Eben noch da, jetzt spurlos verschwunden – die Hoffnung einer netten Geste. Johnathan fühlte sich bedrückt und sah bitter zu Dane hinüber. Dane sah auf das große Gebäude der Klinik. Dann sah er flüchtig seinen einst so vertrauten Partner an. Was war davon übrig geblieben? Beide stiegen aus. Johnathan hielt ihm seine Hand entgegen, um sich zu verabschieden. Dane starrte sie an – die Hand seines Freundes. Eine Hand, die ihm Hilfe und Halt bieten wollte, wie sie es immer getan hatte, seit sie sich begegnet waren. Nun streckte sie sich ihm wieder entgegen, als würde sie schreien: „Komm zurück! Komm zu dir!!“ Dane nahm sie nicht an. Stattdessen griff er sich unverwandt an die Ohren und hielt sie zu, als würde er ein schmerzendes Geräusch fernhalten.

 

Hör das fiepen auf!, schrie Dane.

Ich freu mich so!, schrie das Loch. Endlich können wir wieder leben!

 

Johnathan zog entrüstet seine Hand wieder zurück und holte eine braune Reisetasche aus dem Wagen. Er stellte sie vor Dane auf den Boden und hatte große Mühe sich zusammenzureißen.

Von Besuchen wünschte die Klinikleitung vorerst abzusehen. Telefonische Auskünfte könnten jederzeit gegeben werden. Und so verabschiedeten sich beide schließlich mit einem kurzen Blick zueinander. Johnathan versuchte, dem nichts entgegenzusetzen. Es wäre zwecklos. Es graute ihm vor der langen Rückfahrt – ganz alleine. Auch wenn die Hinfahrt nicht sehr belebend auf ihn gewirkt hatte, so vermisste er nun die Spannung. Immerhin hatten beide wieder einmal viele Stunden zusammen verbracht. Leider nur nebeneinander, nicht miteinander.

Dane atmete tief durch und schulterte den Gurt seiner Tasche. Er schluckte und schlug den Weg zur Klinik ein. Sein Blick war gesenkt.

„Pass gut auf dich auf“, hörte er Johnathan rufen. „Ich will dich so bald wie möglich hier wieder abholen.“

 

Das wirst du nicht! Er gehört mir!, rief das Loch.

 

Dane spürte einen stechenden Schmerz durch seinen Kopf schießen. Er musste die Augen schließen und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Er ging zur Klinik.

Als er davorstand und die Fassade hinaufsah, wusste er bereits, dass hier sein letztes Spiel mit dem Lochschaufler stattfinden würde.

Er senkte den Blick. Vor ihm ebnete sich ein grauer und rauher Asphalt, der Weg in einen tiefen Tunnel hinein. Kalt zog es seine Gefühle tiefer und tiefer dort hinein. Trist war der Weg. Als er aufsah, entdeckte er am Ende des Tunnels ein Licht. Das Loch war nicht unendlich.

 

*

 

Das Haus des Garden's Inn war ein prächtiges Gebäude, unmittelbar am Trinity River gelegen und spiegelte den typischen Baustil der Südstaaten wieder. Strahlend weiß glänzte der Anstrich, als wäre er gestern erst aufgetragen worden. Das Gebäude war von einer großzügigen, weißen Holzveranda umgeben, die einladend und gepflegt aussah. Lange Schatten fielen von der Nachmittagssonne über die rotbraunen Holzdielen. Meere von Blumen reihten sich aneinander und verwandelten sich durch die Sonne in tanzende Schattenspiele. Die massiven Holztüren des Eingangs standen weit nach außen geöffnet und lehnten links und rechts an der Hauswand. Auf der Veranda stand eine gepolsterte Sitzgruppe.

Die Außenanlage war schier traumhaft: Obstbäume, Teichanlagen, Springbrunnen und großzügig weite Baumalleen. Alles ließ auf Ruhe, aber auch auf Abgeschiedenheit schließen. Die Geräusche eines Alltags waren hier fremd. Nur hin und wieder kam ein Auto oder ein Taxi gefahren.

Dane blieb vor der großen Verandatreppe stehen und blickte wieder die Fassade hinauf. Er sortierte abermals den Schultergurt seiner Tasche und betrat die Treppe. Das Gemurmel eines Gesprächs holte ihn ein. Er bemerkte zwei Männer und eine Frau zu seiner rechten Seite. Sie saßen in kleiner Runde zusammen und unterhielten sich lebhaft. Die Frau sah auf und grüßte Dane mit einer Handbewegung. „Hallo! Guten Tag! Sind Sie neu?“, rief sie. Er sah kurz hin. Ihre Stimme war warm und freundlich, und sie sah nicht wie eine Patientin dieser Klinik aus. Er wollte ihr antworten, öffnete seinen Mund, aber es blieb ein stummes Nicken. Sie zeigte mit dem Finger zur Tür. „Gehen Sie rein und dann rechts. Da ist die Aufnahme. Ach, herzlich willkommen! Ich heiße Sarah!“ Sie winkte. Dane nickte und ging irritiert hinein. Sie sah ihm hinterher.

Die Eingangshalle war geräumig wie alles in diesem Gebäude. Helle Farben, auf Hochglanz poliertes Parkett und vereinzelte Sitzgruppen luden zum Wohlfühlen ein. An den Wänden hingen Bilder mit naiver Malerei und an der Decke Makrameegeflechte mit riesigen Farnen.

Die Frau an der Aufnahme hieß Mrs. Buit, so zeigte es das Namensschild. Auch sie war freundlich und passte in diese Halle. Sie nahm ein vorbereitetes Formular zur Hand, als sie Dane hereinkommen sah. Sie legte es ihm vorne auf die Anmeldung und sagte: „Sie sind sicher Mr. Galloway?“

Dane nickte.

„Herzlich willkommen. Dr. Clark hat schon alles für Sie ausgefüllt, und er möchte, dass Sie sich das gut durchlesen. Wenn es in Ordnung ist, unterschreiben Sie es doch bitte. Er sagt, dass Sie zur Zeit nicht sprechen können. Darum zeigen Sie einfach auf das, was nicht in Ordnung ist. Dann sehen wir weiter.“

Dane nickte abermals. Er nahm das Formular entgegen und sah das Lächeln von Mrs. Buit. Das ließ auch ihn andeutungsweise lächeln. Er setzte sich in einen Sessel und las.

 

Ich hatte seinen Zustand schlichtweg als verwirrt beschrieben und eine detaillierte Beobachtung der letzten zwei Monate verfasst. Dane muss festgestellt haben, dass ich nirgends die Sache mit Vancouver erwähnt hatte. Ich ließ ihm damit einen enormen Handlungsfreiraum.

Die Angaben waren also in Ordnung, und er gab das Formular unterschrieben bei Mrs. Buit wieder ab.

„Alles okay?“, fragte sie.

Dane nickte. Er öffnete zwei Kragenknöpfe seines Hemdes. Ihm war heiß.

„Prima, dann werde ich einen Pfleger rufen, der Ihnen Ihr Zimmer zeigt. Wollen Sie ein Einzel- oder ein Doppelzimmer, geteilt mit einem anderen Patienten?“ Sie schaute ihn an. Dane deutete ein Einzelzimmer an.

„Einzelzimmer?“

Dane nickte.

Während er auf den Pfleger wartete, taxierte er neugierig die Eingangshalle. Die Hitze in ihm ließ nicht nach. Oder war es die heiße Jahreszeit?

Er hörte Schritte. Ein großer Mann mit blondem Haar, Mitte zwanzig, erschien und stellte sich als Rhyan vor. Sie gingen gemeinsam über die Treppen in das zweite Stockwerk. Ein langer, mit rotem Teppich ausgelegter Flur führte ihn an unzähligen, nummerierten Zimmern vorbei und endete vor der Nummer 68. Rhyan schloss leise auf und wies mit der Hand einen gestatteten Eintritt.

Die Luft war frisch, das Zimmer gemütlich und gegen Nachmittag sonnig. Dane stellte die Tasche zur Seite und schaute sich um. Die Tagesdecke war passend zu den Farben der Gardinen und des Sessels vor dem Fenster gewählt worden. Rechts ein großer Kleiderschrank, links ein breites Bett. Die Spätnachmittagssonne tauchte das Zimmer in eine Oase der Ruhe und Entspannung. Dann erschrak ihn ein Blick durchs Fenster. Gitter verhüllten es. Da – eine Videokamera befand sich über der Zimmertür. Dane schnappte nach Luft. Mit fragenden Blicken starrte er Rhyan an.

„Erschrecken Sie nicht, Mr. Galloway. Das sind nur Sicherheitsmaßnahmen für die Patienten. Hin und wieder kommt es auch hier zu Situationen, wo das alles notwendig wird. Außerdem schreibt es das Gesetz der Versicherung vor. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Verstand er das?

„Wir können die Kamera bei Dringlichkeit einschalten und somit rechtzeitig helfen. Das ist wie mit kleinen Kindern. Kurz vor dem Trockenwerden donnern sie noch mal kräftig in die Hose, zur Verzweiflung aller Mütter. Seien Sie nicht beunruhigt. Niemand versucht Ihnen nachzuspionieren. Hier ist Ihr Schlüssel.“ Rhyan reichte Dane den Zimmerschlüssel.

„Haben Sie noch Fragen? – Ach, ja, Sie sprechen ja nicht. Ich werde lernen, mit Ihnen auch so auszukommen. Geben Sie mir eine Chance, okay?“

Dane schwieg und starrte ihn weiter unvermindert an. Seine Gedanken schienen abwesend.

„Mr. Galloway? Übrigens, herzlich willkommen. Sie werden es hier sicherlich schaffen. Alles braucht halt seine Zeit. Hier laufen übrigens ganz dufte Typen rum. Haben Sie keine Scheu, sich zu den netten Frauen zu setzen!“ Rhyan zwinkerte und ging.

Frauen?

 

Wo ist Joan?, fragte Dane.

Sie hat sich davongemacht, sagte das Loch.

Was hat sie gesehen?

Nicht der Rede wert.

Was hat sie gewusst?

Auch nicht der Rede wert.

Wie kannst du so sicher sein?

Weil ich auch ihre Welt kenne.

 

Dane stellte seine Tasche ab und setzte sich aufs Bett.

 

Was soll ich jetzt tun?, fragte Dane.

Schmiede einen Plan, empfahl ihm das Loch.

Ich soll also hier das Ende meines Spiels planen.

Genau.

Das heißt, ich werde ihn hier töten.

Genau.

Darf ich wieder sprechen?

Nein, das darfst du nicht.

Warum?

Weil die Ärzte hier zu viele Fragen stellen.

Aber das wird niemals aufhören. Ich muss mir eine Geschichte ausdenken, die ich erzählen kann.

Das Loch lachte. Ja, das solltest du.

 

Dane ließ sich nach hinten in die Kissen fallen und schlief ein, erschöpft und traumlos. Knapp eine Stunde später klopfte Rhyan an seine Türe. Er gab zum Abendessen Bescheid.

Eine Routine begann.

 

 

1984. Neun Jahre früher.

Glendale / Kalifornien. Dane, 29 Jahre.

Dane lag mit offenen Augen im Bett. Er dachte an seine Begegnung mit dem Lochschaufler vor einer Stunde im Park.

„Das Spiel hat eine Pause“, hatte Dane in die Nacht geflüstert. „Es ist langweilig. Wir sollten etwas verändern, etwas wirklich Großes daraus machen. Machen wir eine Mutprobe daraus. Zusammen.“

Der Lochschaufler sah ihm vom Boden aus liegend an. Dane kniete auf seiner Brust und hielt ihm die eigene Waffe an die Stirn.

„Ich hätte dich längst gehabt, wenn ich es gewollt hätte“, stammelte der Mann unter Dane. Der Druck auf seine Brust war schmerzhaft.

„Das ist eine Kunst, mein Lieber“, lächelte Dane ihn an.

„Was hast du großes vor?“, fragte der Lochschaufler und hatte Atemnot.

Dane näherte sich seinem Gesicht und begann zu flüstern, während er die Waffe mit einen Klick entsicherte.

Der Schuss peitschte in die Nacht hinaus. Er hinterließ ein klaffendes Loch im Asphalt, unmittelbar neben dem Schädel seines ärgsten Feindes. Aus dessen rechter Gesichtshälfte trat Blut von den zersplitterten Steinen, die aufgeflogen waren. Sein rechtes Ohr war seitdem taub.

 

 

1993. Neun Jahre später.

Dallas / Texas. Dane, 38 Jahre.  

Sarah sah ihn in einer Ecke des Essraumes sitzen. Sie wollte so gerne zu ihm gehen und sich einen Platz bei ihm erbitten. Sie ließ es schließlich. Er war neu und sicherlich nicht morgen schon wieder weg. Ihr Herz pochte bis spät in die Nacht, bis sie endlich einschlief.

 

Die erste Nacht verlief wider Erwarten ruhig für Dane. Er fühlte sich entspannt und etwas klarer als gestern.

Jemand hatte einen Zettel an seine Innentür geklebt – leuchtend gelb, darauf eine große, klare Schrift. Die Klinikleitung teilte ihm mit, sich diesen Morgen um neun bei Dr. Roosevelt zu melden. Dr. Roosevelt sollte sein therapeutischer Arzt in der Zeit seines Aufenthalts werden.

Das Frühstück beschränkte er auf eine Tasse schwarzen Kaffee, und pünktlich um neun erschien er bei Dr. Roosevelt.

Er stand ihm gegenüber, dem Mann, der ihn in nächster Zeit sehr genau beobachten würde, und der nichts merken durfte.

Roosevelt war klein und übergewichtig, hatte aber ein sympathisches Erscheinungsbild. Sein schütteres Haar und die Gesichtsfalten verrieten ohne Umschweife sein fortgeschrittenes Alter. Er bat Dane mit freundlichen Willkommensgrüßen Platz vor seinem Schreibtisch zu nehmen. Dane kam der Aufforderung nach und schaute sich im Zimmer um. Es wies keinerlei Ähnlichkeit mit einem Untersuchungszimmer auf, eher mit dem eines Anwalts: massive, dunkle Holzmöbel, poliert und ordentlich geführt. Sie übten ein erdrückendes Gefühl auf Dane aus. Er bevorzugte helle Möbel.

„Hallo, Mr. Galloway. Ich freue mich, Sie hier begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Leonard Roosevelt“, begann Dr. Roosevelt lächelnd. „Dr. Clark hat mir Ihre Geschichte erzählt. Das war eine schlimme Sache für Sie, aber Sie müssen wissen, Sie sind kein Einzelfall. Es laufen so viele Menschen herum, die schlimme Erlebnisse hatten. Wissen Sie, Sie können jedem nur vor den Kopf schauen, nicht hinein.“

Wie wahr!

„Ich werde Sie nicht untersuchen, wie es sonst die Regel ist. Ich weiß Bescheid über ihre Berührungsängste. Sie haben ja bei Dr. Clark schon eine umfangreiche Untersuchung hinter sich gebracht. Aber da sind andere Dinge, um die ich Sie bitten möchte: zum einen hier regelmäßig am Esstisch zu erscheinen, zum anderen möchte ich Sie gerne darüber informieren, dass wir eine offene Gesprächstherapie anbieten. Ich möchte Sie bitten, auch da einmal hereinzuschauen. Sie müssen nicht reden, nur zuhören. Das wäre ein guter Anfang. Messen Sie dem Wort Therapie hier nicht allzuviel Bedeutung bei. Es ist eine schöne Runde, ungezwungen und oft sehr lustig. Die Menschen, die sie besuchen, empfinden diese Treffen, sich mit anderen Menschen zu unterhalten, als Entspannung. Für Sie fände ich die Teilnahme ausgesprochen wichtig. Sie brauchen wieder Menschen um sich – andere als Ärzte. Und wieder die Ruhe, ihnen zuzuhören und sich vielleicht sogar mit ihnen zu unterhalten."

Dane sah ihn ausdruckslos an. Dr. Roosevelt redete weiter: „Ich habe gelesen, dass Sie vor dem Vorfall ein ausgesprochen temperamentvoller Mensch waren. Sie werden wieder Ihre Mitte finden. Da bin ich ganz sicher. Der Info-Zettel mit Zeit und Ort zu diesen Treffen hängt vor meiner Tür. Sie haben übrigens viel Freizeit und jederzeit die Gelegenheit, sich an Angeboten zu beteiligen. Es steht Ihnen hier alles offen. Wer fragt, bekommt Antworten.“

Wie wahr!

„Ansonsten liegt Ihnen alles zu Füßen. Sie können an Gestaltungsarbeiten sowie sportlichen Aktivitäten und Meditation teilnehmen. Wäre für Sie sicherlich sehr empfehlenswert.“

Dane entglitt ein gekünsteltes Lächeln.

„Arbeiten Sie bitte an sich und mit uns zusammen. Ich bin jederzeit für Sie da. Sie können Briefe schreiben, telefonieren und faxen. Zweimal in der Woche fahren Taxen von hier in die Stadt. Abends um zehn Uhr schließen wir ab, aber es besteht ohne weiteres die Möglichkeit, sich zum längeren Ausgang bei uns zu melden. Es sind immer Pfleger oder Aufseher im Hause, die Ihnen bei späterem Eintreffen gerne aufschließen.“

 

Aufseher! Wie im Knast, flüsterte das Loch.

 

Dane nickte. Er starrte auf den dunklen Tisch und verlor die Konzentration. Erst nach geraumer Zeit bemerkte er, dass etwas nicht stimmte, dass Roosevelt nicht mehr redete. Er sah erschrocken auf und blickte in die beobachtenden Augen des Arztes, der sich räusperte: „Bitte, erlauben Sie mir eine sehr direkte Frage, Mr. Galloway.“

Was wollte er fragen, dieser Arzt?

„Hatten Sie eine schöne Kindheit?“

Die Frage zerrte sich direkt in sein Seelenleben. Seine Augenlider zitterten, und stumm starrte er Roosevelt an. Der hatte genug gesehen.

 

Lass dich nicht aus dem Konzept bringen!, sagte das Loch aufgebracht. Der blöfft doch nur.

Ich konnte nichts dafür, rechtfertige Dane seine unangebrachte Reaktion.

Du musst mehr an dir arbeiten. Sagt auch dein Arzt.

 

*

 

Roosevelt war ihm gefährlich nahe gekommen – schon am ersten Tag.

Dane fiel nach dem Gespräch erschöpft auf sein Bett und träumte von kranken Geschöpfen, die singend einen missgestalteten Affen umringten. Dieser begleitete den Gesang mit einer Querflöte und hüpfte dabei fröhlich im inneren Kreis herum. Dane erkannte sich plötzlich selbst als einen der umringenden Geschöpfe und schreckte schweißgebadet in die Höhe. Sein Herz raste. Immer noch kam ihm sein Zimmer fremd vor. Er ging unter die Dusche, um den dreckigen Traum von sich zu waschen. Rhyan klopfte an. Man vermisse ihn am Mittagstisch.

Oder kontrollierten sie ihn? Er sah auf die Kamera. Sie war ausgeschaltet. Jetzt, als er hinsah.

 

Als Dane die Treppen hinunterging dachte er angewidert an die Kranken, die ihn umgaben – nicht nur im Traum. Er fand den Gedanken abstoßend und betrat ohne Appetit den Speisesaal.

Der war groß, viel größer als die Eingangshalle. Und die hatte ihn schon beeindruckt. Trockensträuße einst blühender Sommerblumen hingen gebunden von der Decke und rochen nach frischem Heu. Der Duft schenkte ihm Gedankenbilder, die er nicht wollte. Ganz plötzlich waren sie da – die Erinnerungen. Das Gefühl überkam ihn so unerbittlich, dass er zu schwanken begann.

 

Reiß dich zusammen!, ermahnte ihn das Loch.

 

In den Ecken standen getrocknete Blumen in großen Vasen. Ekelhaft.

Die Tische fassten vier Personen, einladend mit Besteck, Servietten und kleinen Sträußen gedeckt. Überall verbreitete sich der Geruch von Heu.

Dane suchte seinen Platz wieder im hinteren Teil des Saals. Er verspürte weder Hunger noch Durst. Die anderen Patienten versuchten ihn unauffällig anzuschauen. Der Raum füllte sich, und eine für ihn unangenehme Geräuschkulisse entstand. Sein Blick war verachtend. Alles Kranke, dachte er. Er mochte ihren Geruch nicht. Oder war es das Heu? Er nahm die Speisekarte und verbannte mit ihr seine Gedanken.

Eine freundliche, ältere, sehr gepflegte Dame erschien und fragte nach seinen Speisewünschen. Er hätte gerne einen Gin gehabt. Den aber gab es hier nicht. Also bestellte er gleichgültig einen Kaffee.

 

Sie passierte die Tür, Sarah, die ihn am Tag seiner Ankunft so herzlich begrüßt hatte und durchschritt den großen Speisesaal. Sie hatte sich in dieser Nacht alles genau überlegt. Ihr Blick schweifte suchend durch den Raum, bis sie ihn fand. Ihr Herz schlug kräftig. Sie sah sein dunkles Haar, sein Profil, bis sie schließlich vor ihm stand. Sein Blick war zum Fenster gerichtet. Leise erbat sie, an seinem Tisch Platz nehmen zu dürfen.

Dane fuhr erschrocken herum und sah zu der Frau auf, die plötzlich an seinem Tisch stand, zierlich und strahlend. Er nickte verlegen und zeigte widerwillig mit der Hand auf den gegenüberstehenden Stuhl. Sie nahm es erfreut als Höflichkeit auf und setzte sich.

„Danke“, erwiderte sie.

Dane wurde nervös. Er sah wieder zum Fenster hinaus. Es war ihm nicht recht, dass sich jemand zu ihm setzte. Und schon gar nicht eine Frau. Davon hatte er momentan genug.

Er spürte ihren Blick auf sich gerichtet und sah sie schließlich an. Erst flüchtig, dann ganz direkt. Dann konnte er nicht mehr wegsehen. Ihr Blick ließ es nicht zu.

Sie versuchte natürlich zu lächeln, aber es war künstlich. Er war ernst. Sie begann zu reden. Er sah wieder weg, schwieg. Dann sah er wieder zu ihr hin, und ihre Blicke verfingen sich erneut ineinander. Sarah verstummte und wurde rot. Danes Gesichtsausdruck zeigte Verlegenheit, und er wurde auch rot. Irgendetwas passierte in ihm. Er stand auf und verließ den Speisesaal.

Sarah saß nur da – starr, desorientiert und unterdrückte ihre Tränen der Enttäuschung vor den anderen Patienten.

 

Reiß dich zusammen!, herrschte ihn das Loch an.

Hab ich ja!, verteidigte sich Dane. Was meinst du, warum ich gegangen bin.

Du solltest sie nicht wieder an deinen Tisch lassen.

Das werde ich nicht.

Reiss dich zusammen, verdammt! Sie ist gefährlich!

 

*

 

Der zweite Tag brach an. Dane konnte nicht sagen, ob er gut geschlafen hatte. Alles in ihm war durcheinander gekommen. Das Loch hatte ihn heute morgen wach gemacht und noch einmal eindringlich auf ihn eingeredet, sich hier in dieser Klinik auf keine Bekanntschaft oder Beziehung einzulassen. Jeder konnte der nächste Feind sein. Es würde seine ganze Planung durcheinanderbringen.

Dane stand vor dem Spiegel, während das Loch auf ihn einredete. Sein Gesicht sah müde aus. Auf seiner linken Wange war eine Narbe von der Schlägerei zurückgeblieben, die ihm dieser Scheißkerl auf der Palloma Street zugefügt hatte. Immer noch konnte er seinen widerlichen Körpergeruch riechen. Er würgte.

 

Ja, sagte das Loch, genau das brauchst du.

Es ist widerlich daran zu denken, sagte Dane.

Aber es ist der Zündstoff für deinen Plan.

 

Ach ja, sein Plan. Er dachte an diese Frau von gestern. Wie hieß sie noch? Sarah, richtig. Sie zog ihn in einen Strudel von Verwirrung. Er versuchte sie dafür zu hassen. Hatte er doch genug Chaos in seinem Leben. Er war doch hier, um endlich aufzuräumen. Er überlegte, ob er es riskieren konnte, unten eine Tasse Kaffee zu trinken – vielleicht sogar zwei Tassen.

Sarah war nicht unten, als er den Speisesaal betrat. Er durchschritt den Raum und glaubte an den Blicken der anderen zu verbrennen, die sein schamloses Verhalten gestern zweifellos mitbekommen hatten. Er suchte einen Tisch in einer anderen Ecke, um nicht direkt von ihr entdeckt zu werden. Auch als Zeichen, dass er ihre Gesellschaft nicht wünschte. Ihm wurde Kaffee gebracht.

Die Worte: „Es tut mir leid wegen gestern“, ließen ihn den Kaffee, den er im Begriff war zu trinken, fast ausprusten. Er hörte, wie sein Innerstes einen Panikschrei ausstieß.

Sarah stand erneut vor ihm. Er würgte an seinem Kaffee herum und sah sie betreten an.

„Das war sehr respektlos von mir. Ich fühle mich schlecht und möchte mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen.“

Sie lächelte ihn an, wandte sich dann ab und wollte gehen.

 

Lass sie gehen!, schrie das Loch.

Ich kann nicht!, schrie er zurück.

Du musst!

Ich kann nicht!

Sie ist gefährlich! Sie bringt dich durcheinander!

 

Er griff nach ihr, und sie spürte plötzlich seine Hand an ihrem Arm, die sie zurück an den Tisch holte. Sein Blick gestattete ihr einen erneuten Versuch. Wieder brachte sie dieses Lächeln für ihn mit, womit er nicht umgehen konnte.

Sie saßen sich erneut gegenüber. Er schickte ihr einen entschuldigenden Blick herüber. Dane konnte nicht feststellen, was er fühlte, aber es war gewaltig und unmöglich, sich dem zu widersetzen. Dann lächelte er zu ersten Mal.

 

Sie ist eine Falle! Denk an Joan!, schrie das Loch.

Sie ist nicht Joan, verteidigte sich Dane.

Sie ist eine Frau! Sie wird dich durcheinanderbringen.

Und wenn schon.

Du machst einen großen Fehler.

 

Damit ließ das Loch ihn allein. Sollte er doch sehen, wie er mit diesem Fehltritt fertig werden würde.

Sarah hatte sich in der letzten Nacht aufs schärfste für ihr aufdringliches Verhalten bestraft.

Sie spürte, wie sein Blick ihr Gesicht taxierte, als sie ihr Frühstück, Toast mit Speck, aß.

Dane spürte nun auch leichten Appetit und orderte durch ein Zeichen ebenfalls Toast mit Speck, etwas, was er noch nie gemocht hatte. Was tat sie, dass er so etwas plötzlich aß? Er wollte sie nicht enttäuschen, – das war es. Er war befangen und sah sie wieder an, wie sie aß. Sie schwieg. Das war ihm angenehm. Sie wollte wohl nur in Ruhe frühstücken, nichts weiter. Das Schweigen tat ihm gut. Er betrachtet ihr Gesicht. Es war so zart, fast zerbrechlich. Er beobachtete ihr angedeutetes Lächeln. Sie war ungeschminkt. Das naturblonde Haar trug sie kurz, es leuchtete wie Engelshaar. In ihren Augen sah er ein sechzehnjähriges Mädchen, aber eine unverkennbare Reife in ihren Gesichtszügen ließ sie auf gute Dreißig schätzen. Ein blaues Shirt grenzte an eine enge Bluejeans und diese an zwei bunt gestreifte Espandrillos. Sie trug Ohrringe, silberne Sternchen. Sie glänzten wie Erinnerungen aus ihrer Jugendzeit.

Ihre Sprache fand eine Ebene, mit der Dane hervorragend umgehen konnte – das Schweigen. Schweigend beendeten sie ihre Mahlzeit und gingen wieder auseinander. Kurz und freundlich nickten sie sich zu.

Dr. Roosevelt beobachtete, wie Dane durch den Park zum Fluss hinunterging.

 

Nimm dich in Acht, warnte ihn das Loch erneut. Denke an Joan und an das, was sie dir angetan hat. Eine Frau, von der du einmal geglaubt hast, sie zu lieben.

Sarah ist anders, sagte Dane.

Wie willst du das wissen?

 

Dane musste sich vor jedem in Acht nehmen, der ihm freundlich begegnete, der ihm überhaupt begegnete. Der Lochschaufler konnte seine Späher überall haben. So erschien es ihm plötzlich merkwürdig, über viele Wochen im Krankenhaus ungestört gelegen zu haben.

War das nicht die Chance für den Lochschaufler gewesen?

 

Warum hatte ich im Krankenhaus Ruhe?, fragte Dane.

Weil er dachte, dass du tot bist, antwortete das Loch.

Aber die Presse hat der Öffentlichkeit doch das Gegenteil berichtet.

Du weißt, dass er zur Zeit nicht selber kommen kann. Das hast du selbst zu spüren bekommen. Und es ist schwer für ihn, immer neue Handlanger zu finden, von da, wo er jetzt ist.

Wird er neue finden?, fragte Dane. Die dann hier auftauchen?

Er wird, antwortete das Loch. Schneller als du denkst. Also sei auf der Hut.

 

Erst gegen Abend fand Dane den Weg zurück zur Klinik. Verloren im Zwiegespräch mit seinem zweiten Ich zog der Tag an ihm vorüber. Er fühlte sich in einem Strudel von Gefühlen gefangen und versuchte seine Gedanken zu sortieren.

 

*

 

Sarahs Gedanken spielten ebenfalls verrückt. Was sie gestern als Depression mit in die Nacht genommen hatte, zeigte sich heute als Triumph. Auch wenn sie ihn den ganzen Tag über nicht mehr gesehen hatte, so spürte sie, dass etwas in ihr geschah. Was war es, dass sie so kompromisslos von ihm annahm, obwohl sie noch nicht dazu bereit war. Es war nicht sein Gesicht. Es waren seine Augen, die dunkelbraun und klar leuchteten. Sie wollte das Alltägliche dieser Klinik darin erkennen, aber sie konnte es nicht finden. Seine Augen trugen die Art von Geschichten mit sich herum, die hier keinen Platz hatten. Geschichten einer verlorenen Herzlichkeit, der Aggression und der Unruhe, wo in dieser Klinik doch Enttäuschung und Depression vorherrschten. Sie erkannte weder einen Patienten noch einen gesunden Menschen in ihm. Es war irgend etwas dazwischen – etwas Geheimnisvolles.

Ihre Sinne begannen zu entgleisen, und sie verspürte jenes Bauchgefühl in sich, von dem sie glaubte, es nur ein einziges Mal in ihrem Leben in ihrer ersten Jugendliebe gefunden zu haben. Es hatte sie sanft und weich in die Welt des Erwachsenenwerdens getragen; bis sie wach wurde und in einer Ehe voller Sackgassen gelandet war. Die Ehe war schnell zu Grunde gegangen, bis sie nach vierzehn Jahren vor lauter Leid und Schmerzen keine Hoffnung mehr fand.

Das fand sie heute wieder –, mit dieser seltsamen Begegnung dieses neuen Patienten, dessen Namen sie noch nicht einmal kannte.

 

Dane lag mit offen Augen im Bett und dachte immer wieder an diese Sarah. Er versuchte, sich gegen das Gefühl, etwas für sie zu empfinden, zu wehren, aber es war so stark, dass er den Kampf dagegen verlor. Selbst als er sich eindringlich ermahnte, auf der Hut zu sein. Aber auch das stieß sie nicht aus seinen Gefühlen. Es war, als hätte sie ihm ein Rettungsseil zugeworfen, an dem er sich festhalten konnte.

Er schlief ein und träumte von dem Licht, was sich am Ende des Tunnels zeigte. Das Loch war nicht endlos.

Seine Nacht war unruhig.

 

*

 

Am nächsten Morgen beschloss er, diese Frau wieder loszuwerden. Es war das beste. Es würde die Dinge sonst zu kompliziert machen. Seine Konzentration würde zu sehr leiden, und es würden bittere Konsequenzen zum tragen kommen. Er konnte sich einfach nicht zwei Welten gleichzeitig stellen und musste eine Entscheidung treffen.

Sein Loch triumphierte, hatte es doch genug in dieser Nacht auf ihn eingewirkt.

Dane schlenderte gelangweilt durch das Klinikgelände und traf nirgends auf Sarah. Sie war weder im Außengelände noch im Speisesaal. Er war erfreut und enttäuscht zugleich. Hatte er ihre Absichten fehlgedeutet? Vielleicht war sie jedem neuen Gast freundlich gegenüber. Vielleicht war es ihre Art, sich immer neue Gesellschaft zu suchen. Dann sollte es so sein. Dann hatte es sich für ihn erledigt.  

Am Abend traf er sie doch unverhofft in der Eingangshalle. Sein Adrenalinspiegel stieg sofort an. Er hielt seinen Blick reserviert und versuchte ihr desinteressiert zu begegnen. Als sie vor ihm stand und ihn fragte, ob er gemeinsam mit ihr das Abendesssen zu sich nehmen wolle, ließ er sich widerwillig überreden. Er sah sie dabei nicht einmal an. Nur ein leichtes Nicken diente ihr zur Antwort.

Sarah verstand schnell und war irritiert. Dieser Mann, der ihr gestern noch so vertraut war, wirkte plötzlich in sich zurückgezogen und ganz anders, ja, fast anmaßend. Er trug Fremdes und Bekanntes so nahe beieinander, dass es ihr unheimlich wurde. Konnte sie jetzt schon von fremd reden, wo sie ihn doch noch gar nicht kannte?

Dane konnte die Fassade nicht lange aufrecht erhalten. Sie bröckelte mit jedem unvermeidlichen Blick zu ihr mehr und mehr ab.

„Ich heiße Sarah“, sagte sie plötzlich. Er saß ihr gegenüber, wieder einmal und sah sie stumm an. Hatte sie ihren Namen nicht schon am Tag seiner Ankunft gesagt?

„Sie reden nicht, – nicht wahr?“, fragte sie unsicher. Dane sah zum Fenster hinaus und nickte. Er hasste sich dafür.

„Macht nichts“, fing Sarah seine stumme Antwort auf. „Darf ich Sie mit du ansprechen?“ Sie lächelte. Er sah zu ihr hinüber und nickte erneut.

„Nein, ich werde Sie Nick nennen, weil Sie immer so viel nicken.“ Sie konnte nicht anders und lachte aus vollem Hals über ihren eigenen Witz. Dane saß da und sah sie nur an. Dann musste er zum ersten Mal lachen. Er verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen.

 

*

 

Sarah begann ihn zu verzaubern. Sie war der erste Mensch, der ihn ganz tief erreichte und seinen Abstieg in das Loch zu verhindern schaffte. Doch das ahnte sie nicht. Sie begann seine Dunkelheit auf eine bezaubernde Art mit Licht zu ersetzen.

Das verwirrte Dane zunächst, weil er dieses Gefühl seit seiner frühesten Kindheit nicht mehr kannte. Damals war es seine Mutter gewesen, die ihn mit Liebe und Wärme versorgt hatte. Aber das war nur eine kurze Zeit gewesen. Nun, nach über fünfunddreißig Jahren begegnete ihm dieses Gefühl plötzlich wieder. Und es war so wunderbar. Wo er doch immer dachte, dass die Dunkelheit wunderbar sei.

Er lag auf dem Bett und überlegte, ob er den Lochschaufler einfach in Ruhe lassen sollte.

 

Du bist ein Narr!, schrie ihn das Loch an. Wann begreifst du endlich, dass du einen großen Fehler begehst?

 

Dane ging zum Fenster und sah hinaus.

 

Wann darf ich wieder sprechen?, fragte er.

Wenn du zu dir gekommen bist. Bleib bei der Sache. Du zettelst gerade ein Unheil an.

Weil ich mich mit dieser Frau treffe?

Weil du die Gefahr nicht erkennst. Du sollst endlich einen Plan schmieden, nicht Liebesgott spielen.

 

Dane setzte sich aufs Bett.

 

Vielleicht gehört Sarah zum Spiel dazu.

Du Narr!, rief das Loch. Es ist dein Spiel, nicht Sarahs. Du hast noch nie einen Partner an deiner Seite gehabt. Du bist ein Einzelgänger. Wann begreifst du das endlich? Wenn du nichts unternimmst wird er dich töten.

Vielleicht gibt Sarah mir die Kraft, die ich brauche, um diesen letzten Kampf durchzustehen, sagte Dane.

Sie wird dir alle Kraft rauben. Sie wird dir deine Konzentration rauben. Sie macht dich schwach und unaufmerksam. Er wird dich am Ende töten. Wegen ihr.

Wie soll er mich töten, wenn er nicht weg kann, von dort, wo er jetzt ist. Warum soll ich hier weiter auf ihn warten?

Weil er einen Weg finden wird, um zu dir zu kommen. Sei auf der Hut!

Woher willst du das wissen?

Ich weiß alles!

 

Dane war wütend und verspürte das dringende Bedürfnis sich zu duschen. Er fühlte sich dreckig und unsortiert. Nahezu eine Stunde verbrachte er unter der Dusche, die mit heißem Wasser so lange auf ihn niederprasselte, bis sich sein Körper rot vor Hitze färbte und brannte. Erst dann fühlte er sich besser. Auf seinem Bett besah er sich die Narben der Operation. Er betastete jede einzelne mit seinen Fingern, als sollte sie ihn an etwas erinnern, woran er nicht denken wollte. Er ließ sich nach hinten auf sein Bett fallen und schloss die Augen. Starke Unruhe überkam ihn. Gequälte Gesichter starrten ihn von allen Seiten an. Der Tagtraum wurde zur Qual. Er öffnete die Augen und fluchte. Die Gesichter schrien nun. Blut floss aus ihren Mündern. So stark, dass Dane aus dem Bett sprang und ins Bad flüchtete. Dort verschwanden die Gesichter und auch das Geschrei. Sein Blick traf den Spiegel. Er starrte sich an, als sei ihm das Gesicht vollkommen fremd. Er öffnete den Mund und versuchte zu sprechen. Nicht ein einziges Wort kam aus seinem Mund. Er umklammerte seine Kehle, drückte zu, würgte, um anschließend die Stirn verloren gegen den Spiegel fallen zu lassen. Aus seinem Mund kam nichts heraus. Nicht ein Ton! Er war stumm. Er war tatsächlich stumm!

Damit wurde ihm unmissverständlich klar, wie stark ihn das Loch bereits beherrschte. Er bekam Angst, doch das Loch lachte nur.

Die Kamera zeichnete alles auf.

 

*

 

Drei Tage waren bereits vergangen, und Dane nahm weder an einer Therapie noch an einem Angebot der Klinik teil. Er machte lange Spaziergänge oder vergrub sich hinter Büchern, die er sich aus der Bücherei der Klinik auslieh. Hin und wieder saß er im Park und sah den Gärtnern bei der Arbeit zu. Sarah hielt sich stets in seiner Nähe auf, sprach ihn aber nicht an. Wie ein Schutzengel folgte sie ihm und genoss jede Stunde, die sie einfach nur in seiner Nähe sein durfte.

Dane hatte eine distanzierte Freundschaft zu ihr gewonnen. Oder war es sein Weg ihr näher zu kommen?

Eines morgens bereitete Dane einen kleinen Zettel für Sarah vor, den er ihr nach einem Frühstück reichte. Sie nahm ihn erfreut entgegen und entfaltete ihn. Sie las seine Mitteilung: DANE. Kaum hörbar flüsterte sie: „Hallo, Dane.“

 

*

 

Roosevelt war unzufrieden. Dane lehnte jeden Kontakt zu ihm und anderen Patienten ab. Das verursachte Missstimmung, und niemand zeigte mehr Interesse an ihm. Das schien ihm recht zu sein.

Die erste Woche verging und nichts passierte. Zumindest für die Außenstehenden.

Roosevelt war erbost, Dane war verwirrt und Sarah wartete.

 

Komm, sagte das Loch. Lass uns auf die Reise gehen.

 

*

 

Nach einer brühend heißen Dusche schmiss Dane sich auf sein Bett. Er besah sich wieder seinen vernarbten Körper. Seine Erinnerung an den Überfall war plötzlich so gegenwärtig, als sei er gestern erst gewesen. Seine Gedanken glitten hinab in das Loch. Wie ein langer, schwarzer Tunnel zog sich der Gang nach unten. Weit am Ende des Weges schimmerte ein schwaches Licht. Da musste er hin. Es war der Ort, an dem sich alles abgespielt hatte, und zugleich der Ort, an dem alles beendet werden müsste. Er musste jetzt dort hinfinden, wo der Hass regierte.

Dane warf einen Blick zurück. Nur kurz. Oben stand Sarah. Sie lächelte, als würde sie sagen geh weiter und bring es hinter dich. Er sah wieder nach unten. Ein Leben ohne Hass, ohne Sorge war ein Leben mit Sarah.

Dane verharrte in dem Tunnel und besah sich die Wände, die kalt und dunkel das Loch umgaben. Seine Hände ertastete das rissige Gestein. Es war scharf und splittrig. Seiner rechten Hand entwich etwas Blut, als er das Gestein berührte. Er presste die Wunde an seine Lippen und trank sein eigenes Blut. Der Tunnel war gefährlich und mit Vorsicht zu genießen. Dane besah sich seine Wunde an der Hand. Als er näher hinsah, hatte sich etwas in sie hineingezeichnet. Es war kein Blut und auch kein Schmutz von dem Gestein. Es war die Schwärze des Lochs, die deutlich das Wort Wahrheit in die Innenflächen seiner Hand zeichnete. Ein Wort, mit dem sich Dane erst wieder anfreunden musste. War die Wahrheit doch zu etwas geworden, das er in den letzten Jahren nur noch selten benutzt hatte. Mit Sarah war die Wahrheit wieder aufgetaucht. So unvermittelt, so unvermeidbar. Die Waffen der Lüge hatte sie ihm beim ersten Treffen schon entzogen.

Ganz allein die Wahrheit musste ausreichen, um dem ganzen Spektakel das nötige Feuer zu verleihen. Dane ging weiter in den Tunnel hinein ...

Etwas Schattiges baute sich vor dem Licht am Ende des Tunnels auf. Dane wurde plötzlich heiß. Sein Atem begann sich zu beschleunigen. Der Schatten formte sich zu einem Gebäude – einem großen, roten Gebäude.

 

Dane begann sich auf seinem Bett hin- und herzuschmeißen. Seine Hände begannen um sich zu schlagen und dann, nach vielen Wochen, hörte er wieder seine eigene Stimme, die schrie: „Bitte, nein!“ Es war, als komme die Stimme aus dem Tunnel, in hoher Tonlage – die Stimme eines Kindes.

Danes Atem beschleunigte sich. Es kostete ihn maßlose Anstrengung, mit den Gedanken in dem Tunnel zu verharren. Er wälzte sich herum und fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden. Erschrocken öffnete er die Augen und stöhnte lautlos vor sich hin. Sein Hinterkopf schmerzte von dem Aufprall. Er kam langsam in die Höhe und ging ins Bad. Ein Schluck Wasser würde ihm guttun. Er schaute wieder in den Spiegel, stierte auf ein fremdes und verlebtes Gesicht. Er öffnete den Mund und versuchte erneut, seine Stimme zu bezwingen. Ein Würgen ließ ihn in Wut und Hass fallen. Seine Faust zertrümmerte den Spiegel. Blut rann aus seiner Hand.

Er rannte zurück in sein Zimmer, fühlte sich aufgebracht und herausgefordert. Ein schrilles Fiepen im Trommelfell schmerzte ihn so sehr, dass er sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt. Dann sah er zur Decke. Der Schmerz wurde stärker, worauf er wieder ins Bad lief und sich Wasser ins Gesicht spritzte. Der Schmerz ließ sich nicht beherrschen. Er rannte zurück ins Zimmer. Er hämmerte seine Stirn gegen den Schrank. Der Takt wurde rhythmisch. Er wollte stöhnen, aber es blieb bei einem heiseren Hecheln. Er begann, mit den Fäusten gegen seine Stirn zu hämmern, empfand aber keine Erleichterung.

Bekleidet wie er war suchte er die Dusche auf. Wasser ergoss sich über seine Kleidung. Heiß musste es sein. Er erstickte im Dampf und spürte die nicht enden wollende Unruhe. Er raste triefend nass wieder zurück ins Zimmer und mit dem Kopf voran gegen die Wand. Ein roter Blutstreifen rann die Tapete herunter. Sein Körper ging zu Boden. Er heulte. Seine Töne klangen widerlich, und er krächzte mit ausgereizter Stimme: „Neiiin!“

Rhyan, der Pfleger, war bereits von Roosevelt beauftragt worden, nachzusehen und lief die Treppe hinauf. Danes Tür war von innen verriegelt. Er hörte wieder Tumult hinter der Tür, Möbel flogen durch das Zimmer. Er hörte, wie Dane dabei stöhnte und röchelte. Er klopfte nicht zart, er hämmerte gegen die Tür und rief: „Dane, mach auf!“ Er hatte in der Eile vergessen, die Zimmerschlüssel mitzunehmen. Doch das Massaker hinter der Tür nahm weiter seinen Lauf. Immer wieder hörte er Holz bersten und Schreie der Verzweiflung. Rhyans Körperkraft schlug das Schloss der Tür schließlich auf, und er landete mit einem wuchtigen Sprung im Zimmer. Das Ausmaß des Anfalls war verheerend. Als er sich umdrehte, sauste etwas auf ihn nieder.

„Du, Schwein!“, schrie Dane und setzte seine letzte Kraft in den Tisch, den er Rhyan hinterrücks ins Kreuz schleudern wollte. Rhyan aber konnte ihn mit seinem rechten Arm im letzten Moment abwehren und packte Dane an den Schultern. „Hey, du kannst ja reden!“, rief er.

Ungeachtet dieser Bemerkung schlug Dane Rhyan seine Faust mitten ins Gesicht. Der reagierte prompt und packte Dane gewaltsam mit einem Schutzgriff. Dane wollte nicht zu sich kommen. Er sah sich dem Überfall wieder gegenwärtig und versuchte sich freizuraufen. Aber Rhyan war stark und groß und schüttelte ihn mit Nachdruck. Er schrie: „Hey, nun komm mal zu dir! Wir sind hier nicht auf dem Rummelplatz!“ Dane hörte ihn nicht. Er wehrte sich mit all seiner zur Verfügung stehenden Kraft. Seine Feinde würden ihn nie wieder kriegen! Er würde sich nie wieder fangen lassen. Rhyan hielt ihn solange in Schacht, bis er am Ende seiner Kraft war und sich zu Boden sinken ließ. Eine Schwester kam und injizierte ihm ein Beruhigungsmedikament.

 

„Wie konnte das passieren!“, schrie Roosevelt seine Aufseher an. Alle zuckten ratlos die Schultern und trauten sich nicht zu sagen, dass sie Danes Bildschirm heute nicht richtig kontrolliert hatten. Erst als der Tumult seinen Lauf genommen hatte, hatte jemand hingesehen und Roosevelt informiert.

 

*

 

Das hast du gut gemacht, lobte das Loch. Dein Plan wird funktionieren.

Welcher Plan?, fragte Dane.

Na, um endlich Aufmerksamkeit zu erlangen.

Das ist mein Plan?

Ja! Du musst etwas in Bewegung setzen. Etwas, was ihn nervös macht.

Wie?

Du bist auf dem besten Wege.

 

 

1984. Neun Jahre früher.

Glendale / Kalifornien. Dane, 29 Jahre.

Dane lag mit offenen Augen im Bett. Er hatte gerade die Zeitung gelesen.

BRUTALER RAUBMORD stand es in großen Buchstaben in einer Zeitung, die nicht von hier war, die Dane bei einem Händler aus Kinman in Arizona bestellt hatte. Er sog den Bericht in sich hinein wie eine Mutter den Duft ihres Babys.

Die Tat, die diesem Artikel zugrunde lag, hatte sich natürlich anders abgespielt, als sie dargestellt wurde. Wie sollten die Reporter auch wissen, was sich in dieser Villa wirklich abgespielt hatte. Die, die das wussten waren tot. Der Lochschaufler hatte sie umgebracht, alle.

Dane sah die gelungene Aktion noch einmal vor sich ablaufen:

Der Einbruch in die Villa des erfolgreichen Inhabers der Firma IMOCUT. Die Familie, die plötzlich vor ihnen stand und das Geld, was sie bei sich hatten.

Dane hielt ihm, dem Lochschaufler, die entsicherte Waffe an die rechte Schläfe und sagte voller Gelassenheit: „Du oder sie?“

Erst war der Lochschaufler skeptisch geworden, als Dane ihm den Plan von einem großen Geldraub mitteilte. Dann war er neugierig geworden. Geld konnte er immer gut gebrauchen. Alles klang so einfach. Alles hörte sich nach einem guten Plan von Dane an. Wieso sollte er nicht mal etwas mit ihm zusammen machen? Es war doch offensichtlich, dass Dane ihn nicht töten wollte. Dann hätte er es längst getan. Sie waren sich einfach zu ähnlich. Beide liebten den Abgrund vor sich.

„Nur einmal“, hatte Dane ihm des Abends versprochen, als er ihm den Plan mitteilte. „Nur einmal eine Sache mit dir zusammen. Nur wir beide.“ Dass Dane dabei einen ganz anderen Plan verfolgte, wusste er natürlich nicht. Dane wollte ihm nur Angst einjagen. Mächtig Angst. Er wollte, dass sich sein Gegner vor ihm zutiefst zu fürchten begann.

Nun standen sie vor dieser vollkommen unschuldigen Familie. Der Lochschaufler spürte die Waffe an seiner Schläfe. Seine eigene Waffe war auf die Familie gerichtet.

„Du oder sie?“, sagte Dane nachdrücklich.

Das konnte doch nicht wahr sein! Er sollte diese Familie erschießen? Einfach so? Er hatte noch nie einen Menschen mit einer Waffe erschossen. Das war eine Falle!

Dane wurde unruhig. „Komm schon. Es kann doch nicht so schwer sein. Du hast schon einmal getötet. Du kannst das.“

Der Lochschaufler spürte, wie ihm die Knie wegsanken: „Ich habe noch nie einen Menschen erschossen.“

„Nein“, sagte Dane, „nicht erschossen. Du hast ihn nicht erschossen.“

Dane spannte den Hahn seiner Waffe. Er würde gleich abdrücken, wenn der Lochschaufler es nicht tat. Sei es drum. Dann wäre das Spiel eben heute schon vorbei.

Der Lochschaufler bettelte, flehte … und gab nach. Die Schüsse peitschen durch das Haus! Eine Salve von fünf Schüssen streckte die Familie nieder. Der Lochschaufler flehte immer noch und schoss und schoss. Dann spürte er den Schlag auf seinem Hinterkopf, der auch ihn zu Fall brachte.

 

 

1993. Neun Jahre später.

Los Angeles. Dane 38, Jahre.

Es war spät am Abend, als mich Roosevelt in Los Angeles anrief.

Das Treiben im Medical Center ließ gerade nach, und alle kamen zur Ruhe, Ärzte und Patienten. Ich hatte Bereitschaftsdienst, wie so oft. Woran auch meine Ehe gescheitert war.

Ich sah mich gerade einer wohlverdienten Pause gegenüber und liebäugelte mit dem Bett im hinteren Teil des Ruhezimmers, als das Telefon klingelte.

„Herr Gott!“, protestierte ich und gestikulierte wütend mit meinen Händen herum. „Clark.“ Es kam kurz und hart aus meinem Mund.

„Ja, hier Roosevelt.“

Der Name kam so überraschend wie angenehm bei mir an. Meine Miene hellte sich auf, und ich ließ mich erfreut in einen gepolsterten Lederstuhl fallen. Ich hatte schon lange auf ein Zeichen von Dane gewartet und erkundigte mich direkt nach seinem Wohlbefinden.

„Nicht so gut“, sagte Roosevelt. „Deswegen rufe ich an. Es läuft alles anders, als wir erwartet haben. Mr. Galloway scheint nicht ein Patient zu sein, dem wir hier helfen können. Er ist nicht daran interessiert, sich Hilfe zu holen. Er zeigt an nichts Interesse und hat nur etwas Kontakt zu einer Patientin aufgenommen. Nichts Aussagekräftiges, eher Oberflächliches. Gestern Abend erlitt er plötzlich einen Tobsuchtsanfall und demolierte sein ganzes Zimmer.“

Meine Miene verhärtete sich, meine Kaumuskeln begannen zu arbeiten, und ich fand vor Bestürzung keine Worte.

Dr. Roosevelt fuhr fort: „Er hat einen Pfleger angegriffen, der ihm helfen wollte. Jetzt liegt Mr. Galloway ruhiggestellt auf der Krankenstation. Wir finden das sehr beunruhigend, Dr. Clark, denn solche Gewaltausbrüche werden in meiner Klinik nicht therapiert. Auch wenn augenscheinlich ein Auseinandersetzungsprozess in ihm in Gang kommt und ich gerne bereit wäre, jetzt mit ihm zusammenzuarbeiten, so kann ich nicht absehen, wann es wieder zu einem Zwischenfall kommen wird. Er braucht professionelle Hilfe auf einem anderen Gebiet. Da er mir keine Gelegenheit geben möchte, mit ihm ernsthaft ins Gespräch zu kommen, kann ich momentan nicht viel tun. Ich muss leider anmerken, dass eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik nicht auszuschließen ist. Unter Umständen sogar recht schnell. Mir bleibt nicht viel Handlungsfreiraum, wenn sich eine solche Gewalttat wiederholt. Was er gestern gemacht hat, könnte morgen genauso gut ein Angriff auf Patienten oder ein Schnitt in die Pulsadern sein.“

Ich sank tief in meinen Sessel und dachte ungewollt an die Diagnose von Vancouver. Ich erinnerte mich an die Frage: „Hat er sich denn niemals gewalttätig Anderen gegenüber verhalten?“

Sollte ich Dr. Roosevelt darüber informieren? Nein, das wollte ich nicht und sagte stattdessen: „Ich werde mich beurlauben lassen und zu Ihnen kommen. Vielleicht komme ich momentan besser an ihn heran. Doch zuvor möchte ich gerne ein Deal mit Ihnen machen …“

 

*

 

Glendale war ohne Dane leer geworden, das heißt, für Johnathan und mich hatte sich ein anderer Alltag eingespielt. Alles war irgendwie fad geworden. Nichts spielte sich mehr mit Fröhlichkeit ab. Sicher hatten ich auch einigen Spaß mit meinen Kollegen und Patienten und Johnathan mit seinen Gästen, aber es war nicht der Spaß, den wir mit Dane immer hatten. Er fehlte mir als Freund und John als Geschäftspartner. Wir vermissten das wirkliche Lachen, jenes, das sich über den ganzen Abend und schlimmstenfalls noch über die Nacht hinwegziehen konnte. Jenes, das uns mit Muskelkater und einem tierisch guten Gefühl morgens wach werden ließ. Wir wurden von ein auf den anderen Tag älter.

Gleich am nächsten Morgen, nach meinem Gespräch mit Roosevelt, rief ich Johnathan an, um mit ihm zu sprechen. Mir waren in der Nacht so einige Dinge durch den Kopf gegangen, von denen ich mir erhoffte, der ganzen Sache von Dane auf die Sprünge zu helfen. Ich wollte einen Blick in sein Zimmer werfen, einen tiefen. Es musste sich doch irgendwo etwas Stichhaltiges oder Wichtiges finden lassen, vielleicht ein Foto, Namen, Schlüssel von Schließfächern oder Türen oder Ähnliches. Vielleicht sogar eine Geburtsurkunde. Dane musste alte Unterlagen besitzen. Er war viel zu ordentlich und organisiert, um keine zu besitzen. Weder Johnathan noch ich hatte je etwas zu Gesicht bekommen. Wir durchwühlten sein Zimmer bis in die hinterste Ecke und verrückten seine Möbel, bis wir zwischen zwei Schränken geklebt schließlich etwas fanden. Es verpasste uns einen schweren Schlag ins Genick.

 

 

1993. Dallas / Texas.

Sarah hatte sich die ganze Nacht unruhig in ihrem Bett herumgewälzt. Sie hörte immer wieder seinen verzweifelten Schrei vom Nachmittag, der durch die ganze Klinik hallte. Über Dr. Roosevelt hatte sie von Danes Zwischenfall erfahren und die Erlaubnis bekommen, ihn auf der Krankenstation zu besuchen.

Sie betrat leise das Zimmer und erschrak. Danes Stirn wies eine hässliche Platzwunde auf.

Er befand sich in einem schlummernden Zustand, denn seine Augenlider blinzelten. Er stöhnte heiser, und sie hörte zum ersten Mal seine Stimme.

„Hallo, Dane“, sagte sie tonlos. Sie saß niedergeschlagen an seinem Bett und beobachtete ihn. Vorgestern war ihr noch, als hätte sie etwas Fröhliches in ihm gesehen. Sein Gesicht hatte sich entspannt. Nun sah er wieder fremd aus.

„Das hättest du nicht tun müssen“, sagte sie.

Danes Blick wurde stabiler, und er suchte nach der Person, die mit ihm sprach. Er sah sie schließlich an.

„Du hast dein Zimmer zerschlagen und Rhyan angegriffen. Du warst gemein. Ich bin enttäuscht“, sagte Sarah, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Sie lachte nicht mehr und wirkte besorgt, machte keinen Hehl aus ihrem Entsetzen über seine Tat.

„Lass dir doch helfen! Rede mit Dr. Roosevelt. Wenn du keine Bereitschaft zeigst, musst du gehen. Und du weißt, wohin!“

Eine blau gekleidete Krankenschwester kam herein und zog ihm die Infusionsnadel aus dem Arm. Sie rollte einen Ständer mit drei leeren Flaschen aus dem Zimmer. An der Tür drehte sie sich kurz um und forderte Sarah auf, das Zimmer zu verlassen, da Dr. Roosevelt gleich zu Mr. Galloway wolle. Sarah erhob sich und drückte seine Hand. „Tschüss, Dane.“ Wie immer an jedem Abend. Dane schämte sich für diese Szene.

Dem Gemurmel vor der Tür war zu entnehmen, dass Roosevelt im Anmarsch war. Er kam schnellen Schrittes hereinmarschiert, ohne eine Spur von Freundlichkeit und zog sich einen Stuhl zu Dane ans Bett. „Hallo“, sagte er kurz angebunden und hoffte auf eine Antwort.

Rhyan hatte ihm mitgeteilt, dass Dane erstmals gesprochen hatte. Also war dieses Tabu gebrochen. Roosevelt brauchte darauf keine Rücksicht mehr zu nehmen. Seine Hoffnung, dass Dane jetzt auch mit ihm sprechen würde, war jedoch vergebens. Stattdessen schlug ihm ein betretener Blick seines Patienten entgegen, der Reue und Unbehagen zeigte. Roosevelt ließ sich nicht darauf ein. „Das war großer Mist letzte Nacht! Geht es Ihnen jetzt besser?“

Dane schaute ihn taxierend an und nickte.

„So funktioniert das hier nicht, Mr. Galloway. Gleich morgen, um neun Uhr, möchte ich Sie in meinem Büro sehen. Falls Sie nicht kommen, werde ich Sie in eine psychiatrische Klinik überweisen. Ihr Verhalten ist eine Gefahr für die Öffentlichkeit! Darüber müssen wir reden.“

Das hatte gesessen. Roosevelt erhob sich und verschwand.

Kurz darauf kam Rhyan herein. Er hatte eine Prellung von Danes Schlag an der linken Wange.

„Ich wusste nicht, dass du so einen Ärger machst!“, sagte er und schmiss ihm die Kleidung aufs Bett. „Zieh dich an!“

Dane kam Rhyans Aufforderung nach und folgte ihm in den dritten Stock in ein neues Zimmer. Dort gab es nur eine sporadische Einrichtung. Dafür hing über der Tür wieder eine Kamera. Rhyan unterrichtete ihn über sein zukünftiges Ausgehverbot, knallte ihm einen Wecker auf die Nachtkonsole und erinnerte ihn an den morgigen Termin mit Dr. Roosevelt.

Von allen Seiten griff die Kälte nach ihm.

 

Was soll ich jetzt tun?, fragte Dane das Loch.

Mach einfach nur weiter, riet ihm das Loch.

Ich soll mich wieder vergessen und alles kurz und klein schlagen?

Dir fällt sicher etwas besseres ein.

 

*

 

Roosevelt versuchte mit Dane erneut ins Gespräch zu kommen. Seine Fragen waren freundlich und ohne böse Absicht. Doch Dane reagierte nicht. Er saß dem Arzt stumm und teilnahmslos gegenüber und schaute immer wieder aus dem Fenster. Roosevelt beendete das Treffen und verließ unzufrieden den Raum.

Dane verbrachte den Rest des Tages in seinem Zimmer und bemerkte nicht, wie die Kamera alles aufzeichnete.

Man brachte ihm Essen und Getränke. Er fühlte sich eingesperrt und begann plötzlich ein lautes Zwiegespräch mit seinem Loch.

 

Ich muss Sarah sehen, sagte Dane ungeduldig.

Warum?, fragte das Loch.

Ich brauche sie, um das alles hier durchzustehen.

Was kann sie schon für dich tun?

Sie kann mir helfen, einen anderen Weg zu finden.

Einen Teufel wirst du tun!, schrie das Loch.

Was macht das noch für einen Sinn hier!, schrie Dane zurück.

Das Loch beruhigte sich. Du wirst bald verstehen. Ich bin bei dir. Denke immer daran.

Du bringst mir nur Ärger, sagte Dane und ging unter die Dusche.

 

Dane verspürte gegen Nachmittag ein starkes Unbehagen in seiner Magengegend und erbrach sich. Er versuchte zu meditieren, aber seine Gedanken an Sarah ließen ihn nicht zu Ruhe kommen. So suchte er erneut das Gespräch mit dem Loch, aber es bestrafte ihn mit Ignoranz. Gegen Abend erbrach er sich ein weiteres Mal. Er duschte heiß und ging zu Bett.

Seine Träume ließen ihn mehrmals aufschrecken, nass vom Angstschweiß.

 

*

 

Am nächsten Morgen ließ Roosevelt Dane wieder in sein Büro rufen. Seine Ansprache war diesmal nicht mehr freundlich. Im Gegenteil, er teilte ihm seine Entlassung aus dieser Klinik mit. Er werde ihn in eine geschlossene Klinik überweisen müssen. Gleich morgen. Damit nicht noch mehr Unheil geschehe.

Dane verließ den Raum. Roosevelt war klar, dass es nun in ihm brodeln musste.

In der Tat, Dane hatte sich die Worte des Arztes genau angehört und sagte entschlossen zum Loch:

 

Du hast recht. Ich muss was tun.

Das Loch lachte.

 

*

 

Roosevelt gab Dane am nächsten Tag tatsächlich seine Entlassungspapiere. Im Anhang befand sich eine Einweisung in eine Psychiatrie wegen Selbstgefährdung und Gefährdung anderer.

Roosevelt sah noch, wie Dane taumelnd das Zimmer mit den Papieren in der Hand verließ. Jetzt hatte er ihn. Dabei war es gar nicht üblich, solchen Patienten die Papiere selbst zu übergeben. Dafür bestellte man Angehörige oder gesetzliche Vertreter. Und sofort einen Krankentransport.

 

Sarah vermisste ihn beim Abendbrot und sah jedes Mal zur Tür, wenn ein Patient den Essraum betrat. Später klopfte sie an seine Zimmertür und fragte, ob alles in Ordnung sei, aber sie bekam keine Antwort. Enttäuscht suchte sie ihr Zimmer auf und durchblätterte unaufmerksam eine Modezeitschrift.

 

Die Kamera in seinem Zimmer war eingeschaltet, aber sie zeigte nichts weiter als einen leeren Raum. Es war schon spät in der Nacht, als einer der Aufseher die Situation schließlich für meldepflichtig hielt.

 

Nach dem Abschlussgespräch mit Roosevelt war Dane durch den Garten der Anlage geirrt. Er hatte zu dem kleinen Wald hinunter in das Tal gesehen. Stimmen riefen ihn. Er folgte ihnen und verschwand zwischen Bäumen und Sträuchern. Da niemand seinen Ausflug bemerkte, suchte ihn zunächst auch niemand.

 

Komm!, rief ihn das Loch und führte ihn wieder in den Tunnel.

Dane folgte ihm unsicher.

 

Der Wald war dunkel. Er formte sich zu einem Tunneleingang. Dane trat vorsichtig ein. Der Tunnel war kalt, grau und leer. Und ganz hinten war immer noch das Licht zu sehen. Dane bewegte sich tiefer und tiefer hinein. Vor dem Licht baute sich wieder dieser große Schatten auf. Als er näher trat erkannte er das riesige Gebäude. Es war eine alte Scheune. Die rostrote Farbe löste sich bereits überall vom Holz.

Jetzt konnte er sich erinnern. Diese Scheune kannte er nur allzu gut.

Weit entfernt hörte er ein Kindergeschrei, dann die wütenden Schreie eines Mannes. Dane sah sich um, aber er entdeckte niemanden. Die Schreie kamen aus der Scheune. Er trat näher an das Gebäude heran. Doch bevor er es erreichen konnte, pralle er gegen eine unsichtbare Wand aus Glas. Er hörte aber weiterhin die Schreie der Kinder, nah und ganz klar. Die schrien und wimmerten: „Nein! Bitte, nein!!“ Eine derbe Männerstimme lachte.

Dane versuchte die Wand aus Glas wegzuschieben, was ihm nicht gelang. Dann schlug er auf sie ein, aber sie zerbrach nicht. So nahm er Anlauf und rannte mit aller Kraft gegen dieses Ding, was ihn mit Gewalt von den wimmernden Kindern fernhielt. Aber es gab nicht nach. Er brach zusammen und sank besiegt zu Boden. Mit ihm fiel sein Traum. Die Scheune blieb unerreichbar, die Stimmen verstummten und alles war friedlich, als wäre nichts geschehen.

Dane lag zusammengekrümmt im Wald vor einem Baum. 

 

Mehr als vier Stunden waren Roosevelt und drei seiner Mitarbeiter nachts suchend durch die Parkanlage gelaufen. Mit Taschenlampen hatten sie in die kleinsten Winkel geleuchtet und unablässig nach dem vermissten Patienten gerufen.

Roosevelt hatte die Absprache mit mir verflucht und sah sich schlimmen Konsequenzen gegenüber. Dann fanden sie ihn Gottseidank im angrenzendem Wald bewusstlos vor einem Baum liegen. Sein Gesicht wies Verletzungen im Stirn- und Nasenbereich auf, so als wäre Dane gewaltsam gegen diesen Baum gelaufen.

Immer wieder zeigte sich bei ihm das Verlangen, seinen Kopf zu verletzen. Entweder schlug er ihn gegen die Wand oder er trommelte mit seinen Fäusten darauf ein. Nun war er eben gegen einen Baum gerannt. Was verbarg sich in diesem Kopf?

 

 

1993. Los Angeles.

„Es hat geklappt! Die Weichen sind gestellt. Sie können kommen“, teilte mir Roosevelt zufrieden mit und legte um 2.30 Uhr in der Nacht den Hörer auf die Gabel.

 

 

1993. Dallas / Texas.

Sie waren alle erschienen: Sarah, Roosevelt, Rhyan, Johnathan, die Gäste aus dem Running Horse, Joan, die Männer der Vergewaltigung und ich. Dieser Pulk von Menschen verursachte ein lautes Geschrei im Kopf von Dane. Es bereitete ihm Kopfschmerzen, und er hielt sich die Ohren zu. Was war das hier? Eine Party? Jeder redete vor sich hin, so dass alle durcheinander redeten. Sie standen um Dane herum. Er drehte sich im Kreis und sah allen ins Gesicht. Ihre Gesichter verzerrten sich. Wie Fratzen der Lächerlichkeit grinsten sie ihn an. Er fragte: „Warum geht die Scheunentür nicht auf?“

Schallendes Gelächter brach aus, die Münder verzogen sich zu blutenden Höhlen ohne Zähne. Dann sagte einer: „Du musst eben kräftiger drücken, du Eichhörnchen! Hast wohl keine Kraft mehr, hä, du Schwächling. Du musst fester drücken“, lispelten dann alle. Und dann schrien sie im Chor: „Drücken! Drücken! Drücken!“

Dane befreite sich aus der Mitte seiner Peiniger und sah sich um. Vor ihm baute sich wieder die Scheune auf. Er ging auf sie zu, wie im letzten Traum. Kurz davor hielt er inne und schaute sich noch einmal um. Seine Peiniger schrien immer noch; ihre Hälse wurden plötzlich länger, wie die von Gänsen. „Drücken! Drücken!“, tönte es zu ihm herüber. Er stand plötzlich vor der riesigen Holztür der Scheune. Es gab kein Glas mehr, was ihn zurückhielt. Die Spötter verstummten, dafür wurden andere Schreie hinter der Tür lauter. Sie klarten sich in Kinderstimmen auf. Ein Mann lachte. Dann begann Dane gegen die Scheunentür zu drücken. Alle Kraft, die er aufbringen konnte, setzte er ein. Er presste seinen Körper gegen dieses eine Hindernis, das all seinen Hass und all seine Ängste verbarg.

Ein ohrenbetäubender Knall ließ alles sterben. Dane erwachte aus dem Traum und fuhr erschrocken hoch.

Der feste Griff einer Hand an seiner Schulter holte ihn zurück in die Realität. Mit aufgerissenen Augen sah er mich an.

 „Ich bin es, Jim“, sagte ich.

 

*

 

Ich hatte mich beurlauben lassen und war wie besprochen zur Klinik gekommen. Hinter mir stand Roosevelt.

„Du hast geträumt, nicht wahr?“, fragte ich.

Dane lag wieder auf der Krankenstation. Er sah mich an. Sein Blick war verwirrt. Er hatte nicht mit mir gerechnet. Wie auch? Er hatte ja nichts von meinem Plan mit Roosevelt gewusst. Ich erklärte ihm die Zusammenhänge und war erfreut, mit dieser Idee einen Fortschritt erlangt zu haben. Dane war weniger erfreut. Er wirkte desorientiert, als habe er die Spur verloren, die er verfolgen wollte. Wir mussten ihm Zeit geben, sich an die neue Situation zu gewöhnen und zogen uns für wenige Minuten aus dem Zimmer zurück. Wir setzten uns in den Kontrollraum, wo wir über einen Bildschirm Danes Reaktion beobachten konnten.

Er begann mit seinem Loch zu reden.

 

Was nun?, fragte er das Loch.

Alles in bester Ordnung, sagte das Loch.

In Ordnung?! Nichts ist in Ordnung! Die sperren mich ein! Ist es das, was du wolltest?

Sie werden dich nicht einsperren.

Was lässt dich so sicher sein?

Sie sind viel zu neugierig, was jetzt passieren wird.

Und wo bitte soll das hinführen?

Wo willst du hin?

Ich will mit Sarah hier weg und in Ruhe leben.

Du kannst nicht in Ruhe leben. Nicht solange er noch lebt.

 

Dane dachte nach. Da war was dran. Sollte diese Klinik doch seine letzte Bühne werden?

 

Roosevelt und ich sahen uns an. Wir waren Zeugen einer schizophrenen Entgleisung geworden. Damit war mir klar, dass Dane nicht nur unter einem entsetzlichen Trauma litt, sondern, dass sich auch sein Geisteszustand bedenklich verändert hatte. Ich sah Roosevelt an. Er nickte und sagte: „Ich sagte ja, dass ich ihn hier nicht therapieren kann.“

Mir war klar, dass ich Dane tatsächlich nach Los Angeles in eine Psychiatrie bringen musste. Nur wahrhaben wollte ich es nicht. Also fragte ich: „Darf ich noch ein paar Tage mit ihm hier arbeiten? Ich meine, bevor ich ihn endgültig mitnehme.“

„Sicher“, entgegnete mir Roosevelt. „Wenn ich Sie für alles zur Verantwortung ziehen kann, was er hier noch anreißt.“

„Das können Sie“, versicherte ich ihm und ging zurück ins Krankenzimmer zu Dane.

Wie konnte ich Roosevelt nur solche Versprechungen machen?

 

Ich sagte: „Hy.“

Er sagte nichts.

„Du hast geträumt und erinnerst dich wieder, nicht wahr?“, fragte ich.

Er nickte. Ja, er erinnerte sich. Mein Blick war erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Schweigen. Nichts. Absolute Leere. Kein Wort von Dane.

Wir sahen uns nur an, nach acht langen Wochen.

 

Er will mich hier wegholen!, schrie Dane voller Angst. Er will mich mitnehmen und einsperren lassen! Hilf mir!

Beruhige dich, Dane, sagte das Loch.

 

Rhyan führte uns in den dritten Stock und zeigte uns ein großes Zweibettzimmer. Dane sah mich verunsichert an. Dann waren wir alleine.

Irgendwie hatte ich die Erwartung, dass wir uns jetzt in die Arme fallen würden. Mehr als acht Wochen hatten wir uns nicht mehr gesehen. Das Verlangen war jedoch einseitig. Meine Wiedersehensfreude wechselte in steife Anspannung. Wir standen da, einfach nur da: Zwei Freunde, die niemals geglaubt hätten, sich einer solchen Herausforderung gegenüber zu sehen. Wie in einem gefährlichen Spiel umkreisten wir uns regelrecht. Wir waren beide voller Emotionen. Mir war klar, wie verwirrt Dane sein musste. Nahm er doch an, dass ich ihn abholen würde. Ich wartete auf ein erstes Wort von ihm, doch er löste sich von meinem Blick und ging zum Fenster. Ich wartete, ob er etwas fragen würde, aber er sah nur hinunter in die Parkanlage.

 

Du hast recht, sagte Dane. Er holt mich nicht ab.

Sag ich doch, lachte das Loch. Die Bühne gehört dir!

Die Bühne gehört mir.

 

Ich begann meine Sachen in den Schrank zu sortieren, um die Spannung zu unterbrechen und stellte einen Wecker auf meine Nachtkonsole. Daneben legte ich einen Block und Kugelschreiber. Ich versah die erste Seite mit dem derzeitigen Datum, den 3. August 1993. Auf dem Tisch platzierte ich ein Kassettengerät für eventuelle Aufnahmen.

Dane stand beharrlich am Fenster, während ich etwas aus meiner Brieftasche herauszog. Ich hielt es in Augenhöhe vor mir. Mal sehen, ob ich seiner Erinnerung etwas auf die Sprünge helfen konnte.

„Was ist das?“, fragte ich und hoffte auf Danes Aufmerksamkeit. Doch Dane sah nicht hin. Er sah weiter aus dem Fenster. Ich wurde wütend, ging zu ihm hin und riss ihn brutal herum. Erneut hielt ich das Papier hoch, ihm direkt vor die Augen. Das brachte Dane zur Aufmerksamkeit. Er sah auf das kleine Heft in meiner Hand. Ich sah dann, wie er versuchte wegzusehen. Volltreffer!, dachte ich.

„Was ist das?“, fuhr ich ihn ein zweites Mal an – lauter und wütender. Als er offensichtlich immer noch nicht antworten wollte, packte ich ihn am Kragen. Mir war klar, dass ich seine Aggression hochjagte. Würde er auf mich einschlagen?

„Das ist ein ganz alter Ausweis, nicht wahr?“, half ich nach. „Dein Ausweis! Warum steht dort Gelton und nicht Galloway? Warum steht dort Dane Gelton, he?? Das bist du auf dem Foto, verdammt noch mal!“

Dane wirkte entsetzt. Das konnte er auch vor mir nicht verbergen. Ich beobachtete ihn und fühlte mich bestätigt. „Rede mit mir! Es wird dir leid tun, wenn du es nicht tust!“ Ich wartete. „Na, was ist, fehlen dir die Worte?“

Schlägt er nun zu? Schweigt er? Redet er? Wird er theatralisch?

Er wurde theatralisch. Wenigstens etwas. Er ließ sich auf sein Bett fallen und stöhnte. Ich war genervt.

„Ja, spiele dein Theater nur weiter!“, schrie ich ihn wieder an und beobachtete sein Schauspiel. „Was ist nur aus dir geworden? Weißt du, wie viel ich immer von dir gehalten habe? Weißt du, was ich jetzt von dir halte? Du bist ein Arschloch geworden! Ein gottverdammtes Arschloch und ein Lügner noch dazu! Du frisst unnötig Geld der Versicherungen, und die Mühen vieler Menschen schlägst du in den Wind. Menschen, die dich wirklich gerne haben! Du schmeißt dies alles weg wie Dreck, der dich nicht mehr kümmert! Du lässt Johnathan einfach im Regen stehen, obwohl er alles für dich getan hat. Er hat dir deine Existenz in Glendale ermöglicht! Er hat dir ein geregeltes Leben gegeben! Jetzt schaust du ihn nicht einmal mehr an, als wenn er Unrat wäre! Herr Gott, wie ich dich verachte!“

Mir war es nie in den Sinn gekommen, so mit meinem Freund zu reden. Aber es war nicht mehr viel kaputt zu machen. Und außerdem musste es raus.

Ich hatte bei der Wahl des Zimmers um absolute Diskretion gebeten und somit den kompletten dritten Stock von Roosevelt zugewiesen bekommen. Der Stock, in dem auch Dane die letzten Tage verbringen musste. Die Etage war komplett leer und damit ideal für uns. Wir waren ganz allein und konnten alles tun!

Minuten vergingen, sie wirkten wie Stunden auf mich. Dane kam taumelnd hoch und ging zum Tisch. Er begann, auf meinen Schreibblock zu malen. Ich kam interessiert näher und betrachtete die Zeichnung. Dane konnte immer schon hervorragend zeichnen. Die Zeichnung zeigte eine alte Scheune, wie sie in den fünfziger Jahren auf den Farmen in den Südoststaaten erbaut wurden.

„Hast du davon geträumt?“, fragte ich leise und war gerührt von seiner nickenden Geste.

„Heißt du Dane Gelton?“, fragte ich weiter. Dane antwortete: „Ja.“

Auch darüber war ich gerührt. Sein erstes Wort seit Monaten. Gott, wie lange hatte ich diese Stimme nicht mehr gehört. Jetzt hörte ich wieder den Klang seines Lachens.

„Warum hast du deinen Namen geändert?“

Damit ließ Dane die Konversation einfach sterben. Er wedelte gestikulierend mit den Händen in der Luft herum und zuckte ratlos die Schultern. Aus.

„Du wurdest also als Gelton geboren und hast irgendwann diesen Namen ablegt. Ich denke mal, das war, als du zu uns nach Glendale kamst.“

Ich versuchte, auf eine Fortsetzung des Gesprächs zu drängen, denn dieser neue Name brachte mich völlig aus dem Konzept. Dane wandte sich erneut ab und sah aus dem Fenster. Die Schlinge um seinen Hals zog sich enger.

Ich legte mich schweigend auf mein Bett. Kurze Zeit später war ich eingeschlafen. GELTON hallte es in meinem Kopf.

 

*

 

Es war halb zwölf in der Nacht, als Danes Träume erneut begannen. Er stöhnte zaghaft. Dadurch wurde ich wach. Ich nahm den Block und drückte leise die Aufnahmetaste meines Rekorders. Dane wurde unruhig. Schweißausbrüche, Hecheln, Stöhnen, unverständliches Gemurmel. Alles, was einer Aufnahme nicht dienlich war.

 

Bühne frei!, jubelte das Loch und ließ Dane walten.

 

Groß und gewaltig baute sich die Scheune wieder vor ihm auf. Er schaute sich um. Die hässlichen Peiniger aus seinem letzten Traum waren verschwunden. Erst zaghaft, dann immer lauter werdende Stimmen von Kindern und die eines Mannes schlichen sich wieder in das Traumbild hinein. Sie kamen aus der Scheune. Er berührte mit seinen Fingern die große Scheunentür und drückte. Sie war verschlossen. Der Riegel war von innen vorgeschoben. Schon wieder gelange er nicht hinein. Selbst als er mit seinem ganzen Körper gegen die schwere Tür drückte ging sie nicht auf. Sein Drang, den Kindern dahinter helfen zu wollen wurde unerträglich groß. Er schmiss sich immer wieder mit den Schultern voran gegen das massive Holz, aber der Widerstand war einfach zu groß. Ihm kam der Gedanke, sich ein Hilfsmitteln zu suchen, um die Türe gewaltsam aufzubrechen. Er sah sich um. Er stand nicht nur vor einer Scheune, er befand sich auf einer Farm. Linksseitig erhob sich ein altes Wohnhaus. Es war aus Stein und Holz erbaut. Bei genauerem Hinsehen konnte er eine Frau am Fenster im oberen Teil des Hauses erkennen. Der Anblick lähmte ihn. Ihre Blicke trafen sich. Vertraute Gefühle wuchsen. Sein Herz raste. Die Frau hatte einen geschwängerten Bauch. Dane wollte ihr eine vertraute Geste zukommen lassen, ein Zwinkern oder ein Wink, aber ihr plötzlicher Rückzug vom Fenster ließ ihn in seiner Bewegung verharren. Die Stimmen der Kinder holten ihn wieder zurück. Er setzte seine Suche fort und fand an der Seite der Scheune eine Axt. Mit gewaltiger Kraft schlug er auf das Schloss der Türe ein.

 

Ich beobachtete Danes Gefühlsaufwallungen während seines Traums und machte Notizen.

 

Dane schlug eine Spalte in das Holz und sah hindurch. Er konnte den Kopf eines Jungen erblicken. Mit der Axt packte er wieder zwischen die Bretter und riss sie weiter auseinander. Er schrie: „Aufhören!“ Doch niemand hörte ihn.

Mein Rekorder zeichnete seine Worte auf.

Völlig verschwitzt riss er die restlichen Bretter, die die Axt nicht packte, mit seinen bloßen Händen heraus. Er sah einen Jungen von ungefähr zehn Jahren. Er war ihm unglaublich bekannt. Der Junge starrte zu einem großen Mann hinauf, der vor ihm stand. Der Mann packte den Jungen an den Schultern und schüttelte ihn wütend.

Dane schrie: „Hey, aufhören!!“, blieb aber ungehört. Er besah sich den Mann in all seiner Größe. Er war riesig, dreckig und verschwitzt. Der Anblick löste Übelkeit in ihm aus.

 

Als ich die Würgegeräusche hörte, suchte ich hastig nach einer Schüssel oder Ähnlichem. Ich riss die Schublade aus seiner Nachtkonsole und hielt sie einsatzbereit.

 

Dann sah Dane noch einen anderen Jungen. Er war kleiner, schmächtiger, vielleicht vier Jahre alt. Sein Anblick ließ Dane erstarren. Ihn ergriff Benommenheit. Waren es nicht seine dunklen Augen; war es nicht sein blondes Haar, das er als Kind gehabt hatte?

Der Kleine schrie: „Bitte, nein Dad!“

Auch das nahm mein Rekorder auf.

„Halt die Klappe“, blechte der Mann zurück und blickte den kleinen Jungen rechts neben sich an. Der Zehnjährige nutzte die Gelegenheit und befreite sich aus dem festgekrallten Griff des Mannes an seine Schulter. Als er wieder Bewegungsfreiheit erlangt hatte, ging er auf den Mann los. Er riss an seiner Kleidung und spuckte ihm ins Gesicht.

Dane ignorierte die Kampfszene, sein Blick war nur noch auf den kleinen, wimmernden Jungen, der sich verloren und zitternd in eine Ecke drückte, gerichtet. Plötzlich kehrte Ruhe ein. Dane wurde dem Mann gegenüber wieder aufmerksam. Er stand nun alleine inmitten der Scheune und grinste. Wo war der Junge geblieben, der eben noch mit ihm gekämpft hatte? Dane fand ihn auf dem Boden liegend wieder. Er rührte sich nicht mehr. Sein Blick war verzerrt und leer. Aus seiner Nase und seinem rechten Ohr floss Blut. Was war geschehen?

Er musste jetzt eingreifen, irgendwie, um den Mann aufzuhalten! Da war ja noch der kleine Junge. Was würde er wohl mit ihm machen?

Dane holte zu einem weiten Schlag aus und schlug zu. Seine Faust durchfuhr ein stechender Schmerz, hinauf bis zur Schulter. Die Faust hatte weder den Mann erreicht noch war sie ins Leere gestoßen. Die Wand aus Glas war wieder da! Genau zwischen ihnen! Dane hantierte ungläubig mit seinen Händen daran herum – fassungslos und völlig außer Kontrolle. „Du, Schwein!!“, schrie er durch die Glaswand. Aber was er auch tat oder schrie, der Mann schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, sah nicht einmal hin und ging zu dem kleinen Jungen. Er verpasste ihm eine so starke Ohrfeige, dass das Kind der Länge nach hinfiel. Auf unerklärliche Weise war dieser Schlag soeben auf Danes Wange gelandet! Er taumelte und schrie: „Lass mich in Ruhe!“

Der Mann hörte ihn nicht. Wie auch?

 

Ich hörte ihn – und das nicht zu leise! Die Kamera lief. Ich schmierte Beobachtungen auf das Papier.

 

Dane hämmerte erneut mit seinen Fäusten gegen die Glaswand. Sie war nicht zu zerbrechen, so verzweifelt er auch auf sie einschlug. Es war ihm unbegreiflich, dass er in das Geschehen nicht eingreifen konnte, wo er doch unmittelbar davor stand. Diese verfluchte Wand! Sie zermalmte seine verzweifelte Hoffnung und ließ ihn Dinge sehen, denen er sich abwenden wollte, es aber nicht konnte.

Der Mann riss dem kleinen Jungen die Hose herunter und schmiss ihn auf einen alten Holztisch. Ein kleiner Messerschnitt vergrößerte den Darmeingang des Kindes, damit er den Analverkehr besser vollziehen konnte. Blut lief an den dünnen Beinen des Jungen herunter.

Sein Wimmern verlor sich unter dem Hecheln des Mannes, der immer wieder zustieß, stöhnend und schweißtreibend. Mit seiner freien Hand hielt der Mann den Jungen in Schacht, presste seinen Kopf auf den Tisch, damit er stillhielt. Der Junge hatte nicht die geringste Chance, sich zu wehren.

Der Junge erbrach sich! Dane auch.

 

Ich hatte alle Mühe, ihm zu helfen. Die Würgerei nahm kein Ende. Ich schlug auf seine Wange ein, einmal, zweimal, dreimal! Dane wurde nicht wach. Wie im Delirium wand er sich hin und her, bis er aus dem Bett fiel. Ich konnte ihn nicht halten. Dann Stille – nur ein Wimmern, ähnlich dem eines kleinen Jungen.

Ich saß auf dem Fußboden, mitten im Erbrochenem und hielt erschüttert seinen Kopf. Der säuerliche Geruch war nebensächlich. Ich wusste genug für heute.

 

Dane war nach dem Traum in einen tiefen Schlaf gefallen. Ich rief Roosevelt, der kurze Zeit später mit einigen Leuten bei mir eintraf und mir half, das Zimmer zu reinigen. Ich befürwortete eine Beruhigungsspritze, um der Gefahr zu entgehen, dass Dane erneut in einen Traum fallen könnte. Zunächst mussten wir diesen Traum aufarbeiten.

Es stellte sich hier allerdings die Frage, wer ihn aufarbeiten musste.

 

Wie geht es dir?, fragte das Loch.

Besser, sagte Dane.

Ich bin sehr zufrieden mir dir. Das hast du gut gemacht.

Findest du?

 

*

 

Ich ging am nächsten Morgen unter die Dusche und versuchte mir einen Reim auf das zu machen, was ich in der Nacht von Dane gehört hatte. Es lag auf der Hand, dass Danes Vater in die Sache verwickelt sein musste. In was jedoch genau, konnte ich ohne Dane nicht feststellen. Sicher, da waren einige Anzeichen, die ich im Krankenhaus bei der Diagnose gefunden hatte, alte Narben. Aber waren sie wirklich auf einen Missbrauch durch seinen Vater zurückzuführen?

Eine faszinierende Beobachtung beschäftigte mich jedoch viel mehr: Danes Stimme hatte sich während des Traums verändert. Ich hatte zwei fremde Stimmen herausdifferenziert. Das könnte auf eine multiple Persönlichkeit hinweisen, die nach frühkindlichem Missbrauch nicht selten ist. Aber Multiple ersetzen nicht die Rollen einer bereits existierenden Personen. Multiple entspringen immer aus einem selbst und existieren als eigenständige, bisher nicht vorhandene Persönlichkeiten.

 

„Prima Arbeit“, sagte Roosevelt, als ich nach der Dusche mit einem Handtuch in der Hand vor ihm stand. Ich hatte ihn von meinem Zimmertelefon aus zu mir rufen lassen.

„Ja“, erwiderte ich müde, „das war eine aufregende Nacht.“ Es war nicht gerade das schönste Erlebnis meines Lebens, aber es hatte sich gelohnt. Wir waren der Sache ein gutes Stück näher gekommen.

 

*

 

Es lag der Geruch von frisch geschnittenem Gras in der Luft. Sie entsprach genau Dr. Roosevelts Laune – eine Komposition aus Freude und Sieg.

Es war 9.30 Uhr, als es an seiner Tür klopfte. „Ja, bitte“, sagte er aufblickend von seinem Schreibtisch.

„Guten Morgen“, sagte Sarah und steckte ihren Kopf unsicher durch den Türspalt.

„Ach, guten Morgen, Sarah! Kommen Sie doch bitte herein.“

Wenn es etwas gab, was seine Stimmung noch steigern konnte, dann war es der Anblick seiner liebsten Patientin, Sarah. Roosevelt bemerkte sofort ihre Niedergeschlagenheit. Dane hatte ihr viel von ihrer früheren Fröhlichkeit zurückgegeben, nun schien es den umgekehrten Weg zu gehen.

„Ist Dane noch da? Ich habe ihn seit vorgestern nicht mehr gesehen.“

Dr. Roosevelt schaute sie verlegen an. „Ja, Sarah“, sagte er und suchte nach den richtigen Worten. Er unterlag der Schweigepflicht und war unsicher, was er Sarah wirklich mitteilen konnte. „Er ist oben im dritten Stockwerk und schläft.“

„Er schläft noch?“, fiel Sarah ihm ins Wort.

„Es war eine anstrengende Nacht für ihn, Sarah. Sein Arzt aus Los Angeles, Dr. Clark, ist gestern hier eingetroffen und wird Mr. Galloway etwas begleiten. Er ist jetzt bei ihm, und er will so ungestört wie möglich mit ihm arbeiten.“

Sarah sank in sich zusammen. Sie hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass ihre Beziehung keine Zukunft haben würde. Dane war die ganzen acht Wochen nicht ein einziges Mal so richtig von seiner Distanz abgewichen.

Es klopfte erneut an der Tür.

„Ja“, sagte Dr. Roosevelt.

Ich trat ein, übermüdet und hatte irgendwie den Kamm nicht gefunden. Es kleideten mich eine entsetzlich bunte Sommershorts und ein noch entsetzlicheres T-Shirt, so dass ich nicht gerade das Abbild eines Arztes darstellte. Ich erinnere mich deshalb so genau daran, weil ich unter diesen peinlichen Umständen Sarah kennenlernte, mitunter die wichtigste Person in dieser Geschichte.

„T'schuldigung“, sagte ich schnell, als ich Sarah sah und wollte die Türe wieder schließen.

„Nein, Dr. Clark!“, rief mir Roosevelt eilig hinterher. „Kommen Sie herein! Das ist Sarah“, und er wies mit der Hand zu ihr. „Sarah, das ist Dr. Clark.“

„Jim“, verbesserte ich räuspernd, beschämt, weil ich so entsetzlich aussah und reichte ihr die Hand. Ich war entzückt, sie sah wirklich nett aus. Ihr Händedruck war herzlich.

„Wie geht es Dane?“, fragte sie mich direkt.

Ich bemerkte ihre Ungeduld und sah hilfesuchend zu Roosevelt, entschied mich dann für: „Gut. Prima. Er schläft.“ Weiter wollte ich auf die Frage nicht eingehen.

Als sie meine Zurückhaltung bemerkte, sagte sie traurig: „Grüßen Sie ihn von mir.“ Mit einem Wink verließ sie das Zimmer. Ich sah ihr mitfühlend nach.

„Wie sieht's aus?“, fragte Roosevelt, als wir alleine waren.

„Er schläft noch“, antwortete ich kurz. Ich war gedanklich noch bei Sarah. Sie tat mir leid. Ich wandte mich wieder Roosevelt zu: „Den Rest der Nacht war er ruhig. Kein Wunder bei der Beruhigungsspritze. Wie lange wird sie ungefähr wirken?“

„Ich schätze bis heute Nachmittag. Wollen Sie ein Frühstück?“

„Gerne“, sagte ich. „Bitte lassen Sie für Mr. Galloway auch etwas herrichten. Vielleicht Obst.“

„Ist in Ordnung“, sagte Roosevelt. „Gehen Sie nur in den Essraum. Ich werde in der Küche Bescheid sagen.“

Ich dankte und dachte an den Namen Galloway, dass er jetzt nicht mehr zutraf.

 

Nach einem ausgiebigen Frühstück – ich wusste nicht mehr, wann ich das letzte Mal so großartig gefrühstückt hatte – ging ich mit dem Tablett für Dane wieder hinauf in den dritten Stock. Unten herrschte inzwischen das typische Treiben vor Beginn einer Therapiestunde. Die Menschen sammelten sich diskutierend im Gruppenraum. Im Gegensatz zu unten überfiel mich oben eine beklemmende Stille. Ich atmete tief durch. Was mochte mich heute erwarten? Wie würde mir Dane begegnen?

In Gedanken versunken nahm ich das Tablett in die linke Hand, um mit der rechten die Zimmertür zu öffnen, als sie jemand von innen aufzog, ja, regelrecht aufriss. Als wenn jemand eilig einen Tatort verlassen wollte. Doch es war nur Rhyan, der Pfleger. Wir zuckten beide zusammen.

„Oh, Entschuldigung, Dr. Clark. Ich wollte nur nach dem Rechten sehen. Ich habe Ihnen ein Radio gebracht. Vielleicht hilft es Ihnen etwas über die Langeweile hinweg. Und zwei Schokoriegel liegen auf dem Tisch. Gut für die Nerven.“ Er tippte sich dabei an die Schläfe.

Ich mochte ihn einfach. Er wurde mir mit jeder Begegnung sympathischer. „Super“, sagte ich und wünschte mir so ein Personal auch in L.A.

„Wenn Sie hier nicht mehr arbeiten wollen, kommen Sie doch zu mir nach L.A. Leute wie Sie suchen wir immer“, sagte ich ihm gutgelaunt. Rhyan lächelte, winkte kurz und ging zum Aufzug.

Im Zimmer war es ruhig. Das Radio stand auf dem Tisch vor dem Fenster und war bereits eingesteckt. Daneben lagen die Schokoriegel. Ich stellte lächelnd das Tablett dazu. Dann sah ich mir Dane an. Er schlief noch, atmete ruhig und entspannt. Von dem nächtlichen Dilemma war nichts mehr zu sehen, nur der säuerliche Geruch lag noch in der Luft. Die Fenster waren geöffnet, und durch die zugezogenen Gardinen wehte ein leichter Wind. Ich beschloss, die Zeit zu nutzen und an meinen Aufzeichnungen zu arbeiten, nahm meinen Block und las, was ich heute Nacht geschrieben hatte. Daraus ließ sich zwar eine hypothetische Geschichte lesen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass der Traum mehr verbarg, als ich annahm. Ich dachte an die verschiedenen Stimmen und an seinen neuen Namen: Gelton. Wie fremd das für mich klang. Irgendwie passte der Name zu der Person, die jetzt ein Zimmer mit mir teilte. War da nicht die Adresse auf seinem Ausweis?

Ich kramte in meinen Papieren, fand ihn aber nicht. Ich schaute und wühlte in sämtlichen Unterlagen, Schubladen, im Schrank und zwischen der Wäsche, aber der Ausweis blieb unauffindbar. Weg! Mir brach der Schweiß aus, denn dieses verdammte Ding war der einzige Beweisgegenstand, den ich besaß. Ich war so wütend. Hatte Rhyan ihn genommen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Was sollte er damit anfangen? War Dane inzwischen wach geworden und hatte ihn selbst versteckt? Ich sah zu ihm hin. Nein. Auch wenn es sich jetzt ziemlich dumm anhört, aber ich habe außer seinem Namen nichts weiteres darin gelesen. Der Name und das Foto waren alles, was mich darin interessiert hatte. Tja, nun wusste ich nicht einmal, wo dieser Ausweis ausgestellt worden war. Zu dumm. Ich dachte nach.

Dane kam nicht aus Kalifornien, das stand fest. Das wäre auch zu einfach für eine neue Identität. Wie viele Geltons mochte es in allen anderen Bundesstaaten geben? Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf. Irgend etwas hatte mich damals, als wir uns kennenlernten, an ihm gestört. Im Geiste durchfuhr ich sämtliche Situationen mit ihm, die Treffen, Gespräche, Lieder. Die Lieder? Ja, das war es: das Lied!! Wenn Dane und ich ein wenig über unseren Durst getrunken hatten, sangen wir oft einen alten Folksong. Doch er sang ihn mit frappierender Regelmäßigkeit falsch. Er ersetzte das Schlusswort mit einem völlig unpassenden Wort und ließ sich nie davon abbringen. Wir hatten damals harte Diskussionen deswegen gehabt, uns nach steigendem Alkoholkonsum darüber gestritten, aber Dane hatte nie nachgegeben. Wie lächerlich!

Ich sang mir das Lied in Gedanken vor. Das war es: Ich sang zum Schluss immer house, Dane sang home, my, home. Das passte doch gar nicht! Dann wurde mir plötzlich bewusst, dass Dane damals in einem mir fremden Slang sprach. Wo kam er nur her?

Ich rannte hinunter zu Roosevelt. Im Büro war niemand, also versuchte ich es trotz starker Proteste von Mrs. Buit im Gruppenraum.

Ich stürzte durch die Doppeltüre in das Geschehen der Therapie und starrte Roosevelt an. Zwanzig Paar Augen starrten zurück. Was machte ich nur?

Ich schluckte, wurde bleich und begann unbeirrt zu singen:

„I go out to fang me a mouse

Can't get it, shit, man

And go back to my home, my home.”

Dann meine Frage: „In welchem Bundesstaat singt man das so?”

„House“, korrigierte mich Dr. Roosevelt zunächst, „nicht home.“

„Kansas“, kam es von der linken Seite. Ich wendete meinen Kopf herum. Rhyan saß außerhalb der Gruppe und machte Notizen. „Man singt es so in Kansas. Ich habe eine Tante dort, die singt das auch immer so.“

Ich zog die Augenbrauen hoch und kräuselte die Stirn. Hatte Rhyan den Ausweis doch genommen und ihn gelesen? Ich sollte ihn fragen, gleich nachdem die Stunde vorbei war. Jetzt begann mir die Situation peinlich zu werden. Ich nickte verlegen und sagte leise: „Danke.“

Als ich mich zurückzog und die Doppeltür schloss, hörte ich noch allgemeines Kichern dahinter.

Wieder oben angekommen, durchwühlte ich noch einmal meine Unterlagen nach dem Ausweis. Ich konnte schwören, ihn in einer Plastikhülle zu meinen Aufzeichnungen geheftet zu haben.

Dane begann zu stöhnen. Ich blickte auf. Er drehte sich zur Seite und schlief weiter.

Er müsste bald zu sich kommen.

Ich vervollständigte meine Aufzeichnungen mit dem Schlusswort KANSAS. Vielleicht war noch Zeit, Johnathan anzurufen. Viele Fragen waren zu klären. Um Dane nicht mit meinen Nachforschungen zu wecken, ging ich hinunter zu Mrs. Buit und ließ mich nach Glendale verbinden. Es war wichtig, dass ich unabhängige Informationen von seiner Geschichte erhielt. Ich war mit seinem Lügenschloss, das er so tüchtig erbaut hatte, ja mittlerweile vertraut.

Johnathan meldete sich nach dem zweiten Klingeln. Wir begrüßten uns herzlich.

„Ja, es geht ganz prima voran“, sagte ich und berichtete von den Ereignissen der letzten Nacht.

„Hör zu, du musst für mich einige Recherchen machen. Du hast doch eine gute Verbindung zur Polizei. Es geht um den Namen Gelton.“

Pause. Johnathan stutzte.

„Ein Namenswechsel. Dane hat damals, als er zu uns nach Glendale kam, seinen Nachnamen gewechselt. Ich glaube, dass Dane aus Kansas kommt. Aber bitte erspare mir die Begründung. Ich vermute es eben. Erkundige dich also nach dem Namen Gelton. Wo sie wohnen oder wo sie gewohnt haben. Vielleicht stößt du auf alte Adressen oder jemandem aus der Nachbarschaft, der noch Verbindung zu einem Gelton hat. Wie auch immer. Hast du alles? Gut. Ich rufe dich wieder an. Mach's gut, John. Und viel Erfolg.“

Ich legte auf. Mrs. Buit schaute mich neugierig an. „Das hört sich ja aufregend an.“

Ich sah sie nur an, hatte für diese Art von Humor jetzt kein Verständnis.

Dane hatte seine Lage wieder verändert. Er atmete jetzt schneller, aber immer noch gleichmäßig. Dennoch wurde sein Schlaf etwas unruhiger. Ich aß einen von Rhyans Schokoriegeln und schaltete leise das Radio ein.

Dane stöhnte. Er begann sich herumzuwinden, riss plötzlich die Augen auf und schrie: „Jeff!!“ Ihm stiegen Tränen in die Augen. Er schoss aus dem Liegen hoch und starrte mich an. „Er hieß Jeff!“, schrie er mich an.

„Wer hieß Jeff, Dane?“ Ich fühlte mich direkt von einer heißen Neugier gepackt.

„Der große Junge“, sagte Dane etwas gefasster.

„Hieß er Jeff Gelton?“

„Ja!“

„War er dein Bruder?"

Dane ließ sich zurück auf das Bett fallen und verlor den Faden. Er rieb sich die Augen. Der Traum verblasste, und die Realität hatte ihn wieder. Sein Gesicht entkrampfte sich. Er fühlte sich schlapp. „Hallo, Jim“, sagte er plötzlich ganz ruhig und durchwühlte sein Haar.

„Willst du einen Kaffee?“ Ich zeigte auf eine kleine Thermoskanne auf dem Tablett. Dane schüttelte den Kopf und kam wieder hoch. „Ich geh' duschen“, sagte er benommen.

Ich sah ihm hinterher. War das alles?

 

Wie soll ich weitermachen?, fragte Dane das Loch.

Lass es erst mal so stehen.

Wird es ausreichen, um ihn anzulocken?

Das glaube ich nicht.

Ich will Sarah sehen.

Das Loch schwieg.

 

Nun war ich doch erstaunt über seine plötzliche Gelassenheit.

Es verging eine halbe Stunde. Dann eine ganze. Zum ersten Mal bemerkte ich seinen Duschzwang. Ich wurde unruhig und ging nachschauen. Dane lenkte sofort ein und verließ die Dusche. Er wirkte plötzlich hektisch. Sein fast magerer Körper hatte alle sportliche Haltung verloren. Seine Figur war in Müdigkeit und Resignation übergegangen. Ich erschrak. Dane glänzte in seiner Rolle.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich.

Er nickte.

 

*

 

Unser erster gemeinsamer Nachmittag schlich wie der Gang einer müden, alten Katze dahin und verlief ergebnislos.

Ich versuchte ein Buch zu lesen, aber mir fehlte die Konzentration. Es lag auch nicht in meiner Absicht zu drängen. Doch ohne es eigentlich zu wollen, fragte ich: „Warum hieß er Jeff? Warum heißt er nicht Jeff?“

Dane reagierte nicht. Er stand vor dem Fenster und sah wieder hinaus. Ich hatte ihm verboten, das Zimmer zu verlassen, ging zu ihm und stieß ihn an. „Hey.“

„Weil er tot ist“, sagte er tonlos.

Die Zimmertüre öffnete sich. Rhyan lugte herein. „Alles in Ordnung oder will jemand Kaffee und Kuchen?“

Ein beschissener Moment für Kuchen. Mir entfuhr ein schroffes „Nein!“

Rhyan verschwand. Wir hatten den Faden verloren.

Ich stellte mich neben ihn und sah auch aus dem Fenster. Sarah ging im Park umher.

„Sie ist nett“, bemerkte ich und dachte an Joan, die ich nie kennengelernt habe.

„Ja“, antwortete Dane sanft.

„Kannst du dich an den Traum heute Nacht erinnern?“

Mich quälte eine große Erwartung. Unsere Freundschaft war immer durch kompromissloses Vertrauen gezeichnet, dachte ich. Dann passierte etwas völlig Unerwartetes. Dane ergriff plötzlich einen Stuhl und schmiss ihn wütend durch das Zimmer. Der zerbrach krachend an der Wand. Ich war wie gelähmt und sah ihn an. Ich sah, wie er losrannte. Zuerst dachte ich, er wolle zur Tür, das Zimmer verlassen, stellte aber entsetzt fest, dass es die Wand war, die er sich zum Ziel setzte. Ich war einfach nicht schnell genug, um ihn aufzuhalten. Er rannte frontal gegen die Wand. Ich sprang zu ihm hin, riss ihn brutal herum und schrie: „Hör auf!!“ Ich packte seine Schultern, um ihn auf das Bett zu werfen, das um vieles weicher war als die Wand.

Wie ein geschwächtes Kind sackte Dane in den Kissen zusammen.

Stille.

Mein Herz raste. Ich war fassungslos, dass so etwas in meiner Gegenwart passierte.

Und dann kam diese merkwürdige Frage von ihm: „Ist man in der Lage, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht möchte, es dann aber doch tut, nur weil ganz tief von innen ein Befehl kommt, es tun zu müssen? Dann existiert nur noch dieser eine Befehl. Wie ist das möglich? Ein zweites Bewusstsein?“

 

Tu's nicht!, schrie das Loch. Verrate mich nicht!

 

Er schaute mich an. Das war eine gewaltige Überlegung.

„Ja“, antwortete ich ihm beeindruckt. „Das hat mit einer sogenannten Verdrängungsmethode zu tun. Wir haben ganz tief in uns eine Vorstellung von Richtig und Falsch, sowie Moral und Normalität. Es ist uns im Normalfall auch anerzogen. Sobald sich aber etwas ereignet, das sich gegen diese Vorstellungen stellt, etwas Unrichtiges, Unmoralisches oder Anormales, was dir so peinlich ist, dass du es nie und niemanden erzählen möchtest, setzt sich aus Schamgefühlen oder aus Angst vor den Konsequenzen eine Art Verdrängung in Gang. Dein Bewusstsein schließt die Geschehnisse ins Unterbewusstsein, und dort werden sie so fest verbarrikadiert, dass sie für dich unerreichbar werden. Sie sind einfach aus deinem Bewusstsein und deiner Erinnerung verschwunden. Je intensiver du mit Verdrängung arbeitest, je höher der Erfolg, bis zur endgültigen Gedächtnislücke. Alles ist dann nur über die Hypnose zu erreichen oder kommt durch einen Vorfall zutage, der so extrem auf dich wirkt, dass du alles wider deinem Willen ins Gedächtnis lassen musst. Dabei ist die Chance, dass dein Unterbewusstsein dir die Geschichte wieder komplett freigibt, nicht unbedingt gegeben. Du blockierst jede einzelne Erinnerung aus wahnsinniger Angst, dein Gesicht oder deine derzeitige Stellung in der Gesellschaft zu verlieren. Eine Art Fehlleitung bildet sich im Kopf. Du kämpfst gegen eine Erinnerung aus deinem Unterbewusstsein und weißt nicht mehr, was du wirklich willst. Willst du wirklich alles wissen oder ist es besser, alles im Verborgenen zu lassen? Diese Uneinigkeit mit dir selbst macht dir derart zu schaffen, dass du dann Dinge tust, die du gar nicht tun möchtest. Du bekommst regelrecht Befehle von einer zweiten Bewusstseinsebene, die dich fehlleitet. Zum Beispiel eben, diesen Stuhl herumzuwerfen.“

Dane hörte aufmerksam zu. Ich war ihm so unglaublich nahe gekommen und fuhr fort: „Du beginnst einen Kampf mit deinem Unterbewusstsein, verstehst du? Es ist das Wachbewusstsein des nicht gegenwärtigen, seelischen Bereichs, aus dem wesentliche Impulse unseres Handelns und Verhaltens kommen. Aus dem auch der Traum aufsteigt und in den bestimmte, affektbesetzte Erlebnisse verdrängt werden. Ich bezeichne das jetzt einmal als eine Art Schublade. Du willst wissen, was in der Schublade drin ist, aber sie wird dir nicht geöffnet. Sie bleibt zu. Sie wird zu deinem Feind, der ständig darum bemüht ist, dich um deine Erinnerung zu bringen. Du hast aber festgestellt, dass es dir ohne dieses Wissen immer schlechter geht. Du erleidest Gefühlsverstrickungen, aus denen du dich nicht mehr freidenken kannst. Sie hemmen die Lust, die Freude, das Lachen, alles, was dich wieder aufbauen könnte. Eine Art Tiefendepression setzt ein. Du beginnst, dein inneres Ich aufzufordern, dir die verborgenen Erinnerung wiederzugeben. Es passiert aber nicht. Daher schlägst du um dich, rennst mit dem Kopf vor die Wand und legst ein normabweichendes Verhalten an den Tag. Du weiß, dass dein Unterbewusstsein im Kopf sitzt und versuchst es zu verletzen, um es schwach und zugänglich zu machen. Es soll ja mit dir kooperieren. Im Moment gibt es für dich keine Außenwelt, sondern nur eine Innenwelt. Du kämpfst innen im Kopf. Dein Gehirn spielt dir einen bösen Streich, aber du hast dein inneres Ich schon verletzlich gemacht. Es gibt Bruchteile deiner Vergangenheit frei, die du über deine Träume abrufst und wieder erlebst. Aber es versucht immer wieder zu blockieren. Dann wirst du wütend und schlägst auf dich ein, rennst gegen die Wand und schmeißt unbeherrscht Dinge um dich. Es kommt zu psychomotorischen Anfällen, eine Art Dämmerattacke.“

Kaum hatte ich meinen Vortrag beendet, begann er apathisch hin und her zu schaukeln, wobei er beide Arme ineinander verschränkte. Er hatte die Worte ganz tief in sich aufgenommen und begann zu reden: „Ich träumte von der Scheune …“

Die Geschichte seines Traums floss endlos aus ihm heraus. Unterstrichen mit Gesten und Mimik erreichte sie meine tiefste Betroffenheit. Er wirkte auf einmal so ganz anders auf mich, anders, als ich ihn je kennen gelernt hatte. Wo er früher nie so etwas wie Tränen, Traurigkeit oder Depression gezeigt hatte, brach es nun wie eine schäumende Gischt aus ihm heraus. Es drehte mein ganzes Bild von ihm um.

Es dauerte fast dreißig Minuten, bis Dane erschöpft in sich zusammenfiel. Es standen noch viele Fragen offen, aber ich zog es vor, die Sache für heute auf sich beruhen zu lassen, für uns beide.

Ich war mir nie bewusst gewesen, dass mein Freund eine solche Vergangenheit hatte. Doch ich wusste auch nicht, dass es nur die Spitze vom Eisberg war.

 

Das hättest du nicht tun dürfen!, schrie ihn das Loch an.

Was?!, schrie Dane zurück.

Ihn so genau in alles einzuweihen!

Aber ich will hier raus!

Du hast einen Auftrag!

Ich will hier raus!

Reiß dich zusammen!

 

*

 

Es folgten zwei ruhige Tage. Sie taten uns gut. Dane und ich verbrachten sie mit Spaziergängen entlang des Trinity Rivers, der uns durch seine Schönheit für wenige Stunden die Zeit der Anspannung nahm. Der Abstand zur Klinik war wichtig. Wir fanden wieder andere Themen, die während dieser Zeit verloren gegangen waren. Wir redeten über seine Corvette, das Lokal und Johnathan. Er hatte den Wagen gut untergebracht. Das Lokal hielt er irgendwie weiter am laufen und wartete täglich auf die Rückkehr seines Partners.

 

Hör nicht zu, riet ihm das Loch. Er kocht dich weich.

Ich bin unsicher, sagte Dane. Es wird mir alles zuviel.

Ich dachte, du wärst stärker. Wie willst du das alles durchstehen, wenn du dir jetzt schon in die Hose machst?