Linda schrie von unten. Ich schrie von oben, sie solle einen Krankenwagen und die Polizei anrufen. Ich ließ Dane sitzen, überstieg ihn, überstieg Phil Cammons, überstieg Dr. Hendell und eilte zu Sarah ans Bett. Sie schien bewusstlos zu sein. Ich schaute kurz unter ihre Bettdecke und sah schockiert das Ausmaß einer mehrmaligen Vergewaltigung. Wer zum Teufel hatte das getan? Etwa Dane? Hatten diese beiden Männer hier versucht, ihn aufzuhalten? Nein! Das konnte ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen! Hier musste sich etwas ganz anderes abgespielt haben. Dane würde Sarah nie verletzen.

Als Arzt prüfte ich geistesgegenwärtig ihren Zustand und diagnostizierte einen Schock. Unter ihre Beine legte ich ein Kissen und deckte sie wieder wärmend zu. Mehr konnte ich momentan nicht für sie tun – auch als Arzt nicht. Wieder stieg ich über Dr. Hendell und Phil Cammons hinweg und wandte mich zu Dane, der sichtlich Schwierigkeiten hatte, seine Augen offen zu halten.

„Hey, Dane. Kannst du mich hören?“, fragte ich ihn. Ich konnte mir auf sein benommenes Verhalten keinen Reim machen. Er musste zutiefst schockiert sein, aber das war er nicht. Er rang mit seiner Besinnung, obwohl doch alles vorbei war. Ich untersuchte ihn oberflächlich, konnte aber nichts feststellen, was seinen Zustand erklären konnte. Während ich mir seinen glasigen Blick ansah, versuchte Dane mit mir zu reden: „Ich Medi … Medi ...“ Sein Blick sackte weg. Ich schüttelte unverständlich den Kopf. Was hatte sich hier nur abgespielt? Vorsichtig schlug ich Dane die flache Hand ins Gesicht, um einer vermuteten Ohnmacht entgegenzuwirken. Dane ließ es widerstandslos geschehen. Er öffnete wieder seine Augen und versuchte tollpatschig bei mir einen Halt zum Aufstehen zu finden. Er klammerte sich an meinen rechten Arm. Ich griff ihm unter die Armbeuge und zog ihn hoch. So brachte ich ihn langsam die Treppe hinunter und legte ihn auf das Sofa. Er sah mich mit müden Augen an, als ich ihm mitteilte: „Sarah ist in Ordnung.“ Er sagte leise „Ja?“, dann schlief er endgültig ein. Von dem regen Treiben in seinem Haus, das gute fünfzehn Minuten später herrschte, bekam er nichts mehr mit. Sein beruhigter Gesichtsausdruck zeigte mir, dass er mit der Tat nichts zu tun hatte.

 

Ich sah mich um Jahre zurückversetzt, als ich Dane auf dieser Palloma Street fand. Seine Verletzungen waren denen von heute nicht gleichzusetzen. Aber wieder löste er diese Panik in mir aus. Doch diesmal war Sarah das Opfer. Ich hatte Linda ausdrücklich verboten, nach oben zu gehen. Sie hätte sich um Sarah kümmern können. Aber sie hätte auch genausogut einen Schock erleiden und das Baby verlieren können. Zudem wusste ich nicht, ob dieser Fremde wieder zu sich kommen würde.

Ein Krankenwagen und ein Polizeiwagen kamen und befreiten uns aus dieser Situation. Sarah wurde versorgt, die nach wie vor nicht ansprechbar war. Die Kriminalpolizei kümmerte sich um Phil Cammons, der inzwischen zu sich gekommen war und fluchend die Vergewaltigung und den Mord an Hendell zugab. Er wünschte Sarah zudem die Pest an den Hals. Auch Dane. Damit war der Täter dieses Massakers ermittelt.

Ein Leichenwagen erledigte nach der Spurensicherung den Abtransport von Dr. Hendell.

Viele Stunden Hektik und Wirbel zogen wie ein Nebel an mir vorbei. Linda war einem Nervenzusammenbruch nahe. Ich versuchte, sie so liebevoll wie es mir irgendwie möglich war, zu umsorgen. Auf Grund ihrer Schwangerschaft konnte ich ihr unmöglich Beruhigungsmittel geben. Ich wollte aber auch dieses Haus nicht verlassen. Immerhin war ich ein wichtiger Zeuge der letzten Geschehnisse geworden und außerdem musste Dane auch versorgt werden. Ich nahm an, dass sein kurzer Hinweis auf ein starkes Beruhigungsmittel hindeuten sollte, das er eingenommen hatte. Anders war sein Zustand nicht zu erklären. Also ließ ich ihn schlafen. Linda wollte auch nicht alleine in irgendein Hotel. Also blieb auch sie.

Die Sanitäter wollten Dane mit in das Krankenhaus nehmen, doch ich winkte ab und entschied mit fachlicher Kompetenz, ihn hier bei mir im Haus zu halten. Ich war sein Freund. Den würde er jetzt wohl am dringendsten brauchen, dachte ich. Es schien mir auf jeden Fall die beste Lösung. Ich trug immer noch eine tiefe Verbundenheit zu Dane in mir. Etwas, das sich nicht erklären ließ. Ich konnte es einfach nicht abschütteln: dieses Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein.

Die Polizei ermittelte noch am Ort, dass Phil Cammons aus Denver kam. Damit ahnte ich, dass es sich um Sarahs Exmann handeln würde. Sie hatte mir einmal von ihrer ersten Ehe kurz geschrieben. Daher wusste ich auch, dass sie aus Denver kam. Ein Polizeiwagen nahm ihn mit. Als er aus dem Haus war, wurde es für Linda und mich erträglicher. Wir deckten Dane mit einer dicken Wolldecke zu und richteten uns in seinem Gästezimmer ein; in dem Zimmer, in dem wir schon einmal gewohnt hatten – Weihnachten vor zwei Jahren. Wie die Zeit doch verging.

Es war ekelhaft und abstoßend, den Flur zu durchqueren. Überall waren Blutspuren zu sehen. Gott sei Dank hatte die Polizei die Schlafzimmertür zugemacht.

Wir saßen dann noch bis tief in der Nacht unten bei Dane im Wohnzimmer. Er schlief tief und fest. Sein Gesicht gefiel mir immer weniger. Es hatte etwas aus der Zeit, als ich ihn vor vier Jahren im Krankenhaus in L.A. behandelte.

Ich sah die ersten grauen Fäden in seinem Haar. Sein Gesicht wirkte verspannt und viel älter als es war.

Linda schwieg und versteckte sich unter einer Wolldecke im Sessel. Ich wusste, dass ihr Danes Gegenwart unangenehm war. So setzte ich mich beschützend zu ihren Füßen und sah zu, wie eine Kerze auf dem Tisch bis zum Stumpf herunterbrannte.

 

*

 

Ich war es mittlerweile gewohnt von Dane in einen Strudel von Verwirrung gerissen zu werden, und doch stand ich immer wieder mit großer Fassungslosigkeit davor. Er zeigte am nächsten Morgen nicht ein bisschen Erstaunen über unsere plötzliche Anwesenheit. Keine Begrüßungsfreude, kein überraschtes Hallo, aber auch keine Bestürzung über die gestrigen Vorfälle. Er wirkte auf mich, als würden wir uns jeden Tag hier in seinem Haus sehen. Ich fragte vorsichtig nach, ob er mir etwas über die gestrigen Vorfälle erzählen könnte. Er gab daraufhin nur widerwillig und oberflächlich ein paar abstrakte Antworten. Aber immerhin soviel, dass ich Cammons Geständnis bestätigt bekam. Dane hatte mit der Vergewaltigung nichts zu tun. Das erleichterte mich erst einmal. Ich sah seine Anspannung an den pulsierenden Adern seiner Schläfen und vermutete, dass Dane zu verwirrt war, um an dem Ganzen die erschreckende Brutalität der Situation zu erkennen. Immerhin wirkte das Beruhigungsmedikament noch nach.

Ich selbst war erschüttert über die Ereignisse, die mich in Fields begrüßt hatten.

 

Was ist passiert?, fragte Dane. Warum ist alles so durcheinander?

Du hast nicht aufgepasst, zischte das Loch. Du hättest auf der Hut sein sollen.

Was habe ich falsch gemacht?

Du bist bei Hendell geblieben.

Bin ich das? Aber was war falsch daran?

Deswegen ist sie auf der Farm geblieben.

Wo ist Sarah?

Sie ist jetzt weg.

Ruhe. Dann: Neiiin!!!

Beruhige dich.

Ich kann nicht! Wo ist Hendell?

Er ist tot.

Habe ich ihn umgebracht?

Irgendwie schon.

Ich muss Sarah finden.

Lass es, Dane. Lass sie gehen.

Ich kann nicht.

Du musst.

Ich kann nicht.

Du wirst es bereuen.

 

Nachdem Linda und ich die Wohnung wieder einigermaßen aufgeräumt hatten, kochte sie einen starken Kaffee. Sie kannte Dane nicht wieder und sah des Öfteren mit einem besorgten Blick zu mir herüber. Ich zuckte jedes Mal mit den Schultern. Dane wirkte in sich verschlossen, zu ruhig, um wirklich ruhig zu sein. Er saß am Küchentisch und sah starr zum Fenster hinaus. Es brodelte in ihm.

„Wo ist Sarah?“, fragte er schließlich.

„Sie haben sie in eine Klinik zur Beobachtung gebracht. Sie brauch erst einmal Ruhe.“

„Ich muss zu ihr.“ Sein Ton war unnatürlich ruhig.

Ich versuchte ihm beizustehen: „Das kannst du auch. Aber erst einmal brauch sie etwas Ruhe. Das wird ihr gut tun. Morgen fahren wir zusammen zu ihr und schauen, wie es ihr geht.“

„Ich muss jetzt zu ihr. Wo ist sie?“

„Sie wird erst von Ärzten und Psychologen betreut. Dann darfst du zu ihr. Aber du kannst anrufen und nach ihrem Befinden fragen. Da hat sicherlich niemand was dagegen.“

Ich gab ihm einen Zettel, auf dem ich die Klinik mit dem entsprechenden Anschluss notiert hatte.

Ein nervöses Zucken durchfuhr Danes Gesicht. Linda zog sich ins Wohnzimmer zurück. Ich holte den Kaffee von der Maschine und bat Dane, eine Tasse mit mir zu trinken. Da war einiges zu klären, mehr als nur der gestrige Tag. Wie sah sein derzeitiger Gesundheitszustand aus? Sein letzter Brief war besorgniserregend gewesen. Aber wie immer ließ Dane nichts an sich heran. Stattdessen ließ er mich alleine am Tisch sitzen und durchwühlte eine Schublade in der Küche. Er holte einen alten Schlüssel hervor und warf ihn mir nahezu verächtlich vor die Kaffeetasse. Der Schlüssel zur Heddon-Farm, wie er knapp bemerkte. Er hatte sich also doch Gedanken gemacht. Jetzt fühlte auch ich mich arg irritiert. Dane trank hastig im Stehen eine Tasse Kaffee und verließ schweigend das Haus.

Ich redete mir ein, er brauche sicherlich einen Spaziergang und ging nichtsahnend zu Linda, die auf dem Sofa lag. Plötzlich hörte ich vom Hof den Motor meines Wagens aufheulen und sah noch die Staubwolke, die er aufwirbelte, als er die Farm verließ. Ich fühlte in meinen Hosentaschen. Mein Autoschlüssel war verschwunden!

 

Dane fuhr natürlich zum Krankenhaus, in dem Sarah lag. Ich hatte ihm ja die Adresse auf dem Zettel geliefert.

Die Dame an der Information in der Eingangshalle verwies ihn in den dritten Stock zur gynäkologischen Abteilung. Dort wurde er wider seinen Willen zum Warten aufgefordert, bis der zuständige Arzt, Dr. Recon, zu ihm kam. Dane stand auf, als er den Arzt kommen sah und ging ihm nervös entgegen. Sie begrüßten sich mit einem kurzen Nicken. Dane fragte nach Sarahs Befinden. Dr. Recon versuchte, ihn zu beruhigen und fragte überrascht, ob er die Nachricht nicht bekommen hätte, dass Sarah heute nicht zu sprechen sei. Dane überhörte die Worte und bestand weiter darauf, seine Frau zu sehen.

„Bleiben Sie mal ruhig, Mr. Gelton. Ihre Frau ist stark, das haben wir schon gemerkt. Eine Psychologin unterhält sich gerade mit ihr. Da wäre es nicht so gut, wenn Sie hinzukämen.“

Das Wort Psychologin ließ ihn schaudern. Jetzt wühlten sie auch schon in ihr herum! Das konnte nicht rechtens sein, denn wenn sich jemand mit Sarah zu unterhalten hatte, dann war es ganz gewiss kein anderer als er selbst, ihr Mann.

„Aber sie ist meine Frau!! Ich will sie sehen!!“, fuhr Dane den Arzt an.

„Ruhig, Mr. Gelton. Ich kann Sie ja verstehen, aber bitte verstehen Sie auch uns.“

In diesem Moment eilte eine große schlanke Frau auf den Gynäkologen zu und tauschte sich im Flüsterton mit ihm aus. Dane spürte die Blicke der Frau, die ihn abzuschätzen versuchten, was ihm sehr missfiel. Er konnte seine Unruhe kaum unter Kontrolle halten. Der Wagenschlüssel flog von Hand zu Hand, und ein Zittern durchfuhr seinen ganzen Körper. Alle seine Mühen, dem Gespräch eine Mitteilung abzujagen, misslangen. Die Frau ging genauso grußlos, wie sie gekommen war. Dr. Recon nahm Dane zur Seite in das Wartezimmer und sah ihn mit ernster Miene an. „Mr. Gelton, jetzt hören Sie mir bitte mal zu. Ihre Frau braucht heute viel Ruhe. Verstehen Sie das?“

„Kann ich sie sehen? Ich möchte zu ihr!“

„Nein!“

„Was?“

„Sie verstehen mich offensichtlich nicht. Sie sind sehr unruhig, und ich möchte, dass Sie sich erst einmal beruhigen. Ihrer Frau geht es gut, aber sie kann heute keinen Besuch verkraften. Bitte, verstehen Sie das!“

„Nein!“, schrie Dane. „Ich bin ihr Mann! Sie kann doch wohl ihren Mann verkraften!“ Seine Blicke irrten ziellos durch das Wartezimmer. „Das kann ich nicht verstehen! Ich möchte sie jetzt und hier sehen! Es ist sehr wichtig für mich!“ Er versuchte sich an dem Arzt vorbeizudrücken, wurde aber mit einem Griff des Arztes am Arm zurückgehalten. Ihre Blicke trafen sich. Jeder spürte den heißen Atem des anderen. Wütend schüttelte Dane die Hand des Arztes von sich. Keiner hatte ihn anzufassen und schon gar nicht so ein verdammter Frauenschänder! Was hatte er getan, dass ihn alle so ablehnten? Er fühlte sich in einem Strudel von Verboten ertrinken und konnte seinen Zorn nicht bändigen. Er ließ sich tiefer und tiefer in das schwarze Loch hinabsinken und spürte schließlich den Aufprall. Er war wieder ganz unten – so tief, wie schon lange nicht mehr.

Das Beruhigungsmedikament vom Vortag zeigte keinerlei Wirkung mehr.

 

Was soll ich jetzt tun?, fragte Dane.

Lass sie alle in Ruhe. Komm zu mir zurück zur Farm. Schicke Jim und Linda wieder nach Kalifornien. Lass Sarah gehen. Wir zwei schaffen das auch alleine.

 

Seine Lippen kniffen sich zusammen, und seine Haut spannte sich straff um die Kinnpartie. Der Arzt wurde unruhig und lauter: „Mr. Gelton! Sie sind ein erwachsener Mann! Bitte lassen Sie mich nicht ausfallend werden. Bitte gehen Sie nach Hause und schlafen sich bis morgen aus. Sie sehen überreizt aus. Dann kommen Sie wieder, und wir werden weitersehen. Bitte, Mr. Gelton. Hören Sie?“

Dane spürte den aufsteigenden Kopfschmerz. Er fraß sich von hinten hoch und breitete sich explosionsartig im gesamten Schädel aus. Das ließ ihn taumeln. Der Arzt half ihm auf einen Stuhl. Dane verbarg das Gesicht in seinen Händen. Der Arzt vernahm seinen stoßartigen Atmen und bekam Mitleid. Hatte dieser Mann nicht auch ein bisschen das Recht, seine Frau zu sehen? Er kramte sein ganzes Verständnis zusammen und setzte sich neben Dane. „Sie haben gestern und heute einen furchtbaren Tag gehabt. Das kann ich gut verstehen. Aber was geschehen ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Wir müssen das Gestrige akzeptieren und versuchen, uns zu beruhigen. Ihre Frau ist sehr erschöpft, und es tut ihr nicht gut, wenn sie heute noch einmal gestört wird. – Wissen Sie, was wir tun werden? Ich werde Ihrer Frau erzählen, dass Sie da waren und sie herzlich von Ihnen grüßen. Wenn Sie möchten, werde ich einen Kollegen rufen, der sich etwas um Sie kümmert. Sie sind ja völlig am Ende.“

Dane sah den Arzt an. In seinen Augen lag plötzlich etwas Trauriges. Er flüsterte: „Sie will mich nicht sehen, nicht wahr?“

 

So ist es, sagte das Loch.

 

„Mr. Gelton, ich bitte Sie.“

Dane wiederholte seine Frage, lauter und aggressiver. Der Arzt antwortete schließlich: „Ja, sie will Sie nicht sehen!“

Dane fühlte die Hitze in sich aufsteigen, und er lief forschen Schrittes davon.

Der Arzt hätte ihn so gerne beruhigt, sah sich aber außerstande, der flinken Reaktion entgegenzutreten und schaute ihm nur mitleidig hinterher. Die Psychologin hatte ihn oberflächlich über die Differenzen von Sarah und ihrem Mann informiert und stimmte einer vorläufigen Trennung zu. Er selbst wollte morgen das Gespräch mit ihr suchen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Dr. Recon hegte ehrliche Zweifel an einer Vergewaltigung von Seiten ihres ersten Mannes. Dane schien ihm da naheliegender. Er wäre nicht der einzige Mann, der große Reue nach einer Gewalttat an seiner Frau zeigte.

 

Danes Aggressionen fanden keinen Weg nach draußen. Er raste mit meinem Chevy vor Dr. Hendells Büro und tauschte ihn dort gegen seinen Chrysler ein.

Ich hatte, unmittelbar nachdem er die Farm verlassen hatte, im Krankenhaus angerufen und Bescheid gesagt, dass sich Dane auf dem Wege dorthin befand.

Man beruhigte mich und teilte mir mit, dass Dane schon wieder gegangen sei. Ich dankte Gott, dass er kein Aufsehen erregt hatte.

Dass er für den Rest des Tages nicht mehr zu seiner Farm zurückkehrte, konnten Linda und ich verstehen. Er brauchte sicherlich Abstand und einen ruhigen Platz für sich. Das hätte ich auch. Man muss sich mal in seine Lage versetzen!

Linda und ich wollten uns die Heddon-Farm derzeit nicht anschauen. Uns war wahrlich die Lust vergangen. So verharrten wir auf der Gelton-Farm, um Dane nach seiner Ankunft aufzufangen.

Was wir derzeit nicht wussten war, dass er sich auf dem Friedhof von Edwardville an einem Grab zu schaffen machte.

 

Es war schon spät in der Nacht, als er den Hof der Gelton-Farm wieder erreichte. Er rammte mit seinem Wagen den linken Pfosten der Einfahrt und schleifte ihn bis zum Scheunentor mit.

Von dem auffallend harten Geräusch wurden Linda und ich abrupt wach. Zuerst konnten wir nicht feststellen, was es überhaupt gewesen war, dass uns hatte hochschrecken lassen. Dann ging ich zum Flurfenster und sah zum Hof hinunter, während sich meine Frau zitternd unter der Bettdecke verkroch. Was ich sah, war mir geradezu unheimlich. Der Mondschein fiel über den Hof, als Dane taumelnd das Scheunentor öffnete und seinen Chrysler mit durchdrehenden Reifen in das Gebäude hineinrasen ließ. Der Schotter flog nur so in die Höhe! Ein harter Knall beendete abrupt das Motorgeräusch. Dane war ungebremst auf Metall gefahren. Ein anderer Wagen? Seine Corvette etwa? Stand sie in dieser Scheune? Wo war mein Chevy?

Das Scheunentor schloss sich und wurde von innen verriegelt. Ich wurde panisch und rannte zurück zu Linda in das Gästezimmer. Ich musste jetzt unbedingt etwas unternehmen und ahnte nicht, dass es alles andere als ein Spaß werden würde.

„Was ist los?“, fragte Linda aufgebracht.

„Ich weiß nicht“, antwortete ich ihr und zog mich hektisch an. „Irgend etwas stimmt da nicht. Dane hat sich in der Scheune eingeschlossen. Ich werde mal nachsehen.“

Linda bekam Gänsehaut und fuhr tiefer unter die Bettdecke. „Pass bloß auf“, flüsterte sie.

Ich nickte kurz und rannte die Treppe hinunter, dann über den dunklen Hof zur Scheune. Ich hatte keine Zeit, ihre Angst wahrzunehmen. Wieder einmal war es Dane, der mein Handeln bestimmte, der mich nun auch von Linda wegholte.

Ich muss mir eingestehen, derzeit Angst vor meiner eigenen Courage gehabt zu haben. Doch die Angst um Dane war weitaus größer als alles andere in dem Moment. Das trieb mich durch die kalte Nacht bis vor die verschlossene Scheunentür. Harte, nach Metall klingende Geräusche drangen nach außen. Etwas wurde mit großer Gewalt zerschlagen. Das Klirren von Glas und das Scheppern von Blech ließen mich schaudern, aber auch ahnen, dass Dane seinen Chrysler gerade demolierte. Ich hämmerte mit meinen Fäusten gegen die verschlossene Scheunentür und schrie: „Dane! Mach auf!!“

Nichts geschah. Die Geräusche der Zerstörung drangen weiterhin nach draußen – stetig und unnachgiebig. Ich schrie lauter. Nichts. Ich schrie noch lauter und fand auch nichts Geeignetes, um das Tor zu öffnen. Erst mein vierter verzweifelter Schrei nach Dane fand seine Aufmerksamkeit. Es kehrte Stille ein. Wenig später hörte ich ihn von innen den schweren Eisenriegel zurückschieben. Das Scheunentor öffnete sich langsam und quietschte. Dane trat leise aus dem Schatten hervor und baute sich breitbeinig vor mir auf.

Der Mond schien auf uns nieder. Er hielt eine Axt mit beiden Händen vor seinen Körper. Ich war entsetzt, schluckte und wich einen Schritt zurück. Der Blick meines Freundes verriet eine starke Verwirrung. In Dane steckte ein anderer. Ich wagte es nicht ihn anzusprechen, hielt es nicht für möglich, jemals Angst vor meinem besten Freund zu haben. Nun sollte mich dieses Gefühl doch einholen.

Ich sah noch, wie Dane die Axt anhob und hinter seinen Kopf führte. Dann sauste sie nieder, unbarmherzig und gezielt. Ich schloss die Augen und duckte mich, als die Axt millimeterscharf an mir vorbeisauste und in den Boden einschlug. Ich glaubte, ohnmächtig zusammenzufallen, bis ich wahrnahm, nicht getroffen zu sein. Ein Blick des Triumphs lächelte mich an, während ich ungläubig zu Boden auf die Axt starrte. Wortlos ging Dane an mir vorbei ins Haus unter die Dusche. Er war verschwitzt, dreckig und enttäuscht und glaubte, dies alles mit Seife abwaschen zu können.

Ich war unfähig, mich zu rühren. Sei es der Schock oder die Angst, die mich zittern ließ; ich war zu keiner Bewegung fähig. Ich sah durch das offene Scheunentor auf die Reste seines demolierten Chryslers. Weit verstreut glänzten Glas- und Metallsplitter im Lichtfall des abnehmenden Mondes. Undeutlich erkannte ich im hinteren Teil der Scheune das Wrack der Corvette. Mich überkam erneut ein Schaudern.

Langsam errang ich wieder etwas Fassung und versuchte, die Axt aus dem Boden zu ziehen. Ich spürte den kalten, hinterlassenen Schweiß am Griff und musste feststellen, dass die Wucht des Einschlags die Axt fest im Boden verankert hatte. Erst die Kraft beider Hände gab das Werkzeug frei. Ich entschied, sie hinter der Scheune zu vergraben, bevor sie ernsthaft Unheil anrichten konnte.

Linda!, schoss es mir in den Sinn. Linda war im Haus! Oh Gott! Ich rannte ins Haus und hörte das Wasser in der Dusche laufen. In der Küche schwebte eine ekelhafte Fahne aus Gin und Schnaps. Ich rannte nach oben. Linda lag immer noch verängstigt unter der Bettdecke. Sie konnte unmöglich in diesem Haus bleiben! Nicht mit Dane! Nicht in seinem Zustand!

Ich rief ein Taxi, während er immer noch duschte.

Linda flehte mich an, mit ihr zu kommen, aber ich konnte nicht. Dabei hatte sie so recht gehabt. Ich konnte wirklich nicht. Ich wollte für Dane da sein, der mich meines Erachtens nach jetzt mehr brauchte als Linda.

Fehler!

Dane war immer noch unter der Dusche, als Linda die Farm verließ. Ich hatte sie im Ramada Inn in der Stadt eingebucht und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange beim Abschied gedrückt.

Nun saß ich in der Küche und wartete, dass Dane die Dusche verließ. Wie würde er mir begegnen? Sollte ich die Polizei rufen? Er hatte mich schließlich angegriffen, irgendwie. Ich hatte nichts in der Hand, was ich als Beweis vorlegen könnte. Niemand würde ihn festnehmen, weil er seinen Wagen demoliert hatte.

Die Dusche verstummte. Dane kam heraus und sah kurz zu mir an den Küchentisch herüber.

„Es tut mir leid“, sagte er leise und ging nach oben in sein Schlafzimmer. Mehr konnte er dem nächtlichen Vorfall nicht abringen. Ich rief ihm nach, aber er verriegelte die Tür von innen.

 

Dane lag mit offenen Augen im Bett. Er empfand sein Gefühl als unbeschreiblich: Ein Gemisch aus Wut und Genugtuung zugleich holte ihn ein.

 

Du hast den Chrysler immer gehasst, sagte das Loch. Dr. Recon war ungerecht zu dir. Es ist ungerecht, dass Sarah dich nicht sehen will. Dr. Hendell ist tot. Alles ist Sarahs Schuld. Mit ihr ist nur Unheil in dein Leben gekommen.

 

Dane presste sein Gesicht in die Kissen, damit niemand im Haus sein Weinen hörte.

 

*

 

Am nächsten Morgen bemerkte Dane, dass Sarah nicht neben ihm lag. Er hörte das Geschirr von unten klappern. Der Duft von frischem Kaffee stieg ihm in die Nase. Er dachte, dass Sarah schon auf war und das Frühstück richtete. Dann sah er den Blutfleck auf dem Teppich und die Kreidestriche der ummalten Leiche von Dr. Hendell. Wie ein Blitz holte ihn die Wirklichkeit wieder ein. Sarah war gar nicht da! Sein Herz raste. Wer war unten und klapperte mit seinem Geschirr? Wer war in seinem Haus?

Dane sprang aus dem Bett und lief zum Flurfenster. Unten stand ein alter Chevy vor dem Haus. Dann erinnerte er sich an mich.

Ich hatte den Wagen heute Morgen von der Polizei erfassen lassen und war ihn mit einem Taxi abholen gefahren.

Dane lief zurück ins Schlafzimmer. Er sah zu Boden, und der Alptraum von gestern hatte ihn wieder. Er riss das frische Bettlaken herunter, das Linda gestern aufgezogen hatte, um irgendwelche Spuren der Vergewaltigung von Sarah zu beseitigen. Er fand also keine Hinweise; die Matratze war sauber, genau wie alles andere in dem Bett. Es musste doch etwas zu finden sein, etwas, was seiner aufkommenden Wut einen Grund geben könnte. Dass er nichts fand, war für ihn überhaupt nicht in Ordnung. Wütend schmiss er die große Matratze seitlich aus dem Bett. Sie rempelte Sarahs Nachttischlampe um und schlug gegen ihren alten Frisiertisch, den sie stets mit viel Liebe gepflegt hatte. Ein Erinnerungsstück aus ihrer alten Wohnung in Denver. Glasfläschchen und Cremedosen landeten scheppernd auf dem Boden.

Ich hörte das Geschepper und schaute besorgt nach oben, unschlüssig die Polizei zu rufen. Doch was sollte ich tun, wenn Dane mich wieder angreifen würde – anders als gestern vor der Scheune, endgültiger. Ich versuchte, mich zunächst zu beruhigen. Dane würde mich niemals ernsthaft angreifen, ich war sein Freund.

Dane wusste nicht, wie er das Messingbett zerlegen sollte. Er hasste es vom ersten Tag an. Das Bett seiner Eltern, seines Vaters! Nun hatte auch er drei verfluchte Jahre darin geschlafen, und es war grausam gewesen; es war Sarah zuliebe gewesen. Das war es! Der Gedanke daran gab ihm eine gigantische Kraft. Er riss und zerrte an dem Gestell solange herum, bis es in vier Teile zusammenfiel. Dann öffnete er das Fenster und schmiss es hinaus. Es zermalmte das gesamte Gemüsebeet von Sarah. Dane stieß einen Schrei der Erleichterung hinterher und befreite seine Stirn vom Schweiß. Erledigt.

 

*

 

Sarah hatte diese Nacht sehr unruhig verbracht und auch Beruhigungsmittel abgelehnt. Sie wollte wieder Klarheit in ihr Leben bringen. Die Vergewaltigung von Phil hinterließ keine sonderlichen Narben, da sie diese Prozedur fast vierzehn Jahre lang ertragen hatte. Ihr größter Schock war Dr. Hendells Tod, von dem sie gestern Abend noch erfahren hatte. Sie fühlte sich jetzt mitschuldig, aber auch wieder ganz allein. All ihre Hoffnungen endeten in einer Sackgasse. Sie dachte an Dane, zog es aber vor, ihn in nächster Zeit nicht zu sehen. Sicher hatte auch er einen Schock erlitten, aber sie war nicht mehr in der Lage, ihn zu trösten, geschweige denn ihn zu ertragen.

Es klopfte, und Dr. Recon stand in der Tür. Er lächelte. „Guten Morgen, Mrs. Gelton. Darf ich eintreten?“

Mrs. Gelton! Wie das klang! Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Sarah lächelte gekünstelt und nickte. Sie zog die Bettdecke hoch, versteckte sich bis zum Hals. Der Gynäkologe setzte sich auf ihr Bett und fühlte behutsam ihren Puls am rechten Handgelenk. „Wie war die Nacht?“

Sarah schaute ihn traurig an. Sie suchte nach Worten, die ihm klarmachen sollten, wie verwirrt sie war und wie unsicher sie war, richtige Entscheidungen zu treffen. „Ich habe sehr wenig geschlafen.“

„Viel gegrübelt, was?“

„Ja, das war's wohl. Es ist alles so ... so kompliziert! Was soll ich nur tun?“

„Was wollen Sie denn tun?“

Sarah überlegte lange. Dr. Recon beobachtete sie geduldig. Ihre rechte Hand bettete nun zwischen seinen Händen. Sie empfand es als angenehm. „Ich würde gerne zu meinen Eltern.“

„Was ist mit Ihrem Mann? Er war gestern Abend hier und wollte zu Ihnen. Ich soll Sie grüßen.“

„Dane?“

„Ja, Dane. Er hat ziemlich getobt, als ich ihn weggeschickt habe.“

Sarah entriss ihm die Hand und vergrub ihr Gesicht in beiden Händen.

„Mrs. Gelton, was ist mit Ihrem Mann?“, fragte Dr. Recon irritiert.

Wie sich das anhörte: Mrs. Gelton, was ist mit Ihrem Mann! Es klang abscheulich. Es klang nach Danes Vater und Sarah antwortete: „Er ist krank.“

„Wie krank?“

„Es ist alles so kompliziert ...“

„Mrs. Gelton, hat Ihr Mann Sie vergewaltigt?“

Oh Gott!, auch das hörte sich nach Danes Vater an! Sarah sah erschrocken auf. Sie musste mit dem Hirngespinst, das in ihrem Kopf herumflog, aufhören und sagte entsetzt: „Nein! Es war Phil, mein erster Mann. Das habe ich Ihnen doch gestern gesagt. Dane würde so etwas nie tun!“

„Sicher, Sie haben gestern viel gesagt – wichtige Dinge gesagt, die Sie heute Nachmittag der Polizei mitteilen müssen. Es ist mir wichtig, dass alles seine Richtigkeit hat. Sehen Sie, da scheinen massive Probleme zwischen Ihnen und Ihrem Mann zu stehen, und mir selber fällt es schwer zu glauben, dass ein Dritter an den Geschehnissen beteiligt sein sollte.“

Sarah setzte sich auf und schaute den Arzt direkt an. Er sah nun die Prellungen an ihrem Hals und Brustansatz. Sie erzählte Dr. Recon von den Geschehnissen der letzten Tage. Sie wollte Dane keine Ungerechtigkeit zukommen lassen, fand, dass er mit sich selbst jetzt genug zu tragen hatte.

„Und Dr. Hendell hat es geschafft, ein Gespräch mit ihm zu führen?“

„Ich glaube wohl, sonst hätte er mich gewiss im Laufe des Tages angerufen und informiert.“

Eine Schwester kam ohne anzuklopfen in das Zimmer. „Dr. Recon, ein Dr. Jim Clark ist auf Leitung fünf.“ Sie verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

Sarah entfuhr ein Schrei der Erleichterung: „Jim!!“

Der Arzt schaute sie an: „Kennen Sie Dr. Clark?“

„Ja, er ist ein Freund von uns. Ein guter. Jim!“ Sie konnte nicht glauben, wie ich so schnell von ihrem Aufenthalt hier erfahren konnte. Es gab nur wenige, an die sie sich jetzt zu klammern wünschte. Ich war einer von ihnen.

Dr. Recon nahm den Hörer ihres Telefons ab und drückte auf die Fünf. Die Verbindung stand. „Ja, hier Dr. Recon.“

„Guten Tag, Doc. Hier spricht Dr. Jim Clark. Ich wollte mich gerne nach Mrs. Geltons Zustand erkundigen, bin ein guter Freund von ihr. Können Sie mir Auskunft geben?“

„Sicher, ich bin gerade in ihrem Zimmer. Warten Sie, ich reiche den Hörer hinüber, dann können Sie persönlich mit ihr sprechen.“

Sarah entlud all ihre Gefühle und sagte: „Jim!! Bin ich froh, mit dir zu reden!“

„Hallo, meine Süße. Wie geht es dir heute?“, fragte ich angestrengt gelassen.

„Körperlich gut, aber all das andere ist schlimm. Woher weißt du, dass ich hier bin?“

„Linda und ich sind an dem Abend bei euch angekommen, als Phil hier war. Wohl gerade rechtzeitig. Hast uns garnicht bemerkt.“

Sie stutzte. „Ihr ward dabei?“

„Na, dabei würde ich es nicht nennen, aber Linda und ich sind wohl gerade rechtzeitig angekommen und konnten noch Schlimmeres verhindern.“

„Oh“, sagte sie, „das habe ich gar nicht mitbekommen.“ Dann fragte sie: „Was macht Dane?“

„Sarah, bitte sei mir nicht böse, aber darüber möchte ich mit dir nicht sprechen – nicht jetzt.“

„Ist er ausfallend geworden? Bitte, Jim, sag es mir.“

Ich wusste ihr nicht zu antworten, also sagte ich: „Sarah, das alles hier ist nicht einfach für ihn.“

„Was macht er gerade?“

Ich hörte den Tumult von oben und ging mit den Telefon ins Wohnzimmer. „Gib mir mal Dr. Recon. Ich komm' dich nachher besuchen. Dann erzähl ich dir alles.“

Sie sah auf den Hörer und gab ihn widerwillig ab. Dass sie nichts von mir erfuhr, erfüllte sie wieder mit Angst.

„Kann ich sprechen, Dr. Recon?“, fragte ich, um sicher zu sein, dass Sarah mich nicht hörte.

Recon entfernte sich von Sarahs Bett und ging zum Fenster. „Ja, ich höre.“

„Sie dürfen Mr. Gelton auf keinen Fall zu Sarah lassen. Das ist sehr wichtig. Er ist momentan sehr durcheinander. Er ist unter Umständen sogar gefährlich. Ich werde mich bemühen, ihn heute noch in ärztliche Obhut zu bringen. Ist 'ne lange Geschichte. Falls es mir aber misslingt, und er sollte doch bei Ihnen auftauchen, rufen Sie bitte sofort die Polizei. Die soll ihn festhalten. Ich werde dann vorbeikommen und Ihnen alles erklären. Mr. Gelton ist zur Zeit hier bei mir in seinem Haus. Ich werde Sarahs Eltern informieren, dass sie morgen oder übermorgen ihre Tochter abholen kommen. Ist das okay?“

Der Gynäkologe bejahte. Er sah die Verstrickungen von Sarahs Geschichte und war dankbar, Hilfe von außen zu bekommen. Noch ehe er sich von mir verabschieden konnte, legte ich den Hörer auf. Der Arzt sah besorgt zu Sarah.

 

Ich hörte Dane die Treppe hinunterlaufen und legte geschwind den Hörer auf.

Danes Gesichtszüge waren hart und vergrämt. Dennoch brachte er ein freundliches „Guten Morgen“ über die Lippen. Ich vermochte nicht abzuschätzen, wie aufrichtig seine Freundlichkeit war und antwortete ebenso nett. Es war schon erstaunlich, wie gleichgültig er meine Anwesenheit auf seiner Farm hinnahm.

„Was hast du oben gemacht?“, fragte ich vorsichtig.

Dane überhörte die Frage, wie er alles ignorierte, was unangenehm war.

„Wo ist Linda?“, fragte er.

„Sie ist oben und schläft noch etwas“, log ich, um ihn nicht zu erzürnen.

Dane schien mir die Lüge abzukaufen; das zeigte zumindest sein beruhigter Gesichtsausdruck. Er setzte sich an den Frühstückstisch und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Ich setzte mich dazu. Erneut stellte ich die Frage: „Was hast du oben gemacht?“

Dane schaute trinkend auf. Seine Augen waren ruhig und nett. Seine Antwort klang unbekümmert: „Ich habe das alte Messingbett rausgeworfen. Sarah wollte es so gerne behalten, aber da sie nicht mehr zurückkommen wird, zog ich es vor, endlich rauszuschmeißen. Wollt ich schon immer tun.“ Er sagte es so gelassen, als wäre es das natürlichste auf der Welt.

„Aha“, bemerkte ich, erstaunt über die Leichtigkeit, mit der Dane die Sachlage zu betrachten schien. „Und was willst du noch rausschmeißen?“

Dane lächelte komisch. „Dich?“ Es sollte ein Witz sein, aber es klang nicht so.

„Entschuldige, Jim. War nicht so gemeint.“

„Und was war gestern Abend?“

„Gestern?“

„Ja, vor der Scheune. War das auch nicht so gemeint?“

Dane drückte seine Fingerspitzen an die Schläfen und spürte den einschießenden Kopfschmerz. Er fragte: „Was war gestern Abend vor der Scheune?“

Ich erschrak vor seiner Vergesslichkeit und riskierte eine weitere Provokation: „Du hast den Chrysler zerschlagen und bist mit der Axt auf mich losgegangen.“

Danes Augen weiteten sich, und er sah mich entrüstet an. Dann bildete sich eine tiefe Kummerfalte zwischen seinen Augen. „Was sagst du?“ Er schluckte gierig den Rest seines Kaffees hinunter und warf die Tasse so stark gegen den Kühlschrank, dass sie zerbarst und in unzählige Teile zu Boden schepperte. Er stand auf und verschwand im Badezimmer. Ich blieb erschüttert und sprachlos zurück.

Nachdem er sich geräuschvoll und lange erbrach, hörte ich die Dusche laufen. Mich befiel die Panik. Ich nutzte die Gelegenheit, die städtische Psychiatrie zu informieren. Nach meiner Schilderung der Sachlage sagten sie mir sofort einen Krankenwagen zu.

Dane witterte die Gefahr irgendwie. Er zwang sich, das Duschen kurzfristig abzubrechen.

Mein Magen hob sich. Nun wurde mir schlecht, als ich das Wasser nicht mehr hörte. Kurze Zeit später stürmte Dane aus dem Bad. Ich deckte so unbekümmert wie möglich den Tisch ab, um überhaupt etwas zu tun und ihn nicht ansehen zu müssen.

Mich keines Blickes würdigend, rannte Dane die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer, um sich anzukleiden.

Es blieb nicht nur sein Verstand auf der Strecke, auch sein Sinn für Ordnung schien sich von ihm abzuspalten. Unachtsam schlüpfte er in eine alte, verschlissene Arbeitsjeans, zwei verschiedene Socken, Stiefel und einen Pullover, von dem er nicht wusste, ob er Sarahs oder seiner war. Die rosa Farbe und die zartlila Applikationen irritierten ihn keineswegs. Die wachsende Krankheit machte ihn zu einer jämmerlichen Kreatur.

Als er das Schlafzimmer wieder verließ, sah er kurz in das Gästezimmer. Es war leer, Linda war nicht mehr da. Wütend rannte er die Treppe hinunter zu mir.

Ich bemühte mich gerade, die Reste der zerbrochenen Tasse aufzukehren, als er mich brutal an den Schultern packte und herumriss. Nun erkannte ich den Fehler, den ich heute Morgen begangen hatte, als ich wieder zu dieser Farm zurückgekehrt war – zu meinem Freund, der kein Freund mehr war. Die Augen eines Wahnsinnigen starrten mich an. Ich nahm seine lächerliche Kleidung wahr.

„Warum ist Linda nicht oben?! Wo ist sie?“, schrie er mich an.

Meine Übelkeit wurde stärker. „Ich habe sie weggeschickt.“

„Wann?“

„Gestern Abend!“

„Warum? Warum hast du das getan?“

Ich versuchte, ihn zu beruhigen. Wie lange war es her, als wir zusammen gelacht und ein gutes Glas Gin getrunken hatten? War es nicht an Danes Hochzeit gewesen? Gott, wie groß war der Fehler, zu dieser Farm zurückzukehren!

„Weil sie ein Baby bekommt!“, schrie ich. „Sie ist im sechsten Monat schwanger! Die Aufregung hier ist zu viel für sie! Kannst du das verstehen? Du hast mich gestern fast erschlagen!“

Noch ehe ich reagieren konnte, traf mich ein harter Schlag vor die rechte Wange, was mich überrascht zu Boden riss. Ich schüttelte benommen den Kopf und fühlte das Blut, das meine Wange hinunterlief. Ich dachte kurz an Vancouver, an die Frage: Hat Ihr Freund denn niemals Gewalt anderen gegenüber gezeigt? Dann spürte ich einen Tritt an meine rechte Schläfe und kippte bewusstlos nach hinten.

Dane hob sein Gesicht zur Decke und schrie: „Ich will es nicht!! Aber was soll ich tun?!“

Er riss zornig die Telefonschnur aus der Wand und suchte hastig nach meinem Wagenschlüssel.

 

Ich wurde von zwei Sanitätern wieder zu Bewusstsein geholt. Sie verarzteten eine kleine Platzwunde an meiner rechten Wange und die Prellung kurz oberhalb meiner rechten Schläfe. „Glück gehabt“, versicherten sie mir. Ich stellte fest, dass der Krankenwagen zu spät gekommen war. Ein Blick aus dem Fenster reichte, um festzustellen, dass Dane samt meines Chevys wieder verschwunden war. Blitzartig kam mir Sarah in den Sinn. Ich griff nach dem Telefon und hatte es mit der Einsteckbuchse in der Hand. Die Sanitäter reagierten sofort und machten über ihre Funkanlage eine Meldung an das Krankenhaus und die Polizei. Sie riefen ferner ein Taxi, das mich zu meiner Frau in die Stadt bringen sollte.

Der Krankenwagen der Psychiatrie machte sich mit Sirenengeheul auf den Weg in das Krankenhaus, in dem Sarah lag.

 

Lebe!, jubelte das Loch. Lebe!

 

Dane Gelton fühlte sich völlig normal und kampfbereit. Das bestätigte ihm immer wieder sein Gefühl. Für ihn existierte keine Geisteskrankheit; es gab nur Menschen, die ihm das einredeten. Das verlieh ihm die Kraft und die Sicherheit, richtig zu handeln.

Ein Schutzengel hielt seine Hand über ihn, als er die Stadt mit hoher Geschwindigkeit durchquerte. Er ignorierte den Besucherparkplatz des Krankenhauses und parkte den Chevy direkt vor dem Haupteingang. Sein Haar war zerzaust. Er betrat das Krankenhaus. Die Menschen taten sein Erscheinungsbild mit einem Lächeln ab oder tuschelten leise. Es war ihm egal. Der Aufzug brachte ihn in den dritten Stock zur gynäkologischen Abteilung. Dane riss sich zusammen und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, was aber nichts bewirkte.

Er hatte verdammtes Glück, es war niemand auf dem Flur zu sehen.

Mein Anruf war wohl gemeldet, aber durch den Schichtwechsel der Schwestern noch nicht auf der Station angekommen.

Er fand ohne großen Aufhebens das Zimmer seiner Frau. Ein Türschild deklarierte ja auch nur zu deutlich ihren Namen, Mrs. Gelton. Er öffnete langsam die Türe.

 

*

 

Linda war heilfroh, als ich ihr Zimmer im Ramada Inn betrat. Sie erschrak vor meiner Verletzung und nahm mich in den Arm. Erst da spürte ich das Ausmaß ihrer Angst und fühlte mich schäbig.

„Linda, ich liebe dich“, sagte ich ihr mit Nachdruck, fügte aber schnell hinzu, „es ist aber noch nicht vorbei. Der Krankenwagen hat ihn verpasst. Dane ist wohl mit unserem Wagen zu Sarah. Ich wollte nur kurz bei dir reinschauen, ob alles in Ordnung ist. Ich fahre gleich weiter zum Krankenhaus und werde sehen, was ich tun kann. – Linda, wir müssen ihn kriegen. Er ist vollkommen durchgedreht.“

Linda wollte mich zurückhalten, sah aber, dass es keinen Zweck hatte. Dane stand immer noch zwischen uns; sie konnte ihn nicht verjagen. Das konnte ich nur selbst, und das wusste sie. Doch ich konnte ihr ein Versprechen geben: „Linda, wir werden die Farm nicht kaufen, und ich werde meine Stelle in Santa Ana behalten.“

Sie nickte dankbar.

Als ich das Zimmer verließ, sah ich noch, wie Linda ihren Bauch hielt.

 

*

 

Sarah erschrak, als sich ihre Türe langsam öffnete. Und sie glaubte zu sterben, als Dane im Türrahmen erschien. Er drückte sich vorsichtig durch den Spalt und schloss die Tür dezent hinter sich. Er sah ihre Angst und hielt dort seine Stellung. Der Anblick ihres misshandelten Gesichts jagte ihm Tränen in die Augen. Er war ein Versager. Er wollte sie so gerne in den Arm nehmen und sie trösten. Sie würde schreien, dachte er und unterdrückte das Bedürfnis.

Sarah sah ihn angsterfüllt an. Danes einst so nettes Gesicht ähnelte jetzt tatsächlich einer verlebten Fratze, die nicht mehr wusste, was sie tat. Er war ihr so fremd wie nie zuvor. Sein Blick flehte um ein Wort von ihr, aber sie sah sich nicht mehr in der Lage, ihm die Worte zu schenken, die er hören wollte.

„Ich liebe dich“, flüsterte er leise. Eine Liebe, die er nicht aussprechen konnte, nicht in diese drei kleinen Worte packen konnte.

Sarah konnte ihm darauf nicht mehr antworten. Sie konnte gar nichts mehr, außer ihn bestürzt anzusehen.

„Ich werde einen neuen Arzt finden. Und dann wird alles wieder gut, ja?“

Was konnte sie ihm noch glauben? Sie wusste nicht, was er inzwischen alles angestellt hatte, aber es war sicherlich nichts Unbedeutendes. Sie blieb stumm und betete innerlich um eine Erlösung von Seiten der Ärzte oder Schwestern. Aber nichts geschah, denn niemand hatte ihn bemerkt.

„Ich habe mir Jims Wagen geliehen, damit ich dich besuchen kann. Er kommt auch gleich mit Linda. Sie werden die Heddon-Farm kaufen. Ist das nicht wunderbar?“

Zum ersten Mal waren seine Lügen offensichtlich. Er versuchte dabei fröhlich und ungezwungen auszusehen, aber es gelang ihm schlechter als zu lügen.

Sarah sah gequält zu Boden. Sie sah auf seine Schuhe, die keine Schuhe waren. Er trug Stiefel! Seine Arbeitsstiefel! In einem Krankenhaus? Dann erst sah sie, dass er ihren Pullover und seine alte Arbeitshose trug. Er war unrasiert und ungekämmt. Seine Ordnung schien ihn nicht mehr zu beherrschen, dafür zweifellos das Chaos.

„Sarah! Ich werde mir wieder einen neuen Wagen kaufen – eine Corvette. Ist das nicht wunderbar?“ Er sah ihre Fassungslosigkeit und schluckte verzweifelt. Wollte sie denn gar nichts mehr glauben? „Was hältst du von einem Urlaub? Wir werden uns Städte ansehen. So wie früher. Rick freut sich, wenn ich wieder zur Arbeit komme. Es geht mir gut. Ich habe keine Aussetzer mehr, keine Übelkeit, keine Kopfschmerzen. Nichts! Alles ist vorbei. Es war nur vorübergehend, siehst du, Sarah? – Sag doch was.“

Sein Glaube war beeindruckend. Sie wusste genau, dass er Rick Beaman nie wieder sehen würde. All ihre Mühen waren vergeblich gewesen. Was war aus ihrer Liebe geworden? Ein Wort, dachte Sarah. Sie hatte alles in ihn gesteckt, all ihre Kraft und Hoffnung, um ein glückliches Leben mit ihm zu führen – einem Mann, bei dem sie vom ersten Augenblick an das feste Gefühl hatte, dass er etwas Besonderes war. Das war er – in der Tat. Es tat ihr unendlich leid, ihn mit dieser Krankheit dahinsiechen zu sehen, auch die Zerstörung seines Verstandes und den Verfall seines Körpers in so kurzer Zeit mitzuerleben. Aus Angst, ihn wütend zu machen, antwortete sie schließlich: „Ja, Dane. Es wird alles wieder gut.“

Mit diesen Worten sah er sich veranlasst, zu ihr ans Bett zu dürfen. Sie hatte die Distanz gebrochen. Er kniete vor ihrem Bett nieder und griff nach ihren Händen. Wie warm sie waren, die Hände seiner Heiligen. „Sarah, ich will das alles nicht, aber es kommt. Ich werde einen Arzt finden, der mir hilft. Vielleicht mag Dr. Hendell wieder mit mir sprechen?“

Hatte er vergessen, dass Dr. Hendell bereits vor zwei Tagen in seinem Haus erstochen wurde?

„Er ist ein guter Arzt. Er wird mir helfen. Wenn dein Beinbruch wieder geheilt ist, hole ich dich heim. Es dauert bestimmt nicht mehr lange. Jim ist ein guter Arzt. Er wird sehen, dass alles gut verheilt. Und Johnathan hat uns in sein Restaurant eingeladen … Sobald du wieder wohlauf bist.“

Plötzlich meldete sich das Loch über Danes Stimme: „Gib es auf!!“, schrie es. „Gib sie auf! Sie ist es nicht wert!“

„Lass mich diesen einen Versuch noch starten“, flehte Dane.

„Es ist vergeblich! Mach, dass du wegkommst! Sie suchen dich bereits!“

Sarah war entsetzt. Nun passierte die extreme Entgleisung tatsächlich schon in ihrer Gegenwart, und sie schrie ihn an: „Dane!! Was redest du da?“

Dane erschrak und kniff seine Augen zusammen. Was war denn falsch an dem, was er sagte? Waren es nicht die Worte einer Hoffnung oder hatte er etwa … laut mit seinem Loch geredet? Er hielt sich die Ohren zu, um seinen Namen von ihr nicht wieder zu hören, doch der hallte unzählige Male als Echo in seinem Kopf wieder. Dane! Dane! Dane! Ihm war plötzlich, als hörte er Joan schreien. DANE!! Er hörte ein Geräusch hinter sich und sah sich geschwind um. Hinter ihm standen plötzlich wieder die fünf Männer, die ihn in dem Haus auf der Palloma Street einst zusammengeschlagen und vergewaltigt hatten. Sie lachten ihn an. Ihre Gesichter waren zu Fratzen entstellt. Der große Schwarzhaarige trat hervor. Durch sein Grinsen entblößte er vergilbte Zähne. Seine Haut sah verbrannt aus. Dane roch den Ruß an ihm, dann sah er die halb verkohlte Hand. Die anderen Männer hinter ihm traten grinsend hinzu und bauten sich breit in der Tür auf. Ein schrilles Fiepen erfasste Danes Trommelfell. Es übertönte seinen Namen und schickte ihm einen grausamen Schmerz. Er kam hoch. Kleine Schweißtropfen lösten sich von seiner Stirn und fielen zu Boden. Sein Atem beschleunigte sich, er schrie: „Diesmal kriegt ihr mich nicht!“, und rannte durch den Pulk von Männern, die sich leise in der Tür gesammelt hatten und Zeugen der vorangegangenen Szene geworden waren. Da waren Dr. Recon, der Chefarzt, drei Sanitäter und ich. Er rammte mich als ersten. Ich ging prustend in die Knie. Die Sanitäter reagierten sofort und versuchten ihn in eine Zwangsjacke hineinzujonglieren, aber die Flinkheit seiner Bewegungen überraschte sie zu sehr. Es gelang ihm, sich freizuraufen und davonzulaufen. Doch dann prallte er frontal gegen einen Polizisten, der gerade die Ecke des Ganges passierte. Beide erfasste Benommenheit; Dane weniger als den Polizisten – zum Unglück aller, denn während der Polizist sich aufzurichten versuchte, bemächtigte sich Dane schon dessen Waffe. Er entsicherte sie gekonnt und schaltete den Polizisten mit einem Kopfschuss kurzerhand aus. Chancenlos fiel dieser in seine eigene Blutlache. Sofort fand die Waffe ein neues Ziel: mich. Dane zielte und schrie: „Ihr Schweine!!“

Der zweite Schuss jagte knapp an meinem Kopf vorbei, als ich mich schockiert zu Boden stürzte.

Ehe alle auf diesen Schreck reagieren konnten, war er verschwunden. Wir liefen ihm nach bis zur Ecke des getöteten Polizisten. Der Gang war leer.

Als wir uns alle wieder umsahen, lag Dr. Recon vor Sarahs Tür, und dunkelrotes Blut floss aus der rechten Seite seines Schädels zu einer kleinen Lache zusammen.

 

Keiner bemerkte den Mann mit dem zerzausten Haar und einem rosafarbenen Pullover am Haupteingang. Er verhielt sich beim Verlassen des Krankenhauses unauffällig, und ehe ihm einer Aufmerksamkeit schenken konnte, war er spurlos verschwunden.

Ich war ihm weiter nachgerannt und erschien keuchend am Eingang. Von dort informierte ich die Polizei und gab eine detaillierte Beschreibung ab.

Es wurde sofort eine Suchaktion mit mehreren Fahrzeugen eingeleitet.

Ich fand meinen Chevy. Dane war also zu Fuß unterwegs. Es würde die Suchaktion enorm erschweren. Niemand rechnete mit der Lässigkeit, mit der er sich in der Öffentlichkeit bewegte.

 

Dane fand ein öffentliches Pissoir und erbrach sich, ehe er die Toilette erreichte. Das brachte ihn wieder zur Vernunft. Er reinigte sein Gesicht mit kaltem Wasser und brach verzweifelt in einer nach Fäkalien stinkenden Toilette zusammen.

Ein tiefer Schlaf holte ihn ein und ließ ihn für mehrere Stunden in eine Ecke sinken. Er nahm weder den regen Verkehr, dem das öffentliche Pissoir tagtäglich ausgeliefert war, noch die Fixer neben seiner Toilette, wahr.

Die Glocke der alten Kirche in der Nebraska Avenue schlug sechs Uhr abends.

Dane kam wieder zu sich. Ein starker Schmerz durchfuhr seine Glieder. Die verkrampfte Haltung ließ ihn kaum aufstehen. Er fühlte eine durchnässte Hose zwischen den Beinen und musste sich eingestehen, während des Schlafs den Druck der Blase verpasst zu haben. In der Gesäßtasche der Arbeitshose fühlte er einen schweren Gegenstand. Die Waffe des Polizisten. Dane konnte sich den Besitz zunächst nicht erklären, ebenso nicht seinen Aufenthalt neben dieser Toilette. Er zog sich unter Schmerzen auf den Rand der verschmutzten Toilettenbrille und flehte leise um eine Erinnerung. Nichts. Daraufhin schlug er seinen Schädel mehrmals gegen die Trennwand und begann, auf sich einzureden. Solange, bis er sich erinnerte. Er sah Sarah und hörte den Schuss auf Dr. Recon. Es erschütterte ihn keineswegs, im Gegenteil, er begann sich zusehends wohler zu fühlen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, gezeichnet von stiller Genugtuung. Recon hätte ihn nicht aufhalten dürfen.

 

Dane Gelton verließ die Kabine. Ein alkoholisierter Stadtstreicher hauste unter dem Waschbecken und kam ihm wie gerufen. Gelton tauschte die Kleidung gegen den Willen des Obdachlosen aus. Der hatte keine Wahl in seiner Trunkenheit.

Als Dane Gelton das Pissoir verließ, kleidete ihn eine verschlissene, braune Stoffhose und ein blaugraukariertes Hemd. In dieser Kleidung hatten wir keine Chance mehr, ihn zu finden. Zu seiner Überraschung fand er in der rechten Hosentasche eine abgenutzte Geldbörse, die ihn tatsächlich mit 83 Dollar segnete, das erbettelte Geld des Vortages. Das hatte Perspektiven. Im nächsten Urban-Warenhaus kaufte er Unterwäsche, eine Jeans und ein schwarzes Hemd. Die Kleidung des Stadtstreichers verschwand in einem Mülleimer am Eingang des Stadtparks. Dane konnte nun mit Verlaub sagen, dass er sich besser fühlte. Ein Haarschnitt bei Tonio's war fällig.

Man kannte ihn dort schon lange und begrüßte ihn sehr herzlich. Besonders liebte man seine großzügigen Trinkgelder. So war die Überraschung groß, als Dane nichts als den Betrag für den Haarschnitt und einen netten Gruß zum Tage hinterließ.

Ja, das war es. Jetzt ging es ihm wieder gut. Wer konnte nun noch feststellen, dass er krank war?

Er spürte plötzlich diesen sexuellen Druck, etwas, was er jahrelang nicht mehr gespürt hatte. Es war wie damals, als er noch in Glendale gelebt und sich regelmäßig eine Prostituierte gesucht hatte. Er ging auf die Suche.

Sie war nicht mehr allzu jung, vielleicht 35, hieß Patrica und erlebte zum ersten Mal in ihrem Gewerbe eine solche Vergewaltigung. Dabei sah er so gut aus. Es hätte ihr auf legalem Wege viel mehr Spaß mit ihm gemacht. Aber die Brutalität, die er an den Tag legte, bestürzte sie zutiefst.

Er ließ sie liegen, was sollte es. Sie hatte ihn gesehen, sie würde ihn wieder erkennen, wenn sie gefragt würde. Er wollte sowieso die Stadt verlassen, also, was sollte es? Er verschwand.

 

*

 

Es wurde Zeit für die Farm.

Das Taxi stoppte am Anfang von Fields. Die Farm lag gut eine halbe Meile im Feld.

Dane drückte dem Taxifahrer seine letzten Dollar in die Hand und schlug den Weg zur Farm ein. Der Taxifahrer fuhr schmunzelnd davon, denn soviel Spaß hatte er bei einem Gespräch mit einem Kunden schon lange nicht mehr gehabt. Humorvoll schilderte ihm Dane sein Vorhaben für die nächsten Stunden, und der Fahrer amüsierte sich köstlich dabei. Er erkannte nicht den kranken Ernst der Sache und erfuhr erst Tage später von dem Mörder, den er so unbedacht ans Ziel seiner Wünsche gebracht hatte. Seitdem fuhr er kein Taxi mehr.

Die ausgewachsenen Maispflanzen boten Dane einen hervorragenden Schutz, sich bis zur Farm zu schleichen. Er sah einen Polizeiwagen und meinen Chevy vor dem Haus. Durch Sarahs kargen Gardinenbehang sah er die Schatten zweier Männer, die an seinem Küchentisch saßen und Kaffee tranken. Er schlich zur Scheune und verschwand unbemerkt darin. Die Waffe des Polizisten, die er immer noch bei sich trug, hatte noch drei Schüsse. Es erschien ihm im Zweifelsfalle zu wenig. Sicher, er konnte hervorragend zielen, aber das garantierte ihm nicht unbedingt einen Treffer. Er begann die Axt zu suchen, doch er konnte sie nicht finden. Sie war nicht mehr da. Das machte ihn wütend. Er griff nach einer kleinen Handsense und löste geschickt den Holzstiel von ihr, so dass ihm das Blatt als Waffe handlich und zweckmäßig erschien. Er öffnete leise die Fahrertür seines demolierten Chryslers und fegte mit der bloßen Hand die Glassplitter vom Sitz. Dass es seine Hand zerschnitt bemerkte er nicht. Die Sitzlehne veränderte er zu einer bequemen Liege. Sein Blick fiel auf seine alte Corvette, die vor dem Chrysler stand und vor sich hinrostete. Mit seiner rechten Hand ertastete er noch einmal die Schusswaffe und die Sense auf dem Beifahrersitz, bevor er zufrieden in einen traumlosen Schlaf hinabglitt.

 

*

Sarah erlitt nach Danes Auftritt einen Nervenzusammenbruch und wurde noch am selben Tag in ein Krankenhaus in Colorado verlegt. Sie fand erst wieder durch eine starke Schlaftablette Ruhe, die sie diesmal dankend annahm. Sie hatte Dane endgültig verloren.

 

Ich saß mit dem Polizisten in der Küche und trank Kaffee. Wir waren sehr unruhig, nicht zuletzt auch durch den starken Aufguss. Ich weiß nicht mehr welcher Teufel mich geritten hat, aber ich wollte mich nicht an der Suchaktion in der Stadt beteiligen, sondern auf seiner Farm warten. Obwohl man nicht erwartete, dass Dane hier aufkreuzen würde. So dumm konnte selbst er nicht sein. Doch genau das war es, was er tat – immer das Unerwartete. Man gab mir zur Sicherheit einen bewaffneten Polizeibeamten an die Seite. Wussten wir doch, dass er eine scharfe Waffe bei sich hatte. Mein Instinkt sollte mich nicht täuschen.

 

*

 

Die Gesellschaft Amerikas forderte am Freitag, 28. September 1996, das Opfer seiner Missstände endgültig in die Knie. Kansas hatte ihn geboren und sollte ihn brechen. Was auch immer er an Stolz diesem Land gegenüber in sich getragen hatte, so glaubte er niemals, hier auf dieser Farm das Ende seines freien Lebens zu finden. Vor vier Jahren hätte er wahrscheinlich gelacht, wenn ihm jemand erzählt hätte, dass hier sein freies Leben mit 41 Jahren beendet wäre.

In Dane Geltons Kopf tobten wilde Kriegsgedanken. Er hatte nur das eine Ziel: es allen zu beweisen. In guten und in schlechten Taten, aber mehr in schlechten als in guten. Dieses Ziel ließ ihn um sieben Uhr morgens die Augen öffnen. Die Sonne war bereits aufgegangen. Gleißend kroch sie hinter den gelbgrünen Maisfeldern hervor und tauchte die Farm in pures Gold.

Er dachte an Sarah, wenn sie um diese Zeit ihre Augen aufschlug und ihn anlächelte. Eine Zeit, die niemals wiederkommen würde. Irgendwie hatte er immer gewusst, dass es ohne das Loch nicht klappen würde. Er war ein Kind der Dunkelheit, doch niemand konnte ihm jetzt einen Vorwurf daraus machen. Er hatte alles versucht, um dieser Dunkelheit zu entweichen.

Durch das Geräusch einer Wagentüre wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Er sprang aus seinem Chrysler und lugte durch ein Astloch hinaus auf den Hof. Draußen tat sich etwas. Er sah mich vor der Haustüre stehen. Der Polizist war in seinen Wagen gestiegen und verabschiedete sich von mir mit einem Wink durch das offene Seitenfenster. Dane beobachtete uns eingehend. Er schob seine Waffe vorne in den Hosenbund und ließ das Hemd leger darüber hängen. Übelriechender Schweiß durchdrang seine Kleidung.

Die Scheune, der Schweiß, der Hass – sein Vater … Ekel.

Wer durch Hass getötet wird, kehrt wieder, schoss es ihm durch den Kopf.

Er erbrach sich. Dann öffnete er die Scheunentür und sah zum Haus.

 

Ich war inzwischen wieder in das Haus gegangen und wollte gerade die Toilette aufsuchen, als ich die Drehung des Türknaufs sah. Das versetzte mich sofort in Panik, und wild tastete ich nach der Waffe, die mir Sergeant Parker zum Schutz hiergelassen hatte. Sie war nicht da. Gott, verdammt! Mein Blick fiel ins Wohnzimmer auf die Couch, wo ich sie kopflos abgelegt hatte. Zu spät, um sie zu erreichen.

Dane hatte sich inzwischen Einlass verschafft und baute sich breitbeinig in der Küche auf. Dass keiner von uns mehr ausweichen konnte, war offensichtlich. Wie blutrünstige Hunde in der Kampfarena umkreisten sich unsere Blicke. Da standen sich mittlerweile achtzehn Jahre gute Freundschaft gegenüber, entfremdet durch Krankheit und Wahnsinn. Zu meinem Entsetzen spiegelte sich in den Augen meines Freundes die pure Abscheu wider. Ich wollte wegschauen, aber es war mir nicht möglich.

Ich maß seine ordentliche Erscheinung ab, erstaunt, ihn so vorzufinden. Locker, sagte ich mir, locker.

Ich erhoffte mir dummerweise eine einfache Konversation und sagte: „Hallo, Dane.“

Dane hob den Kopf leicht an und antwortete scharf: „Jim.“

Ich schluckte. „Willst du einen Kaffee? Ich habe zwar gerade einen getrunken, aber eine zweite Tasse wäre nicht schlecht.“ Ich spürte dabei den Druck meiner Blase und hoffte, nicht so elend herausgefordert zu werden, dass ich mich noch einnässen würde.

„Gerne.“

Ich konnte ihm nicht den Rücken zuwenden, wusste von seiner Waffe. So wies ich mit der Hand zum Küchenstuhl. „Prima, setz dich. Trinken wir zusammen.“

Dane kam dem nach, und ich nutzte die Gelegenheit zu einem unauffälligen Rückzug zur Kaffeemaschine. Erleichtert ergriff ich die Kanne, nahm eine Tasse vom Regal und setzte mich zu ihm an den Tisch. Da bewirtete ich ihn tatsächlich in seinem eigenen Haus. Die heiße Kanne ließ ich auf dem Tisch stehen. Vorsicht galt als die oberste Regel der Vernunft, um zu verhindern, was ich dann später doch nicht verhindern konnte.

Wir prosteten uns durch eine leichte Geste zu, wobei ich mich bemühte, die Hände meines Freundes im Auge zu behalten. Irgendwo trug er die Waffe verborgen bei sich. Ich konnte sie förmlich riechen und dachte nur daran, ihn hinzuhalten. Die Ablösung musste gleich kommen. Wie um Himmels Willen hatte er nur diesen Zeitpunkt so exakt abpassen können? Es schauderte mich. Hatte er uns etwa die ganze Zeit schon beobachtet?

Hinhalten, dachte ich wieder. Es konnte mein Leben retten. Ich wusste ja nicht, was Dane noch alles vorhatte. Worüber sollte ich mit ihm sprechen? Ich dachte angestrengt nach und musste wieder schlucken. Überraschenderweise begann Dane das Gespräch: „Das habe ich getan, sagt mir mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich, – das Gedächtnis gibt nach.“

Ich starrte ihn irritiert an und hatte Mühe, diesen Worten zu folgen. Doch dann verstand ich. „Woher hast du das?“

„Freud.“

„Freud?“

„Ja, es hat in deinem Buch gestanden, als du in der Klinik bei mir warst. Dr. Hendell hat es mir auch noch einmal verdeutlicht. Er legte es als Grundlage für meine Verdrängung aus. Interessant, fand ich.“

„Finde ich auch. Was hat Dr. Hendell sonst noch gesagt?“

Dane grinste. „Viel.“

„Erzähl mal. – Interessiert mich.“

„Warum?“

Herrgott!, dachte ich und konnte der Veränderung von Dane kaum Glauben schenken. Ruhig, ganz ruhig, befahl ich mir. „Gut, lassen wir das.“ Ich blieb stumm und überließ Dane das Reden.

„Willst du die Heddon-Farm sehen?“

Gott!, durchfuhr es mich erneut, und ich erkannte die Falle, die er mir stellte. Nichts einfacher als mich dort abzuknallen. Niemand würde vorerst vermuten, dass ich dort läge, während Dane schon über alle Berge wäre.

Verzweifelt suchte ich nach einer glaubwürdigen Antwort. „Ja, gerne. – Aber erst wenn Linda kommt. Sie wird wohl gleich hier sein. Ich will den Kauf nicht alleine entscheiden.“ Linda! Wie ein Schmerz durchfuhr mich der Name. Ich musste überleben, schon alleine für sie und das Baby, auf das wir uns so freuten.

„Linda?“

„Ja! Sie wollte dabei sein.“

„Aber Linda wird nicht kommen. Das weißt du.“

Wieder spürte ich den Schmerz bei ihrem Namen. Hatte Dane ihr etwas angetan? Hatte er sie gefunden und sie verletzt? Oder gar getötet?

Ich wollte aufspringen, ihm an die Kehle gehen, aber dann erkannte ich auch diese Falle, in die er mich locken wollte. Ruhig, ganz ruhig. „Warum sollte sie nicht kommen?“, fragte ich.

„Weil sie Angst vor mir hat.“

„Warum sollte sie Angst vor dir haben?“

Dane verspürte Unbehagen. Sein Machtgefühl bekam Risse. Er überlegte: „Weiß nicht. Sag es mir.“

Ich zuckte so locker wie möglich mit den Schultern und sagte: „Also warten wir auf Linda. Einverstanden?“

Dane war damit gar nicht einverstanden. Wieder wollte jemand die Kontrolle über ihn ausüben. In seine Augen begann sich wieder Zorn zu schleichen. Ich roch plötzlich seinen Schweiß. Mir fiel der Brief ein, den Dane kürzlich an mich geschrieben hatte. „Was hältst du von einer neuen Corvette? Bei uns in Santa Ana gibt es einen Händler, der hat ein weißes Modell mit vielen Extras auf dem Hof. Zwar von 74, aber … was sagst du dazu? Ist doch fast das gleiche Modell.“

Damit konnte Dane momentan überhaupt nicht umgehen. Ein neuer Wagen war das Letzte, an das er jetzt denken wollte. „Wann kommt Linda?“, fragte er.

„Gleich.“

„Ich hab' nicht viel Zeit. Ich muss noch zu Sarah.“

Wusste er nicht, dass Sarah inzwischen in Colorado war? Sein ewiges zweideutiges Reden machte mich ganz konfus. Alles, was er sagte, konnte man in zwei Richtungen jagen, dann aber auch meist in die grundverkehrte. Das war eine Regel, nach der er jahrzehntelang gelebt hatte und die ich nun durchschaute. Mir wurde klar, dass Dane schon immer anders gedacht hatte als andere.

Ich begann unruhig auf dem Stuhl herumzurutschen. Weit entfernt näherte sich ein Auto. Endlich! Ich schluckte und sah ermutigt ins Wohnzimmer zu der Waffe. Dane vernahm ebenfalls das Geräusch des herannahenden Wagens und ging zum Fenster. Er zog die Gardinen zur Seite und sah einen Polizeiwagen kommen. Sein Griff zur Waffe war schnell und fest. Er zog sie flink aus der Hose und zielte auf mich. Ich sprang erschrocken auf, als er seinen Lauf auf meinen Kopf richtete. Sein Atem beschleunigte sich. Er fühlte sich betrogen. „Du Schwein! Es ist nicht Linda! Es sind die Bullen!“

Ich holte tief Luft.

„Halt's Maul, hörst du? Ein Ton, und ich puste dir den Schädel weg!“

Diese Drohung gab mir kaum die Möglichkeit zu antworten.

Dane positionierte sich hinter die Eingangstür – immer meinen Kopf im Visier. Ich wagte es kaum zu atmen und stand bewegungslos vor meiner kalten Tasse Kaffee. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf die Dinge zu warten, die dann geschahen.

Meine Waffe lag unerreichbar weit, die Leitung war tot. Die einzige Verbindung zur Außenwelt befand sich in diesem verdammten Polizeiwagen, der sich unverrichteter Dinge der Farm näherte. Die Chance, an das Funkgerät zu kommen, war gleich null. Dane hatte seine Zielsicherheit schon im Krankenhaus unter Beweis gestellt. Wieso konnte er nur so verdammt gut mit der Waffe umgehen, sie gebrauchen, als wäre sie schon immer ein lebenswichtiger Bestandteil in seinem Leben?

Ich dachte plötzlich an Linda und das Baby und unterdrückte mühsam Tränen der Angst.

Sergeant Bucks öffnete die Tür und flötete ein fröhliches „Guten Morgen“ in den Raum hinein, als ihn ein Schuss in den Hals zu Boden jagte. Mitten in die Hauptschlagader! Er ging wie ein nasser Sack zu Boden und blutete und blutete. Ehe ich einer Bewegung fähig war, starrte ich erneut in die Mündung seiner Waffe. Danes Flinkheit war nach wie vor unübertrefflich.

„DANE!!“, entwich es mir ungewollt.

„Ja ... Ich?“

„Wie kannst du das tun? Er hat dir nichts getan!“

„Er war auf meiner Farm. Das war ein Fehler.“

„Aber ich bin auch auf deiner Farm! Willst du mich jetzt auch umbringen?“ Meine Hände öffneten sich zu beiden Seiten, als empfange ich einen Segen. „Dann tu es jetzt, du Wahnsinniger! Du bist ja krank!“ Ich wusste nicht, welcher Verrückter aus mir sprach, aber dieser bemächtigte sich meiner Stimme und meiner Sprache. Ich erntete nur ein hässliches Lachen.

„Ja, vielleicht. Vielleicht hast du Recht.“ Danes Stimme klang vulgär, und zu meinem größten Erstaunen fand sie plötzlich den Ton einer flehenden, ängstlichen Stimme: „Aber ich will dir nichts tun. Verstehst du das? Jim! Ich WILL nicht!“

„Du bist ein Psychopath“, entfuhr es mir wieder ungewollt.

Dane straffte seine Haltung und wurde wieder ernst. „Ja, Jim, das stimmt. Ich habe euch alle getäuscht. Ich bin nicht der Dane, den Ihr kennt. Ich bin besser, nahezu brillant! Du weißt ja gar nicht, wie ich wirklich bin, was ich fühle, was ich empfinde. Ich habe es genossen, euch alle an der Nase herumzuführen. Und niemand hat auch nur das Geringste gemerkt!“

Ich glaubte nicht, was ich da hörte und sah. Es war nicht nur die veränderte Stimme, es war auch das veränderte Gesicht – beinahe Will Geltons Gesicht. Auch wenn ich es nur einmal kurz gesehen hatte, so hatte Dane doch etwas, was ihm enorm ähnelte. War es die Stimme, die Sarah in der Scheune gehört hatte?

„Was gemerkt? Was sollen wir nicht gemerkt haben?“, fragte ich nach.

„Alles. Die Inszenierung mit dem falschen Namen. Sogar die Behörden haben es mir abgenommen. Lächerlich! Es war so einfach, einen Ausweis zu fälschen. Ihr wusstet auch nicht, dass ich die ganze Zeit in engem Kontakt zu meinem Vater stand!“

„Dein Vater?!“ Ich glaubte nicht, was ich hörte. Jetzt bekam ich endlich die Bestätigung für meine verdrängte Vermutung. „Dein Vater war doch angeblich tot!“

„Ja, das dachte ich auch. Bis zu dem Moment, als er auf mich schoss. Da war mir klar, dass er seinen Tod nur inszeniert hatte. Wir haben dann ein tolles Spiel gespielt. Wir haben Spaß gehabt. Ihr habt dann alles mit eurem Helfersyndrom kaputtgemacht!“

„Seit er auf dich schoss?“, fragte ich.

„Seit ich das Lokal hatte.“

„Ich verstehe nicht! Was für ein Spiel?“

„Siehst du! Du hast es auch nicht bemerkt. Wir haben ein Jagdspiel gespielt.“

Ich schluckte und musste es wiederholen, um es auch wirklich zu glauben: „Ein Jagdspiel? Was habt Ihr gejagt?“

„Na, uns! Er versuchte, mich zu töten. Ich habe gut aufgepasst, und mir ist nichts passiert. Dann habe ich ihn gejagt. Und erwischt! Ich bin der Gewinner!“

Ich konnte es nicht fassen und hatte tausend Fragen: „Wann habt ihr das Spiel angefangen?“

„Ach, Gott! Wann war das? Johnathan und ich hatten gerade das Lokal eröffnet. Hast du das Einschussloch in der Türe des Running Horse nicht gesehen?“

Ich schüttelte den Kopf. War da ein Schussloch?

„Es ist aber da. Das war sein erster Schuss auf mich. Ich hatte echt Glück. Er hatte mich nicht getroffen.“

„Ich verstehe das Ganze nicht. Das musst du mir schon näher erklären.“

„Ich dachte doch er wäre tot.“

„Das dachten wir alle.“

„Er war aber nicht tot. Er hat sich einfach nur aus dem Staub gemacht. Dann kreuzte er eines Tages wieder bei mir auf. Einfach so. Er schoss auf mich, einfach so.“

„Einfach so? Kaum zu glauben.“

Dane kehrte einen Moment in sich.

Ich fuhr fort: „Du warst der einzige überlebende Sohn, der über seine Vergangenheit Bescheid wusste, nicht wahr? Du wusstest, dass er getötet hatte.“

Dane sah auf und begann plötzlich ein völlig unbekümmertes Gespräch mir mir zu führen. „Ja, ich wusste zuviel von ihm, das stimmt.“

Das ermutigte mich, ihn auszufragen: „Warum hast du deinen Namen damals in Glendale geändert? Es war doch keine Notwendigkeit. Du hattest doch einen einwandfreien Leumund mit nach Glendale gebracht. Was also sollte der Namenswechsel?“

Dane sah mich an. Sein Blick wurde bitter.

 

Sei auf der Hut, flüsterte das Loch.

 

Er sagte: „Kannst du dir das nicht vorstellen? Ich war ein Gelton. Ein Gelton! Ich wollte kein Gelton mehr sein. Ich fuhr Tausende Meilen von Kansas fort, um alles loszuwerden. Ich wollte doch nur ganz neu anfangen! Wie konnte ich das, wenn ich einen Sack voller Erinnerungen mit mir herumschleppte? Ich wollte nicht, dass irgendeiner herausbekommt, woher ich komme. Ich wollte überhaupt nichts mehr von meiner Vergangenheit!“

Ich nickte. Das verstand ich. Doch dann interessierte mich noch etwas: „Hast du die ganze Zeit von dem Tod deiner Brüder gewusst? Oder hast du die Geschichten tatsächlich verdrängt?“

Dane begann mit seinem rechten Bein zu wippen. „Ich kann mich nicht mehr erinnern“, sagte er leise, ja fast bemitleidenswert. Dann wurde er nervös. Das machte auch mich wieder nervös. Ich fragte: „Warum bist du damals nicht zur Polizei gegangen, als dein Vater auf dich geschossen hat? Das hätte dir eine Menge Ärger erspart.“

 

Sag es ihm nicht, flehte das Loch. Mach es nicht kaputt. Vernichte uns nicht.

Still!, zischte Dane. Ich weiß, was ich tue.

 

Dane schwieg eine geraume Zeit, dann sagte er: „Weil das nicht so amüsant gewesen wäre.“

Amüsant? Ich war zutiefst verwirrt. Was war an einem Attentat amüsant? Ich fragte nach.

 

Sag's ihm nicht, flehte das Loch, Du machst alles kaputt! Du machst mich kaputt!

 

„Es war aufregend, von ihm gejagt, aber nicht erwischt zu werden!“

Jetzt war es raus!

Dane erzählte: „Es hat Spaß gemacht, endlich stärker und besser zu sein als er. So kam das Spiel zustande. Sei es in einer Gasse oder in einer Kneipe oder einfach nur im Park. Sogar im Lokal tauchte er einmal auf. Draußen auf dem Hinterhof hab' ich ihn dann gekriegt. Da habe ich das Jagdspiel offiziell für uns beide eröffnet. Seitdem habe ich ihn ebenfalls gejagt, wie einen räudigen Hund! Er sollte die gleiche Angst spüren, die ich jahrelang gespürt habe. Und es hat mir Spaß gemacht.“

„Was hast du mit deinem Vater alles gemacht?“

„Mal dies, mal das. Manchmal hat er von mir eines aufs Maul bekommen, manchmal hab ich ihn mit meiner Waffe ein bisschen angekratzt. Er hatte Glück, dass ich oft nicht so gut drauf war, sonst wäre er damals schon vor die Hunde gegangen. Aber ich wollte Spaß, den Spaß, ihn leiden zu sehen; wie gesagt, den gleichen Spaß, den er damals mit mir gehabt hatte, als ich klein war. Hatte ich nicht ein Recht darauf?“

„Hat dein Vater das Spiel auch so gesehen?“

„Anfangs nicht, doch dann hatte er es kapiert. Wir waren uns im Laufe der Zeit ziemlich ähnlich geworden. Man könnte fast sagen, wir waren uns endlich mal näher gekommen!“

Ich dachte unwillkürlich an die unzähligen Flaschen Gin, die Johnathan ständig hinter dem Haus in der Glastonne gefunden hatte. Hatten sie zu dieser Einstellung beigetragen? War Dane ein Alkoholiker, der sich um den Verstand gesoffen hatte? Nein, er hatte den Gin als Beruhigungsmittel eingesetzt, sich regelrecht betäubt. Wie kalt musste man sein, um einem Menschen nach dem Leben zu trachten? Das Gesetz hätte seinen Vater doch kurzerhand aus dem Verkehr gezogen. Aber nein, Dane musste etwas Besonderes daraus machen. Da musste etwas in ihm gewesen sein, dass ihm Erregung geschenkt haben musste, wenn er daran dachte, wie amüsant es ohne Polizei werden konnte. Das war krank! Wie gut passte jetzt alles zusammen! Nie Durchschautes wurde durchschaubar. Die Treffsicherheit von Dane mit der Waffe war uns allen ein Rätsel gewesen, dabei war die Lösung so nahe. Unzählige Schüsse auf seinen Vater dienten ihm als beste Übung zur Sicherheit. Ich glaubte das alles nicht. „Du hast uns nie von deinem Vater erzählt. Warum nicht?“

„Sollte ich mein eigenes Todesurteil sprechen? Ich hatte genauso kriminell gehandelt wie er. Ich war keinen Pfifferling mehr wert. Was, wenn ich ihn getötet hätte? Ich gewinne ein Spiel und gehe in den Knast dafür? In den Knast für die Schmerzen meiner Kindheit? Nein! Nein! Dafür war mir die Sache viel zu ... zu heilig.“

„Warum, verdammt noch mal, hast du nicht alles abgebrochen, ehe es kriminell wurde?“

„Es war die Lust, die zählte. Die Lust, ihn zappeln zu sehen, ihn zu quälen.“

Ich ermüdete und wiederholte mich: „Aber du hättest doch einfach nur alles der Polizei erzählen brauchen.“

„Jim, die hätten mich doch in die Klapsmühle gesteckt! Du kennst mich immer noch nicht. Es war nicht der einfache Weg, den ich gehen wollte. Es war der Reiz, wie weit ich gehen konnte, wie weit er gehen konnte, ohne dass es jemand bemerkte. Er liebte genau wie ich das Extreme. Ich glaube, es hat ihm genauso viel Spaß gemacht wie mir.“

Ja, dachte ich. Bis der Spaß einmal ein Ende hat. Mir kam plötzlich der Überfall auf der Palloma Street in den Sinn. Sollte auch dieser Fall damit zusammenhängen? „Was war auf der Palloma Street passiert? War das auch eins eurer Spiele? War das sein Schachzug?“ Ich verfluchte meinen bissigen Ton, doch genau damit hatte ich ihn erwischt. Ich sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Aus dem machtbesessenen Blick wurde plötzlich ein gequälter.

„Was?“, fragte er verwirrt nach.

Ich wiederholte meine Frage, nicht ganz so provokativ: „Na, auf der Palloma Street. Joan. Deine Vergewaltigung.“ Mir wurde etwas übel bei dem Gedanken.

„Ja“, flüsterte Dane. „Das war sein letzter Versuch.“

„Da stand bei dir bereits fest, dass du ihn beim nächsten Mal töten würdest?“

„Ja.“

„Wusstest du, dass dein Vater in Arizona im Gefängnis saß?“

Dane nickte.

„Warum saß er wirklich?“ Mir schwante Übles. „Hat er die drei Menschen getötet?“

Dane sah mich an. „Woher weißt du davon.“

„Na, Whiseman hat davon erzählt.“

„Was hat er erzählt?“

„Dass mit ihm noch eine weitere Person anwesend war. Warst du das?“ Ich sah ihm in die Augen, die sich meinem Blick zu entziehen versuchten.

Verflucht! In was war ich da hineingeraten? Ich traute mich nicht weiter zu fragen. Doch es ließ mir keine Ruhe. „Hast du geschossen?“

„Nein.“

Jetzt war mir klar: „Du hast ihn schießen lassen, nicht wahr? Aber du bist mit dem Geld des Geschäftsmanns abgehauen, stimmts? Und mit allen Unterlagen.“

Dane grinste.

„Dann warst auch du derjenige, der das Geschäft mit ihm eingefädelt hatte. Was war es? Hast du ihm das Running Horse zum Kauf angeboten? Für 250 000 Dollar? Und Johnathan dazu?“

Dane hörte mit diesem dämlichen Grinsen nicht auf. Es machte mich wahnsinnig.

„Wo ist das Geld geblieben?“

Dane sah hinüber zur Scheune und sagte: „Sieht doch gut aus, das neue Ding. – Weißt du“, sagte er weiter, „wenn ich in eine Sache einsteige, dann richtig oder gar nicht. Hast du je gemerkt, was um dich und Johnathan herum abgelaufen war?“

„Nein, hab ich nicht.“

„Hast du je gemerkt, dass ich abends vollkommen erledigt bei der Arbeit im Lokal war? Oder Hinweise auf einen Krieg gezeigt habe, der neben euch ablief?“

„Nein.“

„Und du zweifelst an meiner Genialität?“

Ich schwieg erschüttert. Dann fragte ich: „Wie hast du es geschafft, die Sache im Krankenhaus durchzustehen?“

Grinsen. „Perfektion! Komplett! Total! Du stehst über den Schmerzen, du stehst über dir selbst. Du nimmst eine Person an, die das bietet, was erwartet wird. Ihr habt mich dazu gezwungen, die Geschichte weiterzuspielen. Was hättest du gesagt, wenn ich aufgestanden und einfach nach Hause marschiert wäre?“

„Du hattest dich absolut nicht unseren Erwartungen gemäß verhalten. Wir hatten erwartet, dass du wieder zu dir kommst, mit uns redest, Betroffenheit zeigst, dich verletzt fühlst, aber auch wieder aus der Sache herausfindest. Du hast deinen Charakter gebrochen und den eines anderen Menschen angenommen, der uns höchst verwirrt hat.“

„Spiel im Spiel.“

„Wie meinst du das?“

„Es begann Spaß zu machen, zu sehen, wie ihr Euch alle sorgt. Wie Ihr alle verwirrt ward und was Ihr ohne mich tun würdet. Ich habe es genossen.“

„Es war zu doll!“

„Ich liebe das Extreme.“

„Du hättest es abbrechen müssen!“

„Warum? Es ging mir gut.“

„Wegen Vancouver!“

Stille. Dann sagte Dane: „Ja, Vancouver. Was hast du dir dabei gedacht? Die haben mich mit Tausenden von Elektroden verkabelt, um herauszufinden, ob ich bekloppt bin. Ja, da wurde mir klar, dass ich das Spiel übertrieben hatte!“

„Es war doch nur ...“

„Scheiße war das! Meinst du, ich habe das alles nicht mitbekommen? Ihr Schweine habt mich von Kopf bis Fuß festgebunden! Wie sollte ich mich wehren?“

„Du konntest doch reden! Endlich das verdammte Schauspiel abbrechen. Warum hast du das nicht getan?“

„Ihr habt mich taubgespritzt!“

„Taubgespritzt?“ Ich glaubte es nicht.

„Ja! Im Labor! Die vielen Spritzen! Meinst du, die haben mir nur Blut abgenommen? Die haben mich mit Valium vollgepumpt, bis es mir aus den Ohren kam! Ich konnte nicht mehr reden und mich nicht mehr bewegen!“

„Gott!“ Mir wurde schwindelig. Was hatten die Ärzte in Vancouver nicht alles von Dane erzählt. Und ich hatte gelacht! Sie hatten Recht gehabt! Alle. Dane war nicht nur auf dem besten Wege, sich zu einem gefährlichen Psychopathen zu entwickeln; er war bereits einer gewesen. Alle hatten mit der Kälte im Kopf recht gehabt. Sie wollten noch weitere Tests durchführen, aber ich hatte es nicht zugelassen, war durch die illusionäre Freundschaft zu diesem Monster geblendet gewesen. Ich hatte alle Warnsignale übersehen, mir eingebildet, dass alle Unrecht hatten. Einer hatte immer nur Unrecht, und das war ich. Meine durch und durch schlechte Menschenkenntnis traf mich hart und raubte mir einen weiteren Funken meiner Kraft. Hätte ich damals den Aussagen der Ärzte in Vancouver nur ein bisschen Glauben geschenkt, so wäre vieles vermieden worden. Was hätte ich nicht alles verhindern können. Drei Tote! Oder vielleicht sogar mehr?

„Aber die Klinik in Dallas!“, bohrte ich weiter.

„Ja, stell dir vor, fast hättet Ihr mich in die Klapsmühle bringen lassen. Gar nicht auszudenken, wenn ich da gelandet wäre. Mein Vater hätte sich totgelacht.“

„Und warum hast du uns nicht klargemacht, dass du das nicht gebraucht hast?“

„Irgendwie hat es auch Spaß gemacht.“

„Spaß?? Du Spinner! Was war dein wirklicher Grund, dort zu bleiben?“

„Sarah.“

„Sarah?? Was hatte sie damit zu tun?“

„Sie hat mich zur Vernunft gebracht. Schon in der ersten Woche, als ich sie kennenlernte, ist mir klar geworden, dass alles aufhören musste. Aber das war nicht so einfach. Ich musste erst einmal eine Strategie entwickeln.“

„Es war dir zu gefährlich geworden, stimmts?“

Dane wurde unwohl. Ihm war nichts zu gefährlich. „Man kann sich nicht allen Welten gleichzeitig stellen.“

„So ist es“, vollende ich seinen Gedanken. „Also musstest Du einen Weg finden, deinen Vater endgültig loszuwerden, richtig? Damit Sarah in dein Leben konnte. Doch sie würde nicht so leicht zu täuschen sein wie Johnathan oder ich, stimmts?“

Dane grinste mich an, und ich erschrak mich vor mir selbst, mit welcher Gelassenheit ich plötzlich über ein perverses Spiel sprach.

„Es wurde Zeit, mich wieder in normale Bahnen zu lenken.“

Normale Bahnen!!

Ich redete, von Neugier getrieben, weiter: „Erzähl mir von deiner neuen Strategie. Dein Vater saß im Gefängnis. Wie hast du es geschafft, ihn in diese Klinik zu bekommen?“

Dane holte tief Luft: „Ich brachte die Wahrheit ans Tageslicht. Davor hatte er am meisten Angst.“ Er setzte eine kindliche Fratze zur Schau. „Ich musste mir etwas einfallen lassen, was euch überzeugte. Ich musste erst mal an meinem Verhalten arbeiten. Ein gutes Gemisch von Verhaltensstörungen und dann die Träume. Die Auflösung eines Verdrängungsprozesses ist mir doch wirklich gut gelungen, findest du nicht?“

Absolut. „Mit dem Unterschied, dass du nie unter einer Verdrängung gelitten hast.“

„Richtig!“

Ich schüttelte den Kopf, konnte es nicht glauben. „Du hast Roosevelt und mich vollkommen getäuscht.“

„Das war nicht schwer. Dass du aufkreuzen würdest, konnte ich ja nicht ahnen. Du hast es nur etwas komplizierter gemacht. Durch dich musste ich meine Träume auch leben.“

„Du hättest Roosevelt sonst nur erzählt, dass du geträumt hast.“

„Genau. Ich habe mich damals sehr über dich geärgert. Weißt du, wie schwer es ist, sich in Träume hineinzuschlafen und alles wieder wirklich zu fühlen? All die Wut, den Hass?“

„Ich dachte, es hätte dich entlastet! Ich dachte, du wärst vor Kummer um deine Vergangenheit fast eingegangen!“

"Ich war sauer! Das war alles! Du hast mit Johnathan begonnen zu recherchieren. Ihr seid der Geschichte viel zu schnell auf die Schliche gekommen. Du hast mich wie eine Zitrone ausgepresst, hast in meinem Apartment herumgeschnüffelt, mir Sachen geklaut, die dir rechtlich nicht zustanden.“

„Du redest von rechtlich? Ist ja lächerlich!“

Dane spannte den Hahn. Ich riss mich zusammen. „Wusste Johnathan von deinem Spiel, deinem Vater?“

„Woher denn?“

Ich war fassungslos. „Was war mit deiner Stummheit?“

„Hat es nie gegeben. Es untermalte nur hervorragend meine Rolle.“

 

Ich war's, nicht du!!, ärgerte sich das Loch. Ich habe dich stumm gemacht. Schmücke dich nicht mit fremden Federn!

 

Ich fragte: „Du hast von Anlocken gesprochen. Du wolltest deinen Vater in die Klinik locken. Die Geschichte war nun auf dem Tisch. Wer hatte sie deinem Vater zugetragen?“

„Rhyan.“

Ich schluckte. „Rhyan?? Woher weißt du das?“

„Er kam irgendwann einmal völlig aufgelöst zu mir und erzählte mir von seinen Schulden. Dass er sich nebenbei etwas Geld verdienen musste. Und auf welchen Deal er sich eingelassen hätte. Rhyan war nicht sehr klug. Ich bot ihm ebenfalls Geld an, mehr als mein Vater, wenn er die Informationen weitergeben würde, die ich bestimmte. Das machte vieles leichter. Es war ein guter Deal. Und Rhyan brauchte sich keine Sorgen darüber machen, ob er etwas falsch machte.“

„Das heißt, bei deinem Vater sind von dir gesteuerte Informationen angekommen?“

„Und die Waffe.“

„Du hast ihm die Waffe organisiert? – Wie?“

„Rhyan.“

„Rhyan hat ihm die Waffe gebracht?“

Dane nickte.

Nun wurde mir vieles klar. „Deswegen hat er sich umgebracht. Ihr habt ihn in ein kriminelles Netz verwickelt. Er hat dafür gesorgt, dass dein Vater ein gutes Timing für den Ausbruch erhielt und war dadurch indirekt an dem Tod deines Vater beteiligt. Das hat er nicht verkraftet.“

„Könnte man so sagen.“

Ich stellte fest: „Du hast deinen Vater getötet, stimmt's?“

„Ja.“

„Und ich habe dich gedeckt.“

„Danke.“

„Du hast auch Rhyan den Ledergürtel zugesteckt, mit dem er sich erhängt hat!“

Dane nickte. Ich war erschüttert. Wie viele Leichen hatte Dane für dieses Spiel noch hinterlassen? Ich hörte, wie er weitersprach: „Rhyan war sehr zerbrechlich. Er hätte den Prozess nicht durchgehalten. Eigentlich zu schade. Man konnte guten Sex mit ihm haben.“

Ich starrte Dane an. Sex mit ihm? „Du … du bist bisexuell??“

„Ja.“

Nun wurde es für mich anders unangenehm. Nicht wegen einer bisexuellen Neigung. Um Gotteswillen, ich habe absolut nichts gegen Bisexuelle. Ich glaube, ich war von mir selbst entrüstet, von meiner kompletten Fehleinschätzung, dass ich diese Neigung nie bei ihm bemerkt habe. Wie oft hatte ich ihn mit Frauen flirten und im Apartment verschwinden sehen. Da war nie ein Mann dabei gewesen. Ich habe ihn niemals im Umgang mit Männern als auffallend empfunden. Er war mit einer Frau verheiratet! Wusste Sarah das?

Ich musste schlucken und schlussfolgerte weitere Zusammenhänge: „Du hast Rhyan Geld für Sex gegeben.“ Diese Feststellung musste raus.

„Ja. Er konnte es ja gut gebrauchen.“

Ich konnte nicht widerstehen: „Hat er alles für Geld gemacht?“

Dane grinste.

Ich wollte mir über Danes Sexphantasien gar keine Gedanken machen, es ging mir um die kriminelle Tat, die dahinterstand. Und doch war meine Neugier gerade stärker als der Wunsch, alles zu verstehen. „Rhyan hatte sich durch dich in ein Milieu von Erpressung und Mord begeben.“

„Ja, das hatte er“, verstärkte er noch einmal mit einem breiten Grinsen.

„Du hattest also in der Klinik auf deinen Vater gewartet. Du hattest die Klinik als Treffpunkt genutzt, um das Spiel endgültig zu beenden. Hattest du keine Angst um Sarah? Dass du sie in Gefahr bringen könntest? Immerhin war dein Vater mit Mordabsichten unterwegs.“

Jetzt hatte ich einen wunden Punkt erwischt. Dane stockte in seiner Erzählung. „Deswegen habe ich sie gebeten, am Tag meiner Abreise im Zimmer zu bleiben.“

Ich nickte. Auch das war wahr. Sarah hatte sich an dem Tag nicht von ihm verabschiedet. Das hatten sie in der Nacht zuvor abgesprochen. Mich quälte noch eine andere Frage: „Warum hat Rhyan dich töten wollen, als alles vorbei war?“

„Sag es mir.“

„Er hatte Angst, dass du ihn auch umbringen würdest.“, sagte ich ungläubig. „Er wusste, dass du krank bist, nicht wahr?“

Dane wurde zornig und sagte: „Nein ..., nein, Jim! Ich bin nicht krank! Ihr ...“, und er zeigte mit dem Finger auf mich, „Ihr redet mir nur die ganze Zeit ein, dass ich krank bin. Was habe ich getan? Die ganze Zeit habe ich mich nur gewehrt! Ich habe niemals angegriffen! Ich bin kein gewalttätiger Mensch!“

Ich schwieg und hörte die Welle der Empörung über mich hinwegrauschen. Während er Rotz und Blut spukte, dachte ich an Rhyan, den Armen. Er hatte das Gewaltpotential von Dane erkannt und wollte die Chance nutzten, ihn zu vernichten, als er angeschossen auf der Krankenstation lag. Im Grunde wäre es eine gute Tat gewesen. Es hätte viel Opfer erspart. Es hätte auch sein eigenes Leben gerettet. Die Angst von Rhyan Dane gegenüber muss gewaltig gewesen sein. So unerträglich, dass er nur einen Ausweg sah. Dane musste ihn in der Zelle unter starken Druck gestellt haben. Nun saß ich im gleichen Boot wie er. Dane hielt auch mir sinnbildlich den Gürtel zum Erhängen entgegen.    

Als Dane sich wieder beruhigt hatte, fragte ich leise: „Warum die Farm? Das Glück mit Sarah?“

Nun stockte Dane. Er schluckte. Seine Gesichtszüge wurden weicher. „Ich habe mich in sie verliebt. Schon am ersten Tag. Mit ihr sah ich die Chance, wieder ein normales Leben zu beginnen und mir zu beweisen, dass es auch ohne den Kitzel funktioniert.“

Man höre: KITZEL!! Als wenn das Töten von Menschen ein Kitzel wäre!

Er fuhr fort: „Ich wollte ihr beweisen, dass ich als ganz normaler Mann leben kann.“

„Dann, wenn dein Vater aus dem Spiel wäre.“

„Genau.“

„Was ist passiert?“

„Es hat nicht funktioniert.“

„Dein Kitzel fehlte.“

Dane nickte.

Ich ergänzte seine Gedanken: „Anfangs war alles ganz leicht, weil es neu war. Und du warst wahnsinnig glücklich. Hast gedacht, na, das läuft ja prima. Was sollte noch schief gehen? Aber dann begann sich vieles zu ändern. Von heute auf morgen peitschten so viele dumme Sachen auf dich ein – andere Sachen, als du es gewöhnt warst. Sachen, die fremdbestimmt waren. Du hattest deine Macht verloren. Deine Corvette war hin, die Heddons verstarben, Sarah hatte sich sterilisieren lassen. Und so weiter. Alles schlechte Sachen für dich. Aber so ist das Leben nun mal, wenn man es in normale Bahnen lenkt.“

 

Hörst du!, schrie das Loch. Selbst Jim hat die Wahrheit erkannt! Du wärst besser allein geblieben!

 

„Sei still!!“, schrie Dane.

Schrie er mich oder schrie er das Loch an?

„Ich wollte das alles nicht!“, schrie er weiter.

„Was wolltest du nicht?!“, schrie ich zurück!

„Das sie sich sterilisieren lässt!“

„Aber sie hatte einen Grund dafür!“

„Nein, hatte sie nicht!“

„Wie bitte?“

„Wie kann ich von vornherein beurteilen, ob ich ein krankes oder gesundes Kind zur Welt bringe? Dass mein Vater krank war, sprach nicht dafür, dass mein Kind auch krank werden würde.“

„Sie dachte dabei nicht unbedingt an deinen Vater!“

Dane wurde nervös, er verstand durchaus.

„Was war passiert, nachdem Sarah sterilisiert war?“, fragte ich weiter.

„Ich weiß nicht. Ich … ich war einfach nicht in der Lage, das hinzunehmen. Als ich dann auf Sarahs Bitte hin diesen Psychiater aufsuchte, entstand dieses große Dilemma. Wer konnte denn ahnen, dass Sarahs Mann auftaucht und so etwas anrichtet? Jetzt ist alles aus. Sarah will mich nicht mehr sehen. Sie gibt mir keine Gelegenheit, alles zu erklären.“

Irgendwie war an der Sache was dran. Sarahs Exmann hatte tatsächlich die verfahrene Situation noch verfahrener gemacht, als sie schon war. Aber es hätte nichts an Danes Zusammenbruch geändert, höchstens den Zeitpunkt. Irgendwie war ich gerührt und entsetzt zugleich. Warum hat Sarah ihm nicht die Gelegenheit gegeben, sich weiterhin an einen Psychologen zu wenden? Die Antwort lag plötzlich klar auf der Hand, und ich sagte: „Vielleicht ist sie deine Erklärungen leid.“

Dane nickte. „Sie hat sich so entschieden. Ich kann es nicht mehr ändern.“

Das hörte sich so einsichtig wie alarmierend an. Im Laufe dieses Gespräches, was sich über eine lange Zeit hingezogen haben muss, habe ich nicht an die Gefahr gedacht, in die ich mich begab. Dane hatte sich so aufrichtig all meinen Fragen gestellt, das es mir nicht in den Sinn kam, mir damit mein eigenes Todesurteil zu schaffen. Er würde mich nie mit diesem Wissen je wieder in die Freiheit lassen!!!

 

„Was hast du jetzt vor?“, fragte ich und wusste, dass es nun wirklich gefährlich wurde. Ich sah angewidert zu der Leiche des Polizeibeamten an der Tür, die inzwischen von einer großen Blutlache umgeben war. Ich hörte Dane sagen: „Jetzt muss ich auch dieses Spiel beenden. Es heißt überleben, Jim. Um jeden Preis.“

Meine Anspannung, mit der ich ihm die ganze Zeit gegenüberstand, wechselte in große Unruhe, und ich schrie plötzlich wutentbrannt: „Sarah hat dich durchschaut! Von Anfang an!“

Das war die Sprache, die er sprach, und unsere Aggressionen peitschten sich wieder hoch. Er antwortete mir: „Zu früh! Sie gab mir keine Chance, mit dem Entzug alleine fertig zu werden! Sie mischte sich in alles ein! Immer versuchte sie, mich zu bevormunden!“

„Sie war besorgt! Sie liebte dich! Dein Verhalten hat sie sehr durcheinander gebracht!“

Sein Ton wurde ruhiger. „Vorbei, Jim.“

„Verstehst du sie?“, fragte ich.

„Vorbei.“

„Okay.“ Ich gab mich geschlagen. Ich hatte alles gehört, was ich wollte.

Dane drehte sich erbost zur Seite. „Herrgott!“, rief er, „es ist vorbei!“ Dann sah er nach oben, als würde er mit Gott sprechen.

Ich wurde aufmerksam, doch ehe sich mir die Möglichkeit zu einer Handlung bot, hielt Dane die gespannte Waffe wieder unmittelbar vor meine Stirn. „So nicht, Jim. Gib Acht, was du tust. Es könnte dich das Leben kosten.“

Meine Blase drängte immer mehr; zwei Tassen Kaffee wollten zur Toilette gebracht werden. Ich sah jedoch keine Möglichkeit, dies zu tun. Wie klein war meine Hoffnung, die Gelegenheit zu bekommen, dies alles der Polizei zu erzählen; es überhaupt jemandem erzählen zu können. Es wurde zu einer unerträglichen Qual in meiner Seele. Ich fühlte mich dreckig, ausgenutzt und missbraucht.

Mir fiel plötzlich etwas ein: „Was war mit den Tagebüchern deiner Mutter?“

Dane stockte und sah wie gelähmt zu mir herüber. „Woher weißt du das?“

„Sarah hat es mir vor ein paar Tagen erzählt. Was war das für eine Geschichte in der Scheune mit deinem Vater? Noch ein Clou von dir?“

„Was hat sie dir erzählt?“

„Sarah hat dich zweimal beobachtet. Du hast in der Scheune gesessen und mit jemanden geredet, der nicht da war. Es hat sie sehr beunruhigt.“

„Dieses Biest!!“, entfuhr es ihm.

"Dane, was ist da in der Scheune mit dir passiert?“

„Nichts!“

„Es war nicht Nichts! Eine Lüge oder eine neue Inszenierung?“

Ja, was war da in der Scheune passiert? Dane stellte bestürzt fest, wie alles durcheinanderkam. Was war noch real, was nicht? Sein Erinnerungsvermögen lief Amok.

„Hast du dir die Geschichte nur eingebildet? Eine Halluzination?“

„Ich habe keine Halluzinationen!“

„Aber das war doch total verrückt! Du sitzt da, redest mit dir selbst und erfährst von dir ein Geheimnis, das du gar nicht wissen konntest. Wie das?“

„Du machst mich ganz konfus! Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Wer hat dir wirklich von den Tagebüchern erzählt?“

Dane konnte sich absolut nicht an die Szene in der Scheune erinnern. An die Tagebücher wohl, aber nicht an die Gespräche mit seinem Vater. Er hatte alles vergessen.

Ich vermute mal, dass es die letzten Worte seiner Mutter waren, als er sie damals halb erstickt in das Krankenhaus von Kansas City gebracht hatte. Ihr Geflüster, was keiner verstanden hatte, weil es so leise und unscheinbar den Weg über ihre Lippen gefunden hatte, dass nicht einer auf den Gedanken gekommen war, dass sie etwas Wichtiges gesagt hatte. Doch irgendwo hatten sich diese Worte in seinem Verstand eingehakt – leise, fast nicht zu hören –, und er hatte das Versteck der Tagebücher auf diesem schizophrenen Wege abfragen können.  

Ich entwickelte eine Strategie: „Was, wenn ich dir helfen könnte, doch wieder ein normales Leben zu führen? Du suchst die Möglichkeit, ein normaler Mensch zu sein.“

Dane lachte! „Zu spät. Wer wird mir glauben? Wer wird dir glauben?“

„Wir lassen uns etwas einfallen. Wir sind Freunde. Vielleicht macht es mir ja auch Spaß, ein bisschen Kitzel zu haben. Deine Geschichten hören sich gar nicht so schlecht an.“

„Du bist so scheiße naiv!“ Damit zerschmetterte Dane meine Strategie, und ich war seinen Stimmungen wieder ausgesetzt. „Du weißt, dass ich dich nicht einfach laufen lassen kann.“

Ich unternahm einen letzten Versuch: „Wir lassen uns eine Geschichte einfallen, die wir der Polizei auftischen können.“

„Ich habe in aller Öffentlichkeit zwei Menschen getötet! Hast du das vergessen?“

Ja, das hatte ich gerade vergessen!

„Da hört das Spiel für uns auf. Es ist kaputt. Wie willst du einen Krieg gewinnen, wenn du deine Strategie offen auf den Tisch des Gegners legst? Man muss eine Geschichte schon von Anfang an gut inszenieren. Jetzt ist alles zu spät.“

„Dein Spiel ist perfekt!“, lobte ich ihn. „Dir wird auch jetzt etwas einfallen, wie du –, wie wir, aus der Sache herauskommen“, sagte ich und spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.

„Meinst du?“, fragte er.

„Ja“, sagte ich vorsichtig, „du bist genial.“

„So?“

„Ja“, sagte ich noch einmal.

„So?“, wiederholte er etwas lauter, voller Ironie.

Ich schwitzte noch mehr. Dieses verdammte so raubte mir den Atem.

„Deine Idee hat nur einen Haken“, sagte er und sah kurz zum Fenster.

„Der wäre?“, fragte ich zitternd.

„Es wird uns keiner glauben.“

Mir wurde schlecht. „Warum?“, würgte ich heraus.

Du bist doch der Realist.“ Dane lächelte. Er sagte: „Du bist ein verdammt harter Gegner für mich“, und sah mir dabei direkt in die Augen. Ich dachte an seine Philosophie: Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter, und es traf mich wie ein Blitz. Wie konnte ich mit einer Waffe vor der Nase ausweichen? „Ich will nicht dein Gegner sein“, flehte ich.

„Dann verlierst du schneller als du denkst.“

Ich sammelte meinen letzten Verstand zusammen: „Was ist mit Dank? Bringt mir Dank eine Chance?“

„Dank? Was würde das ändern?“

„Aber ich habe keine Chance bei deinem Spiel zu gewinnen. Das Prickeln wird dir dabei fehlen. Alles wird sich zu einer lahmen Tat entwickeln, ohne dass du so richtig das Gefühl hättest, herausgefordert zu werden.“

Da war etwas dran, doch ich musste vorsichtig sein. Eine unachtsame Bewegung und … Nein, darauf wollte und konnte ich mich nicht darauf einlassen.

„Du hast die Chance, vor mir zu stehen.“

„Klar, und du mit einer Waffe in der Hand!“

„Mein Vater hatte auch eine Waffe, und trotzdem habe ich gewonnen.“

„Das ist feige.“

„Nichts ist feige im Leben. Man muss nur richtig damit umgehen können.“

„Wie kann ich das jetzt? Ich bin nicht vorbereitet.“

„War ich es in der Klinik?“

„Aber deine Waffe ist viel näher, als die deines Vaters zu dir war. Ein Schuss und du pustest mir den Schädel weg. Du wurdest nur an der Schulter getroffen. Können wir uns nicht anders einigen?“

Dane senkte plötzlich die Waffe und begann zu weinen. Was war geschehen? Seine Augen quollen über vor Tränen, und er biss sich auf die Lippen. Der bewaffnete Arm hing kraftlos herunter, und es erschien mir, als mache er eine unerwartete Wandlung durch. Ich war sprachlos und erkannte nicht die Täuschung, die sich dahinter verbarg. Was ich sah, war die Gelegenheit, meinen Freund hier und jetzt in dem Karussell seiner kranken Gedanken und kurzen lichten Momente auffangen zu können.

Mit langsamen Schritten ging ich auf ihn zu, um ihm die Waffe wegzunehmen. Ich war so dumm. Ich hatte nichts begriffen. Das Gespräch hätte mich doch aufmerksam machen müssen. Dane war ein Fallensteller, ein Spieler, egal, was er tat. Er machte alles zu einer Falle. Und ich tappte geradewegs in seine letzte hinein.

Der nahe Schuss dröhnte durch das gesamte Farmhaus. Ich sah ungläubig auf das kleine, runde Loch in meiner Hose am rechten Oberschenkel. Ich spürte die Kugel inmitten meines Knochens – brennend und stechend. Blut floss. Jaulend ging ich in die Knie.

Immer noch hing der Arm von Dane schlaff herunter, nur die Waffe hielt er im leichten Winkel nach oben. Ich hörte noch den Hohn in seiner Stimme, als er sagte: „Das war deine Chance! Du hast sie leider verpatzt!“ Dann spürte ich einen harten Tritt gegen meinen Kopf. Das ließ mich meine falschen Hoffnungen vergessen. Ich fiel benommen zu Boden.

Dane starrte mich an und schmiss die Waffe zur Seite. Er sah zu dem toten Polizisten, der in der Eingangstür lag und zog ihn in die Küche hinein. Dann suchte er nach einer Kordel, um mich zu fesseln.

Mein letzter Weg auf dieser Farm sollte zur Scheune sein. Sie hatte für Dane immer noch eine magische Anziehungskraft für das Grausame.

Der Dreck, durch den er mich zog, bohrte sich in Augen, Mund, Nase und Ohren. Das ließ mich mehr und mehr wieder zu mir kommen. Der Staub brachte mich zum Husten. Es schmerzte überall, jedoch am meisten an meinem Oberschenkel. Mein gesunder Menschenverstand konnte dem, was da passierte, nicht folgen.

Dane zog mich in die Scheune bis zum Chrysler. Mein Kopf streifte eine Lache aus Erbrochenem. Das löste auch bei mir einen Brechreiz aus, dem ich widerstandslos nachgab. Dann ließ er mich einfach liegen und schloss die Scheunentür. Jetzt umschwirrte mich eine unheimliche Dunkelheit. Ich war alleine. Dane war nicht bei mir geblieben. Er hatte mich abgelegt wie ein Stück Vieh, dem er sich später zuwenden wollte. Was hatte er vor? Ich zerrte an den Fesseln herum, aber sie waren zu fest. Panisch blickte ich auf die Ritzen der Bretter, die ein paar Strahlen der morgendlichen Sonne auf meinen Körper warfen. Ich heulte, versuchte, mir eine Vorstellung von Danes Vorhaben zu machen. Stellte aber deprimiert fest, dass die Möglichkeiten seiner Ideen nach wie vor bis ins Unermessliche gingen.

 

Dane Gelton ging zurück zum Haus. Er war froh, erst vorige Woche den großen Benzinkanister nachgefüllt zu haben. Das Benzin reichte für das gesamte obere Geschoss bis hinunter zum Wohnzimmer. Er warf den leeren Kanister in die braune Keramikspüle der Küche und besah sich ein letztes Mal sein Mobiliar, was er so liebevoll mit Sarah ausgesucht hatte. Alles war vorbei. Mit einem letzten Blick verabschiedete er sich von diesem Leben. Der Geruch von Kaffee lag noch in der Luft, wich dann aber dem Geruch von Benzin. Dann fiel innerhalb von Sekunden alles dem Feuer zum Opfer. Alles löste sich in versenkendes Desaster auf. Das Farmhaus stand in Flammen. Die Leiche von Sergeant Bucks verformte sich zu einem zusammengekrümmten und verkohlten Wesen.

Nur mein Chevy und Bucks Einsatzwagen erzählten noch von der Anwesenheit zweier Männer, die heute Morgen nichtsahnend ihre Augen geöffnet hatten.

Dane stand in der Mitte des Hofes und sah zu den Flammen, die aus dem Farmhaus loderten. Er jagte einen letzten Schrei über die Farm. Was für ein Abgang! Er vernichtete nicht nur sein Elternhaus, er vernichtete mit diesem Feuer sich selbst. Es war für ihn das Höchste, sein Ende selber zu bestimmen. Was konnte schöner sein, als das Spiel seines Lebens hinter sich gebracht zu haben. Das Feuer war immer schon ein Symbol seiner Handlungen auf dieser Farm.

 

Ich kam ihm wieder in Erinnerung. Er ließ von dem Anblick des Feuers ab und ging zur Scheune. Kraftvoll stieß er beide Türen nach innen auf und ließ helles Sonnenlicht hineinfluten. Sein Blick fuhr über die beiden Autowracks bis hin zu mir. Ich lag immer noch gefesselt neben der Fahrertüre seines Chryslers. Meine Lage war aussichtslos. An Hilfe verschwendete ich keine Gedanken mehr, und auch einer neuen List gestand ich keine Chancen mehr zu. Ich wollte nur noch das über mich ergehen lassen, was Dane für richtig hielt.

Dane kletterte über mich wie über einen räudigen Hund hinweg und setzte sich auf den Fahrersitz, dessen Lehne immer noch in Liegestellung war. Er schaltete das Radio ein und ließ sich erschöpft nach hinten fallen. Ein Oldie von Meat Loaf ertönte über den Sender. Bat Out of Hell traf genau seine Stimmung, und er sang lauthals mit.

Ich lag am Boden wie ein ausgedientes Werkzeug. Wo mich Dane früher mit Leben und Lachen erfüllt hatte, nahm er in diesem Moment alles wieder aus mir heraus. Zurück blieb eine katastrophale Leere in mir. Ich dachte immer, dass das Gefühl vor einem schmerzhaften Tod ganz furchtbar sein würde, so unvorstellbar furchtbar, dass mein Horizont dafür nicht ausreichen würde, aber es war ganz anders. Es war ein Nichts. Meine Gedanken und Gefühle waren wie ausgeschaltet. Ich lag da und tat nichts weiter als warten.

Als Dane das Auto wieder verließ, verzerrte sich sein ganzer Gesichtsausdruck. Das Radio lief ungestört weiter. Er griff sich einen alten Lappen aus dem Regal und stopfte ihn mir gewaltsam in den Mund. Das riss mich aus meiner Apathie. Ein ekeliger Ölgeschmack mischte sich in meinen Speichel. Ich war erschrocken und fühlte, wie die Angst in mir hochkroch. Sollte dieser Lappen meine letzten Schmerzensschreie ersticken? Zur Sicherheit, dass ich den Lappen nicht wieder ausspucken konnte, band Dane ein altes Tuch um meinen Kopf. Ich musste würgen. Der Knäuel drückte sich nun tief in meinen Hals bis an die Grenze des Erstickens. Während ich verzweifelt nach Luft rang, nahm ich plötzlich ein Abzerren meiner Schuhe von den Füßen wahr, dann zog er an meinen Socken. Dann den Gürtel aus meiner Hose. Den taxierte Dane milde und prüfte die Reißfestigkeit. Zufrieden legte er ihn zur Seite. Ich sah es und dachte an Rhyan, der sich mit so einem Gürtel erhängt hatte. Dann entkleidete mich Dane. Mit brutaler Gewalt riss er den Stoff meiner Kleidung aus den Nähten und schindete damit meine Seele. Ich hörte ihn sagen: „Na, wie fühlt sich das an?“ Das war der Moment, als ich panisch wurde. Ich jammerte durch den Lappen in meinem Mund und flehte um Vergebung. Ich lag völlig nackt und gefesselt in all den Splittern vor ihm. Tiefe Scham ließ mich die Augen schließen. Tränen hatte ich keine mehr. Mein Atem stockte und fuhr stoßend ein und aus. Ich wünschte jetzt und hier zu ersticken. Das wäre ein angenehmerer Tod, als den, den Dane mir schenken wollte. Ein Blinzeln ließ mich beobachten, wie Dane ein dickes Seil um einen Balken an der Decke warf und somit meinen Galgen inmitten der Scheune errichtete – als Schlinge mein eigener Hosengürtel! Ein stummer Schrei nach Hilfe schmerzte in meinen Atemwegen. Das war also die Rechnung für all meine Zeit und Kraft. Durch den Knebel war mir jegliche Konversation mit Dane unmöglich, dabei hätte ich noch so viel zu sagen gehabt. Glassplitter durchdrangen meine Haut am Po und Rücken – das kleinste Übel von allen.

Ich erteilte mir selbst einen letzten Segen, als ich Dane in würdevoller Haltung auf mich zukommen sah. Sein Gesicht war schwarz vom Ruß. Da roch ich zum ersten Mal den Qualm, der vom Farmhaus her über den Hof zur Scheune wehte.

Dane versetzte mich gewaltsam in den Stand. Die Fesseln hatten sich inzwischen durch meine Haut gerieben und hinterließen blutende Striemen an den Knöchel. Dane gab mir einen Stoß und zeigte auf den Hosengürtel, die Schlinge, die inmitten der Scheune baumelte. Ich schüttelte den Kopf, dann spürte ich den kalten Lauf seiner Waffe im Nacken. Ich hüpfte, albern und entwürdigend, zu dem errichteten Strang. Dane legte mir den Gürtel um den Hals und zog ihn straff um meinen Hals zu. Völlig teilnahmslos sagte er zu mir: „James Richard Clark, ich habe dich immer gemocht.“

Ich traute meinen Ohren nicht, als ich diese Worte hörte. Ich war nicht mehr Jim für ihn, ich war James Richard für ihn geworden, und somit jeder emotionalen Bindung entlassen. Ich würdigte ihn keines Blickes mehr. Dane ging zu Seite und bekam das andere Ende des Strickes zu fassen. Geschickt schlug er es dreimal um sein Handgelenk und ließ kurz seine Kraft spüren, die mich leicht vom Boden abhob. Ich würgte panisch. Sorgfältig schaute sich Dane noch einmal in der Scheune um. Er wollte nichts vergessen haben. Dann sah er zur Decke der Scheune und sprach mit tragender Stimme: „Vater, siehst du das? Was sagst du? Ich habe immer noch Spaß!“

Mit diesen Worten fiel ich ohnmächtig zusammen.

 

Dane hatte im Wahn seiner Tat nicht das herannahende Auto gehört.

Unzählige Versuche von Sergeant Bucks' Dienststelle, ihn über Funk zu erreichen und nach dem Stand der Dinge zu fragen, waren fehl geschlagen. Das löste höchste Alarmbereitschaft aus, und sie schickten einen Kontrollwagen.    

Erst als der Polizeiwagen im Vordergrund des Flammenmeers zum Stehen kam, erschrak Dane und wurde von seinem Vorhaben abgelenkt. Er warf das Ende des Stricks von sich und flüchtete in das Innere der Scheune hinter seine Corvette. Ich landete bewusstlos im Dreck.

Zwei Polizeibeamte hasteten flink aus dem Fahrzeug und liefen zur Scheune. Sie führten ihre Waffen schussbereit in beiden Händen vorweg. Ihre Anspannung ließ die Schlagadern am Hals anschwellen. Sie sahen meinen bloßen, blutenden Körper und registrierten schluckend das Ausmaß der Verwüstung. Durch Blicke führten sie eine kurze Absprache. So schlich der junge Polizist linksseitig zur Tür und der bedeutend ältere rechtsseitig. Zugleich schwangen sie ihre Waffen hinein und bezogen Stellung in der Scheune, um Danes Versteck auszumachen. Ein plötzlicher Schrei ließ den älteren Polizisten herumfahren, und er musste mit ansehen, wie sich eine Sense in den Hals seines Kollegen einschnitt und gut die Hälfte seiner Kehle offenlegte. Im Nachhinein konnte der ältere Polizist nicht mehr sagen, was ihn hatte feuern lassen – war es der Schock, die Angst oder die reine Panik vor dem grausamen Anblick?

Sieben Schüsse peitschten über die Farm. Die Richtung stimmte, aber er konnte nicht feststellen, ob sie Dane oder seinen Kollegen getroffen hatten. Das Bild des Grauens ließ ihn durchdrehen. Er wollte nach Beendigung der Schusssalve wegrennen, aber er sah Danes Körper neben dem seines Kollegen zusammensacken. Dennoch wagte er es nicht, sich den Körpern zu nähern. Sein rasender Atem ließ nur noch den Gang zum Wagen zu, wo er über Funk heulend und flehend Hilfe anforderte. Sein Mut war gebrochen. Er getraute sich weder Danes vermuteten Tod zu prüfen, noch sich meiner Situation anzunehmen.

 

Zwei Krankenwagen mit vier Sanitätern und einem Notarzt erschienen zwanzig Minuten später auf der Farm. Kurze Zeit später folgten drei Feuerwehrwagen, die sich um das Feuer vom Farmhaus kümmerten. Der Notarzt stellte sowohl bei mir als auch bei Dane Atmung und Reflexe fest und bettete uns, mit Infusionen versorgt, auf die Transportliegen.

Da lagen wir – wieder nebeneinander – an der Endstation unserer Freundschaft.

Dem jungen Polizisten war eindeutig die Kehle durchschnitten worden und somit nicht mehr zu helfen. Der Ältere schrie zu Recht den Sanitätern nach: „Lasst das Schwein sterben!! Wieso helft Ihr ihm?“

Alle an der Rettungsaktion Beteiligten zeigten Verständnis für diese Reaktion und keiner gab Wiederworte.

Vom Farmhaus blieb nicht viel übrig. Es ließ sich genauso wenig retten wie einst die alte Scheune. Erst viele Stunden später konnten die Feuerwehrleute die verkohlte Leiche von Sergeant Bucks bergen. Seine Frau erlitt, nachdem ihr die Nachricht seines Todes mitgeteilt wurde, eine Fehlgeburt im fünften Monat. Seitdem befindet sie sich in psychologischer Behandlung.

 

*

 

Ich erwachte in einem ruhigen, weißen Raum und konnte mich an nichts erinnern. Der Geruch von Desinfektionsmittel machte mich wach. Ich ließe all die dreckige Luft, die sich mir unbarmherzig auf dem Weg zur Scheune in meine Lunge gefressen hatte, mit einem Stoß aus mir heraus und musste stark husten. Eine Schwester eilte herein und gab mir ein Glas Wasser. Meine ersten Worte fielen aus mir heraus: „Wo bin ich? Wie komme ich hierher?“

Die Schwester beruhigte mich mit den Worten: „Ruhig, Dr. Clark. Es ist alles in Ordnung. Sie haben einen Schock erlitten und sind im Krankenhaus. Ihre Frau ist auch da. Sie ist gerade bei Dr. Bigger, dem Chefarzt. Sie wird gleich zu Ihnen kommen. Bleiben Sie mal ganz ruhig, es kommt alles wieder in Ordnung.“

„Meine Frau?“, fragte ich. „Ich habe eine Frau?“

„Ja, Linda McFourson“, sagte sie und lächelte mich an.

Ich schloss meine Augen und versuchte in mich zu kehren. Die Schwester erzählte mir oberflächlich von den Geschehnissen. Sie wollte mich nicht beunruhigen und ließ für mich beunruhigende Details weg. Ein bisschen konnte ich mich erinnern. Dann brach die ganze Szene wie gegenwärtig über mich herein. Ich schrie! Ich glaube, ich habe das ganze Krankenhaus zusammengeschrien. Eine zweite Schwester kam hinzu, und beide redeten solange auf mich ein, bis ich mich wieder beruhigte. Dafür überkam mich ein neuer Hustenreiz. „Aber Dane! Was ist mit ihm?“, fragte ich hektisch. Mein Bein schmerzte.

„Ach, Sie meinen den anderen verletzten Patienten, der mit Ihnen eingeliefert worden ist? Oder den Toten?“

Meine Gedanken wanderten wild zwischen den Worten Toten und Verletzten hin und her. Ich musste erfahren, was aus Dane geworden war. Mein Körper zitterte. Ich wurde wieder panisch. Alles kam durcheinander. Ich durchlebte plötzlich die furchtbare Vorstellung, Dane könnte jeden Moment in mein Zimmer kommen und mich töten.

Meine Zimmertür öffnete sich plötzlich, und ich war im Begriff wieder zu schreien, als ich Linda hereinkommen sah. Sie nahm mich in den Arm, und ich hörte ihren Atem. Ich fühlte ihren Bauch und beruhigte mich. Ihr und dem Baby ging es gut. Dr. Bigger, der Chefarzt des Krankenhauses, trat hinzu und erzählte mir noch einmal von den gestrigen Geschehnissen. Ich war schockiert, als ich hörte, dass Danes immer noch lebte.

„Wie schwer ist seine Verletzung?“ Es ließ mir keine Ruhe.

„Er hat einen Streifschuss an der rechten Schläfe abbekommen und einen ungefährlichen Bauchschuss.“

„Dr. Bigger, Dane Gelton ist psychisch sehr krank. Er muss eingesperrt werden!“

„Ja, Dr. Clark“, beruhigte er mich und legte seine Hand auf meine. „Wir haben alles unter Kontrolle.“

Ich rief: „Kontrolle? Es gibt keine Kontrolle für ihn! Der steht Ihnen glatt mitten im OP auf und verschwindet!“

„Er ist heute Morgen in eine Psychiatrie eingeliefert worden. Dort wird er sicherlich entsprechend versorgt werden. Wir sind über das Ausmaß seiner Taten im Bilde.“

Ich stieß ein verächtliches „Ha!“, aus. Im Bilde! Geradezu lächerlich!

„Kennen Sie die Universität von British Columbia und ihr Forschungsprogramm?“, fragte ich aufgebracht.

 

*

 

Die Stätte, in der Dane Gelton den Rest seines Lebens verbringen sollte, nannte sich groteskerweise Heaven.

Linda begleitete Sarah, als sie die große Eingangshalle der städtischen Psychiatrie von Kansas City durchschritt. Sarah spürte etwas Beruhigendes in sich. Hier also fand Dane die Hilfe, die er brauchte. Es war ihr unbegreiflich, was sich alles zugetragen hatte. Was hätte sie schon verhindern können? Nahezu zwanzig Jahre lebte er mit seiner Seele in einer Welt des Wahnsinns.

Eins war Sarah geblieben: Immer noch liebte sie einen Teil von ihm; sie liebte das Kind, das er vor seinem vierten Lebensjahr einmal war.

Nach einem aufwendigen Formularkrieg und der Aufklärung über Danes weitere Behandlung fand sie endlich den Weg in sein Zimmer, was man eben so Zimmer nennen konnte. Im dritten Sicherheitstrakt der Klinik standen sie vor einer großen, auf Hochglanz polierten, silbernen Stahltür. Von innen war sie dick gepolstert, wie auch alle anderen Wände in diesem Trakt. Hinter der Tür befand sich ein kleines Zimmer. Es war steril. Das einzige Mobiliar war ein Bett. Darin lag Dane. Eine weiße Bettdecke hüllte ihn bis zum Hals ein. Sie sah, dass er die Haare frisch geschnitten hatte, worauf sie den Arzt fragend ansah. Der zuckte nur ratlos mit seinen Schultern.

„Ist er wach?“, fragte sie leise.

„Das ist möglich. Wir haben ihn mit starken Medikamenten versorgt. Das führt zu einem Dämmerzustand, so dass es durchaus für ihn möglich ist, uns zu hören, aber nicht zu reagieren.“

„Was ist, wenn er es schafft aufzustehen?“

Linda war erstaunt über Sarahs gefasste Haltung.

„Sie meinen die Gurte?“

„Ja, Gurte.“

Der Arzt hob die Bettdecke an. Sarah nahm ein leichtes Zucken von Danes Körper wahr und sah die Gurte, die beide Hände mit den Füßen verband. Sein Leib war mit einem breiten Gurt an das Bett gefesselt. „Was wird weiter passieren?“, fragte sie.

„Wissen Sie, bei der Krankengeschichte Ihres Mannes werden wir erhebliche Einschränkungen bezüglich einer Behandlung haben, wenn Sie verstehen.“

Sarah verstand ihn durchaus.

„Er wird auf Nichts eingehen wollen. Gewalt bestimmt seine Gedanken. Eine Therapie ist unmöglich. Dennoch werden wir es nach einiger Zeit mit ihm versuchen. Zuvor werden wir ihn aber medikamentös behandeln, um ihn im Ausführen von Gewalttätigkeiten zu hemmen. Wenn er über längere Zeit ruhig bleibt, kann er in ein paar Wochen frei auf der Station herumlaufen. Ich möchte aber jetzt noch keine Entscheidung treffen.“ Er sah Sarah an. „Dennoch würde ich es begrüßen, wenn Sie ihn hin und wieder besuchen kämen, denn in Hinsicht des nun eingeschränkten Lebens hat auch er sicher noch ein kleines Stück heiler Seele in sich. Das dürfen wir nicht vergessen.“

Jetzt weinte Sarah und nickte. „Sicher.“

Sie trat an sein Bett und streichelte seine Wange. Er war frisch rasiert und roch nach Seife. Ein Duft, den sie eigentlich immer von ihm gewohnt war. Sie sah das Blinzeln seiner Augen und die Kraftlosigkeit, diese zu öffnen. Aber Sarah verstand ihn und versprach ihm, so oft vorbeizuschauen, wie es ihr möglich war. Linda entfernte sie nach einiger Zeit nachdrücklich von seinem Bett. Sarah glaubte noch die Bewegung seiner Hand unter der Bettdecke gesehen zu haben.

 

*

 

Linda und ich fuhren eine Woche später, am 6. Oktober 1996, zurück nach Santa Ana, während Sarah sich vorerst entschied, eine Wohnung in der Nähe der Klinik zu beziehen. Es lag ihr viel daran, in Danes Nähe zu bleiben – zumindest in der ersten Zeit. Sie verabschiedete sich von Linda und mir und versprach, uns weiter schriftlich über Dane auf dem Laufenden zu halten.

Vor unserer Abreise besuchte ich noch einmal meinen alten und mir doch so unbekannten Freund. Allerdings war ich nicht in der Lage, näher als einen Meter an ihn heranzutreten. Mich beherrschte immer noch eine große Angst vor ihm. Ich spürte kein Mitleid für ihn. Er verursacht mir heute noch Alpträume. Die Wunde, die er in mich gerissen hat, ist einfach zu groß. Und doch wollte ich mich aufrichtig von ihm verabschieden, wo er doch eigentlich schon tot war – zumindest der Dane, den ich gekannt hatte. Was hier lag, war nur die Hülle einer Freundschaft. Das Innenleben hatte sich selbst aufgefressen. Ich sagte: „Mach's gut“, und ging.

 

Sarah fand eine Arbeitsstelle in Flowers Paradise mitten in Kansas City, in dem sie eine gern gesehene Kundin war. Ihre Begabung, Gestecke und Sträuße zu binden, konnte sie dort erfolgreich umsetzen. Ihr ansprechendes Wesen und ihre Freundlichkeit zu den Kunden ließen das Geschäft florieren. Ihre Kolleginnen und auch viele Kunden waren mit dem Schicksal ihres Mannes durchaus vertraut und teilten sichtlich ihren Schmerz. Die Zeitung hatte einen Tag nach dem Unglück auf ihrer Farm darüber berichtet. Dass es die Bürger in Aufruhr versetzte, war klar, aber sie ließen eine gesunde Milde gegenüber Sarah walten.

Ihre abendliche Zeit teilte sie mit Dane. Da es ihr unmöglich war, mit ihm durch die Benommenheit der Medikamente ins Gespräch zu kommen, glaubte sie eine andere gute Möglichkeit gefunden zu haben, sich ihm mitzuteilen. Sie begann, ihm Abend für Abend ein Buch vorzulesen. Geschichten auf der Suche nach Anerkennung, Glück und Liebe.

 

Das Land, auf dem einst ihre Farm stand, wurde nun von niedergebrannten Mauern und einer verlassenen Scheune, in der zwei Autowracks standen, beherrscht. Die Farm stand zum Verkauf, genau wie immer noch die Heddon-Farm. Es wurde gemunkelt, dass ein großer Konzern ein Bauprojekt außerhalb der Stadt plante. Sarah wusste, dass es ihr das Herz brechen würde, aber es blieb ihr keine andere Möglichkeit, so alles hinter sich zu lassen.

 

*

 

Am Sonntag, den 18. Dezember 1996, begleitete Sarah ein merkwürdiges Gefühl nach Heaven. Sie wusste, dass sie heute die letzten Seiten ihres Buches vorlesen würde. Sie kannte das Ende schon, und das Wort Tod füllte für sie zu viel Platz auf der letzten Seite. Sie verwarf ihre Unsicherheit und grüßte in alter Vertrautheit das Personal der Klinik, während sie zum letzten Mal den langen Gang zu Danes Zimmer durchschritt. Er hatte bis zu diesem Tag nicht mit ihr kommuniziert. Sie trat ein, und er lag wie am ersten Tag in seinem Bett – rasiert und gewaschen. Sein Gesicht war eingefallen, die Augen geschlossen. Seine Augenlider zuckten, als er ihren Duft wahrnahm.

Sarah sah eine Träne, die beständig auf seinem rechten Lid verharrte. Sie streichelte seine Wange mit den Worten: „Hallo, Dane. Ich bin wieder da.“

Und dann öffnete er zum ersten Mal seit den zwölf Wochen seines Aufenthaltes die Augen und schaute sie an. Das Schlucken bereitete ihm durch die Medikamente und die dadurch angeschwollene Zunge große Schwierigkeiten.

Ihre Blicke trafen sich – wie gefesselt, gekettet – und lösten sich nicht mehr, bis sein Gesicht rot anschwoll und seine Augen die Gewissheit seines Todes widerspiegelten. Sarah wusste es und unternahm nichts dagegen. Sie hatte es seit heute Morgen gespürt und fand es in Ordnung.

Auch wenn ihre Liebe nur von kurzer Dauer war, so war sie doch von einer großen Intensität beherrscht. Leider war der andere Teil in Dane um so vieles stärker, dass niemals eine echte Chance für sie bestanden hatte. Dane war nie in der Lage, eine normale Beziehung auf Dauer durchzuhalten.

Erst als Sarah sich ganz sicher war, dass Dane seine Ruhe gefunden hatte, rief sie das Pflegepersonal. Der Arzt konnte sich den Tod von Dane zunächst nicht erklären. Erst das Gespräch mit einem Kollegen brachte Klarheit. Es gab nämlich nur wenige Menschen, die in der Lage waren, einen Erstickungstod selbst herbeizuführen. Es bedurfte einer hohen Konzentration und Disziplin, wovon Dane gewiss nicht zu wenig besessen hatte.

Seine Leiche wurde neben denen seiner Familie beigesetzt.

 

Sarah erfuhr später, dass Dane niemals einen Ring beim Juwelier Edding für seine Verlobung gekauft hatte. Es war der Ring seiner Mutter, den er ihr gegeben hatte. Wir konnten Rückstände einer Gravur erkennen, die auf das Jahr 1951 schließen ließ. Mit dem bloßen Auge kaum sichtbar. Den Aufkleber des Geschäfts muss er entwendet haben, als er dort einmal herumstöberte.

Er hatte tatsächlich gedanklich seine Mutter geheiratet, so, wie er es sich einst gewünscht hatte. Seine Sehnsucht nach ihrer Liebe muss unbeschreiblich groß gewesen sein.

 

*

 

Einige Wochen nach seiner Beisetzung machte der Friedhofsgärtner einen Leichenfund im angrenzenden Waldstück des Friedhofs. Die Leiche war ziemlich verwest und mit Blumenkränzen geschmückt. Es war Will Gelton. Man nimmt an, dass dies noch eins von Danes letzten Werken gewesen war. Vielleicht von dem Abend, als er mit Sarah von Denver heimgekehrt war und das Haus der Heddon-Farm für Linda und mich hergerichtet hatte.

Das Grab war allerdings wieder bestens verschlossen worden und die Tat bis zu diesem Zeitpunkt unentdeckt.

Als Will Gelton wieder eingegraben wurde, legte der Gärtner einen Teil von Danes Sarg frei. Er stieß dabei mit der Schaufel dagegen und wunderte sich über den fast hohlen Klang ...  

Die Geschichte geht weiter ...