleidung gebe, dachte ich sogar in diesem ärgerlichen Augenblick: Wo mag sie den bloß entdeckt haben? Der ist doch bestimmt schon seit 1900 aus der Mode.

Über mir auf dem Balkon vernahm ich unruhiges Scharren von Füßen. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen. Das Haus hatte vier Etagen mit acht Wohnungen, und ich sah im Geist an jedem Fenster vorgeschobene Köpfe, wie Tauben an ihrem Verschlag. Gerade eben richtete sich der Hund wieder an der Tür auf und beleckte zärtlich mein Ohr. Bei dieser Bewegung zeigte sich, daß an seinem Halsband ein Brief hing. Das Kuvert war groß und protzig, die Schrift ebenfalls. Die Hand kannte ich. Nur Luigi fand Geschmack an den vielen Schnörkeln.

Das war ja furchtbar. Ich kannte ihn nur zu gut und wußte, daß bei seinem überschäumenden, südländischen Temperament alles möglich war. Vor einigen Tagen hatte er noch mit seiner bestrickenden Stimme geraunt: »Aber, meine schöne Helen, verstehst du denn nicht, daß für mich der Himmel — wie sagt ihr das auf englisch? — ach ja: daß der Himmel mein oberster Punkt ist. Vor nichts werde ich machen halt.«

Na ja, heute morgen sah es ganz so aus, als ob er vor nichts haltmachte. Eine große Dänische Dogge war für Luigi, wenn er Laune dazu hatte, bloß eine Lappalie.

Damit sollte er selbstverständlich bei mir nicht durchkommen. Gleich wollte ich ihm das Untier zurückschicken, und zwar mit einem vernichtenden Denkzettel. So sagte ich jetzt mit großer Würde — jedenfalls so viel Würde, wie der nicht für die Straße gedachte Schlafanzug zuließ: »Natürlich werde ich — werde ich jemanden anrufen.« Luigi nämlich gedachte ich anzurufen, um ihm gründlich die Leviten zu lesen.

Mrs. Hinton jedoch gehörte zu den unangenehmen Frauen, die logisch denken und stets mit den Füßen auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Kalt sagte sie: »Das kann kein entlaufener Hund sein — der wurde mit Absicht an Ihre Haustür gekettet.«

»Ausgesetzt«, zirpte Miss Cole, die das Drama in vollen Zügen genoß. »Ausgesetzt, wie ein klein winzig Kindlein am Kirchenportal.«

Jetzt aber riß mir die Geduld. »Zum Kuckuck mit Ihrem klein winzig Kindlein!« rief ich. »Das Tier ist so groß wie ein Kalb, und mein Wunsch ist, daß Sie sich alle wieder schlafen legen!«

Ich löste die Kette vom Vorbau und zögerte noch einen Moment. Aber natürlich, ja, einstweilen mußte ich die Bestie schon mit in die Wohnung nehmen. Meine kurze Unschlüssigkeit war auch ein Fehler, denn der Hund hatte seinen Entschluß sofort gefaßt und preschte vor mir in den Flur. Das Ergebnis war unvermeidlich: Er wickelte mir dabei die Kette um die Füße, so daß ich lang hinschlug.

Bis ich, mit einigen der Lage entsprechenden Äußerungen, wieder hochgekommen war, hatte der Hund, der mit schief geneigtem Kopf zuhörte und meinen Wortschatz offenbar nicht wichtig nahm, sich bereits >eingelebt<. Mit einem Wisch seiner muskulösen Rute beseitigte er vom Nachttisch meine Uhr, zwei Bücher, ein Glas Wasser und drei Briefe, die ich noch beantworten wollte. Nach dieser beachtlichen Leistung richtete er sich stolz auf, beäugte kritisch mein Bett, fand es ganz brauchbar und sprang vergnügt hinein, ohne Rücksicht auf die teure Matratze und das fein gewaschene Bettzeug. >So ist’s besser<, sprachen seine milden, klaren Augen. >Endlich wird’s gemütlich für mich. Die Nacht draußen, meine Liebe, die war ja auch wirklich übel!< Dann legte er den Kopf auf seine Pfoten und schlief ein.

Ich betrachtete ihn und fühlte mich, beinahe zum erstenmal in meinem Leben, völlig ratlos. Wie wurde man mit einer übergroßen Dogge in einer kleinen Wohnung fertig? Wütend ergriff ich den Brief von Luigi und riß ihn auf. Wenn dies einer seiner kindischen handgreiflichen Scherze sein sollte, war es ein verflixt dummer.

Es war jedoch kein Scherz. Als ich den Brief gelesen hatte, saß ich einen Moment still, vor Schreck und Zorn wie betäubt. War der Mann total verrückt? Im ersten Teil enthielt der Brief natürlich alle die nichtssagenden Floskeln, an die ich von Luigi schon gewöhnt war.

»Meine Schöne mit dem Herzen aus Stein!« Das sagte er, weil ich seine lächerlichen Heiratsanträge stets abgelehnt hatte. »Endlich finde ich mich mit meinem Schicksal ab.« Wofür ich ihm dankbar sein durfte, denn er machte mich allmählich bei allen meinen Bekannten zum Gespött. »Zu oft habe ich meine Liebe vor Deine schlanken Füße gelegt. Zu oft hast Du sie von Dir gestoßen.« Wahrhaftig, Luigi verstand, auch bei seiner blumigen Ausdrucksweise, ganz dramatisch zu schreiben. »Vorige Woche erst noch, als ich Dir von meiner Leidenschaft flüsterte — was sagtest Du da? Lauf lieber zum Spielplatz, du grüner Junge. Das hast Du gesagt.« Na ja, was hätte ich sonst sagen sollen! »Es war eine Beleidigung, jawohl. Und so laufe ich jetzt, oder vielmehr fliege ich — denn sogar in diesem Augenblick vermag ich noch den letzten Scherz zu treiben...« Eine höchst witzlose Tat, aber — was meinte er mit >fliegen<? Ich wurde nun ganz nervös. »Ja, gerade wenn Du dieses liest, eile ich geflügelt meinem Lande, meinem Heimatland Italien, entgegen, wo die Himmel blau und die jungen Mädchen nett sind.« Na, die jungen Mädchen gönnte ich ihm gern. Bei diesem Satz fühlte ich mich im Moment so erleichtert, daß mir seine volle Bedeutung nicht gleich klar wurde. »Dort werde ich zu vergessen suchen. Du aber sollst Deinen Luigi nicht vergessen.« Das werde ich bestimmt nicht, dachte ich. Der Mann war ja eine französische Komödie in drei Akten, alle drei bedauerlich schlecht. »Damit ich im Geiste dort bin, um Dir Deine Hartherzigkeit vorzuwerfen, schicke ich Dir meinen Venedig — meinen unbezahlbaren Schatz. Nein, protestiere nicht. Ich bin ja großzügig.« Protestieren? Das wäre ein sehr gelinder Ausdruck. Zischend wie eine Schlange verfluchte ich Luigi. »Jawohl, stolz erkläre ich hier, daß Venedig jetzt Dir gehört, und wenn Du in seine liebevollen Augen schaust, sollst Du an noch liebevollere denken, die nun für immer von Dir abgewendet sind, und sollst es bereuen.« Bereuen — damit hatte er recht. Ganz gewaltig bereute ich, ihn überhaupt kennengelernt zu haben! »Während ich bald nach der kalten Morgendämmerung über Dein Dach hinwegschwebe, werde ich Dir das letzte Lebewohl hinabrufen. Ein Lebewohl von Deinem Luigi, dem Du das Herz gebrochen hast.«

Es folgte eine Nachschrift, die mir bewies, daß die Italiener unter all ihrem Palaver doch praktische und geschäftstüchtige Leute sind. »Im inliegenden Kuvert wirst Du alles finden — Zuchtbuch, Übereignungsurkunde und Decknachweis. Alles, was Du brauchst, damit Venedig für immer der Deine wird.«

Für ewig der Meine. Ein entsetzlicher Gedanke! Nein, meinen italienischen Courmacher vergaß ich bestimmt nie und nimmer.

Ich dachte gar nicht daran, das zweite Kuvert zu öffnen. Was scherten mich das Zuchtbuch und andere anrüchige Einzelheiten! Nur eins wünschte ich mir: Luigi beim Kragen zu packen und ihn zur Zurücknahme dieses greulichen Hundes zu zwingen. Ich griff nach dem Telefon, doch gerade als ich den Hörer anhob, vernahm ich das laute Brummen des Morgenflugzeugs und stellte mir vor, daß in ihm, behaglich ins Polster gelehnt, Luigi saß, der selbstzufrieden in die Tiefe blickte und mir endgültig sein Lebewohl zurief. Mir? Ach, Unsinn. Sehr wahrscheinlich war er damit beschäftigt, das hübscheste Mädchen in seinem Gesichtskreis mit rollenden Augen zu bezaubern.

Einstweilen aber ging es hier um den Hund. Der schien sich in meinem Bett beängstigend wohl zu fühlen und begann schon, friedlich zu schnarchen. Entschieden hielt er sich für die ungemütliche Nacht schadlos, die er angekettet vor meiner kalten Haustür verbracht hatte. Einen Augenblick tat er mir leid, doch ich stählte mein Herz. Für mich wurde jetzt der Tag ungemütlich!

Loswerden mußte ich das Tier selbstverständlich sofort. Haustiere waren in diesen teuren Wohnungen absolut verboten. Ein Gerücht besagte, daß jemand, der hier einziehen wollte und gebeten hatte, seinen kleinen Papagei mitbringen zu dürfen, prompt in die Flucht geschlagen worden sei. Um Mieter war man hier nicht verlegen. Eine ganze Schlange von Anwärtern hätte bereitgestanden. Nein, der Hund mußte noch an diesem Morgen verschwinden.

Wie aber sollte ich mich von einer großen Dogge befreien, die fest schlafend in meinem Bett lag? Vom Tierschutzverein wußte ich überhaupt nichts und stellte mir dummerweise vor, ein an diese Organisation gestellter Antrag führe unweigerlich zur Tötung des Tieres, und das ging mir denn doch gegen den Strich. Also blieb nur die Möglichkeit, es zu verkaufen. Komischerweise zwickte mich auch bei diesem Gedanken das Gewissen, denn der Hund war sehr schön. Aber Skrupel, Luigis Abschiedsgeschenk zu verkaufen, hatte ich keineswegs. Von dem Mann hatte ich mir schon genug gefallen lassen.

Er war vor einem halben Jahr in mein Leben getreten, ganz beiläufig, graziös und gewandt und von bestechendem Selbstvertrauen erfüllt. Damals war er erst kurze Zeit in Neuseeland und schien in unbestimmter Funktion mit dem diplomatischen Korps seines Landes zu tun zu haben. Nach meiner Überzeugung wohl nur ehrenamtlich, denn mit festem Gehalt engagiert hätte gewiß niemand den für Arbeit völlig unbrauchbaren Luigi.

Immerhin war er ein hübscher Mensch, war amüsant und besaß viel Geld. Daher fand ich es anfangs nicht unangenehm, daß er sich mir anschloß. Eigentlich war das sogar ein Triumph, weil ich im Gegensatz zu den meisten meiner Freundinnen berufstätig war, also kein Schmetterling der geselligen Kreise. Ich bezeichnete mich sogar gern als berufstätige Frau.

Mit meiner >Karriere< hatte ich angefangen, bevor Mutter starb — vier Jahre vor Luigis Erscheinen — , weil ich vernünftigerweise einsah, daß später nicht genug Geld da sein würde, um ein Leben im Nichtstun zu führen. Ich war in den Journalismus geraten und liebte diese Tätigkeit von Anfang an, weil sie einen mit Menschen jeder Art in Kontakt bringt.

Die meinen Mitmenschen geltende unstillbare Neugier und eine tüchtige Portion Glück dazu hatten mir die rechte Chance gegeben. Ich war bei meiner Zeitung nicht nur Reporterin für Gesellschaftliches, sondern außerdem — ganz geheim und nicht ohne Schamgefühl — auch für einen großen Kreis argloser junger Leser die >Tante Maudie<. Sie schrieben mir über ihre Liebesprobleme, ihre Streitigkeiten mit Schwiegermüttern, über vermutete Treulosigkeit des jeweiligen Ehegatten, und ich antwortete ihnen allen, weise, gemäßigt, voller Mitgefühl. Natürlich dachten sie alle, ich sei fünfzig, anstatt erst vierundzwanzig.

Ich genoß jede Minute meiner Tätigkeit, weil es immer wieder erregend war, so verblüffend offenherzig ins Vertrauen gezogen zu werden, aber lieber wäre ich gestorben, als auch nur einen von meinen Bekannten wissen zu lassen, daß ich die gute alte >Tante Maudie< war. So blieb es denn dabei, daß sie sagten, es sei ein erfreulicher Zug an Helen, daß sie bei einer Zeitung arbeite, und sich erinnerten, daß ich ganz gute Aufsätze geschrieben hatte, als wir zusammen zur Pensionatsschule gingen.

Mutter hatte für meine Erziehung an nichts gespart. Wenn Verwandte sie darauf hinwiesen, daß die Kosten für ihre Verhältnisse doch zu hoch seien und mir wahrscheinlich mit einer einfachen höheren Schule besser gedient sei, sah sie immer ganz bestürzt aus und sagte: »Aber es ist die Schule, auf der ich selbst gewesen bin. Also muß Helen doch wohl auch da hingehen.«

Die Freundinnen, die ich dort gewonnen hatte, hielten zu mir, und so lebte ich in einem Kreise von munteren geselligen Menschen, was für eine Reporterin höchst vorteilhaft war. Ich saß schon gut im Sattel, als Mutter starb — ganz plötzlich und viel zu früh — und mein Bruder Peter und ich ein Auto und eine Anzahl schöner Möbel erbten und jeder etwa achtzig Pfund jährlich zu verzehren hatten. Peter war damals achtzehn und mit der Schulzeit auf seinem ebenso vornehmen und teuren Institut gerade fertig. Er folgte meinem Beispiel und begann sofort bei einer Zeitung.

Ich hatte gehofft, er würde in derselben wie ich eine Stellung finden, doch er ging in eine andere, so daß wir auseinanderkamen. Das bekümmerte mich, weil Peter nie sehr robust gewesen und ich daran gewöhnt war, ihn zu bemuttern. Er ließ sich das gefallen, freilich nicht sehr gern, glaube ich, da er nicht zu den Unselbständigen gehört. Deshalb wird er mich wohl, obgleich wir uns innig liebten, übereifrig gefunden haben. Da ich zum Glück richtig erkannte, daß er für mich zur >Achillesferse< wurde, zügelte ich, als er zweiundzwanzig und ich vierundzwanzig war, meine Muttergefühle.

Weil ich recht ordentlich aussah und schon mein Beruf eine gewisse Eleganz verlangte, waren meine Freundinnen überzeugt, daß ich früh heiraten würde.

Doch das geschah nicht, zum Teil gewiß, weil keiner der Männer, die mich zu Parties und zum Tanzen mitnahmen, mich wirklich interessierte. Für mich war Peter viel attraktiver als alle andern. So hatte ich glücklich und höchst umsichtig gelebt, und mein Name wurde mit keinem von den heiratsfähigen jungen Männern ernsthaft in Verbindung gebracht. Auch hatte ich keinen Versuch gemacht, die Ehe einer meiner Freundinnen zu brechen. Männer waren bisher in meinem Leben eine angenehme Ablenkung gewesen, weiter nichts.

Luigi war sogar kaum das gewesen. Wir hatten zusammen gespielt, gelacht und getanzt, doch seine groteske Ergebenheit und seine tragikomischen Anträge hatte ich eigentlich nur als Scherz aufgenommen. Na, jetzt trieb er mit mir seinen Scherz.

Ich goß mir Kaffee auf, saß grübelnd vor der Tasse und bemerkte kaum, daß der Hund erwachte, sich zur Seite neigte und sanft das Brot und die Butter von meinem Teller wegputzte. Als ich ihn schalt, wedelte er milde mit dem Schweif und legte mir mit freundlichem Nachdruck seine Schnauze in die Hand. Später sollte ich seine Energie noch kennen und respektieren lernen. Venedig, ein Hund, der seine Zwecke sanft, aber unbeugsam verfolgte, hatte mich bereits als potentielles Opfer erwählt. Vermutlich bin ich für diese Rolle geboren, aber noch kein Mann hatte soviel Verstand gehabt, das zu erkennen.

Plötzlich kam mir eine Idee, und laut sagte ich: »Zwinger. Selbstverständlich, Zwinger. Jeden Morgen auf der Fahrt zur Redaktion komme ich doch an einem vorbei! Dort werde ich den Hund lassen, bis er verkauft ist.«

Venedig schlug liebenswürdig die Augen auf und spitzte ein Ohr. Ein fremder Beobachter hätte vielleicht in diesen Augen ein höhnisches Lächeln entdecken können. Zwinger? Dürfte kaum in Betracht kommen.

Das kam nicht nur nicht in Betracht, sondern ich erfuhr auch sehr bald, daß der Plan nicht zu verwirklichen war. Beim ersten dieser Hundeasyle wurde mir erklärt, es sei nur für kleine Hunde Platz. »Eine Dänische Dogge? O nein. Ganz ausgeschlossen. Bedaure sehr.«

Verzweifelt bat ich die Leute, mir die Adresse einer Konkurrenz zu geben, was sie auch taten. Mit verdächtigem Eifer. Als ich dort anrief, meldete sich die Inhaberin in geradezu überschwenglichen Tönen: »O ja, Platz haben wir. Sie werden ganz selig sein über Ihr kleines Hündchen, wenn Sie es bei uns lassen! Wir lieben die Tierchen ja so. Wie meinten Sie? Eine Dänische Dogge? Nein, dann tut’s mir leid. Wissen Sie, es ist einfach eine Raumfrage. Probieren Sie’s doch mal beim >Heim für Lieblingshunde<. Ich gebe Ihnen die Telefonnummer.«

Unter die Lieblingshunde aber wurden Riesendoggen nicht gerechnet. »Sind prächtige Geschöpfe, gewiß, aber was die fressen...! Und Sie wissen ja, was es heute heißt, das richtige Fleisch zu beschaffen. Ein schreckliches Problem.«

Als ich einhängte, war mir klar, daß darin nur eines der sich vor mir erhebenden Probleme lag. Eingedenk meiner kleinen Lammkotelettes und Filetsteaks stellte ich mir das Gesicht meines Fleischers vor, wenn ich drei Pfund Rindfleisch verlangte.

Meine Gedanken richteten sich wieder, rachedurstig, auf Luigi, der jetzt über den Wolken schwebte und sorglos und charmant sein berühmtes Lächeln einer Stewardeß schenkte. Sorgenfrei. Vor allem aber doggenfrei.

Sonderbar, ich hatte eigentlich nie recht bemerkt, daß er einen Hund besaß, noch dazu so einen. Jetzt entsann ich mich vage, daß er mir vor ungefähr vier Wochen erzählt hatte, er habe einen gekauft. Aber ich hatte kein Interesse für Hunde. Damals. Ich hatte auch gehört, daß ein junges Mädchen ihn wegen dieses Leibwächters uzte. Wie schrecklich malerisch er mit dem Tier zusammen gewirkt hätte. Malerisch? Natürlich war das wieder nur ein Ausdruck seiner greulichen Sensationslust gewesen.

Düster brütend hockte ich da und vergaß ganz, daß ich die Stirn nicht runzeln wollte. Auf einmal klopfte es an die Tür. Andy natürlich, der stets Verfügbare. Falls ein Mensch mir helfen konnte, dann er, denn in ihm hatte ich während der vier Jahre in dieser Wohnung einen nie versagenden und stets findigen Freund gehabt. Andy hatte im Leben praktisch schon alles gemacht. Auf ihn hatte ich mich jederzeit verlassen können, ob es um ein undichtes Wasserrohr ging oder junge Männer abgewimmelt werden mußten, die unbedingt in der Wohnung warten wollten, bis ich abends nach Hause käme. Dem Himmel sei Dank, daß es Andy gab.

In tragischen Tönen rief ich: »Treten Sie ein, Andy, und sehen Sie sich an, was hier los ist.«

Venedig wurde hellwach, als die Tür auf ging, und ließ flüchtig ein tiefes Knurren hören. Mir mißfiel der besitzergreifende Klang in diesem Knurren, doch Andy störte das nicht. Er war ein waschechter Neuseeländer und stolz darauf. Groß, mit mächtig breiten Schultern, aber keineswegs dick oder massig. Und offenbar ein Hundefreund. Er ging gleich auf diese Kreatur zu, hielt ihr den Handrücken zum Beschnüffeln hin und sagte: »Wie geht’s uns denn, Kumpel?« Und sofort rappelte der Hund sich vom Bett hoch und blickte ihn ergeben an. Dann setzte er sich vor ihn hin, bot ihm eine überwältigend große Tatze zum Gruß und peitschte mit seinem Schwanz die Wand. Da auf diese Wand auch Alfred Hinton ein Anrecht hatte, wurde ich etwas unruhig.

Als ich Andy den Vorgang erzählte, feixte er. »Da hat er Ihnen aber einen übergebraten! Dieser Itakker war’s doch, der sich hier ständig herumtrieb, wie? Immerhin, es ist ein schöner Hund, und wohlerzogen.«

»Mag schon sein, aber keins von den Asylen will ihn nehmen, und Mr. Dunn wird so böse sein, daß er mir mit acht Tagen Frist kündigt. Die anderen Mieter werden schon kribbelig, und der Hund wird immerfort auf mein Bett springen, und ich habe einen furchtbar arbeitsreichen Tag vor mir und — ach, Andy, was soll ich bloß machen?«

Ich glaube, er befürchtete, daß ich in Tränen ausbrechen würde, denn er sagte wohlmeinend, wenn auch forsch: »Nur keine Bange, ist halb so schlimm. Es ist ja ein netter Hund, von einer Rasse, mit der man sich fein anfreunden kann.«

»Ich will aber keinen feinen Hundefreund haben und kann den hier nicht behalten. Werde ihn verkaufen müssen.«

Andy machte eine bedauernde Miene und kratzte sich am Kopf. »So wird’s wohl sein, aber es ist ein Jammer. Na ja, die bringen immer einen guten Preis, allerdings scheinen die Leute sich mehr auf kleine Rassen zu spitzen, von wegen der Fleischpreise und so weiter. Aber trotzdem, Sie werden den schon verkaufen. Am besten gleich ein Inserat aufgeben.«

»O ja! Ja, das müssen wir tun. Aber bis es dann klappt? Ich kann ihn nicht in der Wohnung lassen.«

Andy streichelte den glatten rehbraunen Hundekopf. »Platzen Sie nicht gleich vor Sorge«, sagte er. »Ich werde ihn mit in mein Häuschen nehmen, dann kann Mr. Dunn toben, wenn er Lust hat, und die übrigen Mieter meinetwegen auch. Was ich tue, geht keinen ‘was an. Also setzen Sie nur sofort das Inserat auf, ich reiche es dann im Vorbeigehen bei der Zeitung ‘rein.«

»Ach Andy, Sie sind ein Engel! Können Sie den Hund wirklich nehmen? Ich hoffe nur, daß Dunn nicht Krach mit Ihnen anfängt. Ich werde Fleisch in rauhen Mengen kaufen, und wir werden ihn dann sicher bald los. Hier ist ein Bleistift. In einer Minute habe ich den Text für das Inserat fertig. >Zu verkaufen: Rassehund. Dänische Dogge. Sanft und liebenswert!< Das ist er doch bestimmt, nicht wahr?«

»Schon recht so. In dem steckt nichts Böses. Nur eins stimmt dabei nicht ganz.«

»Was denn? Ich muß natürlich ganz ehrlich sein.«

»Da seien Sie unbesorgt. Lange würden Sie die sowieso nicht täuschen. Jedenfalls nicht, wenn die von den Grundlagen des Lebens etwas verstehen, und das kann man von den Hundezüchtern wohl behaupten.«

»Was meinen Sie denn um Himmels willen, Andy?«

»Nur, daß dies gar kein Hund ist. Eine Hündin ist es, und eine verdammt gute. Ein scharfes Luder.«

»Scharfes Luder?«

Das sagte ich mit der entsetzten Stimme einer altmodischen Jungfer, die diesen häßlichen Ausdruck noch nie gehört hatte. Und faktisch hatte ich das auch noch nicht, jedenfalls nicht in bezug auf Hunde. Andy blieb ungerührt.

»Sie ist ein wirklich feines Exemplar, und ich hätte ihren Stammbaum gern mal belinst. Ist er da in dem Kuvert, ja?«

»Ja. Ganz recht. Machen Sie’s auf und sehen Sie nach. Schauen Sie sich alles an.«

Ich war nun tatsächlich verzweifelt. Ein Hund wäre schon schlimm genug gewesen, aber was ich von den Weiblichkeiten der Spezies Hund so gehört hatte... Nein! Das Schicksal meinte es ganz schlecht mit mir.

Doch das stimmte nicht, denn einen Moment später pfiff Andy leise durch die Zähne und sein Lächeln ließ Erstaunen und Freude erkennen. »Na also, einen guten Deckrüden hat sie gehabt. Müßte einen prima Wurf liefern.«

»Einen prima was?« War das nicht bloß ein schlechter Traum?

»Da, peilen Sie mal selbst diese Urkunde an. Ihr Stammbaum und der des Vaters. Sie heißt auch nicht Venedig. Der Itakker hat sie wohl bloß so genannt, weil’s da überall Wasser und Sonnenuntergänge gibt. Mit ihrem richtigen Namen heißt diese Hündin >Lovely Copenhagens Joy of Dreamland< — ein ganz schöner Mundvoll, deshalb werde ich’s bei Venedig belassen, wenn’s auch ein dänischer Name ist. Und vor zwei Wochen wurde sie von Dänemarks >Dappled Pride< gedeckt. Ja, es ist ein guter Wurf zu erwarten.«

»Sie meinen doch nicht, daß das Tier Junge kriegt?«

»Na aber, Miss, halten Sie mal die Luft an. Sie sind doch nicht erst gestern geboren! Die Jungen werden sicher Preise gewinnen. Wünschte, ich dürfte die Mutter behalten, aber da ist ja der vermaledeite Dunn im Wege. Ist auch schwer satt zu füttern. Und erst, wenn ein halb Dutzend Junge da sind!«

»Ein halbes Dutzend? Oh, so viele doch gewiß nicht? Und — und wann?«

»Nach neun Wochen, und zwei sind schon ‘rum.« Andy sprach erbarmungslos, und mein Herz wurde noch schwerer. »Jawohl«, fuhr er fort, »in sieben Wochen haben wir eine Familie auf dem Hals, wenn wir für Venedig bis dahin keine Bleibe finden.«

»Aber die werden wir selbstverständlich finden. Wir verschenken sie einfach.«

»Keine Bange, das werden wir nicht! Ich überlasse das Tier doch nicht jemandem, dem es bloß äußerlich gefällt. Übrigens schätzen die Menschen ja das, was sie umsonst kriegen, überhaupt nicht. Nein, ich lasse das Inserat einsetzen und dann können die Leute bei mir anrufen und zur Besichtigung kommen.«

Andy schien das Zepter übernommen zu haben, und ich war noch zu verdattert, um Einspruch zu erheben. Wir komponierten das Inserat, und dann sah ich die zwei nebeneinander abmarschieren. Ein imposantes Paar. Ein Segen, daß in seinem Häuschen keine Gattin wartete, um die Invasion ärgerlich abzuweisen. Jeden seiner kleinen Räume konnte Venedig allein fast ausfüllen und machte den kleinen Garten bestimmt zur Wüste. Mich tröstete das Bewußtsein, daß Mr. Dunn sich völlig klar darüber war, daß er einen so anständigen und tüchtigen Hausverwalter wie Andy nie wieder bekommen würde. Für ein paar Tage jedenfalls mußte er schon ein Auge zudrücken und den Hund im Hause dulden. Ich freilich ahnte damals noch nicht, wie viele Tage es sein würden.

Eiligst fuhr ich zur Redaktion, dankbar, daß es mir gelungen war, diese Bürde auf Andys starke Schultern abzuwälzen. Ich hatte ein beträchtliches Pensum Arbeit vor mir, und im stillen quälte mich eine besondere Sorge. Schon über zwei Wochen hatte ich von Peter keine Nachricht. Ob da etwas passiert war?

Peter liebte den Journalismus nicht so wie ich. Der Unterschied zwischen uns war, daß er wirklich gute Ideen hatte und den Wunsch, etwas von bleibendem Wert zu schreiben. Beides traf bei mir nicht zu. Ich liebte meine Tätigkeit und genoß schwelgerisch die ungewöhnlichen Briefe, die mir zugingen, und die seltsamen Charaktere, die sie enthüllten, doch über sie zu schreiben fiel mir gar nicht ein. Peter murrte zwar nie, aber es war nicht zu erwarten, daß Betrunkene und Scheidungsfälle bei ihm besondere Begeisterung erweckten, und einstweilen schien das ja noch sein Ressort zu sein. Da er jedoch von Hause aus nur achtzig Pfund im Jahr hatte, hielt er auf seinem Posten durch.

Ich hatte allerdings keine Zeit, mir viel Kopfschmerzen über Peters Schweigen zu machen oder an die peinliche >Venedig< zu denken. Es war nach fünf, als ich heimkam, und mein erster Gedanke war die Post. Ja, ein Brief von Peter war dabei, ein langer sogar. Ich öffnete ihn sofort, ohne erst den Tee zu bereiten, den ich mir den ganzen Nachmittag versprochen hatte.

Als ich alles gelesen hatte, saß ich eine Minute stumm da, wie erschlagen. Zwei Schrecknisse an einem Tage! Dann fing ich wieder an und las den ganzen Brief noch einmal.

»Vorige Woche schrieb ich Dir nicht, weil ich, mit einer dieser blöden Erkältungen behaftet, im Bett liegen mußte und nicht zum Dienst gehen konnte. Ich wollte Dich nicht beunruhigen. Meine Wirtin regte sich über den Husten mächtig auf und ließ Thorny kommen. Der meint, ich sollte lieber mal ein Weilchen ausspannen. Um meine Stellung brauche ich mich nicht zu kümmern, denn die habe ich aufgegeben. Aber erschrick deswegen nicht, lieb Schwesterlein. Es geht alles seinen Gang.

Kurz bevor diese Erkältung mich packte, habe ich einen ziemlichen Schlag gekriegt. Meine alte Freundin im Nebenzimmer ist gestorben. Gewiß, sie war achtzig und hat ein schönes Leben gehabt, also ist’s eigentlich egoistisch, daraus eine Tragödie zu machen, aber ich vermisse sie doch. Der Tod hat sie im Schlaf geholt, gerade einen Abend bevor wir zusammen ins Kino gehen wollten. So hat sie sich’s gewünscht, aber es kommt mir seltsam vor, sie nicht in der Nähe zu haben, wenn ich in so schlechter Form bin, und die Freude, mit ihr über neue Bücher zu sprechen, wird mir fehlen. Sie war ein Ausnahmemensch, und mir ist, als hätte ich eine besonders liebe Großmutter verloren.«

Hier machte ich eine Pause. Ja, Mrs. Catos Tod mußte für Peter ein Schlag gewesen sein. Sie hatten sich, als er die Arbeit in der fremden Stadt aufnahm und das Zimmer neben ihr mietete, gleich angefreundet. Mrs. Cato war ein Original, eine geistreiche, tolerante Frau. Peter hatte seine freie Zeit großenteils bei ihr verbracht. Sie war, als kinderlose Witwe, vor dreißig Jahren nach Neuseeland gekommen, auf Vorschlag eines ihrer Brüder, eines Schafzüchters, der seine Frau verloren hatte. Da sie an Selbständigkeit gewöhnt war, hatte sie es vorgezogen, nicht sein Haus mit ihm zu teilen, sondern hatte sich, als er ihr ein Stück von seinem großen Landbesitz schenkte, selbst eins bauen lassen. Das Leben unter freiem Himmel hatte sie herrlich gefunden, hatte aus Liebhaberei Pferde gezüchtet und war bis zum Tode ihres Bruders dort geblieben. Dann war sie in die Stadt übergesiedelt, da sie, wenn auch ungern, einsehen mußte, daß sie für das Landleben zu alt geworden war. Und nun war sie fort, und Peter vermißte sie bitter. Seufzend las ich weiter.

»Das Erstaunliche ist, daß sie zwar gerechterweise ihr Geld dem Neffen, der die Farm der Familie bewirtschaftet, hinterlassen, jedoch das Haus und vier Morgen Land mir vererbt hat. Ich kann mir nicht vorstellen, warum, und fühle mich ein bißchen unbehaglich dabei, weil ich, weiß der Himmel, wenig genug für sie getan und von unserer Freundschaft mehr gehabt habe als sie. Aber es ist natürlich eine wunderbare Lösung meines derzeitigen Problems und hat mir ermöglicht, bei der Zeitung zu kündigen.

Wichtig ist jetzt, daß Thorny meint, ich sollte lieber für eine Weile aus dem Stadtleben heraus. Kein Grund zur Besorgnis, Altchen! Es ist nichts Ernstes, bloß zu oft Bronchialkatarrh in der qualmigen Atmosphäre hier, und als Reporter muß man ja bei jedem Wetter unterwegs sein. Thorny meint, auf dem Land und in der guten Seeluft würde ich mich ganz schnell wieder erholen. Also werde ich, sobald der alte Knacker mich aufstehen läßt, abbrausen, um meinen neuen Besitz zu inspizieren und mich sogleich dort wohnlich niederzulassen.

Wie ich da leben will, möchtest Du wissen? Na, 80 im Jahr habe ich fest, habe außerdem ein bißchen Erspartes und bin überzeugt, auch irgendeinen Job dort zu finden. Das Dorf liegt knapp zwei Kilometer entfernt und die beachtliche Stadt Thurston nur etwa fünfzehn. Ich werde von den Fischen leben, die ich selbst fangen werde, und fürs erste halbe Jahr gut gerüstet sein. Inzwischen werde ich vielleicht etwas Wertvolles geschrieben oder wenigstens in freier Mitarbeit so viel verdient haben, daß ich zurechtkomme.

Es wird sicherlich ein Heidenspaß, das einfache Leben mal zu versuchen. Mrs. Cato hat immer gesagt, es sei eine sehr schöne Gegend, und ich wünschte nur, Du kämest mit. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß >Tante Maudie< ihre Zeitung und die vielen Probleme ihrer lieben jungen Freunde verläßt, nicht zu vergessen den Vergnügungsbetrieb und die Nachmittagsparties. Ich werde Dir wieder schreiben, sobald ich das Grundstück gesehen habe. Inzwischen geht es mir von Tag zu Tag besser, also keine Aufregung!«

Typisch, das. Peter hatte stets Angst, jemandem zur Last zu fallen. Aber ich machte mir natürlich Sorge um ihn. Gräßliche Sorge. Zunächst konnte ich jedoch nichts weiter tun als ein Ferngespräch anmelden, um mit Thorny zu reden. Es mochte glücken, ihn um diese Zeit zu erreichen. Er mußte mir genau sagen, wie es um Peter stand.

Ich hatte Glück. Dr. James Thornton, der, als wir noch zur Schule gingen und er schon auf der Universität war, neben uns gewohnt hatte, meldete sich sofort. Seine Stimme war gemütlich und beruhigend. Deshalb war ich mißtrauisch.

»Helen? Dachte mir schon beinah, daß du anläuten würdest. Wie macht sich denn die Karriere als Journalistin?«

»Ist ganz in Ordnung. Aber Thorny, es ist wegen Peter. Was fehlt ihm eigentlich?«

Die Stimme wurde zum Verrücktwerden beruhigend. »Nichts Besonderes. Sei unbesorgt. Ich merke, daß du ihn immer noch bemutterst. Ernstlich krank ist er nicht — noch nicht.«

»Noch nicht? Was soll das heißen? Sag’s mir offen, Thorny, ich kann’s vertragen.«

»Braves Mädchen. Davon bin ich überzeugt. Na, es ist jedenfalls besser für Peter, mal aus dem Smog der Großstadt zu verschwinden. Eine Weile in dem Haus an der See, das er jetzt hat, wäre genau das Richtige. Phantastisches Glück, daß er das gerade jetzt bekommen hat. Auf der Brust ist er ja immer schon ein bißchen schwach gewesen, und das Reporterleben war da nicht gerade heilsam. Ferien in der Seeluft sind das beste Rezept.«

»Aber, wie schlimm ist es? Ich meine, ob — ob Tuberkulose zu befürchten ist?«

Plötzlich sprach er in ganz jovialem Ton. »Na, na, nur keine Furcht! Tuberkulose? Bei weitem nicht — solange er sich vernünftig benimmt. Neigt eben dazu wie alle anderen Leute, die sich leicht und oft einen Katarrh holen. An der einen Lunge ist ein kleines Fleckchen, das aber beim Ausruhen in guter Luft wegheilen wird. Wenn er sich ein Jahr freinimmt, da in dem Ort an der See bleibt und sich gleich Ruhe gönnt, wird er wieder so gut wie neu.«

»Aber das kann er doch allein gar nicht machen. Erstens hat er nicht genug Geld, und zweitens würde er sich nicht ordentlich pflegen. Er weiß ja noch nicht einmal, wie ein Ei gekocht wird.«

»Das kann er lernen. Muß er.«

»Nein, muß er nicht. Ich könnte mitfahren und bei ihm wohnen.«

Schon während ich das sagte, war ich darüber erschrocken. Auf dem Lande leben, getrennt von allem, was mir Freude machte? Weg vom Umgang mit den vielen Menschen? Aber, wenn ich wollte, konnte ich das natürlich.

Thorny war ebenso erschrocken. »Deine Zeitungsarbeit aufgeben? In der Einsamkeit den Winterschlaf halten? Das ist doch für dich kein Leben.«

»Wahrscheinlich wird die Veränderung mir Freude machen. Jedenfalls...«

»Jedenfalls kommt bei dir Peter zuerst, nicht wahr? Ist doch schon immer so gewesen.«

Sein Ton klang jetzt trocken und für eine Sekunde dachten wir wohl beide an den Abend vor fünf Jahren, als er zornig zu mir gesagt hatte: »Bei dir heißt es ja immer bloß Peter und nochmals Peter. Kein anderer darf dir ‘n bißchen näherkommen, was?«

Da ich Thorny sehr gern mochte, hatte ich damals zögernd geantwortet: »Vermutlich werde ich nicht ewig so denken, aber einstweilen ist es so.« Er hatte bedauernd gelächelt, war wieder zum Studium nach England gereist, hatte dort eine ganz reizende Krankenschwester kennengelernt und sie geheiratet. Mit dem Ton an diesem Abend imponierte er mir nicht im geringsten.

Nachdem ich den Hörer eingehängt hatte, goß ich mir endlich meinen Tee auf, blieb nachdenklich sitzen und redete mir ein, ich müsse einen Entschluß fassen. Ich tat ja nur so, denn ich war bereits entschlossen. Morgen wollte ich bei meiner Zeitung und bei Mr. Dunn kündigen und in beiden Fällen um sofortige Lösung der Verträge bitten. Mein Chefredakteur würde das sicherlich bedauern, doch sie hatten da ein sehr tüchtiges Mädchen in Reserve, das durchaus geneigt wäre, in meine Fußstapfen zu treten und nicht nur >Tante Maudie< zu werden, sondern auch Berichte >Aus der Gesellschaft< zu schreiben. Vier Wochen würden sie mich vermissen, doch dann hieße es, wie üblich: »Wissen Sie noch, wie’s war, als Helen Napier hier saß...?« So geht’s bei den Journalisten. Überdies ist es, wie ich sehr genau wußte, nicht leicht, in das gewohnte Milieu wieder Eingang zu finden. Jedenfalls nicht unter denselben Bedingungen.

Was schadete das! Um Peters Gesundheit ging es, vielleicht um sein Leben.

Zuerst begab ich mich zu Andy und weihte ihn ein. Er machte mir nicht gerade Mut. Als ich kam, saß er in seiner kleinen Küche auf einer Ecke der hölzernen Bank. Der übrige Raum wurde von Venedig ausgefüllt, die mich gesittet begrüßte. Ich klopfte ihr Fell und dachte: Ja, sie ist wirklich ein schönes Geschöpf. Eigentlich müßte es mir Freude machen, diesen Hund um mich zu haben.

Andy nahm meinen Beschluß mit Kopfschütteln zur Kenntnis. »Das Landleben ist nicht nach Ihrer Mütze. Sie sind ein Stadtmensch. Flotte Kleidung, tüchtig arbeiten und viele Parties mitmachen.«

»Jeder Mensch kann sich an jedes andere Leben gewöhnen«, gab ich zurück. »Bedenken Sie doch, was Sie selbst schon alles geleistet haben.«

»Das ist nicht dasselbe. Ich liebe Abwechslung und Ortsveränderung. Habe an dem Posten hier schon zu lange geklebt, und schließlich komme ich ja auch langsam in die Jahre. Sie dagegen sind temperamentvoll. Kann mir Sie an so einem Ort nicht vorstellen.«

Ich aber war schon soweit, daß ich’s mir vorstellen konnte. Ging nach Hause und schrieb an Peter einen Luftpostbrief.

»Tut mir leid, daß Du erkältet bist, und über Mrs. Cato bin ich schrecklich betrübt, aber die Neuigkeit mit dem Landhaus ist wundervoll. Ich komme mit! Es wird recht heiter werden dort, und Ferien können wir beide gebrauchen. Mir wird es allmählich schwer, jede Woche den Mädchen, die ihren Freund oder ihren schönen Teint verloren haben, etwas Neues zu sagen, außerdem wird es eine Abwechslung sein, wenn ich mich nicht ständig so korrekt anzuziehen brauche und den ganzen Tag und die halbe Nacht auf mein Make-up achten muß. Also bilde Dir nicht ein, daß ich jetzt selbstlos handle.

Heute morgen ist etwas ganz Verrücktes passiert. Man hat mir eine Dogge, groß wie ein Haus, anbefohlen. Hat sie einfach, ohne zu fragen, an meine Veranda gebunden. Täter war der wahnsinnige Luigi — Du erinnerst Dich wohl an den hübschen Italiener, den Du bei Deinem letzten Besuch hier kennengelernt hast? Der hat sich entschlossen, ins Land seiner Väter zurückzukehren, und vererbte mir den Hund. Noch dazu einen Hund, der gewissermaßen eine Hündin ist und sich, wie man das nennt, in interessanten Umständen befindet. Natürlich werde ich mich von dem Tier schleunigst befreien — habe ein Inserat in die heutige Abendzeitung gesetzt. Inzwischen nimmt sich Andy, der zu allem zu gebrauchen ist, mein Schutzengel, der Sache an.«

Wir hatten außer in den Abendzeitungen auch in den Morgenblättern inseriert, und ich bedauerte eigentlich Andy, weil er allein immerfort telefonische Anfragen beantworten und mit den Käufern reden mußte. Er sagte jedoch, das mache ihm nichts aus und ich hätte ja genug andere Sorgen. Ich beschloß, meine Möbel und etliche verpackte Sachen einstweilen in einem Speicher einzulagern und erst Peters neues Haus und die Umgebung in Augenschein zu nehmen. Ich hatte ihn in dem Brief gebeten, noch zu bleiben, wo er war. Wenn ich das Gelände inspiziert und entsprechende Maßnahmen getroffen haben würde, wollte ich zu ihm kommen und berichten. Vorerst unterbreitete ich meinem Hauswirt und der Zeitung die Kündigung.

Der Chefredakteur gab seinem Bedauern Ausdruck, was, glaube ich, ehrlich gemeint war. Meinerseits war es das jedenfalls. Meine Freundinnen fanden den Plan spaßig, waren aber entsetzt bei dem Gedanken, daß ich eine Landpomeranze werden wollte, und wetteten, ich würde in drei Monaten wieder zurück sein. Abschiedsfeste gab es mehr als genug, und auch sonst waren die vierzehn Tage für mich reichlich ausgefüllt.

Als sie um waren, hielt Venedig noch immer Andys Wohnzimmer besetzt, und Mr. Dunn ließ dann und wann bezeichnende Andeutungen fallen. Interessenten hatten sich en masse gemeldet, ohne daß bislang Positives erreicht worden wäre. Und daran war allein Andy schuld, weil er den Hund nur einem schlechthin idealen Käufer geben wollte. Ich wünschte, er möge es nicht ganz so genau nehmen, denn ich gab gewaltige Gelder für gutes Rindfleisch aus und empfand nach und nach selbst eine närrische Zuneigung zu dem vierbeinigen Geschöpf. Und gerade das wollte ich vermeiden. Dann erhielt ich wieder einen Brief von Peter.

»Wunderbar, daß Du mitkommen willst, aber ist das auch Dein Ernst? Wie kommt es, daß die Großstadt und alles, was Du sonst so liebtest, Dir plötzlich langweilig wird? Und was sollen Deine liebeskranken, jungen Briefschreiber ohne >Tante Maudie< anfangen? Du weißt selbst, daß Du für ein Leben in der Stille nicht geschaffen bist, und ich will nicht, daß Du Dich für mich aufopferst, auch wenn es entscheidend wichtig sein könnte, daß Du bei mir bist. Aber laß Dir ein für allemal sagen: Ich komme auch allein zurecht. Ich werde täglich kräftiger.

Immerhin wäre ich Dir mächtig dankbar, wenn Du Dir erst mal an meiner Stelle das Grundstück ansähest. Thorny, der ja ziemlich pingelig ist, will mich gerade jetzt noch nicht aus dem Bett lassen. So ein Blödsinn! In dem Haus wird sicher alles in bester Ordnung sein, da, wie Mrs. Cato mir sagte, ihr Neffe darauf auf paßte und sie es oft im Sommer ihren Bekannten zur Verfügung gestellt hatte. Also muß es auch möbliert sein. Jedenfalls genug für den Anfang,

Über die Abschiedsgabe Deines Freundes Luigi habe ich laut gelacht. Der hat Dir wahrhaftig eine >Quittung< erteilt! Ein Jammer, daß Du das Tier verkaufen mußt. Ich hatte eigentlich immer eine heimliche Vorliebe für die Dänischen Doggen — diese vorsintflutlich großen Hunde, die im allgemeinen gutmütig sind. In der Großstadt kann man sie ja unmöglich halten, aber ins weite, freie Land passen sie gut. Meinst du nicht, daß wir sie behalten könnten? Ich bin ja ein guter Schütze, und da drüben werden bestimmt zahllose Karnickel ‘rumhüpfen. Ich vermute aber, Du hast das Tier inzwischen schon verkauft.«

Das hatte ich jedoch nicht und begann mich über Andy zu ärgern. Es schien, als sei ihm jeder zuwider, der sich das Tier ansah. Jene Frau habe ein ganz niederträchtiges Gesicht gehabt, und Venedig hatte sie auch prompt angeknurrt, erklärte er zum Beispiel. Und die Berufszüchter legten es doch nur darauf an, die Hündin auszunutzen und mit ihren kommenden Welpen Profit zu machen — und ob ich mir etwa eine so großartige Hündin in einem winzigen Hinterhof vorstellen könne? Andy schien von Tag zu Tag in größere Höhen zu entschweben, und ich gab schon beinah die Hoffnung auf, daß wir einen Käufer finden würden, der ihn zufriedenstellte — da traf Peters Brief ein.

Ein Hund wäre für ihn gerade das Rechte, interessant als Gesellschaft und als Begleiter. Ich mußte mir selbstverständlich in Thurston eine Stellung suchen, dann konnte Venedig ständig bei Peter bleiben. Sie konnten zusammen kleine Spaziergänge machen, und er hatte außerdem abends noch eine Beschäftigung, wenn er dem Tier Rindfleisch meterweise zuteilte. Auf einmal schien es mir, als habe die Vorsehung Andy so penibel gemacht. Ich eilte zu seinem Häuschen.

»Was meinen Sie, Andy — wäre es verrückt, Venedig zu behalten und sie in das Haus an der See mitzunehmen?«

»Verrückt? Wäre das beste, was Sie im Leben getan haben! Genau der rechte Ort für das Tier und prima für Ihren Bruder, besonders, wenn er ein bißchen kränkelt. Futter? Auf diesen Farmen gibt’s ja immerfort Karnickel und Ziegen, und der benachbarte Farmer muß ja sowieso seine alten Schafe für die eigenen Hunde schlachten — da wird er gewiß für Venedig etwas abgeben.«

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß er in dem Punkt recht optimistisch dachte. Viel wußte ich ja nicht von Farmern, konnte mir aber kaum einen denken, der aus purer Liebenswürdigkeit jede Woche für Venedig und ihre Nachkommenschaft ein Schaf extra schlachtete. Trotzdem, es würde sich schon finden, und wenn Peter den Hund wirklich haben wollte, sollte er ihn selbstverständlich bekommen.

»Wird ihn aufmuntern«, versicherte mir Andy, »und die Jungen werden ihm Freude machen. Es geht nichts über junge Hunde, wenn einer Spaß haben will. Jawohl, ich behalte Venedig bei mir, bis Sie reisefertig sind. Dunn? Mir egal, ob’s dem paßt oder nicht. Telegrafieren Sie mir einfach, sobald Sie sich dort einlogiert haben, dann — schwups! — setze ich Venedig in den Zug nach Thurston. Aber warten Sie damit nicht zu lange, sonst paßt sie schließlich in kein Hundecoupe mehr hinein.«

Der Gedanke daran brachte mich in Schwung. Als die zwei Wochen herum waren, hatte ich gepackt und war fertig, nachdem ich viele Abende noch spät an der Arbeit oder unterwegs gewesen war. Dann startete ich in dem Auto, das Mutter mir hinterlassen hatte, um Peters geerbtes Haus zu besichtigen. Ich wußte nichts weiter, als daß es etwa fünfzehn Kilometer von Thurston entfernt auf der dort auslaufenden Halbinsel lag und auf der einen Seite die offene See, auf der anderen den Hafen hatte. Peter schrieb, zum Grundstück gehöre ein eigener schöner Strand und Nachbarn gäbe es keine bis auf den Neffen, der die Ländereien seines Vaters bewirtschaftet. Das klang ziemlich schauerlich, und mir wurde sogar an diesem sonnigen Augustmorgen das Herz schwer.

Das war doch unnatürlich? Froh und sorgenfrei hätte ich mich fühlen sollen. Hinter mir lag die Enge der großen Stadt, die Menschenmassen und ein anstrengender Beruf. Vor mir ein neues Leben, zusammen mit Peter. Ja, heiter wie ein Singvogel hätte mein Herz sein müssen. Aber das war es nicht. Weil meine Liebe doch den Menschenmengen, dem Stadtbezirk und meinem Beruf gehörte. Es war mir schmerzlich, meine Wohnung und alle meine Freunde und Bekannten zu verlassen. Ein klägliches Gefühl.

Gewiß, schuld daran mochte die sehr fidele Party vom Vorabend sein, doch das glaube ich nicht. Ich glaube, schuld war der letzte Anblick Andys, als er, zu der frühen Stunde, aus seiner Haustür trat, um mir zum Abschied zuzuwinken. Er stand mitten in den Ruinen seines ehedem so adretten Gartens, und neben ihm ragte Venedig empor. Unglaublich groß wirkte der Hund, und ich vertraute nicht recht auf zahlreich vorhandene Karnickel.