5
Schon am Morgen nach dieser Begegnung sah ich Peter in Begleitung einer kleinen weißhaarigen, rotwangigen alten Dame zum Hause kommen. Ich kannte Mrs. Warren, John Muirs Tante, vom Sehen. Zuerst reagierte ich ärgerlich, da sie zum >feindlichen Lager< gehörte und ich von denen nichts wissen wollte.
Sobald wir jedoch zusammenkamen, verschwand dieses Gefühl. Kein Mensch hätte ihrem lieben Lächeln und der herzlichen Wärme widerstehen können.
»Schon seit Tagen wollte ich mal zu Ihnen kommen«, sagte sie. »Aus reiner Neugier, verstehen Sie, und so habe ich schon durch die Plantage geluchst. Herrlich, junge Nachbarn zu haben! Und dann ist heute früh unser unartiger Samkin, unser Kater, auf Ihr Grundstück gewandert, und ich wurde ganz nervös, weil Sie den großen Hund haben. Aber er ist ja unglaublich sanftmütig. Er hätte Samkin so leicht packen können und hat ihn bloß ein bißchen am Kopf geleckt. Also sehen Sie, daß ich einen Grund hatte, zu kommen, und hier bin ich nun.«
»Dann treten Sie bitte ein und sehen Sie sich an, was wir aus dem Haus gemacht haben.«
Sie war hell begeistert. »Wie hätte sich die liebe Emily Cato darüber gefreut!«
»Sie war doch Ihre Schwester, nicht wahr?«
»Nein. Gar nicht verwandt mit mir, aber eine ganz liebe Freundin. Sie war die Schwester von Johns Vater, und ich gehöre zur Verwandtschaft mütterlicherseits. John ist, wie wir sagen, unser gemeinsamer Neffe. Ist natürlich bloß ein kleiner Scherz von uns.«
Ein Scherz, den ich zu schätzen wußte. Ich hätte den Mann allerdings deutlicher bezeichnen können. Mrs. Warren ahnte, glaube ich, meine Gefühle, denn sie fuhr, ihn gewissermaßen entschuldigend, fort: »John ist ein sehr netter Mensch, Miss Napier. Regt sich freilich leicht auf und hängt vielleicht allzusehr an seinem Land, aber sonst ist er so freundlich. Ich lebe nun schon zehn Jahre bei ihm, und immer ist er so gut und geduldig gewesen bei seinen Bemühungen, Bruce für die Landwirtschaft zu interessieren. Mein Sohn weiß nämlich im Grunde wirklich nicht recht, was er werden möchte — viele junge Leute sind heute so unschlüssig, nicht wahr? Aber von Ihnen höre ich, daß Sie ganz wundervolle Pläne haben! Einen Campingplatz und so weiter.«
Wir erklärten ihr alles und zeigten ihr unsere Skizze. »Und hier sehen Sie, Mrs. Warren, daß die Bäume den größten Teil der unschönen Bauten verdecken, also wird sich weder Ihren Augen noch denen der Gäste ein häßliches Bild bieten.«
»Eine ganz glänzende Idee, meine Liebe. Und was heißt häßliches Bild — solche Bauten sind doch notwendig, nicht wahr? Und ihr jungen Leute seid so vernünftig und offen in diesen Fragen. Als ich noch jung war, erröteten wir schon und fanden es schon peinlich, wenn ein Wort wie Toilette erwähnt wurde. Nun, das alles ist so interessant, und ich freue mich so, daß Samkin mir einen Vorwand geliefert hat, mal ‘reinzuschauen. Bruce hat schon gestern abend Genaues über Ihre Pläne erfahren, von der hübschen kleinen Mrs. Macleod. Er bewundert sie so. Sie wissen ja, wie gern die jungen Männer eine Witwe hofieren. Aber Sie hatten ja John schon alles erzählt, und er erwähnte es mir gegenüber.«
»Ja, ich habe gehört, daß er es >erwähnte<«, sagte ich trocken. Zwar wollte ich sie nicht in Verlegenheit bringen, hielt es aber für an der Zeit, sie merken zu lassen, daß wir von ihren >zwanglosen Gesprächen< mancherlei mithören konnten, besonders Johns Stimme, wenn er in Wut war.
Sie wurde rot, und dann lachte sie. »Um die Wahrheit zu sagen, meine Liebe — John hat gewisse Vorurteile gegen Campingfreunde. Manche Ausflügler haben ihm Ärger gemacht, zerbrochene Flaschen in seine Plantage geworfen und dergleichen. Und einmal hatte einer von Emilys jungen Bekannten ein Weidetor offengelassen — zwischen unseren Grundstücken war eins, das John später durch einen Drahtzaun ersetzt hat — , und da ist der Bulle zwischen ein paar alte Kühe geraten. John ärgerte sich darüber sehr, aber es war doch, wie ich zu ihm sagte, eigentlich viel schöner, wenn die armen alten Kühe noch mal ein Kälbchen bekämen, ehe sie ins Schlachthaus mußten. Ich finde immer, je älter eine Mutter ist, um so mehr weiß sie ein Kindchen zu schätzen. Denken Sie mal an die biblische Geschichte von Sarah, und ich war schon vierzig, als Bruce geboren wurde. Aber John sah die Sache trotzdem nicht so an und kann deswegen auch diese Zelterei nicht leiden. Sie wissen ja, wie Farmer sind.«
Ich antwortete, das wüßte ich nicht, würde es aber sicher noch feststellen. Da setzte sie mich durch ein helles, beinah krähendes Lachen in Erstaunen. »Ach, Sie müssen John nichts übelnehmen. Er wird schon anderen Sinnes werden. Und Ihre schöne Hündin! Sagen Sie mir doch, wann wird sie denn Junge haben?«
»In ungefähr zwei Wochen. Übrigens, Mrs. Warren, ist hier ein guter Tierarzt in der Nähe?«
»Aber ja doch, liebes Kind. In Thurston mehrere. John wird Ihnen Näheres sagen. Doch darüber würde ich nicht weiter besorgt sein. Tiere machen da ja wenig Umstände. Sind darin viel vernünftiger als die Menschen, nicht wahr? Im übrigen versteht sich John auf derlei sehr gut. Sie brauchen ihm nur Bescheid zu sagen.«
Ausgerechnet ich sollte John Muir zu dem Hund rufen, den er als >tapsiges Riesenluder< bezeichnet hatte, während er mich >Großstadtpflanze< titulierte! Das sagte ich jedoch nicht, und inzwischen war Mrs. Warren plaudernd mit mir bis zum Grenzzaun gekommen, über den sie verblüffend gewandt kletterte.
»Na?« forschte Peter, als ich ins Haus zurückkam. »Sie ist doch tatsächlich ganz das, was Trina so albern ein >süßes Dingchen< nannte, wie?«
»Wirklich, ja. Wenn der Sohn ebenso nett ist, können wir auf John den Jovialen verzichten. Peter, bist du auch nicht zu matt, um Maurer und Klempner aufzutreiben?«
»Bin in glänzender Form.« Das machte auf mich keinen Eindruck, weil er das stets behauptete.
Mit dem Zimmermann hatten wir Glück. Ich hatte endlose Schwierigkeiten und Verzögerungen befürchtet, doch infolge der Geldknappheit herrschte in Thurston eine Flaute im Baugewerbe. Wir sicherten uns einen erstklassigen Mann, der auch nicht die Nase rümpfte, weil wir so primitive Bauten haben wollten, und sich freute, daß Andy ihm half. So kamen sie, mit Peter als Handlanger, schnell voran.
Trina gehörte inzwischen zu unserer Familie, und wir duzten einander. Sie füllte eine Lücke aus. Stets war ich, in Arbeit und Spiel, mit jungen Mädchen zusammen gewesen, und in Edgesea konnte ich auf andere gleichgesinnte Gesellschaft nicht hoffen. Sie wiederum erklärte offen, wir hätten ihr das Leben gerettet. Peter ging mit ihr brüderlich robust und manchmal auch ritterlich um, und wenn sie nicht jeden Tag bei uns erschien, brummelte er.
»Mußt bedenken, daß sie Angestellte ist«, erinnerte ich ihn dann.
»Verlaß dich darauf, daß ihr das nicht den Kopf warm macht. Ein richtiges Karnickel, so quicklebendig. Muß ja diesen feierlich ernsten Morris verrückt machen.«
Daß das auf Gegenseitigkeit beruhte, wurde deutlich genug, denn eines Tages platzte Trina heraus: »Wenn ich von diesem Sturkopf und seiner Menschheitsverbrüderung nicht bald loskomme, bringe ich ihn noch um! Andauernd hält er mir Standpauken — er trieft geradezu vor Scheinheiligkeit — , und du hast es ja selber gesehen, Helen, wie abscheulich er beim Teetrinken seinen kleinen Finger krümmt.«
»Er ist ein ziemliches Ekel«, stimmte Peter bei. »Neulich war er im Laden und gab dort eine Bestellung auf. Man hätte glauben mögen, er sei der König persönlich — so hochfahrend war sein Ton. Brüderlicher Umgang mit Alf kam gar nicht in Frage. Alf ist übrigens ein ganz braver Mann. Er blinzelte mir zu, während Morris seinen feierlichen Akt spielte. Sein Humor läßt ihn nie im Stich.«
»Nur bei Melly. Mir unbegreiflich, weshalb die sich ewig bekriegen. Aber diesen ollen Morris, den kann ich jetzt nicht mehr riechen. Helen, darf ich mir hier ein Zelt auf schlagen, wenn die Schulferien kommen?«
»Selbstverständlich. Ist herrlich, dich hier zu haben, und du wirst eine mächtige Stütze für mich sein — und für Andy, falls die Tiere hier in Rudeln anrollen. Aber kein Zelt. Wir haben noch ein Schlafzimmer frei.«
»Tatsächlich? Welch eine Erleichterung! Ich habe nämlich keinen Schimmer, wieviel ein Zelt kostet, und mein Gehalt hat man mir anscheinend schon für eine ganze Weile vorausgezahlt. Ach, das Rechnen macht einen mürbe, falls man nicht eine Hypothek aufnehmen kann, und ich hab’ nichts, worauf ich eine nehmen könnte, außer auf das Fahrrad.«
»Fährst du denn in den großen Ferien gar nicht weg?« fragte Peter erstaunt.
»Ich glaube nicht«, sagte Trina leichthin. »Macht mehr Spaß, hierzubleiben, wenn die vielen Campgäste erst da sind.«
Peter musterte sie scharf. Ihr Ton kam ihm allzu gleichgültig vor.
»Aber kümmerst du dich denn gar nicht um deine Familie, du unnatürliches Mädchen?« Peter hatte ebensowenig Hemmungen wie Trina selbst.
Sie stupste mit ihrem schäbigen kleinen Schuh ein Loch in den Grasboden und schaute uns nicht an. »Im Moment habe ich gar keine Familie«, sagte sie. »Mutter ist in Australien bei meiner verheirateten Schwester — wir sind nur zwei Kinder — , und Vater ist vor drei Jahren gestorben.«
Sie sagte das etwas pathetisch und beinah wie eine Witwe, doch Peter zeigte jetzt kein Feingefühl, sondern fuhr roh und unverblümt fort: »Und die Schwiegereltern? War dein Mann nicht Neuseeländer?«
»O nein. Ein ganz, ganz echter Schotte. Also sind meine Schwiegereltern nicht in der Gegend, Gott sei Dank. Sei doch barmherzig, Peter — weshalb willst du mich denn zu Verwandten abschieben? Möchtest du nicht, daß ich zu euch ziehe?« Wieder so recht die kleine Witwe.
»Sei doch nicht bekloppt. Natürlich ist’s uns sehr recht, aber Lehrer entfernen sich doch meistens in den Ferien möglichst weit von der Szene ihrer Plackerei.«
»Vielleicht plage ich mich gar nicht sehr. Mr. Morris ist davon jedenfalls überzeugt. Fortwährend stänkert er. Ach, wie ich dieses Unterrichten hasse — und ich mache es auch so schlecht! Gestern sagte der gräßliche Mensch zu mir: >Natürlich muß man, will man Unterricht erteilen, auch selber Kenntnisse haben!<...Wenn ich bloß ein bißchen Geld hätte!«
Wir standen zusammen und sahen zu, wie Andy gerade die erste Reihe von Ställen für die Lieblinge fertigzimmerte. Es war Sonntagabend, warm für diese Frühlingszeit, ideales Wetter, still, kaum ein Lüftchen wehte. Andy reckte sich hoch und betrachtete befriedigt sein Werk. »Na also«, sagte er, »geht ja ganz fein vorwärts. Seine Hoheit, der Lord nebenan, wird sich über diese kleine Anlage nicht entrüsten können. Die Dinger werden tipptopp und dauerhaft, und wenn wir den Beton auftragen, lassen sie sich gut sauberhalten.« Plötzlich wandte er sich an Trina: »Da Sie gerade von Geld reden — wie sieht’s denn mit Pension aus? Gibt es für Witwen etwa keine? Müßte es doch, wenn man bedenkt, was einem so an Lohnsteuer abgeknöpft wird. Den Deubel auch — muß doch für solche wie Sie ‘was geben in diesem Wohlfahrtsstaat!«
Zu meiner Überraschung wurde die hemmungslose Trina jetzt rot und zeigte einen ungewöhnlichen, feinen Stolz. »O nein, so etwas würde ich gar nicht nehmen wollen. Schließlich bin ich jung, gesund und vollkommen arbeitsfähig — wenn ich nur etwas finden könnte, was ich auch richtig gut machen kann.«
Als sie gegangen war, sagte Peter: »Trina ist ein sonderbares Ding. Wer hätte gedacht, daß sie den Gedanken an eine Pension glatt verwerfen würde! Der Hinweis darauf ging ihr sehr gegen den Strich. Schien beinahe, als wollte sie anfangen zu weinen. Merkwürdig, nicht wahr?«
»Da irrst du dich, glaube ich. Sonderbar war es freilich, aber weinen wollte Trina keineswegs. Sie versuchte, sich das Lachen zu verbeißen.«
»Was gab’s da zu lachen?«
»Weiß ich nicht, aber sie lacht ja über alles mögliche, und vielleicht hat sie sich noch nicht ganz in den Witwenstand hineingefunden. Sie ist ja noch so jung.«
»Na, ich bin jedenfalls überzeugt, daß um sie ein Geheimnis schwebt.«
Tatsächlich fühlte ich dasselbe, sagte es aber nicht. Ich hatte Trina herzlich gern, und wenn sie ihre Privatangelegenheiten für sich behalten wollte, war ich ganz einverstanden. So sagte ich bloß: »O nein, alles normal und einwandfrei. Sie würde uns in keiner Weise täuschen.«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Ich meine nur, daß sie immer schnattert wie toll, über ihre wahre Lage aber nicht das mindeste verlauten läßt. Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß es normal für ein junges Mädchen ist, als waschechte Waise zu erscheinen und sich dann Fremden an den Hals zu werfen, die sie erst ein paar Wochen kennt.«
»Wir sind für sie nicht Fremde. Mir kommt’s vor, als kennte ich Trina schon jahrelang.«
»Dann kannst du mir vielleicht etwas Auskunft über den jüngst Dahingeschiedenen geben. Sie spricht doch nie von ihm und schreckt vor jeder zufälligen Erwähnung zurück. Möchte wissen, was da nicht stimmt.«
»Wahrscheinlich ist alles in Ordnung. Jedenfalls wird sie uns die ganze Geschichte erzählen, sobald sie’s für richtig hält, und du kannst sie inzwischen in deinem Roman als geheimnisvolle Frau aufnehmen.«
Peter gab lachend das Thema auf. Er war jetzt kräftiger und wurde auch ganz schön in Bewegung gehalten, indem er alles Geschäftliche arrangierte und den Zimmerleuten half. Bisher hatte er noch keine Zeit gehabt, um sich ernsthaft dem Schreiben zu widmen, immerhin hatte er zwei Artikel über die leichteren Seiten des Dorflebens verfaßt. Den einen hatte eine Zeitung in der Hauptstadt veröffentlicht, die auch den anderen noch bringen wollte. Das hatte ihn ermutigt, und ich hoffte, daß er, sobald der Sommer vorbei war, mit dem Buch anfing, das in seinen Gedanken bestimmt schon Form annahm.
Einstweilen jedoch war unser Leben ziemlich hektisch, und das mußte sich noch steigern, sobald das Camp fertig und eröffnet war. Aber sicher war es dann auch ein ungeheuer befreiendes Gefühl, wenn erst mal Geld hereinkam. Im Augenblick verflüchtigte es sich in erschreckendem Ausmaß.
»Ja, ich weiß, Liebste, aber denk doch an Venedig und ihre Welpen«, sagte Trina jedesmal, wenn ein besonders großer Betrag bezahlt werden mußte. »Mich würde es kein bißchen überraschen, wenn sie euch praktisch den ganzen Lebensunterhalt lieferte — zwei Würfe im Jahr, und jeder bringt ein Vermögen.«
»Wahrscheinlich ein Vermögen für Futter, und vielleicht will dann gar keiner junge Doggen haben, bei den Fleischpreisen!«
»Ach Süßes, du wirst ja ganz melancholisch und grimmig. Venedig ist klüger, sie wird ihre Kinder zu günstiger Zeit zur Welt bringen, das liebe schlaue Ding. Gerade rechtzeitig zum Verkaufen für Weihnachten, und was könnte wohl schöner sein, als ein reizendes Hündchen unter dem Weihnachtsbaum!«
Die reizenden Hündchen waren das nächste Drama, denn eine Woche später waren wir alle ganz gespannt vor Besorgnis und Aufregung. Trina, die, als sie kam, gesagt hatte, Mr. Morris habe sie ausdrücklich gebeten, rechtzeitig zum Abendbrot zurück zu sein und >wesentliche Vorarbeit für ihren morgigen Unterricht zu leisten< — Trina verkündete, sie dächte gar nicht daran, hinzugehen — >ob’s Schwarzwurzeln gibt oder nicht< — bis >alles vorbei war<. Alle zehn Minuten schob sie ihren Kopf durch die Stalltür, um zu sehen, wie die Sache stand. Peter legte energisch den Deckel über seine Schreibmaschine und meinte, Geburtshilfe sei zwar ein mühsames Geschäft, aber Mrs. Warren habe ja erklärt, bei Tieren ginge das gewöhnlich ohne Komplikationen. Ich hantierte unruhig in der Küche herum, kochte ein kümmerliches Abendessen und wunderte mich nicht, als Andy mir mitteilen ließ, ich möchte es warmhalten, denn er müßte noch eine Weile bleiben, wo er war.
Keiner aß viel, und wir versicherten einander, daß Venedig doch jung und geradezu abnormal gesund sei, die Natur aber selbstverständlich ihren vorbestimmten Lauf nähme und sich nicht treiben lasse. Andy stellte sich eben ein bißchen zu sehr an. Trina bedeckte ein Blatt Papier mit konfusen Zahlen, indem sie fünfzehn Guineen mit drei, vier, fünf multiplizierte, und so weiter, bis, bei zehn, Peter ihr riet, mal einen Punkt zu machen. Sogar für Venedig gäbe es Grenzen, sagte er.
Es war schon fast dunkel, als Andy ins Haus kam. Er sah unglücklich aus und sagte hastig: »Klingeln Sie lieber mal beim Tierarzt an. Ich bin keine Hebamme, und es könnte ‘was schiefgehen.«
Peter sprang vom Stuhl, er sah ganz erregt aus. »Dann muß ich nach Edgesea fahren und die Posthalterin mobil machen.«
»Hat keinen Zweck, die wohnt nicht auf der Poststelle«, sagte Trina. »Schließt um fünf zu und geht weg.«
»Dann die Morris’?«
»Wollen beide fort, zu irgendeiner blöden Versammlung. Sind jetzt sicher schon unterwegs. Bleiben nur Alf oder Melly.«
Andy murrte ungeduldig: »Wozu denn erst noch lange debattieren? Hopsen Sie über’n Zaun und klingeln Sie an der Haustür nebenan, dann sparen wir Zeit.«
»Ich bin aber nicht scharf darauf, Muirs Telefon zu benutzen.«
»Jetzt ist nicht die Zeit, die Vornehmen zu spielen. Jetzt nicht. Deubel auch, der Mann hat doch ein Herz, oder nicht? Der erlaubt Ihnen doch, den Tierarzt anzurufen — aber beeilen Sie sich.«
Peter ging los, sprang mit etwas märtyrerhafter Miene über den Zaun, und kam nach zehn Minuten wieder zurück, aber nicht allein. John Muir war bei ihm. Sie gingen sofort zu den Ställen.
Über eine Stunde später kam Peter wieder herein und ließ sich in einen Sessel fallen. »Na, nun ist’s geschafft, und Gott sei Dank! Oder vielmehr Dank dem jovialen John.«
»Warum hast du den bloß dazugeholt? Warum nicht den Tierarzt bestellt?« fragte ich ärgerlich.
»Meine liebe Schwester, bildest du dir ein, ich hätte das nicht versucht? Tierärzte sind verflixt schwer zu erreichen, besonders zu dieser Jahreszeit, wo jede Kuh kalbt und jede Stute ihre Fohlen wirft. Der erste war weit draußen unterwegs bei einer Zuchtbuchkuh; der zweite betätigt sich als Hebamme bei einem Rennpferd, und der dritte ist, wie seine Frau sagte, irgendwo über Land, wird aber voraussichtlich in zwei Stunden zurück sein. Und nun brauchen wir sie alle nicht. Venedig ist gesund und munter und die Welpen sind’s auch — sechs Stück.«
»Sechs Fünfzehner!« schrie Trina begeistert. »Oh, verflucht, ich kann’s nicht ausrechnen.«
»Und Sie sind Rechenlehrerin! Übrigens, ich war furchtbar wütend, daß ich Muir um eine Gefälligkeit bitten sollte, aber ich ging trotzdem hinüber und läutete höflich.«
»Wie sieht’s in dem Haus denn aus?« konnte ich mich nicht enthalten zu fragen.
»Schön, ihr Frauen. Mir gefällt’s. Groß und altmodisch. Ziemlich schäbig, aber gemütlich. Nun unterbrecht mich mal nicht mehr. Ein netter Kerl kam heraus, ungefähr in meinem Alter. Der Neffe.«
»Sieht er ebenso aus wie sein unangenehmer Cousin?« unterbrach ich Peter wieder.
»Kein bißchen. Blond und blauäugig. Etwas schüchtern. Seine Mutter kam auch heraus, sobald sie meine Stimme hörte, doch vom Herrn des Hauses war nichts zu sehen. Na, wir riefen den ersten Tierarzt an, während die liebe alte Dame sorgenvoll zwitscherte. Dann versuchten wir’s beim zweiten, auch vergeblich. Während ich mit dem dritten verbunden wurde, ging Mrs. Warren aus dem Zimmer, und ich konnte hören, wie sie mit Muir sprach. >John, du bist doch lieb und wirst helfen, nicht wahr?< Ein Gemurmel, dann sagte sie wieder: >Aber lieber Junge, es ist doch ein Hund, kein Mensch.< Muir hätte keinen Finger gerührt, aber ein Hund, das war eine andere Sache.«
»Na, so wie ich ihn erlebt habe, war er zu Venedig nicht freundlicher als zu mir.«
»Immerhin fand er sich schließlich bereit. Kam mit verbissener Miene ins Zimmer, nickte mir zu und sagte: >Versuchen Sie lieber, Kirk herzurufen<. Als ich antwortete, das hätte ich schon erfolglos getan, sagte er unwillig: >Nun, ich bin kein Fachmann, werde aber mitgehen und mir’s ansehen, wenn Sie das möchten.« Ich hätte am liebsten gesagt, daß ich’s nicht möchte, doch ich hatte zuviel Angst vor Andy und — um die arme Venedig. Also unterdrückte ich meinen Stolz und sagte ergeben: >Das wäre sehr nett von Ihnen< — und wir gingen gleich los.«
»War er denn nun wirklich so nötig, oder übertrieb Andy seine Besorgnis?«
»Ich glaube, das Tier hätte letzten Endes alles allein geschafft, aber seine Hilfe war bestimmt wertvoll. Komisch, der Hund mochte ihn leiden. Leckte ihm tatsächlich die Hand, und er reagierte ganz menschlich und sagte: >Braves Mädchen, es wird alles gutgehen.<«
»Venedig würde jedem die Hand lecken. Die hat doch überhaupt kein Urteil«, sagte ich.
»Sie ist jedenfalls jetzt mit sich zufrieden. Kommt lieber mal mit, seht euch die Familie an und gratuliert Andy. Der benimmt sich ganz und gar wie ein stolzer Großvater.«
Venedig lag mit einem seligen Ausdruck in den sanften Augen auf ihrem >Bett<. Sie hob, als wir hereinkamen, den Kopf, offenbar Beifall erwartend, wurde jedoch unsere überschwengliche Reaktion sehr bald leid und widmete sich wieder der Aufgabe, ihre Jungen zärtlich sauberzulecken. Soweit ich’s beurteilen konnte, waren es prächtige Exemplare, über die Trina vor Freude ganz außer sich war, aber ich wußte, mir würden sie besser gefallen, wenn sie erst ein bißchen >menschlicher< aussähen. Vermutlich war ich noch etwas verstimmt, weil wir John Muir um Hilfe ersucht hatten. Das hieß also, kleinlaut >Dankeschön< sagen, wenn ich ihm wieder begegnete, anstatt, wie ich’s mir schon ausgedacht hatte, ihn nur mit einem hochmütigen, gleichgültigen >Guten Tag< zu grüßen. Ich kann aber nicht gut die Demütige spielen. Wie jedesmal, wenn durch Venedig solche Komplikationen entstanden, spürte ich wieder intensiv das Verlangen, mit Luigi bloß mal für zehn Minuten unter vier Augen zu sein.
Und doch war es eine große Erleichterung, nachdem die aufregenden Stunden vorüber waren. Mrs. Warren kam am folgenden Tage, um sich die jungen Doggen anzusehen, und war viel zu taktvoll, zu erwähnen, daß ihr Neffe sich auch um sie verdient gemacht hatte. Bruce stellte sich, angeblich auf der Suche nach seiner Mutter, ebenfalls ein. Er war ein netter Junge, offen und liebenswürdig, wenn auch nicht sehr zielbewußt. Für unsere Pläne interessierte er sich lebhaft. Für ihn war der Gedanke an ein Autocamp so in der Nähe kein rotes Tuch.
John Muir aber machte sich nicht bemerkbar. Peter verriet, er habe ihn eingeladen, nach den Anstrengungen mit Venedig bei uns zu Abend zu essen, doch das hatte er schroff abgelehnt und war davonstolziert und über seinen Zaun gestiegen.
»Hast gar keinen Anlaß, mich so ärgerlich anzublicken«, verwahrte sich mein Bruder. »Das war doch das wenigste, was ich tun konnte, nachdem er sich überwunden hatte.«
Gewiß, er hatte recht, deshalb gab ich mir, als ich einige Tage danach John Muir wieder auf der Landstraße begegnete, alle Mühe, freundlich zu sein, und bedankte mich herzlich bei ihm. Er ging darauf nicht ein und fragte nicht einmal nach der >Patientin<, sondern tat es achselzuckend ab. Und dann erwähnte er, als er sich schon zum Weitergehen anschickte, unser Inserat im Bezirksblatt habe ihn interessiert.
Das klang schon netter und nachbarlicher. Wir waren auch ziemlich stolz auf dieses Inserat gewesen, mit dem der Welt kundgetan wurde, daß unser Autocamp in der zweiten Dezemberwoche eröffnet werde und Buchungen ab sofort erfolgen könnten. So hatten wir es mit großer Sorgfalt und vielem Nachdenken entworfen, denn Inserieren ist teuer. Alle vier hatten wir großartige Gedanken zu dem Text beigesteuert. Wir zählten sämtliche Attraktionen auf: die abgeschlossene Lage, das Wellenreiten und Baden, und betonten vor allem, daß die Tiere im >Lager der Lieblinge< untergebracht und bestens versorgt würden. Das Resultat war ein Triumph sprachlicher Komposition, zu dem wir uns beglückwünschten. Deshalb freute es mich, als John Muir nun sagte: »Bewundert habe ich, daß Sie ganz ungeschminkt das >Ländliche< der Umgebung hervorgehoben haben.«
Da erkannte ich an einem Zug in seinem Gesicht, daß uns ein Fehler unterlaufen sein mußte. Ehrlich gesagt, ich hatte gerade auf diesen Punkt keinen großen Wert gelegt, Trina aber ganz besonders. Ich sagte: »>Weiträumige ländliche Umgebung< — was soll daran denn verkehrt sein? Bei den meisten Autocamps ist sie doch weiträumig, nicht wahr?«
»Ja«, sagte er ganz sanft, »aber in Ihrem Inserat nicht.«
Ich wollte ihn nicht fragen, was er meinte, hatte es aber nachher brandeilig, mir die Zeitung wieder vorzunehmen, um das elende Inserat noch mal zu lesen. Ach, da war es — >weiträudige< Umgebung! Ein d statt ein m hatten sie gedruckt, und das war natürlich ein gewaltiger Unterschied. Ich konnte mir denken, wie höhnisch John Muir gefeixt hatte, als er es sah! Ich beklagte mich telefonisch bei der Zeitung, wo man sich sehr entschuldigte und es in der nächsten Ausgabe berichtigte. Die andern lachten darüber, doch ich fand nichts Scherzhaftes dabei. War es also John Muir doch gelungen, mir eins auszuwischen! Diese Runde hatte er jedenfalls einwandfrei gewonnen.