11

 

Langsam kroch der Januar heran, und noch war das Wetter schön, bei unentwegter Hitze. Die Campgäste freuten sich und wir mit ihnen, denn Komplikationen, verursacht durch nasse Zelte, undichte Wohnwagen und mißmutige Menschen, wären eine harte Probe geworden. Doch es ließ sich nicht bestreiten, daß dieses Leben strapaziös war und daß wir uns recht erschöpft fühlten. Für mich war diese neue Erfahrung, kein Privatleben zu haben, unaufhörlich auf Trab zu sein und gewissermaßen verpflichtet zu sein, jedes kleine Ärgernis aus dem Wege zu räumen — ob es nun an Hundefutter fehlte oder ob jemand den Sonnenbrand hatte — , sehr quälend. Gewiß, ich hatte auch früher unter vielen Menschen gelebt und gearbeitet, war aber dann in meine eigene Wohnung heimgekehrt, von der ich, wenn ich wollte, die Welt ausschließen konnte. Trina schien alles hauptsächlich von der lustigen Seite zu nehmen, und ihr Frohsinn und ihre Geduld waren unerschöpflich.

Bis Mitte Januar waren die meisten Campgäste der >ersten Partie< abgereist, und neue Gruppen waren eingezogen. Wir alle, besonders Peter und Bruce, waren froh, als die Brooks sich verabschiedeten. In der dritten Kabine wohnte jetzt eine neue Familie. Mit den acht Jahre alten Zwillingstöchtern schloß Mr. Boyd eine vielversprechende Freundschaft. Colonel Ross versorgte unseren Haushalt reichlich mit Fisch und schien, da man ihn wieder in Ruhe ließ, vollkommen glücklich zu sein.

Die uns angenehmen Platzschnorrer blieben noch, und gelegentliche Besuche John Muirs im Camp waren nicht mehr ungewöhnlich. Offenbar hatte er erkannt, daß bei uns nichts wirklich Übles geschah. Bis jetzt war es mir gelungen, der Einladung zusammen mit den Beales in sein Haus nicht nachzukommen. Ich konnte stets dringende Arbeiten vorschützen und hatte auch tatsächlich nur selten einen freien Abend. Wie ich Mrs. Warren erklärte, war das die einzige Zeit, die mir zum Briefschreiben, Nähen oder Plätten blieb.

»Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, liebes Kind, aber versuchen Sie es doch mal möglich zu machen. Ich weiß, daß John sich freuen würde.« Und damit ging sie, kopfnickend und mit bedeutungsvoll strahlendem Lächeln. Mir aber imponierte ihre Darstellung von John Muirs Wünschen nicht sonderlich. Ich hegte keine Illusionen darüber, wie er mich beurteilte.

Jetzt konnte ich mir gestatten, dem Februar und damit dem Ende des stärksten Andrangs mit Freude entgegenzusehen. Auch im Februar durften wir noch guten Verdienst erwarten, doch das Leben wurde dann leichter. Noch vor drei Monaten hätte ich über die Vorstellung, ich könne auch nur zeitweise der Menschen überdrüssig werden, gelacht. Menschen im allgemeinen waren für mich das Interessanteste gewesen, und ich liebte sie sozusagen insgesamt, aber in einem Camp reiben sie einen auf, vor allem, wenn man es für seine Pflicht hält, ihnen die Ferien so angenehm wie möglich zu machen. In Wahrheit nahm ich meine Pflichten viel zu ernst. Ich glaubte, wie Peter sagte, auch noch das gewünschte Wetter beschaffen zu müssen.

An einem besonders heißen und anstrengenden Nachmittag saß ich einmal untätig und das Nichtstun sehr genießend auf der Veranda. Die anderen waren alle fischen gegangen. Ich hatte behauptet, daß ich noch viel Wäsche plätten müsse, die jetzt in entsetzlich großen Haufen auf dem Küchentisch lag, weil ich in einem Liegestuhl döste. Da erschien plötzlich ein kleiner Junge, den ich im Dorf schon gesehen hatte, neben mir.

»Bitte, Miss, es ist ‘raus«, sagte er.

Rasch richtete ich mich auf. Eins der Lieblingstiere natürlich! Wahrscheinlich der große Wolfshund, auf bestem Wege, John Muirs Schafe zu hetzen. Und der Junge setzte hinzu: »Ein Knüller ist es, und Mrs. Hennessy meint, ob Sie nicht kommen möchten und sich’s ansehen.«

Ich lehnte mich wieder an, ungeheuer erleichtert, doch nicht für lange. Denn ich hatte versprochen, zur Besichtigung des elenden Kaktusses zu kommen. Stöhnend erhob ich mich aus dem Stuhl, stieg ins Auto und sagte dem Knirps, daß ich ihn bis ins Dorf mitnehmen wolle. Er sprudelte förmlich vor Begeisterung über den Kaktus. Mehr als erstaunlich, wie die Dinger den Leuten zu Kopf stiegen...

»Er ist einfach bullig! Warten Sie nur, bis Sie den sehen. Groß wie ‘ne verflixte Untertasse.«

Mir war’s egal, ob er so groß war wie ‘n verflixter Eßteller. Ich bedauerte bloß, daß Peter, unser Kakteenliebhaber, zum Vergnügen fortgefahren war.

Aber das Kind hatte recht. Die Blüte war wirklich schön, größer als Magnolienblüten und noch herrlicher in Form und Farbe. Melly strahlte vor Freude. Die Blüte verlieh der häßlichen dürren Pflanze eine eigene Schönheit, so daß ich vage etwas von der Passion der Kakteenfreunde begriff.

»Und nun kommen Sie auf ein Täßchen Tee herein«, sagte Melly gastfreundlich, und als sie den großen Kuchen anschnitt, wurde mir ganz klar, daß hier ein wichtiges Ereignis eingetreten war.

Plötzlich unterbrach ein fürchterlicher Radau unser behagliches Geplauder, und durchs Fenster herein plärrte die blecherne Stimme eines uralten Grammophons, das eine Melodie spielte, die ich seit vielen Jahren nicht mehr gehört hatte. »Melisande im Walde« — Alfs schönste Methode, um Melly zu ärgern. Das hatte Trina uns ja berichtet.

Ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut, so daß es noch mehr als sonst einem Kaktus ähnelte, und zwar einem von der nicht blühenden Sorte. Mit einem Knall schloß sie das Fenster, während ich meine Belustigung zu verbergen suchte und fortfuhr, ihr so lebendig wie möglich von Vorfällen im Camp zu erzählen.

Mit dem ungewöhnlich guten Gehör, das ich habe, vernahm ich Geräusche auf der Veranda, die sogar das brüllende Grammophon nicht ganz zu übertönen vermochte. Leider bemerkte Melly meinen raschen Blick zum Fenster und sagte prompt: »Ich weiß schon, Sie möchten sich die Blüte anschauen, nicht wahr?«

Das wollte ich durchaus nicht, sondern hatte, von unerklärlicher Unruhe gedrängt, den Wunsch, Melly im Gespräch im Zimmer festzuhalten. Doch das nützte nichts, denn sie schoß förmlich wieder vom Stuhl hoch und draußen war sie, ganz wild darauf, von neuem über ihre herrliche Blüte zu frohlocken. Schnell folgte ich ihr, überzeugt, daß da etwas faul war, und kam gerade noch zur Zeit, um ein bauschiges Hosenbein in Alfs Laden verschwinden zu sehen und den lähmend schrillen Wutschrei Mellys, den sie ausstieß, als sie hinüberflitzte, zu hören.

»Er hat sie weggenommen! Er hat sie! Hat meinen Kaktus abgeschnitten!« schrie sie gellend und stürmte unbedacht in den Vorbau von Alfs Laden, wobei sie über die Matte stolperte und der Länge lang hinfiel.

Ich lief hin, um ihr zu helfen. Im selben Moment lugte ein entsetztes Gesicht vorsichtig um Alfs Türpfosten. Als ich über die Schulter blickte, war die herrliche Blüte fort. Der schwungvolle Schnitt eines Messers hatte sie glatt abgetrennt, so daß die magere Pflanze wieder so häßlich war wie früher. Nur drei oder vier dicht zusammensitzende Knospen waren geblieben.

Ich war empört. Natürlich hatte das Alf getan, hatte wie ein Schuljunge durch seinen Streich Melly die harmlose Freude verdorben. Nun war er auf einmal zur Stelle, besaß tatsächlich den Nerv, sich über Melly zu beugen, anscheinend besorgt und mit einer Miene, die von Scham und Reue sprach.

»Na, na, Melly, altes Mädchen, hoch mit dir. Du bist doch nicht verletzt?« sagte er und wollte sie vom Boden heben, doch sie schlug blindlings um sich und beschimpfte ihn erbittert in spitzen Tönen.

»Geh weg! Hinaus hier, du erzbrutaler Kerl!«

Ich war ganz ihrer Meinung und sagte scharf: »Lassen Sie sie in Ruhe, Alf. Sie sollten sich schämen! Es ist Ihre Schuld, daß Melly verletzt ist. Überlassen Sie sie gefälligst mir. Hier, Melly, halten Sie sich an meinem Arm fest. Ist nur eine kleine Zerrung, nicht wahr?«

»Und wenn es das ist, liegt’s nicht an ihm, diesem Barbaren! Hätte mich für immer zum Krüppel machen können, und warum? Weil er ein Dieb ist, ein richtiger Schleicher, ein Taschendieb! Kommt ‘rüber und raubt meinen Kaktus! Eifersüchtig ist er, weiter gar nichts. Hat ihm Spaß gemacht, die Blüte zu ruinieren, wie die andern auch schon!« Sie kam in Fahrt und legte mir den Charakter ihres Mannes so genau auseinander, daß es mir peinlich wurde.

Alf war zum Schweigen gebracht. Mit der Bemerkung, sie hätte sich ja wenigstens nicht die Zunge verletzt — leider, leider — , zog er sich zurück, nicht ohne noch schnell die im Eingang seines Ladens liegende gestohlene Blüte zu bergen. Ich versuchte, Melly zu trösten, während ich sie in ihr Haus brachte.

»Machen Sie sich nichts daraus, die Knospen sind ja noch alle da, Melly. Bald gibt es wieder neue schöne Blüten. In ein paar Tagen schon. Ja, es ist abscheulich von ihm, aber ich denke mir, er wollte ihnen nur einen komischen Streich spielen. Furchtbar albern so etwas, natürlich.«

Ein wenig tröstete sie das, und es gelang mir bald, sie soweit zu bringen, daß sie nicht mehr über ihre verwüstete Pflanze barmte und mir erlaubte, Wasser für Tee aufzusetzen und um ihren verletzten Knöchel eine Kompresse zu legen. Ich bemerkte, daß sie wirklich Schmerzen hatte, doch etwas Ernstes schien es nicht zu sein. Tief verletzt aber waren ihre heiligsten Gefühle.

Der Sturz hatte sie immerhin so erschüttert, daß sie mir für meine Hilfe lächerlich dankbar war.

»Gütig, ja, das sind Sie wirklich, daß Sie sich um eine dumme alte Frau so bemühen«, sagte sie. »Und Alf haben Sie ja tüchtig Bescheid gesagt. Ordentlich ‘runtergeputzt haben Sie den. Tut mir gut, daß mir wenigstens einmal jemand so beigestanden hat.« Und dann begann sie, zu meiner Pein, leise und ganz mutlos zu weinen.

Ich wußte nichts Passendes zu sagen und wunderte mich nur, daß diese robuste, äußerst energische kleine Frau plötzlich so die Nerven verlieren konnte. Ich vermochte nichts anderes zu tun, als weiter über die Blüte zu reden — wie schön sie gewesen sei und daß bald wieder ebenso schöne an dem langen stachligen Stengel aufgehen würden. Und ein bißchen lachend fügte ich hinzu: »Ich wette, daß Alf nicht so töricht ist, noch mehr solche Streiche zu machen. Er hat seine Lektion bekommen. Und als Sie hinfielen, hat er sich doch sehr erschrocken.«

»Der? Der würde sich keinen Pfifferling darum scheren, wenn ich mir den Hals bräche«, gab Melly zurück, und wieder kamen ihr die Tränen. »Ach, ich bin ein Dussel, Miss Napier, aber es nützt alles nichts. Gar nichts nützt es. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, aber es ist eben für zwei einfach kein Platz, und er fing zuerst an und hat ja auch mehr Geld als ich.«

Für zwei kein Platz? Damit mußte sie den Laden meinen, und das überraschte mich, denn sie schien doch in ihrem Recht gut abzuschneiden. Oder wahrte sie nur den Schein und ging mit ihrer trotzigen Geste schließlich in Konkurs? Sie sprach weiter: »Oh, ich habe immer so getan, als ob sich das Geschäft hier prima macht. Das muß man schon in dieser Branche. Aber jetzt habe ich alles satt und es ist schön, daß ich’s mir von der Seele reden kann, und Sie sind stets nett zu mir gewesen, Miss Napier, und Ihr Bruder auch. Haben immer gerecht in beiden Läden gekauft und keinen von uns bevorzugt. Aber jetzt habe ich nicht mehr viel Ware liegen und die Großhändler nehmen mich in die Zange. Ich habe vor den Kunden markiert, daß die Sendungen mit der Bahn zu lange unterwegs seien, aber das ist nicht wahr. Die Großhändler wollen mir nichts mehr schicken, wenn ich nicht bar bezahle, und das Geld habe ich eben nicht.«

»Wie mir das leid tut«, sagte ich, nicht ganz angemessen, denn ich mußte daran denken, wie lebhaft sie oft auf den Bahnbetrieb geschimpft hatte. Aber ich bewunderte, wie sie sich so lange durchgekämpft hatte, um das Gesicht zu wahren. Vor einem halben Jahr hätte ich dabei vielleicht nicht soviel Mitleid gehabt, aber jetzt wußte ich recht gut, was Geldnot bedeutet...

»Bin gewiß allein schuld daran«, fuhr Melly fort, mehr im Selbstgespräch. »Boshaft bin ich gewesen, ja — daß ich zurückkam und genau gegenüber einen Laden aufmachte. Ich dachte nur: dich werde ich lehren, mich zu beschimpfen und meine Kaktusse auf die Straße zu schmeißen.«

»Die Kakteen?« Also hatte Peter recht gehabt, daß diese kauzigen Gewächse die Ursache des ganzen Unheils waren. Es bereitete mir große Genugtuung, eher auf die Lösung zu kommen als er. Jetzt ging’s an die Wahrheit über die Fehde, die lange Zeit unsere Neugier so gereizt hatte.

»Jawohl, mit den Kaktussen hat’s angefangen...«, betonte Melly, und ich gab rasch ein paar ermunternde Laute von mir. Sie sah sich ertappt und hatte ein geradezu schmerzhaftes Verlangen, jemandem zu beichten. Und es war leichter für sie, sich einem Fremden anzuvertrauen als Leuten, die es mit verfolgt hatten, wie dieser Ehekrieg sich zuspitzte. »Alf mochte sie nie leiden. Na, und wenn? Ich mochte diese frechen Weibsbilder nicht leiden, die er sich an die Wände hängte. Ein Paket nach dem andern von dem Zeugs brachte er an, bloß um sich von diesen Bildern, den bemalten Gesichtern mit falschen Wimpern, wollüstig angrienen zu lassen. >Das ist direkt unanständig von einem Mann in deinem Alter<, habe ich zu ihm gesagt, und da antwortete er immer bloß: >Jedenfalls sind sie billig. Kosten nicht so viel wie deine Pflanzen und sind hübscher.< — Vielen Dank, liebe Miss Napier, der Tee beruhigt so schön. Jetzt habe ich gar keine Schmerzen mehr.«

Da ich befürchtete, sie werde nicht weiterreden, sagte ich schnell: »Aber natürlich hat Alf doch diese Bilder kostenlos bekommen, nicht wahr?«

»Das mögen Sie wohl denken — kostenlos!« entgegnete sie erbittert. »Sein Laden war ja knallvoll von Frühstücksnährmitteln, die den Kunden schon zum Halse heraushingen, sozusagen. >Haben Sie nicht zur Abwechslung mal was anderes?< fragten sie oft, aber nein — er kaufte immer weiter dieselbe Ware, bloß wegen der Bilder.«

»Nun ja, das war vielleicht ein Fehler.«

»Fehler? Reiner Wahnsinn war das! Und unanständig. Und als ich’s ihm sagte, wurde er böse, und es gab einen höllischen Streit — wenn Sie den Ausdruck entschuldigen wollen. Und mitten in der Zankerei tritt er plötzlich zurück und fällt auf den Allerwertesten — und da war erst richtig der Teufel los.«

»Wieso? Hatte er sich verletzt?«

Jetzt gestattete sich Melly, die ihre gute Laune wiederfand, in der Erinnerung zu kichern. »Na, was denken Sie — ausgerechnet auf einen meiner Kaktusse muß er sich setzen! Zerbrach dabei den Topf und alles, jawohl, und was das Schlimmste ist — es war dieser niedrige, buschige Kaktus, der >Schwiegermutters Platz< heißt. Und er springt hoch und schreit: >Au, ich bin ganz voller Stacheln!< Da mußte ich wirklich lachen, mußte ich, und Alf ging der Hut hoch, sozusagen. Er schmiß den Kaktus auf die Straße und ein paar andere noch hinterher.«

Nun mußte ich auch lachen, und Melly fuhr fort: »Das war das Ende. Als er mit dem Rausziehen der Stacheln fertig war und ich die Scherben und Reste meiner Blumentöpfe aufgehoben hatte, sagte ich, ganz kalt und würdevoll: >Hiermit scheiden sich unsere Wege. Morgen packe ich meine Sachen und wäre dir verbunden für Auszahlung des Geldes, das ich in diesen — diesen Müllhaufen gesteckt habe, wo es nur Päckchen mit Frühstückskram gibt.< Und ich hielt mein Wort und er hielt das seine, sozusagen, und überreichte mir am nächsten Tage einen Scheck, was soviel heißen sollte wie >scher dich zur Hölle< — und das hätte ich von Alf nie gedacht, Miss Napier — nach zwanzigjähriger Ehe! Was konnte ich da anders tun als weggehen?«

»Tja, Sie hatten ihn aber doch um Ihr Geld gebeten, nicht wahr? Da hat er gedacht, er müßte es hergeben, wohl oder übel.«

»Und woher er es hatte, ist mir schleierhaft. Fuhr am nächsten Morgen zur Bank und kam glatt mit dem Scheck zurück, und mit einem Topf Salbe für seinen Hintern. Es war ein Schlag ins Gesicht, doch mir blieb ja nichts übrig, als es anzunehmen und zu gehen.«

»Aber Sie kamen doch wieder?«

»Ja, und das war falsch. Je mehr ich daran dachte, daß er mich beim Wort genommen und bezahlt hatte, um mich nach zwanzig Jahren loszuwerden, um so wütender wurde ich und sagte mir: >Warte, du sollst nicht bloß deinen eigenen Kopf durchsetzen! Ich werde aus Opposition einen Laden aufmachen, jawohl, und dann paß mal auf!<« Sie unterbrach sich, um dann ruhig zu sagen: »Sicher hatte ich dabei auch den Gedanken, daß Alf es wieder gutmachen wollte, wenn ich nur da wäre — aber das hat er nicht getan. Hat mit diesen Weibern an den Wänden weitergemacht und dann diese Platte von Melisande im Walde aufgelegt, weil er weiß, daß ich meinen Vornamen hasse...« Sie legte eine traurige Pause ein und schloß dann achselzuckend: »Und jetzt werde ich wieder fortgehen müssen, aber diesmal endgültig.«

»Oh, Melly, das will ich doch nicht hoffen!« rief ich und setzte, ganz kühn geworden, hinzu: »Natürlich war es sehr töricht von Alf, Ihnen diesen Streich zu spielen, aber ich bin überzeugt, daß es ihm sehr naheging, als Sie hinfielen. Ich spüre doch deutlich« — hier zögerte ich erst und sprach dann gewissermaßen >inspiriert<, wie es >Tante Maudie< stets getan hatte, wenn’s um Probleme fremder Leute ging — , »ich spüre, daß Alf Sie noch lieb hat. Er würde Sie nämlich mit den Pflanzen und dem Grammophon gar nicht mehr ärgern, wenn Sie ihm gleichgültig wären. Könnten Sie nicht — ich meine: könnten nicht Sie vielleicht zuerst verzeihen?«

Melly setzte sich kerzengerade hin und wollte gern ganz unversöhnlich aussehen. »Beleidigt bin ich worden, beleidigt! Meine Pflanzen hinauszuwerfen, mich zu bezahlen wie einen entlassenen Dienstboten und dann noch zu grinsen und diese Platte aufzulegen! Und jetzt meine Blüte zu stehlen... Nein, Melly Hennessy denkt gar nicht daran, zurückzukriechen, bloß weil sie pleite gemacht hat! Ich werde still und diskret verschwinden.«

»Aber nichts übereilen, liebe Melly. Vielleicht lassen die Großhändler ja mit sich reden. Wir jedenfalls werden Ihnen eine Menge Konserven abkaufen, und zwar zum regulären Preis. Rabatt nehmen wir nicht mehr an. Also zeigen Sie mir gleich mal, was Sie an Vorräten haben.«

Es war jämmerlich wenig. Alle Sachen waren auf den Regalen ganz nach vorn gerückt, um die Leere dahinter zu verdecken. Nachdem ich dann so viel gekauft hatte, wie ich mir leisten konnte, ließen sich die leeren Plätze kaum wieder ausfüllen. Melly jedoch hatte sich inzwischen gefaßt und war wieder >die Alte<, die sich nicht kleinkriegen ließ.

»Niemals werde ich mir anmerken lassen, daß ich pleite bin, Miss Napier. Ist auch nicht nötig. Mrs. Morris würde ich’s schließlich erzählen — die ist nett, diese Dame. Ihn allerdings kann ich nicht ausstehen. Also wollen wir’s unter uns behalten, ja?«

»Ich werde es bestimmt weder den Morris’ noch Peter oder Trina erzählen«, wich ich aus, denn im Geist plante ich schon, wie ich eingreifen würde. »Aber vielleicht kommt’s ja gar nicht so weit, also wollen wir nicht deprimiert sein. Vergessen Sie nur nicht, mir Bescheid zu geben, wenn die nächste Blüte aufgeht, damit ich sie genau betrachten kann. Lange dauert es sicher nicht, bis sie kommt.«

Das machte sie froher. Sie begleitete mich humpelnd bis zur Tür. Gegenüber regte sich nichts, auch das greuliche Grammophon schwieg. Ich dachte mir: Alf hat Gewissensbisse und hat dazu auch allen Anlaß.

Im Grunde überraschte es mich nicht sehr, daß ich seine lange hagere Gestalt hinter der ersten Kurve stehen sah, wo er auf mich wartete. Ich machte bei ihm halt und sagte in strengem Ton: »Na, ich hoffe, Sie schämen sich.«

Er lächelte und fragte dann, wirklich besorgt: »Wie geht es ihr? Ist doch bestimmt nicht verletzt, wie? Rannte doch bloß aus Wut hinter mir her, nicht wahr?«

Seine Worte klangen beinah flehend, und deshalb wurde >Tante Maudie< jetzt energisch. Hochmütig sagte ich: »Keine Spur von Verletzungen, bloß eine kleine Zerrung. Hätte sich allerdings das Bein brechen können. Doch steigen Sie jetzt ein, Alf, ich wünsche mit Ihnen zu reden — aber erst wollen wir uns ein Stück weit entfernen.«

Als wir das Dorf ziemlich weit hinter uns hatten und uns auf dem Hügel befanden, von dem aus wir auf unser Camp blicken konnten, sagte ich streng: »Wie konnten Sie das überhaupt tun, Alf? Eine solche Grausamkeit paßt doch gar nicht zu Ihnen. Melly liebte diese Blüte. Und zur Zeit hat sie außer ihren Kakteen nicht viel, woran sie sich freuen könnte.«

Nach einer Pause sagte er barsch: »Ein Scherz is’n Scherz, aber Melly tobte ja immer vor Wut wegen der verflixten Pflanzen. Dies stachlige Zeugs! Und Freuden — die hat sie ebenso wie die meisten Leute, jedenfalls ebenso viele wie ich.«

»Sie ist sehr einsam und macht sich schrecklichen Kummer.«

»Ist nicht der einzige einsame Mensch, und sie wollte es ja so, oder etwa nicht?«

»Zurückkommen wollte sie damals natürlich, aber daß sie die Absicht hatte, dann tatsächlich wieder wegzugehen, glaube ich nicht. Nicht im Ernst, doch als Sie ihr dann das Geld aushändigten, blieb ihr ja keine andere Möglichkeit, klar? Sie sagte sich: Wenn er nicht wollte, daß ich ihn verlasse, hätte er mir das Geld nicht gegeben.«

»Ist ja alles Quatsch: Ein Mann will seine Frau behalten, auch wenn sie sich wegen einer verdammten Pflanze aufführt wie in ‘ner Klapsmühle. Als sie aber ihr Geld verlangte, da mußte ich ihr doch zeigen, daß ich zahlungsfähig war, verstehen Sie. Schwierig war es, die Summe zu beschaffen. Zahle jetzt noch an dem Minus auf meinem Konto ab. War’n harter Schlag für mich.«

»Für Melly ein noch härterer.«

Er wandte sich mir zu und blickte mich erstaunt an. »Für sie? Die kann sich doch kaum beklagen! Stiehlt mir die Kunden, unterbietet meine Preise und zeigt mir, daß sie mich nicht braucht und ein besserer Verkäufer ist als ich.«

Ich war unschlüssig. Schließlich hatte ich ja Melly versprochen, Alf nichts von ihren Kalamitäten zu erzählen. Immerhin sagte ich: »Melly geht’s schlecht, Alf.«

»Schlecht? Ist doch nicht krank, was? War doch immer kerngesund. Hurtig wie ein Heimchen, die Melly.«

»Krank ist sie nicht, abgesehen von dem Schmerz am Knöchel, an dem Sie schuld sind. Aber sie kann den Laden nicht weiterführen, ist so gut wie blank. Will verkaufen, was sie noch auf Lager hat, und dann still fortgehen. Ich mußte ihr versprechen, es keinem zu erzählen, nicht mal meinem Bruder, aber wenn Sie überhaupt Melly noch mögen...«

Er war offensichtlich verblüfft. Lehnte sich ins Polster zurück und schwieg eine volle Minute. Dann erst sagte er: »Blank? Will fort? Diese verdammten Großhändler! Armes Altchen — und verschweigt das alles, während sie mich so frech über die Straße weg verhöhnt... Einen tollen Nerv hat sie ja immer gehabt. Und albern ist sie gewesen, ja, albern.«

Aber das konnte ich, die ich auf der Seite seines Weibes stand, nicht gelten lassen. »Nicht alberner als Sie mit Ihren vielen Bildern von feixenden Filmstars. Massen von Frühstückspackungen einzukaufen, bloß um sich solche Bilder hinhängen zu können und sie anzuglotzen! Und dann Mellys Worte wegen des Geldes ernst zu nehmen und sie auszuzahlen wie eine Bediente! Reden Sie mir bloß nicht von Albernheit bei Melly.«

Das steckte er kleinlaut ein. »Aber das mit den Bildern war doch bloß ein kleiner Scherz, nur um sie wild zu machen. Den Kunden gefielen die Bilder, sie lachten meistens und sagten, wir seien beide unverbesserlich, sie mit ihren Kakteen und ich mit meinen Filmstars. Darüber konnten die sich wer weiß wie amüsieren.«

»Ich wette, sie haben hinter Ihrem Rücken gelacht und waren sich darüber einig, daß Sie ein kindischer alter Mann sind, der sich in Filmschauspielerinnen vernarrt, wo er doch eine so nette und fleißige Frau wie Melly hat.« Und sanft ergänzte ich, weil ich glaubte, daß ich zu weit gegangen war: »Oh, Alf, es ist ja so traurig, Melly weinen zu sehen!«

»Weinen!? Melly weint nicht. Sogar an dem Tag, als sie wegging, hat sie nicht geweint.«

»Heute jedenfalls. Ihre Blume kaputt, der schmerzhafte Sturz, und die fast leeren Regale... Finden Sie nicht, daß es an der Zeit wäre, sich mit ihr zu vertragen und wieder gemeinsam zu arbeiten?« Und jetzt wurde sogar >Tante Maudie< weich. Ich hatte wohl verlernt, die Affären anderer Leute zu regeln?

Alf antwortete nicht direkt. Er sagte, mehr zu sich selbst: »Na ja, es gibt auch noch andere Fabrikate von Frühstückskost, und die Bilder sind, glaube ich, zum Teil schon etwas fleckig, bei dieser Fliegenplage. Und diese verflixte Platte, die ist erledigt — hat ‘n Sprung, genau in der Mitte.« Dann öffnete er die Wagentür und sagte: »Hat keinen Zweck, Sie hier noch mit langem Gerede aufzuhalten. Fahren Sie lieber jetzt in Ihr Camp, und ich werde nach Hause gehen. Morgen gibt’s vielleicht ein Feuerwerk.«

»Gut, aber bleiben Sie sitzen, ich fahre Sie hin, bloß nicht ganz, damit Melly den Wagen nicht hört. Und, Alf — die Geschichte bleibt unter uns, ja?«

»Darauf können Sie Gift nehmen«, gab er zurück.

Schweigend fuhren wir bis dicht vors Dorf, dann bremste ich, wünschte ihm viel Glück, und Alf hatte es eilig, fortzukommen. Er antwortete nur noch grimmig: »Danke, kann’s brauchen, so wie Melly gebaut ist.«

Ich nahm zu Hause gleich die Plättwäsche in Angriff. Als Peter und Trina hereinkamen, erwähnte ich bloß, ich hätte mir bei Melly die Kaktusblüte angesehen, und diese taktvolle Zurückhaltung beruhigte teilweise mein Gewissen, denn jetzt, nachdem die Selbstzufriedenheit über die geleistete gute Tat sich verflüchtigt hatte, schämte ich mich, weil ich Mellys Vertrauen in so empörender Weise mißbraucht hatte. Die >Tante Maudie< mußte unbedingt begraben werden, ein für allemal.

Zwei Tage später erfuhr ich dann zu meiner größten Erleichterung von Peter, als er von ein paar Besorgungen aus dem Dorf zurückkam, daß Mellys Laden geschlossen sei und an der Tür ein Zettel hinge mit dem Hinweis >Bitte sich an den Laden von M. & A. Hennessy, gegenüber, zu wenden<.

»Muß eine ausgiebige Versöhnung stattgefunden haben«, berichtete er mir. »Die beiden lächelten immerfort, sehr zufrieden mit sich und dem Ehepartner. Ich versuchte, sie auszuhorchen, was denn inzwischen geschehen sei, doch Melly lächelte nur geziert und verwies mich an dich. Schließlich sagte sie immerhin: >Ein Kaktus hat uns getrennt und ein anderer uns wieder zusammengebracht.< Ob du’s glaubst oder nicht: Kein einziges Filmstarbild war mehr an den Wänden. >Habe die Dinger satt<, sagte Alf. >Kann Bilder mit Flecken sowieso nicht leiden und Grammophonplatten mit Sprung auch nicht.< Nun ‘raus mit der Sprache, Helen — was ist mit denen vorgegangen?«

Ich erzählte es ihm jedoch nicht sofort. Letzten Endes sei doch sein Wirken entscheidend gewesen, nicht meins, erklärte ich. »Das ist schön von Alf und ich hoffe, daß Melly nachgibt und nicht soviel Menkenke um diese elenden Pflanzen macht. Ja, gewiß, die eine Blüte, die ich sah, war schön, doch davon abgesehen hat sich das bei Melly zur Manie gesteigert.«

»Paß auf, jetzt kommt erst der schönste Ulk an der Sache«, sagte Peter. »Alf folgte mir zum Auto und flüsterte: >Sagen Sie Ihrer Schwester, daß Melly mich gezwungen hat, ein Loch zu graben, in dem wir >Schwiegermutters Platz< endgültig beerdigt haben. Sie wollte die anderen Pflanzen auch hinauswerfen, aber da sagte ich: >Nein, nicht alle, nicht die, die neulich geblüht hat. Ihre Schwester wird schon wissen, warum, und wird’s Ihnen sagen. Und ihr sagen Sie von mir, daß sie und der Kaktus es geschafft hätten, und daß ich nicht wüßte, ob sie mehr Stacheln hat oder er.< Und dann lachte der alte Knabe laut und meinte, du seist ebenso ungestüm wie seine Melly — was ich bedingungslos bestätigen kann.«

Nun, offenbar hatte Alf mich von allen Versprechungen entbunden, die ich ihm oder ihr gegeben hatte; deshalb erzählte ich Trina und Peter den Hergang, aber nichts von Mellys Bankrott und ihren leeren Regalen. Als ich endete, sprang Trina vom Stuhl und umarmte mich.

»Liebste, wie tapfer und klug von dir!« rief sie. »Hätte nie gedacht, daß gerade du dich in die Angelegenheit anderer Leute einmischen würdest.«

»Also, da schlag’ einer lang hin!« rief Peter, nach Luft schnappend, »Helen ist doch die Weltmeisterin der geschwätzigen Weisheitsapostel!« Und dann erzählte er ihr, trotz meiner Proteste, alles von meiner schändlichen Karriere als >Tante Maudie<. Trina lachte ganz unbändig, als sie sich ausmalte, wie ich in einem Büro gesessen und mit der Schreibmaschine den Teenagers gute Ratschläge über den Umgang mit ihren Freunden und über das richtige Make-up gegeben hatte. »Goldkind«, sagte sie, »es ist ja kaum glaublich, daß du ein so dunkles Doppelleben geführt hast! Mir kamst du immer kühl, reserviert und leidenschaftslos vor.«

»Im innersten Herzen habe ich stets den innigen Wunsch, alle Menschen auf den rechten Pfad zu bringen«, gestand ich ein.

Sie seufzte. »Ach, willst du es nicht auch bei Angus und mir probieren? Da hast du großen Spielraum.« Lachend kam sie wieder auf Mellys Kaktus zurück, den sie sich bei der nächsten Blüte auch gern ansehen wollte.

Ich hatte jedoch nicht das Verlangen, in Trinas Leben einzugreifen. Die Geschichte war mir zu ernst. Sogar >Tante Maudie< wußte, wo ihre Grenzen lagen.