Er wird es nicht bis hierher schaffen. Es wird alles umsonst sein.
Wie kommst du darauf?
Er ist eingesperrt und kann nicht weg.
Ihm ist immer etwas eingefallen, um dich zu erreichen. Denk an Joan.
Du meinst Sarah?
Unter Umständen.
Was ist, wenn er die Geschichte aus Kinman erzählt und mich der Justiz übergibt?
Das würde er nie tun.
Wie kannst du dir so sicher sein?
Er liebt den Abgrund, genau wie du. Aber nicht das Herunterstürzen. Er will dich weiter leiden sehen, in Freiheit. Er wird persönlich kommen, glaub mir.
*
Unsere Stimmung braute sich einen Tag später wie ein Gewitter über uns zusammen, und wir warteten auf den besagten Blitzschlag. Ich beobachtete Dane, wie er sich immer weiter in sich zurückzog, wie ein Kind, das eine bittere Strafe zu erwarten hatte. Die Geschichte, die ich von ihm erfahren hatte war sicherlich eine gute Grundlage, aber sie hatte keinen Anfang und kein Ende. Der Traum war nur der Ausschnitt einer Szene. Wie viele ähnlich grausame Szenen mochte es noch vor und nach diesem Vorfall gegeben haben? Ich sehnte mich nach einem Facharzt, der sich mit posttraumatischen Erlebnissen auskennt und diese therapiert. Ich war einfach nicht kompetent genug und überlegte, ob ich diese Aktion nicht besser abbrechen und einem Spezialisten übergeben sollte.
Roosevelt half mir zwar, alles vor der Versicherung zu verschleiern, aber wenn sich nicht bald etwas Grundlegendes ändern würde, sah ich keine Chance mehr, diese teure Klinik in Anspruch nehmen zu dürfen. Im Grunde war es doch nur ein überteuertes Hotel.
Das einzige, was sich mir in die Hände spielte war die Anwesenheit von Sarah. Sie konnte womöglich der Schlüssel sein, der seine geheimnisvolle Tür aufzuschließen verstand.
Ich sollte Dane wieder zu ihr lassen und forderte ihn auf, sie suchen zu gehen.
Das ließ er sich nicht zweimal sagen.
Sarah kam um die Ecke gelaufen und rief: „Hallo Dane!“
Er nahm sie so herzlich in die Arme, als wären sie schon lange ein Paar. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter, als würde er halt mich schreien. Er hatte sie nicht verloren.
Zum ersten Mal hielt er sie in den Armen. Zum ersten Mal brach er seine Distanz zu ihr und ließ sie spüren, dass auch er für sie viel mehr als nur Freundschaft empfand.
Ich freute mich über diesen Anblick, der vielleicht einiges bewegen konnte.
Ich suchte derzeit weiter nach Danes Ausweis. Er konnte doch nicht einfach verschwinden. Ich ging zu Rhyan und fragte ihn. Der aber versicherte mir, diesen Ausweis niemals zu Gesicht bekommen zu haben. Er hätte nur ein Radio und Schokoriegel zu uns bringen wollen. Er würde niemals in Unterlagen fremder Leute herumwühlen. Wozu?
Ich glaubte ihm und ging wieder nach draußen, um nach Dane zu sehen. Er saß mit Sarah auf einer Bank. Beide waren in ein Gespräch vertieft. Ich sah ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Bist du verrückt!, schrie ihn das Loch an.
Was?, fragte Dane. Was habe ich falsch gemacht?
Merkst du nicht, dass dich alle weichkochen?
Ich brauche Sarah.
Sarah! Sarah! Sarah! Ich kann es nicht mehr hören!
Was, denkst du, soll ich tun?
Vergiss nicht, dass er bald kommen wird. Dann wird alles anders werden.
*
Danes bewusste Erinnerungen an seine Kindheit begannen erst in einem Alter von acht Jahren. Sein Vater war zu dieser Zeit in die Armee einberufen worden ...
1963. Dreißig Jahre früher.
Valley Falls / Kansas. Dane, 8 Jahre.
Es war im September 1963. Die Erntezeit auf den Feldern hatte begonnen. Man schnitt mit den ersten modernen Maschinen den Mais. Sie halfen wie ein Wunder bei der Ernte.
Samantha Gelton sah schon von weitem das Fahrrad des Postboten durch die Felder kommen. Geschwind säuberte sie ihre verschmutzten Hände an dem alten Kittel. Mr. Sield, der Postbote, winkte aus weiter Entfernung und hielt dabei etwas Weißes wedelnd zwischen seinen Fingern.
Mr. Sield mochte Samantha sehr. Ihre Schönheit schien weder durch die harte Feldarbeit noch durch ihr reifendes Alter zu vergehen. Dennoch konnte er über das selbstgewählte Schicksal dieser Frau nur bedauernd den Kopf schütteln. Er mochte ihren Mann nicht. Aber wer mochte schon Will Gelton? Sein ständig ungepflegtes Erscheinungsbild unterstrich seinen Mangel an Würde und Selbstachtung. Seine launischen Bemerkungen und seine Grobschnittigkeit hinterließen bei den anderen Farmern der Umgebung immer Missstimmung und Feindseligkeit.
„Ein Brief für Ihren Mann, Mrs. Gelton!“, rief Mr. Sield schon von weitem. Samantha nickte und lächelte ein bisschen. Das erste graue Haar drängte sich zwischen dem langen und dunkelbraunen Schopf und gab ihr ein weises Ansehen.
Dane liebte ihr langes und dickes Haar, das sie nachts immer zu einem Zopf zusammengeflochten trug. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie diesen Zopf immer tragen sollen. Es gab ihr etwas mädchenhaftes zurück. Doch tagsüber trug sie ihr Haar verknotet am Hinterkopf, weil es praktischer für die Arbeit sei, wie sie sagte.
Abends am Esstisch lag der Brief geöffnet neben Will Geltons Teller.
„Ich muss zur Armee – morgen“, verkündete Gelton kurz. Weder Samantha Gelton noch Dane schauten auf oder schenkten ihm einen Blick.
Am nächsten Morgens um sechs Uhr in der Früh war Will Gelton von der Farm verschwunden.
Dane begann zum ersten Mal in seinem Leben, einen gesunden Appetit zu entwickeln. Auch sein Gesicht erhielt zusehends mehr Farbe.
Das Leben alleine mit seiner Mutter bekam eine kolossale Wende, nicht jedoch ihr Schweigen, es wurde nur etwas entspannter.
Während Dane vormittags die Schule besuchte und nachmittags die Farm in Ordnung hielt, verdiente seine Mutter bis in die späten Abendstunden das Wirtschaftsgeld auf den Feldern.
Dane wurde ein guter Schüler, nahezu hervorragend. Seine schnelle Auffassungsgabe faszinierte seine Lehrer jeden Tag aufs Neue. Sie konnten die plötzliche Veränderung kaum fassen und erfreuten sich an seiner zunehmenden Lebendigkeit. Nachmittags, wenn er noch Zeit fand, half er seiner Mutter auf dem Feld, um ihr so zu einem kürzeren Arbeitstag zu verhelfen.
Viele Jahre später fand Dane durch seinen guten Schulabschluss eine Lehrstelle in einer Druckerei, eine der bestbezahlten Lehrstellen weit und breit – die der städtischen Druckerei BEAMAN. Das brachte eine gute finanzielle Veränderung für seine Mutter und ihn.
Die Worte längst vergangener Zeit, Zeit der Qualen, des Hasses und der Unmenschlichkeit brachten beide nie zur Sprache. Totgeschwiegen verdaute Dane seine Kindheit bis zu einer unendlichen Leere. Ab und zu spürte er die Wut, niemals Hilfe von seiner Mutter erfahren zu haben, aber seine tiefe Liebe zu ihr entschuldigte ihr Fehlverhalten.
Der alte Pickup seines Vaters ersetzte ab seinem 18. Lebensjahr die tägliche Fahrt mit dem Bus. Der Einkauf wurde leichter, was seine Mutter in vielerlei Hinsicht entlastete.
Mit Neunzehn konnte er in der Druckerei Beaman ein hervorragendes Wissen vorweisen und damit einen guten Verdienst nach Hause bringen.
Viele Jahre waren an ihnen vorübergegangen, und keiner der beiden, weder Samantha noch Dane Gelton, konnten sich erklären, wo all diese Zeit plötzlich geblieben war.
Aus dem Jungen war ein ansehnlicher Mann geworden, aus der Mutter eine ergraute, aber immer noch stolze und schöne Frau.
Dann kam der Tag, an dem seine Mutter von einer schrecklichen Diagnose aus der Routine ihres Alltags geworfen wurde. Der Arzt diagnostizierte ihr offene Tuberkulose. Dane war schockiert. Widerwillig unterzog auch er sich den Untersuchungen für den Fall, sich bei ihr angesteckt zu haben. Er war gesund, aber konfuse Gefühle holten ihn plötzlich wieder ein. Die über Jahre bestehende Harmonie zwischen ihm und seiner Mutter war mit der Diagnose der Krankheit dahingewichen. Sie musste für die weitere Behandlung in Quarantäne. Er war wieder alleine, mehr noch als je zuvor. Die Farm erschien ihm wie ein Geisterhaus. Die Nächte verbrachte er unten im Wohnraum auf dem Sofa, weil ihm sein Zimmer im ersten Stock unheimlich erschien.
Die Liebe zu seine Mutter wurde durch die Krankheit noch stärker, aber auch quälender. Seinen ganzen Verdienst gab er für ihre Behandlung aus. Ihm blieb kaum etwas zum Leben. Aber das war ihm egal, denn das war es wert, wenn er sie damit nur wieder gesund machen konnte.
Es machte sie nicht mehr gesund, das wusste er, aber wahrhaben wollte er es nicht. Es verging nicht ein Tag ohne Angst – Angst vor einem Anruf mit der Nachricht ihres Todes. Dann kam eine noch stärkere Angst dazu, nämlich nicht bei ihr gewesen zu sein. Hin- und hergerissen zwischen Arbeit und Besuchen bei seiner Mutter im Krankenhaus, vergrub er sich nachts stundenlang in irgendwelchen Büchern, weil der Gedanke an ihren herannahenden Tod ihm den Schlaf unmöglich machte. Die Sorge brachte sein Zeitgefühl völlig durcheinander.
Seine Mutter starb in dem Jahr, als er gerade dreiundzwanzig geworden war. Zu seiner tiefsten Enttäuschung alleine in der Nacht im Krankenhaus von Kansas City. Es hatte Dane den Verstand geraubt, dass ihn niemand rechtzeitig benachrichtigt hatte. Er war nicht einmal mehr in der Lage, vernünftig mit dem Arzt darüber zu sprechen. Seine Familie war jetzt ausgerottet und hinterließ nichts anderes als eine große, schwarze Leere in ihm.
Die Beerdigung brachte nur wenige Nachbarn an Samantha Geltons Grab. Es floss weder eine Träne noch wechselte man ein Wort. Stumme Gesichter blickten auf Dane. Er ließ sie teilnahmslos auf sich ruhen. Gut gemeinte Angebote von Nachbarn, die ihm helfen wollten, hörte er nicht, flogen an ihm vorbei, als seien sie Luft.
Am Friedhofstor sah Dane gedemütigt in den Himmel und schrie so laut, dass alle es hören konnten: „Gott? Wo?!“ Dann stieg er in den alten Pickup seines Vaters und fuhr geradewegs zurück zur Farm.
Dane spürte nichts weiter als kalten Hass, als er die Farm ein letztes Mal betrat. In dem alten Sekretär seiner Mutter fand er Schreibpapier und Umschläge und schrieb seine Kündigung an die Druckerei Beaman. Dann suchte er seine Kleidung zusammen und stopfte sie in zwei Koffer.
Über die abgeernteten Felder konnte Mr. Heddon, sein Nachbar, sehen, wie der alte Pickup die Gelton-Farm für immer verließ.
Blind vor Trauer und Verzweiflung irrte Dane tagelang umher. Er durchquerte die Staaten Colorado, Arizona und Nevada. Bis ihn schließlich der Weg an die Westküste führte. Dort fuhr er wieder tagelang entlang, übernachtete in seinem Pickup am Strand und ernährte sich von Fastfood. Bis er schließlich in Glendale landete. Der Ort gefiel ihm irgendwie. Er verkaufte kurzentschlossen den Wagen und entledigte sich damit eines weiteren Teils seiner Vergangenheit. Von dem Geld konnte er die Kosten für eine Unterkunft tragen. Er beschloss, auch seinen Familiennamen abzulegen. Das wurde allerdings etwas komplizierter. Die Ausbildung in der Druckerei hatte ihm Tricks und Möglichkeiten für die Herstellung eines echt aussehenden Ausweises beigebracht. Schon in der vierten Nacht in Kalifornien wurde aus Gelton Galloway.
Er ging auf Stellensuche.
Tagelang durchstöberte er die Tageszeitungen, führte Vorstellungsgespräche und stritt sich mit Menschen herum, die ihm keine Chance geben wollten. Dann brach er sich das Bein und war nicht versichert. Damit ging er seinem finanziellen Ruin entgegen.
Im Krankenhaus wurde er der Behandlung von Dr. Jim Clark unterwiesen. Ich schaute recht dumm, als ich zu hören bekam, dass der Patient seine Behandlung nicht bezahlen könne. Mit der Frage warum setzte ich dann seine Lügenwelt in Gang. Nicht dass er log, nein, er erzählte mir nur nicht die ganze Wahrheit. Er wäre von zu Hause ausgezogen und nun auf der Suche nach einem Job. Er wäre mittellos und würde alles tun, um auf eigenen Beinen zu stehen. Unser erstes Gespräch war lang und für mich sehr aufschlussreich. Er bot mir einen Schuldschein an. So etwas hatte ich noch nie erlebt und fand es irgendwie spannend. Der Kerl vor mir hatte eine Entschlossenheit an sich, die mir gefiel. Er konnte es seiner Hartnäckigkeit verdanken, dass ich mich an Johnathan Gepart, einen Freund meines verstorbenen Vaters erinnerte. Ich wusste, dass er schon lange den Traum hegte, ein eigenes Lokal zu besitzen. Mit Dane könnte er den Partner gefunden haben, den er brauchte, denn Dane besaß den Kampfgeist, der Johnathan zu dem Projekt fehlte. Dafür besaß Johnathan alle Kenntnisse, um ein Lokal aufzubauen und zu führen. Dane suchte also einen Job, Johnathan suchte einen Partner.
„Was für einen Partner?“, fragte Dane, als ich ihm den Gips nach sechs Wochen entfernte.
„Gastronomie.“
„Gastronomie? Gott! Aber okay. Ist ein Anfang. Sucht er eine feste Kraft oder nur zur Aushilfe?“
„Nein“, sagte ich. „Er sucht einen Partner. Jemanden, der ein Lokal mit ihm eröffnet.“
Damit hatte Dane eine neue Existenz gefunden.
Johnathan und Dane mochten sich auf Anhieb. Sie besprachen die Idee nächtelang und gingen auf die Suche nach einem geeigneten Gebäude. Das fanden sie an der Ecke Roderick Place/Weldon Avenue in Glendale. Irgendwie hatte dieser gotische Bau etwas an sich, was beide faszinierte. Dane entwarf ein Sanierungskonzept, Johnathan ein Geschäftskonzept, und dann gingen sie auf die Suche nach einer Bank, die ihr Projekt finanzieren würde. Da Johnathan etwas Eigenkapital nachweisen konnte, fanden sie schon bei der ersten Bank einen geeigneten Kredit. Kurze Zeit später begannen sie das Gebäude zu renovieren. Hier zeigte sich wieder einmal Danes Entschlossenheit. Er entwarf mit Johnathan einen Plan und begab sich monatelang mit ihm an die Arbeit. Wir waren beeindruckt, wie sehr Dane handwerklich begabt war. Er arbeitete pausenlos und so exakt, dass die Renovierung hervorragend gelang. Da Johnathan diesem Tempo nicht gewachsen war, lenkte Dane ihn immer wieder von seinem Frust ab. An Spaß hatte es nie gemangelt. Ich erinnere mich noch, als er mit Johnathan eine Farbschlacht mitten im Gästeraum begann. Noch nie hatte ich John so glücklich und ausgelassen erlebt. Dane war eine Goldjunge für ihn. Und der war gerade im Begriff, eine Goldgrube in das stattliche Treiben von Glendale zu zaubern. Wenn man nicht wusste, wer die Idee mit dem Lokal gehabt hatte, konnte man annehmen, dass Dane derjenige gewesen sein musste. Er hatte das Projekt irgendwie zu seinem gemacht, aber Johnathan nie außenvor gelassen.
Im Grunde genommen war es genau das, was Johnathan brauchte. Sie nannten das Lokal Running Horse, woran Danes Tempo während der Renovierung nicht ganz unschuldig war.
Die neue Identität von Dane vollbrachte wahre Wunder. Er hatte eine neue Familie und ein neues Zuhause gefunden. Er war glücklich.
1993. Fünfzehn Jahre später.
Dallas / Texas. Dane, 38 Jahre.
„Dr. Clark, ein Anruf für Sie.“ Mrs. Buit an der Aufnahme hielt mir den Telefonhörer entgegen, als ich die Eingangshalle durchschritt.
„Kalifornien“, sagte sie.
„Ja, hallo, hier Dr. Clark.“ Ich dachte an das Krankenhaus, aber es war Johnathan.
„Hallo, Jim. Ich habe viele Neuigkeiten für dich. Halt dich fest.“
„Warte“, rief ich eilig und gab Mrs. Buit ein Zeichen, dass ich Block und Kuli benötigte.
„Jetzt“, sagte ich und konnte gar nicht so schnell schreiben, wie Johnathan die Informationen durch den Hörer jagte.
„Gelton ist ja ein Name“, begann er, „wie Sand am Meer. Aber es gab in den fünfziger Jahren nur eine Familie in Kansas mit Will und Samantha Gelton, sowie ihren drei Jungen Jeff, Dane und Kevin.“
Ich wurde blass. Jeff war also doch ein Bruder. Dane hatte sogar zwei Brüder! Ich fragte noch einmal nach: „Irrst du dich auch nicht, ich meine, gibt es nicht eine Familie, die nur einen Jungen mit dem Namen Dane hat?“
„Nein, gibt es nicht“, antwortete Johnathan mit Bestimmtheit. „Nun warte mal und lass mich weiterreden. Sie wohnten auf einer Farm in der Nähe von Topeka. Ihnen gehörte ein Pickup, mit dem Dane verschwand, als seine Mutter starb.“
Jetzt wusste ich: das ist er!
Johnathan fuhr fort: „Ich erinnere mich dunkel, dass Dane früher öfters alte Pickups reparierte. Er tat es mehrmals für Freunde, um etwas dazu zu verdienen. Zuerst traute ich ihm das gar nicht zu, aber er hatte scheinbar wirklich Ahnung davon.“
„Volltreffer!“, rief ich und sah in die großen Augen von Mrs. Buit. Ich schickte ihr einen Luftkuss zu. Sie sah verlegen weg.
„Na warte, es kommt noch besser. Man kannte Jeff und Dane, aber den kleinen Kevin hat eine Nachbarin nie gesehen, sagt sie. Jeff sei auch erstaunlich früh von zu Hause weggegangen, berichtete man mir. Eine Art Sonderschule oder so. Keine Ahnung. Keiner weiß so richtig Bescheid über die Familie. Sie lebte sehr zurückgezogen. Ich telefonierte mit den früheren Nachbarn. Sie heißen Heddon. Mrs. Heddon sagte, dass Will Gelton bei einem Kampfeinsatz in Vietnam ums Leben kam und Samantha Gelton viele Jahre später an Tuberkulose starb. Dane hatte sie bis zu ihrem Tode in einem Krankenhaus gepflegt und ist dann sang- und klanglos verschwunden. Die Farm steht seitdem leer und ist total verkommen. Ist das unser Dane?“
„Ja, total!“, rief ich in den Hörer, einem Freudentanz nahe. „John, wir kommen gut voran. Es geht ihm übrigens recht gut.“ Ich sah wieder zu Mrs. Buit herüber und schickte ihr einen zweiten Luftkuss. Verlegen sah sie wieder weg. Ich fühlte mich wie ein Ritter nach gewonnener Schlacht. Dass die größte Schlacht noch vor mir lag, erfuhr ich erst in der folgenden Nacht.
*
Als Dane am Abend unser Zimmer wieder betrat, war ich am Tisch eingenickt. Dane sah in die Aufzeichnungen, die offen vor mir lagen.
Schon alleine das Wort Gelton erregte sofort seine Aufmerksamkeit.
Will und Samantha Gelton
Jeff, Dane, Kevin Gelton
Kevin??
Will Gelton, Militärstützpunkt
Toronto / Kanada, Einheit PSI 133852
Schmerzhaft drängten sich die Namen seiner Familie wieder in sein Gedächtnis. Die Erinnerung an sie brachte ihn ins Taumeln. Er rieb mit seinen Zeigefingern an der Schläfe und begann, leise auf sich einzureden: „Wer ist Kevin? Wer ist Kevin? Wer ist Kevin?“
Dane schloss die Augen. Dunkel baute sich vor seinem inneren Auge die Leinwand der Vergangenheit auf. Ein dunkles Loch formte den Eingang zum Tunnel. Es dauerte etwas, da hörte er ganz tief im Tunnel ein Baby schreien. Dann sah er die Frau am Fenster, ihren geschwängerten Bauch. Jetzt erkannte er sie!
1959. 34 Jahre früher.
Valley Falls / Kansas. Dane, 4 Jahre.
Seine Mutter schrie! Herzzerreißend! Es waren Schmerzensschreie ohne Ende! Dann schrie das Baby, frisch geboren, und die Hebamme rief nach unten: „Es ist wieder ein Junge, Mr. Gelton!“
Dane saß unten in der Küche bei seinem Vater am Tisch. Ein Bruder! durchfuhr es den Vierjährigen. Er hatte endlich wieder einen Bruder! Jeff war seit vielen Wochen nicht mehr da, und er vermisste ihn so sehr. Sein Vater hatte etwas von einer Sonderschule außerhalb der Stadt gesagt, dann aber nie wieder über Jeff gesprochen.
Er wusste nicht, dass Dane ihn des Nachts nach seinem ersten Missbrauch beobachtet hatte, oben von seinem Fenster aus, das im hinteren Teil des Hauses lag. Dane hatte in der Nacht auf seiner Fensterbank mit großen Schmerzen gesessen und einfach nur ins Dunkle gestarrt. Dann hatte er gehört, wie jemand unter seinem Fenster ein Loch gegraben und etwas Schweres hatte hineinfallen lassen. Er konnte dem Vorgang keine logische Erklärung beimessen und gab sich am nächsten Tag mit der Antwort zufrieden, es sei ein alter, streunender Hund gewesen. Das war nichts Ungewöhnliches; ihnen lief öfter ein verirrtes Tier zu. Am nächsten Tag ging Dane nachschauen, konnte aber das zugeschüttete Loch zwischen all den Grasbüscheln nicht wiederfinden. Sein Vater hatte saubere Arbeit geleistet.
Als Dane die Freude seines Vaters nun über den Neugeborenen sah, verging ihm sofort seine eigene. Er dachte an all die Zwischenfälle in der Scheune, seit Jeff weg war. Es war der Beginn seines Martyriums. Er hasste seinen Vater dafür, aber die anerzogene Gehorsamkeit ließ ihn in Stillschweigen und Willenlosigkeit verharren.
Du wärst besser tot!, dachte Dane plötzlich, als er das Baby wieder schreien hörte. Seine reifen Gedankengänge machten ihm oft Angst.
Körperlich war Dane immer stark zurückgeblieben. Schwächlich und klein wie er war, wurde er in der Schule viel gehänselt. Die Kinder aus der Nachbarschaft nannten ihn Eichhörnchen. Sein Appetit war unscheinbar. Er aß lieber frisches Obst vom Apfelbaum, der im hinteren Teil des Gartens stand, als mit seinem Vater am Mittagstisch. Andere Nahrung nahm er durch die Liebe seiner Mutter auf, wenn sie ihn auf den Schoß nahm und an sich drückte. Sie erzählte dann, wie sie ihn in der Scheune auf die Welt gebracht und sich direkt in ihn verliebt hätte. Sie erzählte ihm von Engeln, die im Himmel lebten und dabei zugeschaut hätten. Sie sang sanfte Lieder und streichelte ihn oft bis in den Schlaf. Sein Entschluss, sie später einmal zu heiraten, stand fest, dann, wenn Dad nicht mehr da sein würde. Dann lächelte sie immer und gab ihm das Jawort.
Ob die Engel auch sahen, was in der Scheune passierte?
1993. 34 Jahre später.
Dallas / Texas. Dane, 38 Jahre.
Als ich wach wurde, saß Dane apathisch wippend auf dem Bett. Er war blass und zitterte. „Woher hast du all die Namen?“, fragte er leise.
Ich sah auf meine Aufzeichnungen. „John hat für uns etwas recherchiert. Hast du es gelesen?“
Dane nickte.
„Und? Irgendwelche Erinnerungen?“ Ich war wieder voll da und mit unersättlicher Neugier erfüllt.
Dane wurde ruhiger.
„Kevin war mein kleiner Bruder. Er wurde geboren, als ich vier war. Dad hat sich riesig über den kleinen Kerl gefreut. Ich nicht. Ich hatte nur Angst. Der Kleine tat mir leid.“ Dane ging zum Fenster und sah in den dunklen Park hinunter.
„Warum?“, fragte ich, obwohl ich es im Grunde wusste.
„Weil ... weil ...“, stotterte Dane. In der Spiegelung der Fensterscheibe sah ich Tränen, die glitzernd in seinen Augen standen. „Na, ja, weil Dad sich so freute!“ Er packte alles in den kleinen Satz, weil Dad sich so freute und rang sich ein künstliches Lächeln ab.
Um 23.00 Uhr gingen wir wortlos ins Bett.
Sein innerer Schmerz stach nach außen, erst durch kleine Löcher, dann durch die ganze Wand. Die Blockade brach, und Dane schlief sich in einen weiteren schlimmen Traum.
1961. 32 Jahre früher.
Valley Falls / Kansas. Dane, 6 Jahre.
Dane sah die aufklarenden Bilder. Vorangegangener Nebel löste sich in das scharfe Abbild der großen Scheune auf. Sein Vater hatte Kevin an der Hand. Er war bereits zwei Jahre alt, aber seine Schritte waren zu unbeholfen, um ihn auf dieses Alter zu schätzen.
Es war der Tag, an dem sein Vater ihn zum ersten Mal mit in die Scheune nahm. Dane hatte keine Skrupel mitzugehen. Er war jetzt der große Bruder, der schon aufpassen würde. Schließlich war er schon sechs! Und außerdem war Kevin viel zu klein, um diese schlimmen Dinge zu erfahren. So begleitete ihn ein recht beruhigendes Gefühl in die Scheune.
Sein Vater öffnete die Scheunentür und blickte auf seinen Sohn zur linken Seite hinunter. „Na, Dane, wie geht's?“
Dane lächelte unsicher. Sein Lächeln hatte mit den Jahren etwas Hassendes bekommen.
„Wollen mal sehen, ob Klein-Kevin schon was für uns tun kann.“
Das war doch nicht sein Ernst!!
„Nicht, Dad“, flüsterte der kleine Dane, „nicht Kevin.“
„Ach“, krächzte sein Vater und schlug ihn mit der Hand gegen die Stirn. Dane taumelte, fing seinen Sturz aber geschickt ab. Irgendwie roch sein Vater immer nach Schweiß. Er war nie richtig gekämmt, und seine blonden, fettigen Haare hingen ihm ungepflegt in die Stirn. Sein Teint war braungebrannt von der Feldarbeit, die Hände riesig und voll rissiger Hornhaut. Auf Dane wirkten sie beängstigend, zu groß, zu stark, einfach die stärksten Hände der Welt. So rechtfertigte er mit sechs Jahren seine Gehorsamkeit. Es machte das Leben einigermaßen erträglich auf der Farm. Doch diesmal trieb es sein Vater zu weit. Dieser wendete sich dem Zweijährigen zu. Dane dachte an Jeffs Kampf vor zwei Jahren, wie er sich als großer Bruder mutig und selbstlos für ihn eingesetzt hatte, als sein Vater ihn zum ersten Mal anfassen wollte. Jeff hatte einen Kampf auf sich genommen, mit chancenlosem Ausgang und einem Hass, der niemals gesühnt wurde.
Dane war zunächst unsicher, denn immerhin war Jeff damals zehn Jahre alt gewesen. Doch dann sammelte er all seinen Mut zusammen. Er spürte, wie es zu brodeln begann. Erst Wut, dann Zorn, dann Hass. Dann griff seinen Vater an. Er biss ihn ins Bein, schlug auf ihn ein, wo immer er ihn treffen konnte. Hysterisch entluden sich seine Aggressionen, die nicht mehr enden wollten. Egal, ob er Schmerz spüren würde. Er war bereit, dafür zu sterben. Für Jeff, für Kevin.
Will Gelton trat um sich, als wollte er ein lästiges Insekt loswerden. Nachdem es ihm nicht gelang, Dane abzuwehren, packten seine riesigen Hände wieder einmal zu. Zuerst versuchten sie, Danes Hals zu fassen, erwischten ihn jedoch nur am Hemdkragen. Dane sah verstört auf und schlug wild in die Luft. Da waren sie wieder, die stärksten Hände der Welt! Sein Vater lächelte verächtlich über die Hilflosigkeit seines Sohnes und trug ihn hinüber zum Schweinestall. Dort schmiss er ihn kraftvoll zwischen die Säue und Ferkel. Dane rappelte sich benommen auf und stürzte zu dem Tor des Stalls. Das konnte sein Vater doch nicht tun! Seine kleinen Hände rissen an dem Tor, und nach vielen Tritten musste er hinnehmen, dass es für ihn nicht zu öffnen war. Auch mit seiner Größe konnte er es nicht überwinden. Er schrie! Tränen der Wut liefen ihm über das Gesicht, und er wischte sie verächtlich mit seiner kleinen Hand fort. Dunkle Schmutzstriemen malten sich auf seine blasse Haut. Der Gedanke, eine Sau könnte ihm doch als Treppe dienen, kam ihm. Er schob eines der Tiere vor das Tor, doch ehe er es überhaupt in die richtige Position bringen konnte, quiekte es laut auf und lief wieder zu den anderen Tieren, die sich ängstlich in eine Ecke drückten. Dane startete einen neuen Versuch, der aber genauso kläglich wie der erste endete. Der ganze Schweinestall grunzte vor Aufregung. Dane war außer sich. Er wollte schreien, aber es kam nur ein lautloses Hecheln aus seinem Mund. Seine Stimme versagte. Er sank wimmernd und besiegt zu Boden. Nur ein kleines Astloch ermöglichte ihm den Blick zu den Geschehnissen, die er nicht mehr in der Lage war zu verhindern.
Sein Vater hatte Kevin bereits entkleidet. Der Kleine schrie jähzornig auf. Ein Schrei, den Dane nur allzugut kannte. Sein Vater öffnete hastig seine Hose. Sein Glied war bereits erigiert und riesig gegen dieses kleine Leben.
Gott hilf mir!, flehte Dane mit innerlicher Stimme, aber da war kein Gott. Er wollte schreien oder Krach machen, etwas was seinen Vater auf ihn lenken würden, doch sein kleiner Leib konnte nur noch zittern. Er wollte wegsehen, doch er sah hin. Dann sah er ein Messer aufblitzen! Ohnmächtig fiel sein kleiner Körper zwischen die Ferkel und Säue. Sie grunzten und beschnupperten ihn neugierig. Seine Ohnmacht war tief und dauerte lange.
Als Dane wieder zu sich kam, war alles ruhig. Vorsichtig riskierte er einen Blick durch das Astloch. Erschrocken sah er die Hosenbeine seines Vaters. Dann spürte er den Griff an seinem Hemdkragen, wie er gepackt und aus dem Schweinestall herausgehoben wurde. Er hörte die Worte seines Vaters: „Wie siehst du denn aus? Du Schwein! Geh, und wasch dich. Mutter hat zum Essen gerufen!“
*
Kevin saß nicht mit am Mittagstisch, seine Mutter auch nicht. Der leere Babystuhl und der leere Holzstuhl seiner Mutter ließen die ganze Szenerie in der Küche erbeben und merkelten Danes Gefühle aus. Sein Vater saß ihm gegenüber. Angeekelt sah Dane zu, wie dieser die Mittagssuppe direkt aus der Schüssel in sich hineinschaufelte.
„Was schaust du so!“, schnaufte ihn sein Vater an. „Mom musste mit Kevin zum Arzt. Er hat Durchfall oder so!“
Dane stockte der Atem! Ihn überkam Übelkeit. Sein Vater schlürfte und rülpste. Dane ließ seinen Löffel laut platschend in seine Suppe fallen. Er hatte keinen Appetit mehr.
„Ich muss auf's Feld“, sagte sein Vater, nachdem er die Schüssel gelehrt hatte und verließ das Haus. Dane blieb zurück – erschüttert saß er auf seinem Stuhl und starrte auf die leere Schüssel seines Vaters. Erst das drängende Gefühl, urinieren zu müssen, holte ihn wieder zurück. Dane rannte so schnell er konnte zur Toilette und erbrach sich dort, während sein Urin in die Hose strömte.
Seine Hose klebte unangenehm zwischen seinen Beinen, als er den Tisch abräumte. Er beschloss, den Rest des Tages auf seinem Zimmer zu verbringen, schlich mit breiten Beinen die Treppe hinauf, vorbei an der Tür des Elternschlafzimmers. Ein leises Wimmern ließ ihn aufhorchen. Die Tür war angelehnt. Stumm riskierte er einen Blick hinein. Er sah, wie seine Mutter im Schaukelstuhl saß und aus dem Fenster starrte. Schniefend hielt sie sich ein Taschentuch vor den Mund. Wie ein Blitz schlug die Lüge seines Vaters in seine Gefühle! Seine Mutter war weder beim Arzt noch hatte sie Kevin bei sich! Nichts war wahr gewesen von dem, was sein Vater gesagt hatte. Dane sah noch einmal auf seine Mutter. Er war nicht einmal mehr in der Lage, sie zu trösten.
Sie sah kurz zu ihm auf, doch dann wandte sich ihr Blick wieder dem Fenster zu. Sie wollte keinen Trost mehr, auch nicht von ihm. Es war der Tag, an dem die liebevollen Lieder am Abend endeten. Seitdem durfte sie ihn nicht mehr berühren.
Dane zog die Türe des Elternschlafzimmers bis zum Anschlag zu und ging ausgebrannt in sein Zimmer. Sein psychisches Fassungsvermögen war dermaßen erschöpft, dass alle weiteren Gefühlsregungen in ihm erloschen.
*
Nachts um eins saß Dane immer noch auf der Fensterbank und starrte auf die Grasbüschel unter seinem Fenster. Seine Hose war inzwischen getrocknet. Ein süßlicher Geruch verteilte sich im Zimmer, aber er roch nichts mehr.
Ein aufgehender Vollmond warf verschleierte Schatten über die Felder. Dane mochte die Geräusche der Nacht. Sie trugen einen Frieden in sich, den er tagsüber nicht finden konnte.
Ein plötzliches Geräusch weckte seine Aufmerksamkeit. Ein Schatten huschte unter seinem Fenster vorbei! Eine Schaufel stach in den Boden! Etwas plumpste in die Erde! Kein Hund!, durchfuhr es Dane zitternd. Seine sechs Jahre hatten ihn mächtig reifen lassen, nicht nur in seiner Intelligenz, sondern auch seine Emotionen und seine Fassungslosigkeit. Vor zwei Jahren war es dann sicherlich auch kein Hund gewesen. Gott! Es war Jeff gewesen! Aber was half es? Jetzt. In ihm war nichts mehr kaputtzumachen, es war schon alles zerbrochen. Seine Seele war zu einem Trümmerhaufen der stärksten Hand der Welt geworden.
Dane nahm seit diesem Tag nichts mehr wahr, auch als seine Eltern versuchten, ihm den Tod seines Bruders durch die Folgen einer Darmkrankheit klarzumachen. Sein Leben nahm eine abrupte Wende. Er sah seine Mutter nie mehr lachen, und er fühlte seine Mutter nie mehr an seiner Haut. Weder sie noch er wollten das.
Wenige Tage nach Kevins Tod strich Dane die Namen seiner Brüder aus seinem Gedächtnis. Das machte vieles leichter, besonders seine Trauer und seine Verzweiflung. Seit dieser Zeit war er nicht mehr in der Lage, seine Aggressionen auf natürliche Weise abzubauen. Aufgestaut sammelte er alles in eine innere Schublade und schloss sie zu.
Er beherrschte das Schweigen, wie kaum ein anderer.
1993. 32 Jahre später.
Dallas / Texas. Dane, 38 Jahre.
Am nächsten Morgen schreckte ich aus meinem Bett hoch, als kalte Wassertropfen auf mein Gesicht fielen.
„Jim, wach auf!“, fuhr Dane mich an. „Ich hab dir was zu sagen.“
Meine Müdigkeit war schlagartig verschwunden und verwandelte sich in höchste Aufmerksamkeit. Eine Fähigkeit, die mir im Krankenhaus durch die häufigen Bereitschaftsdienste zueigen geworden war.
Dane hatte geduscht und konnte es kaum erwarten, von seinem Traum der letzten Nacht zu erzählen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er geträumt hatte. So hatte ich auch keine Aufnahmen oder Aufzeichnungen gemacht.
„Erzähl!“, drängte ich neugierig und kam unter meiner Decke hervor.
„Nein, nicht so!“ Dane fuchtelte mit seinen Händen herum. „Schalt das Tonband ein! Es ist eine lange Geschichte, die ich bestimmt kein zweites Mal so erzählen werde.“
Ich sprang aus dem Bett und holte den Rekorder.
Dane erzählte seine ganze Geschichte von Anfang an, während der Rekorder alles aufzeichnete. Sie begann mit seinen ersten Erinnerungen im Alter von vier Jahren und endete schließlich mit dem Tag, als er nach Kalifornien kam. Seine Haltung war dabei erstaunlich gefasst. Ich zog mich zwischenzeitlich an und wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Ein Gefühl des Sieges überkam mich. Ich hatte es tatsächlich geschafft, meinen Freund aus seiner Schweigsamkeit zu locken.
Dass ich es gar nicht war, der sein Schweigen brach, erfuhr ich erst viel später.
Das hast du gut gemacht, lobte ihn das Loch.
Wird er jetzt kommen?, fragte Dane.
Warum so eilig?
Weil Jim mich jetzt hier wegholen wird.
Du hast vielleicht zu schnell gehandelt. Du solltest nachhelfen. Such dir einen Helfer in der Klinik.
Wird dann die Zeit reichen?
Das werden wir sehen.
Dane ging auf die Suche.
*
Roosevelt saß im Frühstücksraum, während in der Küche reges Treiben herrschte. Die Vorbereitungen eines neuen Kliniktages waren in vollem Gange. Der Arzt erkannte schon an meiner Hektik, dass heute Nacht etwas Wichtiges passiert sein musste. Er tupfte sich vornehm den Mund ab und setzte ein breites Grinsen auf. „Guten Morgen“, sagte er freundlich.
„Haben Sie Zeit? Wir brauchen Ihre Hilfe“, sagte ich außer Atem. Dane stand hinter mir. Er hatte seinen Teil erfüllt und sah nun voller Erwartung den Reaktionen entgegen.
„Sicher!“, sagte Roosevelt und war zweifellos gespannt auf diese Neuigkeiten. Er ging mit mir in sein Büro.
Dane blieb zurück. Er wollte Johnathan informieren. Ich war einverstanden. Johnathan würde sich bestimmt freuen, seine Stimme zu hören.
Roosevelt bot mir einen Stuhl an.
„Danke, aber wir haben nicht unbedingt viel Zeit“, sagte ich und wedelte mit der Kassette vor seiner Nase herum. „Hier ist die Geschichte drauf, auf die wir so lange gewartet haben. Von Anfang bis Ende. Es handelt sich um Kindesmissbrauch an drei kleinen Jungen mit zweimaliger Todesfolge.“
Diese kurze Aussage genügte, um Roosevelt zu erschüttern. Er sah mich mit ernster Miene an.
„Gott, ist das wahr?“, fragte er betroffen. „Zwei tote Kinder?“
Ich nickte.
„War Mr. Galloway das überlebende Dritte?“, fragte er.
Gelton, dachte ich, nicht Galloway. Ich nickte. „Ja.“
„Wer waren die beiden anderen Kinder?“
„Seine Brüder. Sein Vater hat es getan. Aber ...“
Es klopfte an der Tür. Das Gespräch wurde unterbrochen. Rhyan steckte den Kopf herein. „Dane sucht Mrs. Buit. Sie hat den Schlüssel für das Telefon. Wann kommt Mrs. Buit, Dr. Roosevelt?“
Roosevelt sah auf seine Armbanduhr. „Es ist sieben. Sie müsste jeden Moment kommen. Ach, Rhyan, kommen Sie doch gleich danach mal zu mir. Ich brauche unter Umständen Ihre Hilfe.“ Er wandte sich an mich und fragte: „Darf ich die Geschichte hören?“
„Sicher!“, antwortete ich nickend. „Sie müssen sie sogar anhören, denn wir brauchen jetzt Ihre Unterstützung. Es ist so einiges an Licht gekommen. Hinter einem alten Farmhaus in Kansas bei Topeka liegen die Leichen zweier Jungen im Alter von zwei und zehn Jahren verscharrt. Die Polizei dort muss sofort informiert werden, um die Leichenreste zu sichern. Weiter muss in Erfahrung gebracht werden, ob Danes Vater, Will Gelton, der die Jungen getötet hat, noch lebt. Er ist pädophil veranlagt, extrem pädophil. Bis jetzt wissen wir zwar, dass er bei einem Vietnameinsatz vermutlich ums Leben kam, aber eine Bestätigung für seinen Tod haben wir nicht bekommen. Zumindest keine von einer zuständigen Behörde.“
„Mr. Galloway heißt Gelton?“, fragte Roosevelt erstaunt.
„Gelton“, bestätigte ich und erzählte ihm von dem Namenswechsel vor fünfzehn Jahren.
Rhyan stand an der Tür und lauschte ungewollt dem Gespräch. Dann sah er Mrs. Buit kommen, und die Angelegenheit von Danes Telefonat hatte sich erledigt.
Rhyan betrat das Besprechungszimmer des Arztes und nahm unscheinbar und schweigend Platz im hinteren Teil des Zimmers.
„Gut, dass Sie da sind, Rhyan. Ich habe Schreibarbeit für Sie.“ Roosevelt sah zu mir. „Wissen Sie, Dr. Clark, Rhyan ist nämlich auch mein Sekretär, neben Mrs. Buit.“
Wieder beneidete ich ihn um diesen Mann.
„Sie sind sich ja bewusst, Dr. Clark, dass Dane ... wie heißt er doch gleich? Gelton? Dass Mr. Gelton auch unter Umständen Ärger bekommen könnte. Je nachdem wie sich der Fall darstellt. Er beherbergt dieses Wissen nun schon auffallend viele Jahre und hätte es längst der Polizei mitteilen müssen.“
Ich schüttelte energisch den Kopf und sagte: „Er war ein Kind, als das geschah. Sie und ich werden bezeugen, dass er unter einer Bewusstseinsblockade gelitten hat. Sein Unterbewusstsein hat die Geschichte über dreißig Jahre isoliert. Oder wie wollen Sie seinen Aufenthalt hier erklären? Meinen Aufenthalt? Zeugenaussagen? Unsere Telefonate, die Tonbandaufnahme?“ Ich wedelte mit der Kassette. Roosevelt nickte. „Das könnte ihm helfen. Er sollte trotzdem eine Anzeige machen.“
Ich nickte. Roosevelt sah Rhyan an. „Rhyan, würden Sie bitte den Wortlaut der Tonbandaufnahme mittippen und dann an das Police-Departement in L.A. faxen? Es muss zunächst an den Wohnort des Klägers gehen. Dort wird es dann weitergeleitet. Ich werde danach alles abzeichnen. Die Bescheinigung des Aufenthaltes erledige ich heute Nachmittag.“
Ich war zufrieden.
Nachdem Rhyan bereit war, schaltete ich das Tonband ein, und wir lauschten mit Betroffenheit dieser unfassbaren Geschichte.
Mrs. Buit war inzwischen gekommen, und Dane ließ sich mit Johnathan in Glendale verbinden.
„Hallo, Dane!!“, schallte es laut aus dem Hörer.
„Hör zu, Johnathan, ich habe keine Zeit für wie-geht-es-dir,-wie-geht-es-mir-Floskeln! Es geht mir prima, und ich habe eine Bitte an dich. Du musst dich mit Whiseman in Verbindung setzen. Ich habe ihm eine Menge mitzuteilen.“
Whiseman gehörte zum Mord-Dezernat des L.A. Police Departments. Johnathan kannte ihn schon viele Jahre privat, und die Aussicht, diese Angelegenheit über ihn zu regeln, erschien Dane erst einmal am besten. Es würde sicherlich viele unangenehme Fragen und jede Menge Zeit ersparen.
„Was in Gottes Namen ist passiert?“, fragte Johnathan.
Schweigen.
„Eine lange Geschichte“, sagte Dane. „Du würdest sie nicht verstehen.“
„Sag etwas. Etwas, was ich verstehen könnte.“
„Mein Vater hat meine beiden Brüder getötet.“
Ruhe auf beiden Seiten. Wie konnte er diese grausame Nachricht so kurz und kalt durch den Hörer jagen?
Johnathan war entsetzt. War das die Geschichte, die mit dem Überfall auf der Palloma Street zusammenhing?
Dane sprach weiter: „Eine polizeiliche Abordnung muss nach den Leichen suchen und sie sicherstellen. Ich kann aber nicht genau sagen, wo sie liegen. Jim sagt, du weißt, wo die Farm liegt?“
Keine Antwort. Johnathan musste verdauen und verstand nichts. Er fragte erneut: „Dane, was ist passiert? Ich verstehe nicht.“
„Bitte, Johnathan, stell jetzt keine Fragen. Tu, was ich dir sage. Ich werde dir später alles erklären.“
„Was soll ich tun?“
„Ich versuche dir jetzt zu erklären, wo die Leichen vergraben sind. Sag es Whiseman. Ich kann das nicht selber erledigen, werde aber heute noch eine entsprechende Nachricht Whiseman zukommen lassen. Also, hör gut zu: Von der Rückansicht des Hauses siehst du zwei Fenster im ersten Stock. Das Linke davon war meines. Darunter ungefähr sollen sie mit den Grabungen beginnen.“
Johnathan notierte alles. Dann hatte auch er Neuigkeiten: „Ich habe deinen Vater gefunden. Er sitzt! In einem Gefängnis von Arizona. Wegen dreifachen Mordes vor neun Jahren. Waren deine Brüder dabei?“
Dane glänzte in seiner Rolle. „Nein. Das war viel früher. – Aber … woher weißt du, dass mein Vater lebt?“, entgegnete er zutiefst betroffen. Dann betretenes Schweigen.
„Hat Whiseman mir mitgeteilt. Er ist nie in Vietnam umgekommen. Wusstest du das nicht?“
Doch! „Gott! – Nein! Woher denn? – Er hat noch drei Mal gemordet, sagst du? Gott!“, sagte Dane aufgebracht.
„Ja. Der sitzt erst mal fest, lebenslänglich“, sagte Johanthan.
Dane, lass dich nicht verunsichern, mischte sich das Loch ein.
„Du, ich muss jetzt Schluss machen“, sagte Johnathan. „Setze mich sofort wieder mit Whiseman in Verbindung und werde ihm alles mitteilen. Ich wünsch' dir alles Gute. Melde mich, sobald alles läuft.“ Es klickte in der Leitung. Die Verbindung war beendet.
Dane besann sich einige Momente. Sein Blick stierte die kahle Wand an. Er ließ den Hörer langsam auf die Gabel gleiten.
„Danke, Mrs. Buit“, sagte er benommen und schickte ihr ein künstliches Lächeln herüber.
Dane klopfte nicht an, als er Roosevelts Büro betrat. „Alles in Ordnung“, bemerkte er kurz.
Wir wollten gerade das Fax abschicken. Roosevelt setzte seine Unterschrift darunter.
Ich bemerkte sofort seine veränderte Haltung, sein verhärmtes Gesicht und nahm ihm das alles in Ordnung nicht ab.
„Johnathan setzt sich jetzt mit Whiseman in Verbindung.“ Danes Stimme brach.
„Gut, Dane. Wir haben hier auch alles erledigt. Haben auch ein Fax nach L.A. fertig gemacht. Dr. Roosevelt ist so freundlich und erledigt den Papierkram. Du musst nur noch eine Anzeige erstatten.“
„Dane?“, fragte Roosevelt vorsichtig. Dane sah aus seiner Abwesenheit auf. Seit wann nannte Roosevelt ihn Dane?
„Setzen Sie sich doch bitte, und lassen Sie uns kurz miteinander reden.“
Dane setzte sich und sah den Arzt konzentriert an. Jetzt war seine Haltung von besonderer Bedeutung.
„Ich hoffe, dass Sie hier einen Anfang finden konnten. Jetzt liegt ein langer Weg vor Ihnen.“
Dane blickte zu Boden. Seine Füße wippten nervös. Der Arzt konnte nicht ahnen, was in ihm vorging.
„Wissen Sie“, sagte Dane ehrlich, „ich bin ziemlich durcheinander.“ Und das war verdammt ehrlich! „Ich weiß nun von Dingen, die mir bis heute Nacht völlig verborgen waren.“
Das war ein Lüge! „Der schwerste Schritt steht noch bevor.“ Das war wieder verdammt ehrlich. Aber wir dachten natürlich an die behördlichen Dinge.
„Dane, die müssen erst einmal feststellen, ob Dein Vater noch lebt. Und dann müssen sie ihn noch finden“, erwähnte ich.
„Sie haben ihn schon“, sagte Dane tonlos und blickte weiter zu Boden.
„Was?“, entfuhr es mir ungläubig.
Roosevelt sah von rechts nach links und wieder zurück.
„Johnathan hat erfahren, dass mein Vater nicht in Vietnam ums Leben gekommen ist. Er sitzt in einem Gefängnis in Arizona. Wegen dreifachen Mordes vor neun Jahren. Er hat wieder gemordet.“
Ich war sprachlos, genau wie Roosevelt. Deswegen waren auch keine Unterlagen von Will Geltons Tod zu finden. Rhyan blickte kurz vom Faxgerät auf, sah Dane an. Sie tauschten einen kurzen Blick aus, der mich etwas verwirrte. Ich sah zu Roosevelt. „Können Sie bis Morgen die Entlassungspapiere fertig machen?“ Da stimmte etwas nicht. Dem musste ich nachgehen. Danes Vater hatte drei weitere Morde begangen? Wen um Himmels Willen hatte er noch auf dem Gewissen? Ich musste so schnell wie möglich zurück nach Los Angeles.
Roosevelt nickte. „Ja, natürlich mache ich alles fertig.“
Wir gingen schweigend auseinander. Der Stoff musste sich erst setzten.
Was wird wohl passieren?, fragte Dane.
Das, was passieren muss, antworte ihm das Loch. Alles geht einmal zu Neige.
Wird er jetzt kommen?
Aber ja. Hast du alles gut vorbereitet?
Ich denke schon, sagte Dane.
Konntest du die Waffe organisieren?
Ja.
Na, dann warten wir mal ab.
Aber wir werden morgen wahrscheinlich aufbrechen, sagte Dane. Ich hab nicht mehr viel Zeit!
Es wird schon klappen, beruhigte ihn das Loch.
Alles bekam eine beängstigende Geschwindigkeit für ihn. Nun hatte Dane die ganze Bombe platzen lassen. Doch wo sich normale Menschen vor lauter Verwirrung in sich zurückziehen, um die Dinge emotional zu verarbeiten, wurde Dane auffallend aktiv. Oder sollte ich besser nervös sagen?
Ich für meinen Teil war so sehr mit diesen Nachrichten beschäftigt, dass mir Danes merkwürdiges Verhalten in der Tat nicht auffiel. Aber Roosevelt hätte es auffallen müssen. Wenn auch posttraumatische Erlebnisse in dieser Form nicht sein Spezialgebiet waren, so hätte er doch bemerken müssen, dass an dieser Geschichte etwas faul war. So einfach kam kein Opfer aus so einer Nummer raus!
Ich bin pragmatisch veranlagt und sah die erste Akte als geschlossen an. Die nun anstehenden Schritte mussten von der Polizei übernommen werden. Besser sogar noch von Whiseman, den wir direkt in unserer Nähe in L.A. hatten. Wir konnten hier in dieser Klinik nichts mehr tun, was uns vonnutzen war. Eine Therapie für Dane musste in seiner Wohnnähe eingerichtet werden, da sie zu lange für diesen Klinikaufenthalt werden würde. Hier war nur der Ort, der die Bombe platzen lassen sollte. Es war eine Bombe von gewaltigem Ausmaß geworden. Bald würde die Suche nach den Trümmern beginnen.
Dane wartete auf die Explosion.
Ich brauchte unbedingt Abstand zu der Sache und zu den letzten Tagen allemal. Es war nicht Danes alleinige Belastung gewesen, ich und sagte zu ihm: „Ich denke, mehr können wir im Moment nicht tun. Wir sollten packen und in Glendale alle weiteren Schritte überlegen.“ Ich blickte ihn an. Er nahm mich nicht wahr, war in seinen Gedanken gefangen. Ich verstand es. Er hatte nicht nur ein schlimmes Trauma durchlebt, sondern auch noch erfahren, dass der Mann, der ihm dieses Trauma verursacht hatte, noch lebte. So war mein Wissensstand zumindest.
Rhyan klopfte an und fragte nach unserem Befinden. Ich war froh für diese Ablösung und ließ beide allein. Irgendetwas erschien mir komisch an ihnen, als ich das Zimmer verließ. War es die Art, wie sie sich ansahen?
Ich fuhr in die Stadt.
*
Sarah hatte Dane nicht von hinten kommen hören. Sie zuckte zusammen, als sich seine Hände um ihre Taille legten.
Wie schön es war, wieder seine Nähe zu spüren.
„Ich glaube, ich liebe dich!“, flüsterte er ihr ins Ohr. Er drehte sie sanft zu sich um und nahm ihre Hände in seine, um sie mit zärtlichen Küssen zu bedecken.
Jetzt war sie doch erstaunt, wie schnell er die Distanz brach. Noch erstaunter war sie über seine direkten Worte. Er suchte keine Wege um seine Gefühle herum, sondern sprach sie gerade heraus. Das gefiel ihr. „Das sind große Worte, Mr. Galloway“, sagte sie dementsprechend überrascht. „Ich weiß nicht, ob ich damit umgehen kann!“ Sarah verbannte den Ernst aus ihrem Gesicht und musste lachen. Sie griff in eine Tasche, die links neben ihr stand und holte eine Tüte mit gepflückten Kirschen hervor, der ganze Stolz ihrer morgendlichen Beschäftigung. „Wir sollten etwas für unsere Gesundheit tun“, sagte sie und hielt ihm die Kirschen entgegen.
Sie setzten sich eng beieinander auf eine Bank und genossen das frische Obst. Dabei gaben sie sich sichtliche Mühe beim Weitspucken der Kerne.
„Ich fahre wahrscheinlich morgen wieder nach Hause“, sagte er vorsichtig. Zunächst fiel ihm nichts Besseres ein.
Sie nickte. „Ich weiß. Das heißt, ich hab's mir gedacht.“
„Ja“, antwortete er, „und es gibt jetzt viel zu tun.“ Er wollte es ihr nicht näher erklären.
„Es war schön mit dir“, sagte Sarah traurig und senkte den Kopf. Das war es also. „Werden wir uns einmal wiedersehen?“
„Ja!“, fiel er ihr ins Wort. „Ja, natürlich! Ich werde dich hier doch nicht alleine lassen. Wir werden miteinander telefonieren, uns kennenlernen, besser, meine ich. Vielleicht darf ich dich besuchen kommen. Was meinst du?“
Sie dachte an seine soeben gesagten Worte ich glaube, ich liebe dich. Sie wusste nicht, wie viel Wahrheit darin steckte. Ihr waren so viele Versprechungen bisher im Leben gemacht worden, dass es auf die eine oder andere auch nicht mehr ankam. So sagte sie: „Lassen wir alles auf uns zukommen und machen das Beste daraus, okay?“
Er nickte und legte sanft seinen Arm um sie.
So saßen sie auf der Bank und genossen die letzten Stunden ihrer Zweisamkeit in dieser Klinik, die sie so unverhofft zusammengebracht hatte.
*
Ich begann zu packen und sortierte gerade meine Kleidung in den Koffer, als Dane hereinkam.
„Alles klar?“, fragte ich.
Er nickte. In seinem Blick lag Traurigkeit. Ich wusste von seinem Abschied mit Sarah und zeigte ablenkend auf das Bett. „Die haben deine Sachen gewaschen und gebügelt. Ist das nicht nett?“
Dane nickte abermals.
Es war schon spät, als mir einfiel, noch einmal zu Roosevelt wegen des Abschlussberichts zu gehen. Ich sagte zu Dane: „Es könnte länger dauern. Ich sag schon mal gute Nacht“, tippte mit dem Zeigefinger an meine Schläfe, als eine Geste der Verabschiedung aus alter Zeit und verschwand.
*
Gegen Mitternacht ließen Dane dezente Klopfgeräusche an der Zimmertür hochschrecken. Ein kurzer Schrei des Entsetzens entglitt ihm. Der Lochschaufler! Er war gekommen! Er hatte es geschafft! Dane wurde blass und wusste nicht wohin mit seinen Gedanken. Unpässlicher hätte es nicht sein können. Er war nicht die Spur vorbereitet. Nicht jetzt schon.
Hilfe!, schrie Dane. Ich brauche deine Hilfe!
Das Loch schwieg.
„Dane?“, flüsterte eine helle Frauenstimme. „Dane, bist du wach?“ Sarah! Dane erlangte wieder seine Fassung und ließ sie leise herein. Sie sah hinreißend in ihrem goldenen Kimono aus und suchte nach einem Zeichen des Abschieds.
Sie in dieser Nacht bei sich zu haben, war wohl das schönste Abschiedsgeschenk, das er sich wünschen konnte.
Sei auf der Hut. Sei auf der Hut, summte das Loch.
Es war weit nach Mitternacht, als Roosevelt und ich alle Berichte fertig hatten. Wir waren mit dem Ergebnis zufrieden und wünschten uns eine gute Nacht.
Ich taumelte übermüdet über die Treppen nach oben. Meine Füße waren schwer wie Blei. Endlich sah ich meine Zimmertür und fühlte schon die weiche Bettdecke, unter die ich mich gleich verkriechen würde.
Ich nahm wohl den dezenten Geruch von Parfüm wahr, aber mehr nicht. Ich schmiss meine Kleider gleichgültig auf den Boden und wollte ins Bett steigen, als mir bewusst wurde, dass in diesem Zimmer etwas nicht stimmte. Ich sah mich um. Im Schatten des Mondlichts stand mein Koffer. Davor lag meine Kleidung auf dem Boden. Zu meinen Füßen sah ich ein Kleidungsstück, das mir nicht gehörte und hob es auf. Ich besah es verdutzt. Es war ein Kimono aus Seide. Ein Kimono? Es dauerte einige Sekunden, bis mir die Situation, in die ich geraten war, klar wurde. Ich entschlüsselte das nächtliche Rätsel mit einem Blick zu Danes Bett. Sie schliefen Arm in Arm und hatten mich nicht bemerkt, zumindest zeigten sie es nicht. Ich lächelte, denn ich hatte ein gutes Gefühl für die Beiden.
Mein nächster Gedanke galt einer neuen Schlafgelegenheit. Zunächst einmal schlich ich mich der Situation davon und fand mich einsam und fröstelnd vor Müdigkeit im Flur wieder. Meine einzige Bekleidung bestand aus einer Shorts. Ich musste ein anderes Zimmer finden. Das durfte nicht allzu schwierig sein, denn die umliegenden Zimmer in diesem Stockwerk waren unbewohnt. Das erste Zimmer war verschlossen sowie das zweite, dann das dritte und auch all die anderen. Mein Vorhaben schlug fehl und Verdruss kam auf. Ich konnte doch nicht bei den beiden im gleichen Zimmer schlafen! Mir fiel die Eingangshalle ein, die wohl jetzt der einzige Ort für mich wäre, um für den Rest der Nacht noch etwas Schlaf zu finden. Meine Füße trugen mich wieder die vielen Treppen hinunter. Ein Zweisitzer aus Rattan bot mir eine unbequeme, aber einigermaßen vertretbare Lösung. Ich wendete mich solange herum, bis ich die Bequemlichkeit erlangte, die mich einschlafen ließ.
*
Mrs. Buit brachte wie jeden Morgen ihr Fahrrad hinter das Haus und stellte es dort ab. Es erwartete sie ein Job, dem sie schon seit mehr als zwölf Jahren nachkam und liebte. Jeden Morgen ging sie mit Lust und Freude an ihre Arbeit, die sie stets gewissenhaft erledigte. Sie schloss die großen Eingangstüren auf und atmete tief durch. Es war sechs in der Frühe. Mrs. Buit war heute früher gekommen. Sie hatte Berge von Arbeit zu erledigen, darunter auch Danes Entlassungsbericht.
Der Duft von saftigem Gras verbreitete sich in der Eingangshalle, und das erste Sonnenlicht flutete hinein. Sie legte ihre Tasche auf die Theke, hinter der sie täglich saß und taxierte die Halle auf Ordnung und Reinlichkeit. Die Mülleimer und die Aschenbecher waren geleert und die Sitzmöglichkeiten exakt in Stellung – auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick sah sie mich. Ich passte nicht in ihr morgendliches Inspektionsbild, und eine Art Wut stieg in ihr auf. Ungläubig kam sie näher und betrachtete mich eingehend.
Da ich durch das Öffnen der Türen nicht wach geworden war, wurde ich es auch nicht, als sie schon eine geraume Zeit vor mir stand und mich betrachtete. Sie holte tief Luft und sagte laut und spitz: „Dr. Clark!!“
Ich war schon viele Wecktechniken in meinem Leben gewohnt, doch das übertraf alles. Ich wusste nicht wie, aber ich schlug mit samt dem gekippten Sofa so stark auf dem Boden auf, dass ich im ersten Moment die Orientierung verlor. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe ich zu mir kam. Schmerzgebeugt rappelte ich mich in voller Größe vor Mrs. Buit auf und sah sie an. Erst dann spürte ich eine tiefe Demütigung in mir aufsteigen. Ich hatte sie wegen ihrer fehlenden Brille zuerst nicht erkannt, aber dann sagte ich: „Oh, Mrs. Buit. Sie schon da?“ Ich suchte hastig nach Worten und Kissen. Worte fand ich keine, aber Kissen, die ich beschämend vor meine Shorts hielt. „Entschuldigen Sie, aber oben war ...“ Ich überlegte. Was war denn oben?
„Guten Morgen“, grüßte ich sie noch schnell und verschwand eilig im Aufzug, bevor die Patienten und vor allem Dr. Roosevelt hier aufkreuzten.
Als ich mein Zimmer betrat, war es leer. Der Kimono war verschwunden, aber auch Dane und Sarah. Meine Kleidung, die ich in der Nacht achtlos auf den Boden geworfen hatte, lag sortiert auf meinem Bett. Ich hörte die Dusche. Dane.
Das war's also, dachte ich. Was für eine Geschichte! Mit den Papieren ging es wieder heimwärts nach Los Angeles. Gott, war ich froh!
Die Dusche verstummte. Dane lugte durch den Türritz und rubbelte in seinem Haar herum. „Guten Morgen!“, rief er. „Es tut mir leid wegen heute Nacht. Ich ...“
„Ist schon in Ordnung, Dane“, sagte ich und lächelte ihn an. Er lächelte zurück. „Danke.“
Mehr Worte wollten wir dem nächtlichen Missverständnis nicht schenken. Irgendwie war es plötzlich wie früher.
Das letzte Frühstück nahmen wir gemeinsam ein. Dane wirkte sehr unruhig. Er war ungesprächig und aggressiv. Das irritierte mich, denn ich dachte, dass er froh wäre, endlich wieder nach Hause zu kommen. Doch das war es nicht. Irgendetwas beschäftigte ihn auf eine unangenehme Art und Weise. Sarah konnte es nicht sein. Sie hätte nicht diese Aggression in ihm ausgelöst, eher Traurigkeit.
Nach dem Frühstück beschlossen wir, oder besser, beschloss ich, uns für die Heimfahrt fertig zu machen. Es war kurz vor zehn, und die Patienten trafen sich zur Therapie.
Sarah hatte sich an diesem Morgen nicht sehen lassen. Sie und Dane hatten es in der Nacht so abgesprochen.
Die Zeit drängte – ich drängte. Danes Unruhe wurde stärker. Dann mischte sich Wut dazu. Heute weiß ich, was seine Unruhe ausgelöst hat.
Ich weiß nicht, wie ich die Abreise noch hinauszögern kann!, schrie Dane. Alles geht zu schnell.
Warte, flüsterte das Loch.
Nur warten?
Nur warten.
Während ich nach oben ging, um unsere Koffer zu holen, ging Dane zu Mrs. Buit. Er wollte eine Nachricht für Sarah hinterlassen.
Dane fiel sofort die Unruhe im Gruppenraum auf. Die Therapie hätte eigentlich schon beginnen müssen, aber Dr. Roosevelt war noch nicht anwesend. Eine Tatsache, die Dane erst nicht glauben konnte, denn er kannte Roosevelts Pünktlichkeit. Kopfschüttelnd ging er zu Mrs. Buit. Sie reichte ihm freundlich einen Zettel. Dane lächelte sie an. Ihn überkam plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Es ließ ihn kaum atmen. Es lag ein Geruch in der Luft, der ihn ekelte. Ein Hauch von Geruch. Dann hörte er aus Roosevelts Zimmer ein unbeherrschtes Streitgespräch.
Dane schüttelte den Kopf und sammelte seine Gedanken wieder für Sarah.
Ein starker Luftzug unterbrach nochmals seine Gedanken. Jemand hatte Roosevelts Tür gewaltsam von innen aufgerissen. Dane zuckte erschrocken zusammen und sah auf das leere Blatt, auf dem er immer noch nichts für Sarah geschrieben hatte. Er konnte sich nicht konzentrieren.
Ein alter Mann kam aus Roosevelts Büro gestürzt. Er war groß und bullig. Sein Haar war angegraut. Es hing ihm fettig in die Stirn. Er roch nach Schweiß – wie immer – und schoss hinterrücks an Dane vorbei.
Danes Körper straffte sich. Der Geruch! Er war gekommen! Gott! Und er war hinter ihm! Er war tatsächlich gekommen!
Danes Gefühle schlugen umeinander. Es packte ihn plötzlich eine unerwartete Resignation und schmiss ihn tiefer als er je gefallen war. Tief bis in seine früheste Kindheit hinein. Flinkheit ging in Lähmung über, Erregung in Angst. Seine ganze Kindheit sammelte sich im Magen und begann, langsam nach oben zu steigen. Ihm wurde übel. Es ließ ihn wieder Kind werden. Missstimmung und Verzweiflung rangen um Erregung und Sieg. Er wollte doch nur wieder den Weg in ein ehrliches Leben finden.
Dane riss sich zusammen und erlangte seine Konzentration zurück. Er dachte an Sarah, ... das gab ihm die erste Kraft.
Zuerst veränderten sich seine Augen. Sie zogen sich zu Schlitzen zusammen. Mrs. Buit sah Dane ungläubig an. Dann sah sie auf den alten Mann hinter ihm.
Dane konzentrierte sich stärker. Er drückte seinen Atem auf den niedrigsten Pegel und rief nach dem Loch, in das er nun hinabsteigen musste. Es öffnete sich grinsend und ließ ihn eintreten. Er spürte ein Kribbeln in den Leisten und ließ seiner Lust, die langsam in ihm emporstieg, freien Lauf. Er fühlte die Kraft von allen Seiten einschießen. Sie durchfuhr seine Glieder und Gefühle. Es war wunderbar! Jetzt bin ich soweit, dachte er, lass uns beginnen, und er drehte sich langsam um ...
Kämpfe!, schrie ihm das Loch zu. Kämpfe! Es wird dich niemand aufhalten, es wird dich niemand verurteilen, was immer du auch tust. Du bist hier auf sicherem Boden!
Will Gelton hatte seinen Sohn in der Hektik von hinten nicht erkannt und war an ihm vorbeigerauscht. Doch dann spürte auch er einen Blick in seinem Rücken. Das ließ ihn in seiner Bewegung verharren, und langsam drehte er sich um. Blicke des Hasses trafen sich. Es waren die gleichen Augen – hassend, krank und wahnsinnig.
Zum ersten Mal wurden Dane die abnormen Gesichtszüge seines Vaters richtig bewusst. Die letzten Jahre hatten ihn mächtig altern lassen. Sein Haar war noch grauer und die Haut tiefer durchfurcht und verlebter.
Gelton sah seinen Sohn an. Dane sah prächtig aus, nach allem, was er hinter sich hatte. Er musste lächeln, als er daran dachte, wie dumm sein Sohn vor wenigen Monaten in seine Falle gelaufen war. Es war eine enorme Genugtuung gewesen, auf jeden Fall größer als die, die ihm jetzt bevorstand. Denn der Tod seines Sohnes sollte sicherlich nicht so aufregend werden, dafür aber die Qual, die er ihm dabei schenken wollte. Doch das eine ließ sich diesmal nicht mehr von dem anderen trennen. Sein Tod war so notwendig geworden, wie der Grund, den er ihm gegeben hatte, um hier zu erscheinen.
„Hallo, Kleiner“, eröffnete Will Gelton den Kampf.
Dane sah die Waffe nicht, aber er wusste von ihr. Es war ja seine. Er sah seinem Vater in die Augen, das genügte. Sie verrieten jeden Gedanken und jede künftige Handlung.
„Ich habe schlimme Sachen über dich gehört. Du erzählst Lügen über mich.“
Dane schwieg und konzentrierte sich. Sein Vater zuckte nervös mit den Augen. Er mochte es nicht, wenn sein Sohn ihn so überlegen ansah.
Die ersten Patienten hatten sich um sie herum versammelt und schwiegen erschrocken.
„Was soll ich jetzt mit dir machen?“, giftete sein Vater ihn an. Dane wusste, dass er ihn nur lächerlich machen wollte. Es blieb immer die gleiche plumpe Art. Er hatte sich nicht verändert.
Roosevelt stand der Sache wie gelähmt gegenüber, Mrs. Buit saß hinter ihrem Schreibtisch – ebenfalls erstarrt. Sie beide sahen die Waffe in Geltons Hand und trauten sich nicht einzugreifen. Sie wussten ja nicht, wie er die Waffe zu brauchen gedachte. Er verbarg sie schräg hinter seinem Rücken, seine Art zu kämpfen – unfair und brutal, wie immer.
Die zurückgebliebenen Patienten im Gruppenraum signalisierten durch eine immer größer werdende Lautstärke ihre Unbeholfenheit. Es bildete sich für Dane eine unangenehme Geräuschkulisse, die ihm Konzentration und Ruhe raubten. Will Gelton fühlte die Macht der Überlegenheit durch die Waffe, die seine rechte Hand fest umschloss. Er hatte sie vor der Klinik schon entsichert. Er freute sich, seinem Sohn wieder beweisen zu können, was für ein Schwächling er war.
Dane sah ihm weiterhin in die Augen und las in seinen Gedanken wie in einem offenen Buch. Der Blick sprach Bände. Sein Vater schien immer wieder zu vergessen, dass sein Sohn weder klein noch ein Schwächling war – und dumm schon gar nicht. Das hatte er unzählige Male bewiesen.
Wir sind allein, nur du, er und ich, sagte das Loch.
Dann endlich kam die Waffe zum Vorschein, und Dane setzte ein hämisches Grinsen auf. Das Spiel begann.
Dane sah, wie der Lauf auf ihn zielte. Es gab einen scharfen, dröhnenden Knall. Dane spürte, wie die Kugel ihn durchbohrte. Sie schlug durch sein linkes Schlüsselbein. Er zuckte kurz, spürte keinen Schmerz. Er hatte gewusst, dass sein Vater nicht treffen würde, nicht so, dass er sich ernsthaft Sorgen machen musste. Es war wie immer. Starr und aufrecht hielt er die Stellung vor ihm. Sein Körper glühte vor Hitze. Dann spürte er langsam den Wahnsinn in sich hochkriechen, schleichend und zäh. Die Kraft kam. Dane öffnete den Mund zu einem Schrei. Er schrie, laut, zerreißend laut, irre, und dann stürzte er sich ungeachtet seiner Verletzung wie ein wildes Tier auf seinen Vater, bevor dieser ein zweites Mal schießen konnte. Beide schlugen hart zu Boden. Dane roch wieder den Schweiß. Will Gelton versuchte, die Waffe, die ihm beim Sturz aus der Hand gefallen war, wieder zu erreichen und an sich zu reißen. Ein Schuss, und alles wäre aus der Welt. Sein Geist hatte keine Fortschritte in all den Jahren gemacht.
Beide rangen wie wilde Tiere. Dane begann, auf ihn einzuprügeln. Das Kind in ihm zeigte sich mit nicht verarbeiteten Aggressionen. Sie drangen mit unkontrollierbarer Brutalität nach außen. Unzählige Fausthiebe trafen Will Gelton Kopf. Er musste sich rasch seine Unterlegenheit eingestehen und atemlos die Hinterlassenschaft seines Alters akzeptieren.
Vom Wahn gepackt war es Dane klar, dass er seinen Vater jetzt töten würde, mit allen Konsequenzen. Die Zeit war reif. Er schlug und prügelte sich um den Verstand.
Ein zweiter Schuss peitschte plötzlich durch die Halle. Beide starrten sich regungslos an. Die Augen des Alten waren weit aufgerissen, Danes zu Schlitzen verengt. Dann schlug Dane weiter auf seinen Vater ein. Die Kraft, die Lust ihn zu töten, schien nicht nachzulassen. Der eintretende Tod seines Vaters ließ ihn nicht stoppen. Er prügelte all seine Schmerzen, seine Ängste, seinen Hass in den Körper eines Mannes hinein, der ihn fast um sein Leben gebracht hätte.
Ich kam die Treppe heruntergerannt, aufmerksam geworden durch die Schüsse. Ich sah die große Menschenansammlung vor Roosevelts Büro und wusste sofort, dass Dane in irgendetwas verwickelt war. Hastig drängte ich mich durch die Menge und sah, wie Rhyan und Roosevelt meinen Freund gewaltsam von einem alten, leblosen Körper herunterzerrten. Dane schrie dabei. Wie ein Irrer schlugen seine Fäuste weiter ins Leere. Er wehrte sich verzweifelt gegen den Rückhalt seiner Kraft, so dass beide ernste Schwierigkeiten hatten, dabei nicht selbst verletzt zu werden.
Eine Schwester kam herbeigerannt und half. Die Wirkung der Beruhigungsspritze trat spontan ein. Dane sackte in sich zusammen, stöhnte noch und fiel in tiefe Dunkelheit.
Ich war starr vor Schock. Gelähmt verfolgte ich die Szenerie und starrte auf den leblosen, alten Mann. Dann schrie ich: „Wer in Gottes Namen ist das?!“
„Ich weiß nicht. Sein Vater vielleicht?“, antwortete Dr. Roosevelt verzweifelt. „Er hatte eine Waffe. Ich glaube, er hat Ihren Freund an der Schulter erwischt. Wir bringen ihn ins Sanitätszimmer.“ Er schleppte ihn mit Rhyan in einen Nebenraum. Ich stand fassungslos dabei. Danes Vater saß doch im Gefängnis!?
Mrs. Buit saß heulend hinter ihrem Schreibtisch. Einige Patienten hielten sich die Hände vor ihr Gesicht und flüchteten entsetzt in alle Richtungen. In einer Ecke saß Sarah. Zusammengekauert wippte sie mit verschränkten Armen vor sich hin, nicht ansprechbar. Entsetzen traf bei weitem nicht das Gefühl, das sie durchlebte. Sie stand unter Schock. Ich konnte ihr nicht helfen, ich brauchte selbst dringend Hilfe.
Polizeisirenen heulten. Vier Beamte kamen hereingestürzt. Mrs. Buit hatte die Polizei unmittelbar bei Kampfbeginn informiert.
Die letzten Patienten lösten sich auf Anweisung der Polizei in kleine Gruppen auf oder verschwanden in ihre Zimmer.
Ich stellte überfordert eine Erklärung zusammen und bat sie, bitte Rücksprache mit Dr. Roosevelt zu halten, der alles gesehen hatte.
Whiseman vom Mord-Dezernat in L.A. kam plötzlich hereingerannt. Whiseman hier? Was in Gottes Namen war hier los? Er kam auf mich zu und hielt mir seine Hand zum Gruß hin. Ich war völlig durcheinander und begriff nichts mehr.
„Scheiße noch mal! Was ist denn hier passiert?“, schrie Whiseman und schluckte. Ich sah mit ihm auf die Leiche.
„Ich bin sofort hierher geflogen. Will Gelton ist nämlich heute Nacht aus dem Gefängnis ausgebrochen. Er hat einen Wachmann und zwei Polizisten erschossen. Niemand weiß, wo er die Waffe her hat. Dann ist er wohl direkt hierher gekommen. Alle Grenzen waren informiert: Flughäfen, Bahnhöfe und so. Wie zum Teufel kam er nur hier an? Warum, verdammt noch mal, war denn keine Polizei hier platziert?“ Whiseman sah verbittert in die Gesichter der umstehenden Polizisten. Sie wichen seinem Blick aus. „Aber, Scheiße wohl!“, schrie er weiter. „Warum zum Teufel glaubt ihr wohl, gibt es ein Telefon? Ich habe gesagt, hier soll eine Abordnung von mindestens fünf Polizisten stehen! Und Dr. Roosevelt sollte auch informiert werden!“
Ich war nicht in der Lage dem Ganzen zu folgen. Es überstieg meinem derzeitigen Wissensstand. Also fragte ich benommen: „Woher zum Teufel wusste der alte Gelton von Danes Aufenthalt hier?“ Es gab keine Logik, keine Zusammenhänge für mich. Whiseman gestikulierte wütend mit seinen Händen herum.
Jetzt lag Will Gelton in einer Blutlache vor mir. Ich sah ihn zum ersten Mal. Das Ungeheuer war aus seiner Höhle gekrochen und hatte sich die gerechte Strafe geholt. Ich spürte kein Mitleid, nur Hass, und konnte Dane nichts verdenken, was auch immer er getan hatte.
Roosevelt kam hinzu. Er sah mitgenommen und müde aus. Die Leiche wurde abgedeckt.
„Das ist Dr. Roosevelt, Leiter der Klinik“, stellte ich ihn Whiseman vor. „Er hat wohl alles gesehen.“
Whiseman und Roosevelt gaben sich die Hand.
„Ich bin Lieutenant Whiseman vom Police-Departement in L.A. Wo ist Dane?“
„Er wurde angeschossen und liegt im Sanitätsraum.“
„Von Gelton?“
„Ja.“
„Schlimm?“
„Nein, nicht so schlimm. Das hier“, und er zeigte auf die abgedeckte Leiche, „ist viel schlimmer. Wie konnte das passieren?“, fragte Roosevelt ratlos. Auch er sah keine Zusammenhänge.
Whiseman zuckte mit den Schultern. „Ich würde gerne erfahren, was sich hier genau abgespielt hat?“
Ich sah Roosevelt an. Er begann zu erzählen: „Kurz vor zehn heute Morgen ist dieser Mann“, und er zeigte wieder auf die Leiche, „in mein Büro gestürzt und hat sich sehr aufdringlich nach Dane Galloway, einen Patienten von mir, erkundigt. Dann fuchtelte er mit einer Waffe vor mir herum. Ich bat ihn um Ruhe, aber er schrie mich an und drohte zu schießen, falls ich mich weigere, ihm zu helfen. Ich sagte ihm, dass Mr. Galloway irgendwo hier im Gebäude herumlaufe. Er müsse ihn schon selber suchen. Dann verließ er wütend mein Büro, und ich hinterher. Dass sich Mr. Galloway direkt vor meinem Büro aufhielt, konnte ich ja nicht ahnen. So trafen die beiden aufeinander. Zuerst sahen sie sich nur an. Dann schoss der alte Mann und traf Mr. Galloway an der Schulter. Daraufhin stürzte sich Mr. Galloway auf ihn, und sie kämpften miteinander. In dieser Zeit hat Mrs. Buit die Polizei gerufen. Wir konnten wegen der Waffe nicht eingreifen. Dieser Mann hielt sie ja noch irgendwo in der Hand. Dann knallte der zweite Schuss. Die Waffe musste sich zwischen beiden Körpern verfangen haben. Wer abgedrückt hat, kann ich nicht sagen, aber es hat den Alten getroffen. Als der Kampf beendet war, haben wir Mr. Galloway direkt ins Sanitätszimmer gebracht. Dann kamen auch schon die Polizei und Sie. – Wie konnte das nur passieren?“
Gelton, dachte ich nur, nicht mehr Galloway. Ich stand völlig neben mir.
Whiseman sah zu Boden und rieb sich nachdenklich das Kinn. Dann sah er wieder auf die Leiche. Alle schauten hin.
„Sie haben uns doch diese Geschichte gestern Morgen gefaxt, nicht wahr?“
Roosevelt nickte.
„Das ist der einzige Anhaltspunkt, den wir haben.“ Whiseman sah Roosevelt ins Gesicht. „Daraufhin ist Gelton in der Nacht mit Hilfe einer Waffe, von der niemand etwas wusste, ausgebrochen. So einfach ist das.“ Whiseman sah wieder mich an. „Ich kann einfach nicht glauben, wie simpel man aus dem Gefängnis fliehen kann! Ich frag mich, wozu wir dieses verdammte Ding brauchen, wenn da jeder rein- und rausspazieren kann, wie es ihm passt!“ Whiseman kehrte in sich. „Was uns fehlt, ist das Bindeglied vom Fax zum Ausbruch.“ Er atmete lang aus. Ich sah sein Unbehagen darüber, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Whiseman fragte: „Ist es möglich, dass Dane selbst Kontakt zu ihm gehabt hat?“ Er wusste, wie dumm die Frage war, aber es war eine von jenen Fragen, die geklärt werden mussten.
Ich schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein, niemals. Dane wusste nicht mal, dass sein Vater noch lebt.“
Auch Roosevelt schüttelte den Kopf. Er erklärte Whiseman kurz und präzise die Merkmale eines Verdrängungsprozesses, den Dane hier durchlebt hatte.
„Wie sonst lässt sich diese Misere erklären?“, bemerkte Whiseman. „Gelton muss einen Informanten haben, der ihn über Danes Aufenthaltsort informiert haben muss. Warum nicht Dane selber? Vielleicht wollte er sogar hier auf ihn treffen, nachdem er sich wieder an alles erinnerte.“
„Aber ich sagte doch gerade, dass Dane nicht mal von seiner Existenz wusste.“
Ich dachte an das Telefongespräch von Dane, während ich mit Roosevelt im Büro über die Kassette verhandelte. Hatte Dane etwa doch seinen Vater angerufen? Nachdem Johnathan ihm mitgeteilt hatte, wo er sich befand? Wir holten Mrs. Buit hinzu, die uns versicherte, Dane habe nur nach Glendale telefoniert. Sie zeigte uns die Auflistung der Gespräche von gestern. Dane war nur mit einem Gespräch nach Kalifornien registriert. Verdrossen schüttelte ich den Kopf. „Ich kann es nicht erklären, aber Dane hatte mit Sicherheit keinen Kontakt zu ihm. Das ist eine lange komplizierte Geschichte. Sonst wussten nur Dr. Roosevelt und ich von der Sache.“
„Aber Gelton muss etwas gewusst haben. Das sind doch keine Zufälle hier. Entweder von euch hier oder von einem bei uns in L.A. Es existiert auf jeden Fall eine undichte Stelle. Ist vielleicht jemand unter den Patienten oder dem Personal aufgefallen, der sich besonders häufig mit Dane beschäftigt hat?“
Roosevelts Gedanken fuhren instinktiv zu Sarah. Er sah sich um und fand sie in der hinteren Ecke der Eingangshalle. Sie wippte immer noch. Nein, sie konnte es nicht sein, auf gar keinen Fall. Seine Überlegungen wanderten weiter. Und dann durchschoss es Roosevelt und mich zur gleichen Zeit wie ein Blitz. „Rhyan!!“
Whiseman konnte nicht sehen, wer von uns schneller war. Wir rannten in die gleiche Richtung, rannten zum Sanitätszimmer. Ich stand als erster in der Tür. Es war eine Bewegung, – der Sprung von mir zu Rhyan, der ihn zu Boden riss, mit der Spritze in der Hand, die über den Fußboden schleuderte. Eine Spritze mit einer Überdosis Morphium. Für Dane! Für's endgültige Aus!
*
Dane wurde von einem auswärts angeforderten Arzt behandelt. Der Schuss saß zehn Zentimeter über dem Herzen und war durch die kurze Entfernung ein glatter Durchschuss. Wie durch ein Wunder wurden keine lebenswichtigen Gefäße verletzt. Wegen der unkomplizierten Behandlung konnte Dane in der Klinik bleiben. Die Beruhigungsmedikamente, die er bekam, wirkten viele Stunden und konnten seiner körperlichen Heilung nur von Vorteil sein.
In der Klinik herrschte den ganzen Tag über große Hektik und Aufregung. Niemand schien sich zu beruhigen. Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch das Gebäude und erreichte auch die Menschen, die von alledem gar nichts wissen wollten. Sogar die Sonne zog sich zurück und schickte den ersten Nieselregen über das Land. Nur wenige Patienten suchten noch den Garten auf. Die meisten sammelten sich im Fernsehraum, wobei das Fernsehen völlige Nebensache war. Es standen laute Diskussionen an. Wo sich bisher niemand so recht für Dane Galloway interessierte, fand man nun mitfühlende Worte und zeigte große Betroffenheit. Dass die Therapie für heute ausfiel, war allen klar, und ihre Gespräche trugen sich noch über das Mittagessen hinaus bis tief in die Nacht.
Ich saß wie betäubt im hinteren Teil der Eingangshalle, während Roosevelt allen möglichen Leuten Rede und Antwort stehen musste. Die Leiche wurde zwei Stunden nach der Tat aus der Halle entfernt und der Boden gereinigt.
Wie im Nebel sah ich den alten Gelton verschwinden. Mir war aufgefallen, dass er die Waffe nicht in der Hand hatte. Sie lag wie unbeteiligt neben der Leiche. Ich spürte die Angst, man könnte Danes Fingerabdrücke darauf finden. Es wäre zwar Notwehr gewesen, aber es könnte ihm auch Absicht unterstellt werden. Wer hatte wirklich geschossen? Mich überkam eine tiefe Verzweiflung. Vielleicht war diese Begegnung so etwas wie ein Schicksal für Dane, die Chance der Wiedergutmachung, eine Revanche.
Ich schaute mich in der Eingangshalle um. Wo war Sarah? Ich fand ein kleines Etui mit ihrem Namen in der Ecke, in der sie eben noch gesessen hatte. Ich hob es auf und suchte den Weg nach draußen. Der Regen und die abgekühlte Luft taten gut. Mein Blick schweifte über die riesige Parkanlage. Man konnte die trockene Erde knistern hören; leichter Dampf erhob sich über den ausgetrockneten Rasen. Weit draußen im Garten sah ich Sarah auf einer Bank sitzen.
Ich schlenderte zu ihr, setzte mich neben sie und legte behutsam meinen Arm um ihre feuchte Schulter. Sarahs Lippen waren blau, ich drückte sie fester an mich. Wir schwiegen und ließen den Regen auf uns niederfallen.
Erst als es dunkel wurde, suchten wir unsere Zimmer auf. Ich musste duschen; anders war der Tag nicht loszuwerden. Mein Zimmer war plötzlich merkwürdig still und leer. Dane schlief unten auf der Krankenstation. Blass hatte er ausgesehen. Wie würde er nach dem Erwachen reagieren?
Es klopfte an meine Tür. Ich dachte an Rhyan, der immer so zaghaft geklopft hatte. Er konnte es nicht sein.
Es war Roosevelt. Er bat mich eiligst nach unten.
Da saßen wir nun: Roosevelt, Whiseman und ich. Unsere Stimmung glich der einer Beerdigung. Wir taxierten die glänzend polierte Oberfläche des Tisches, und ich rieb leichte Fettkreise mit meinen Fingerspitzen darauf. In der Mitte stand eine Ginflasche. Gin konnten wir jetzt alle gut gebrauchen. Ich musste an Dane denken, der jetzt sicherlich auch gerne ein Glas Gin getrunken hätte.
Whiseman sah übermüdet aus. Er hatte den ganzen Tag über telefoniert und Informationen über Will Gelton eingeholt. Es lenkte sein Ideal der Menschheit wieder einmal in wirre Bahnen.
„Rhyan war tatsächlich der Informant“, begann Whiseman.
Roosevelt fiel ihm ins Wort: „Aber Rhyan arbeitet doch schon so viele Jahre bei uns. Er kann doch nie und nimmer gewusst haben, dass Mr. Galloway irgendwann einmal bei uns aufgenommen wird. Nein, das lehne ich entschieden ab. Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Bis seine Spielsucht begann, war auch alles in bester Ordnung“, fuhr der Lieutenant fort. „Aber beginnen wir bei Punkt eins.“
Unzählige Blätter Papier raschelten durch die Hände des Lieutenants, bis er den Anfang seiner Aufzeichnungen fand. „Will Gelton wusste immer, ich betone immer, wo sich sein Sohn aufhielt. Man hat Aufzeichnungen in seiner Zelle gefunden. In Glendale fand er ihn durch einen Zeitungsartikel über die Eröffnung des Running Horse 1978 erstmals wieder. Er muss sich zu dieser Zeit ganz in seiner Nähe aufgehalten haben. Ob Absicht oder Zufall, wissen wir nicht. Vielleicht ist er ihm heimlich von Kansas gefolgt. Auf jeden Fall begann er ab diesem Moment, das Leben seines Sohnes kontinuierlich zu verfolgen. Er hat sämtliche Artikel, die über das Lokal veröffentlicht wurden, gesammelt. Dane war mit dem Lokal sehr erfolgreich. Will Gelton hatte nie viel verdient. Die Feldarbeit brachte nichts ein. Die Farm war ständig verschuldet. Daraufhin hatte er damals auch pädophile Neigungen gezeigt. Um die Frustration zu bewältigen, hatte er sich an seinen Kindern vergangen. Das war allerdings derzeit niemandem in seiner Umgebung bekannt. Die Einberufung in die Armee war dann die Chance gewesen, der Situation zu entkommen. Er verschwand spurlos. Als er seinen Sohn hier in Glendale fand und seinen Lebensstil sah, musste es eine große Wut in ihm ausgelöst haben. Merkwürdige Aufzeichnungen lassen darauf schließen, dass er Dane aufgelauert haben muss. Vielleicht hat er ihn um Geld erpresst. Das weiß ich noch nicht. Will Gelton wurde dann wegen dreifachen Mordes an einem Geschäftsmann und seiner Familie vor neun Jahren zu einer lebenslänglichen Haft verurteilt. Der Geschäftsmann hatte derzeit eine größere Summe Geld bei sich, weil er die Baranzahlung für eine Geschäftsübernahme in Kalifornien an dem Abend plante. Er hatte einen Termin mit dem Besitzer des Geschäfts. Das erzählten Bekannte des Geschäftsmannes. Wir konnten allerdings nicht herausbekommen, welches Geschäft er zu übernehmen plante. Alle Unterlagen und Verträge sind seit seiner Ermordung verschwunden. Gelton wurde auf jeden Fall an dem Tatort gefunden, so dass ihm die Tat zur Last gelegt wurde. Seine Fingerabdrücke waren an der Waffe, mit der die Familie ermordet wurde. So wurde er zu einer lebenslänglichen Haft von einem Gericht in Arizona verurteilt. Er erwähnte wohl ständig einen Komplizen, der ihn zum Töten der gesamten Familie gezwungen hätte, und der sich dann mit dem Geld und den Unterlagen davongemacht haben soll. Den Namen des Komplizen gab er allerdings nicht bekannt. Gelton kam in lebenslange Haft. Vom Gefängnis aus plante er dann einen Überfall auf seinen Sohn. Ich sag nur Palloma Street. Wir haben Namen und Briefe von Personen gefunden, die er beauftragte, Dane zu beseitigen. Der Name Joan taucht öfter auf.“
Ich horchte auf. Joan? Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte Johnathan etwa Recht gehabt? Es erklärte zumindest ihr plötzliches Verschwinden. Ich hörte Whiseman weiter zu.
„Wir konnten durch gefundene Zeitungsartikel in Geltons Zelle diese Joan als eine Prostituierte identifizieren. Natürlich spurlos verschwunden, ist klar. Er hat sie mit Sicherheit gekauft. Auf jeden Fall hat er sie als Köder benutzt. Zu Geltons Freude schnappte die Falle zu. Dane hing schon nach kurzer Zeit an Joans Angel. Der Köder tat seine Arbeit. Sie muss eine gute Schauspielerin gewesen sein. An dieser Stelle kommen fünf Typen ins Spiel. Es waren wahrscheinlich die, die Dane in der Palloma Street so zusammengeschlagen haben. Dass sie pervers waren, brauche ich nicht zu erwähnen. Sie ließen sich sicher leicht im Milieu finden. Und gegen Geld vergisst man auch so manche Aufgaben eines schmutzigen Geschäfts. Der Köder lockte, der Fisch hing an der Angel, dann kam der Schlag mit der Keule, und alle glaubten, die Arbeit wäre erledigt. Das klappte auch. Doch jetzt bekommt die Sache einen Haken. Diese Joan, vermuten wir mal, rief dich des Nachts an“, und er zeigte auf mich. „Sie sendete einen Notruf aus. Vielleicht hatte sie kalte Füße bekommen. Vielleicht war sie auch nicht in die ganze Sache eingeweiht gewesen, ich meine, dass es ein Mord werden sollte. Vielleicht hatte man ihr gesagt, dass man ihm nur eine tüchtige Abreibung verpassen wollte. Irgendeinen Grund musste der Anruf ja haben. Leider fehlt uns von der Frau jede Spur. Fakt ist, dass Dane den Überfall überlebt hat. Gelton besorgte sich einen neuen Helfer, der Dane weiter beobachten sollte. Er wusste ja nicht, ob Dane reden würde. Dieser Informant schleuste sich als Aushilfe für die Essensausgabe ins Krankenhaus und lieferte weitere Informationen an den alten Gelton. Dann kam Dane in diese Klinik, und eine weitere Beobachtung wurde unmöglich. Jetzt kommt Rhyan ins Spiel. Von wem er allerdings eingekauft wurde, haben wir noch nicht herausgefunden. Es muss eine Menge Geld im Spiel gewesen sein. Ich weiß auch noch nicht, woher das Geld kam. Rhyan litt in letzter Zeit unter Spielschulden. Ich habe heute mit ihm gesprochen. Nach seinen Aussagen hatte er zu seinem neuen Arbeitgeber nur telefonischen Kontakt. Seine Aufgabe war es, zu berichten, was Dane so alles erzählte. Eine durchaus unkomplizierte und ungefährliche Aufgabe. Für schnell verdientes Geld kein Problem. Das ließ Rhyan also unwissentlich der Folgen in den Plan einsteigen. Er ahnte nicht, dass Mordabsichten dahinter steckten. Erst als er den Auftrag bekam, Dane mit einer Überdosis Morphium zu beseitigen, wollte er aussteigen. Doch dann habe man ihn übel bedroht. Als Gelton hier auftauchte geriet Rhyan in Panik. Er vermutete, dass sich weitere Männer von Gelton in der Nähe des Hauses aufhalten würden. Also griff er zur Spritze. Ein Behandlungsfehler war eher zu überstehen als ein Mordanschlag. Rhyan sitzt in Untersuchungshaft. Er ist zutiefst verwirrt. – Das war's.“
Wir schenkten uns ein Glas Gin ein und verdauten, was wir gehört hatten.
Es war nun unumgänglich anzunehmen, dass Dane Kontakt zu seinem Vater gehabt hatte. Das erklärte vielleicht auch seine Verschlossenheit. Im Grunde hatte er wie ein gehetztes Tier gelebt, während er uns täglich bei Laune hielt. Dabei hätte die Rollenverteilung umgedreht sein müssen. Was mich am meisten bestürzte war, dass ich nichts von alledem bemerkt hatte. Auch Johnathan nicht. Wie konnte Dane diese ganze Geschichte vor uns geheimhalten? Und warum, zum Teufel? Darauf konnte nur er eine Antwort geben. Und die wollte ich haben.
„Was wird weiter passieren?“, fragte ich.
„Wir haben zunächst die Waffe von heute auf Fingerabdrücke untersucht, um festzustellen, wer abgedrückt hat. Es war der alte Gelton. Er hat sich selbst erschossen.“
Ich glaubte, ein Zwinkern in Whisemans Augen zu sehen und atmete erleichtert auf.
Allerdings ließ mich der unvorstellbarer Gedanke, dass Dane und Will Gelton immer schon Kontakt hatten, nicht los.
*
Dane öffnete müde seine Augen.
Guten Morgen, begrüßte ihn das Loch.
Was willst du?, fragte Dane. Ich habe alles erledigt, was du mir gesagt hast.
Das hast du, in der Tat.
Also lass mich in Ruhe!
Du glaubst, du kommst mit dem bisschen Spektakel davon?
Ich denke schon. Ich werde jetzt ein neues Leben beginnen.
Ha, lachte das Loch. Das wirst du nicht schaffen.
Ich werde es dir beweisen.
Ich bin zu tief in dir drin, du wirst mich immer brauchen. Auch wenn du mit Sarah lebst.
Dane antwortete nicht.
Zwei Tage nach dem Zusammenstoß mit seinem Vater durfte Dane das Krankenzimmer verlassen, um zunächst wieder bei mir im dritten Stock einzuziehen. Wir hatten bisher noch nicht über das Geschehen gesprochen. Er war wieder völlig in sich gekehrt und unerreichbar. Er zeigte auch keine Ambitionen, ein Gespräch zu suchen.
Als wir die erste Nacht wieder gemeinsam in unserem Zimmer lagen, startete ich den ersten Versuch. Es war wie am ersten Kliniktag. Der Fortschritt war zum Rückschritt geworden.
Dane hatte sichtliche Schwierigkeiten mit seinen Gefühlen. Er tat wieder einmal das, was er am besten konnte – er schwieg. Ich sagte ihm, dass die Polizei auf ein Gespräch mit ihm warte. Da wären einige ungeklärte Dinge. Er winkte ab und sagte: „Später.“ Er musste erst einmal in Erfahrung bringen, wie die Dinge bei der Polizei um ihn standen. Was genau wussten sie?
*
Der nächste Morgen war drückend heiß. Das Klima machte uns beim Aufstehen schon zu schaffen. Ich hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen und mir viele Gedanken gemacht, wie ich am besten vorgehen könnte. Doch es kam mir keine Idee. Wir verbrachten auf Grund seiner Verletzung eine weitere Woche in der Klinik. Dane ließ sich auf kein Gespräch über seinem Vater ein, auch nicht mit Whiseman. Er behauptete, sein Vater wäre ein Spinner gewesen und der Kontakt hätte nie bestanden. Nicht von seiner Seite. Mehr war ihm nicht zu entlocken. Wir glaubten ihm, denn nichts gab uns den Anlass, das Gegenteil zu vermuten. Es gab keinen Hinweis von Dane auf einen Kontakt, nicht den geringsten. Das beruhigte mich irgendwie wieder. Das machte ihn wieder sauber für mich. Und Whiseman gab Ruhe.
Danes Wunde heilte schnell. Alles war schnell bei ihm. Selbst die Verarbeitung des Kampfes mit seinem Vater. Als ich ihn vorsichtig danach fragte, antwortete er nur, dass man nicht in alten Dingen herumwühlen sollte. Besser konnte er meine vielen Fragen nicht abschmettern. „Lass' es“, sagte er nur und sah mir dabei in die Augen. Da wurde mir klar, dass ich nichts ans Tageslicht befördern sollte, was alles noch komplizierter machen würde. Stattdessen warf ich ihm ein paar Turnschuhe vor die Füße und sagte: „Zieh die mal an, wir gehen joggen.“
Es wurde Zeit, ihn wieder körperlich zu mobilisieren.
„Nein“, war seine knappe Antwort.
„Doch!“, gab ich erbost zurück.
Dane sah meine böse Miene und kam der Aufforderung schließlich träge nach. Er konterte nicht mehr.
Zuerst liefen wir langsamen Schrittes der Klinik davon, bis ich an Tempo zulegte.
„Komm, mach' schon“, schrie ich ihn an. „Oder bist du zu schwach?“
Dane fühlte sich provoziert, er wurde schneller. Aus dem Laufen wurde ein leichtes Rennen, dann schneller. Sein Gesicht tauchte sich in Schweiß. Ich legte weiter an Tempo zu.
Der Weg am Wald entlang zum Fluss war angenehm zum Laufen. Ich schrie ihn wieder an: „Hey, was ist los? Ist das alles?“
Ich sah plötzlich, wie Dane an mir vorbeirannte, vom Weg ab und quer durch das Gestrüpp in den dichten Wald hineinlief. Ich war ihm wohl auf die Nerven gegangen und ließ ihn ziehen. Dabei schrie ich ihm hinterher: „Ja! Renn, was du kannst! Nur weg!!“ Das konnte er doch am besten!
Dane rannte. Seine Wunde brannte, Schweiß trat auf seine Stirn.
Es dauerte eine Weile, bis ich ihn im Wald fand. Er lag auf einer Lichtung in der Sonne, vollkommen nass. Er muss in den Fluss gesprungen sein. Sein Atem ging schwer. Ich legte mich neben ihn und ließ die Situation wirken. Ich schloss die Augen und dachte an Glendale. Wie gerne wäre ich jetzt ohne Sorgen in meiner Wohnung. Dane sah in den Himmel und schien nachzudenken, wie immer.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis ich vorsichtig begann, von Whisemans Mitteilungen zu erzählen. Dane erfuhr völlig unaufgefordert die Dinge, die er wissen musste, um keine falschen Aussagen zu machen. Der Name Joan fiel. Daraufhin erzählte er zum ersten Mal von seinem Überfall auf der Palloma Street, wie Joan ihn dorthin gelockt hatte und was ihm dort widerfahren war.
Er erzählte es völlig ungerührt, zeigte weder Hass noch Betroffenheit und beobachtete dabei den Lauf des Flusses. Als wenn er von einer angenehmen Erinnerung aus seinen Kindertagen erzählte.
In der Abenddämmerung machten wir uns auf den Weg durch das Dickicht des Waldes zurück zur Klinik.
*
Es wurde Zeit zum endgültigen Abschiednehmen – von dieser Zeit, von dieser Klinik, aber auch von Sarah. Die Polizei erwartete Dane in Los Angeles, um die letzten Unklarheiten zu beseitigen. Der Fall sollte schnellstens abgeschlossen werden, empfahl Whiseman. Mir war irgendwie nicht wohl bei der Sache. In mir schwirrte immer wieder diese Vorstellung im Kopf herum, dass Dane in Kontakt zu seinem Vater gestanden haben konnte. Aber ich fand keinerlei Indiz dafür. Was sollte ich wirklich glauben? Vielleicht war ich auch zu sehr von der Sache befangen und sah Hirngespinste. Mein Pragmatismus riet mir, die Dinge in sich ruhen zu lassen. Was auch immer vorgefallen war, es war vorbei. Doch mein Instinkt sagte mir, dass nichts vorbei sei.
In Sarah herrschte ein großes Durcheinander. Sie würde bald nach Denver zu ihren Eltern zurückkehren, und Dane musste sich in Glendale weiter um sein Lokal kümmern. Sie tauschten wie Teenager ihre Adresse und Telefonnummer aus. Der Abschied war beklemmend. Für Dane war es eine Katastrophe.
1993. Glendale / Kalifornien.
Johnathan war aufgeregt wie ein kleiner Junge. Er konnte es kaum erwarten, uns wieder in seiner Nähe zu haben. Er bereitete einen kleinen, herzlichen Empfang in dem Lokal für uns vor.
Wir fielen uns erleichtert in die Arme. Auch wenn Dane noch eine gewisse Zurückhaltung zeigte, so waren wir sicher, mit etwas Geduld und einer guten therapeutischen Begleitung bald den Freund wieder zu bekommen, den wir kannten und der nicht nur die Stimmung zu den Gästen brachte.
Wir irrten uns – leider. Dane hatte sich vollkommen verändert. Er war ernst und zurückhaltend geworden, ja manchmal sogar angriffslustig. Wir dachten an die Sache mit seinem Vater und gestanden ihm eine gewisse Eingewöhnungszeit zu. Er lehnte jede therapeutische Hilfe ab und kümmerte sich zunächst um einen neuen Ausweis und die namentliche Umschreibung des Lokals von Galloway auf Gelton.
Gelton, wie lange war das her?
Die Behörde stellte viele unangenehme Fragen wegen des Namenswechsels. Dane stand sie erstaunlich tapfer durch. Er krempelte seine ganze Vergangenheit wieder nach außen und erlangte auch bei den Behörden ein tiefes Mitgefühl, nicht aber das gesetzliche Recht, eine solche Fälschung begehen zu dürfen. So balancierte er am Rande einer Anzeige wegen Behördenbetruges, bis ihn ein Bericht von Roosevelt und mir schließlich vor den folgenschweren Schritten der Justiz rettete. Ich war immer schon gut im Verfassen verschleierter Berichte. Er bekam nur eine kleine, erträgliche Geldbuße in Höhe von 1500 Dollar.
Als Dane die Arbeit im Lokal wieder aufnahm, sah er sich einer völlig vernachlässigten Buchführung gegenüber. Er war wütend. Die Arbeit machte ihm keine Freude mehr. Das Leben in Glendale war vorbei, so auch die Lust an dem Lokal. Irgendwie fehlte ihm der Antrieb. Oder war es die Herausforderung? Fehlte ihm etwa sein Vater? Hatte dieser Kontakt doch bestanden? War es der Kick, den er in seinem Leben brauchte? Welche Bedürfnisse schlummerten in ihm? Wen würde er sich als nächsten suchen, um eine neue Herausforderung zu spüren? Steckte in Dane eine verborgene Lust zum Jagen von Menschen? Oder gar zum töten?
Ich wollte mich diesen Fragen nicht mehr stellen, aber mein Vertrauen zu Dane kam seit Whisemans Bericht ins Schwanken. Es war so ein Gefühl. Irgendwie passte die Geschichte von seinem Vater in das jetzige Bild von Dane hinein. Es war ohne weiteres für ihn möglich gewesen, diesen Kontakt komplett von uns zu isolieren. Die Gerissenheit dafür besaß er.
Ich redete mit Johnathan darüber. Er konnte sich derzeit an keine merkwürdigen Begebenheiten erinnern. Auch nicht an den Vorfall im Lokal, als Danes Vater aufgetauchte.
Ich dachte an die Morde, die Danes Vater vor neun Jahren begangen hatte. Eine unschuldige Familie war niedergemetzelt worden! Wer war sein angeblicher Komplize gewesen? Ich dachte an Vancouver, hat Ihr Freund niemals aggressives Verhalten gezeigt oder andere Menschen angegriffen? Wie gut kennen Sie Ihren Freund?
Ich schreckte schweißgebadet aus meinen Träumen hoch, nächtelang.
*
Dane telefonierte täglich mit Sarah, und seine Sehnsucht zu ihr wuchs ins Unermessliche. Es gab ihm aber nicht die Freude an seiner Arbeit zurück. Eine große Leere war in ihm, die selbst Sarah nicht füllen konnte. Die polizeilichen Untersuchungen, das erneute Aufrollen seiner Vergewaltigung auf der Palloma Street, der Tod seines Vaters und Rhyans Anklage machten ihm zu schaffen. Er durfte keinen Fehler bei seinen Aussagen machen.
Die Polizei kam in Stillstand bei ihren Ermittlungen. Man fand weder eine Spur von Joan noch von den Männern, die sein Vater bezahlt hatte. Will Gelton blieb als einzig gefasster Täter in den Akten. Und der konnte nicht mehr reden.
Whiseman hatte Dane weiterhin bezüglich des Kontakts zu seinem Vater befragt. Er gab nicht nach. Die Sache erschien ihm zu ungereimt, um die Akte zu schließen. Zu viele Details passten nicht zusammen. Dane wies jede Schuldzuweisung zurück. Er blieb bei seiner Aussage, dass sein Vater eben krank war. Das würden doch die Vorfälle auf der Farm, die Ermordung der Familie in Arizona und der Überfall auf der Palloma Street beweisen. Doch Whiseman jagte Dane an die Grenzen seiner Ruhe. Dane schrie ihn an. Zum ersten Mal erlebte er ihn so außer Kontrolle. Dane tobte und schlug einen Stuhl gegen die Wand und bedrohte Whiseman mit einem Stuhlbein. Da erst gab Whiseman Ruhe.
Es gab keinen Dane Galloway mehr. Vor uns stand Dane Gelton.
Hab ich dir nicht gesagt, dass dir etwas fehlen wird?, triumphierte das Loch. Wir gehören zusammen, ob du willst oder nicht.
Verschwinde!, schrie Dane und hielt sich die Ohren zu.
*
Bei uns allen war die Luft raus. Dane hatte seine Fröhlichkeit nun ganz verloren, Johnathan tat sein Möglichstes, und ich hatte große Probleme bei der Arbeit bekommen, weil ich kaum noch eine Nacht durchschlafen konnte.
Wir alle durchlebten eine große Veränderung. Dane hatte das Lachen zu uns gebracht und es nun wieder genommen.
Durch die Erschöpfung, mit der ich meine Arbeit als Chirurg wieder aufgenommen hatte, kamen große Konzentrationsschwächen bei mir auf. Zweimal während der letzten Wochen musste ich eine wichtige OP abbrechen und an den assistierenden Arzt übergeben. Ich begann, meine Fähigkeiten als Chirurg in Frage zu stellen und verlor an Autorität.
Dane und ich hatten vorübergehend den Kontakt verloren. Zur dieser Zeit verband uns plötzlich nichts aufregendes mehr. Wir hatten keinen Zugang mehr zueinander.
Doch eines Abends rief er bei mir an. Ihn hatte eine große Verzweiflung gepackt. Nicht minder, als meine bereits war. In diesem Zustand trafen wir uns wieder.
Dane hatte Gin mitgebracht, der etwas von unserer Beklemmung nehmen sollte.
„Komm, setz dich“, begrüßte ich meinen Freund. Dane wirkte ganz fremd auf mich. Noch fremder als in der Klinik.
Früher herrschte immer Entspannung und fröhliche Laune zwischen uns. Diesmal war es eine große Distanz. Ich wusste nicht, wie ich ihm begegnen sollte.
Wir nahmen stillschweigend gegenüber Platz. Der Gin symbolisierte die anstehenden Probleme, die ausgesprochen werden sollten.
Dane kippte das erste Glas herunter. Ich nippte es zur Hälfte leer, musste an meine Arbeit morgen früh um 5.30 Uhr denken. Wir schwiegen und warfen uns leere Blicke zu. Bis mir der Kragen platzte. „Was ist nur los mit dir?“ Ich sah ihn verbittert an. Er wusste, wovon ich sprach und wich meinem Blick aus. Ich stutzte, als er das zweite Glas mit einem Zug leerte. Es gab Momente, da ordnete ich das Leeren von Gingläsern einer gewissen Geselligkeit zu, diesmal ordnete ich es einer Depression zu. Ich fühlte mich genervt. Mein eigenes Leben entglitt mir wegen ihm, da forderte er mich schon wieder auf, ihm zu helfen. Ich dachte an unsere frühere Freundschaft, als wir keine Probleme hatten. Keine wirklichen. Vielleicht waren wir beide nicht auf Dauer für schwere Probleme geschaffen.
„Wenn du nicht redest, kann ich dir nicht helfen,“ sagte ich schließlich.
„Nein“, sagte er, „kannst du nicht.“
Mein Bein begann nervös zu wippen. „Warum kommst du dann hierher?“
Keine Antwort. Stattdessen ein drittes Glas Gin.
„Warum nimmst du keine therapeutische Hilfe in Anspruch?“, fragte ich weiter.
„Wofür?“
„Damit's dir besser geht?“ Ich fühlte Wut in mir aufsteigen.
„Quatsch!“
„Ich weiß, bei dir ist alles Quatsch, was die anderen sagen.“
Jetzt nahm Dane eine aggressive Haltung an.
Ich ließ die Situation kurz wirken. Wir waren beide an einem Punkt angekommen, an dem wir uns fragten, ob wir noch Freunde waren. Vielleicht war unsere Aggression gut. Ich überlegte, was ich eigentlich wollte. Plötzlich hörte ich mich sagen: „Ich würde gerne woanders neu anfangen. Erst mal ein langer Urlaub und dann alles ganz neu.“
Dane zuckte ratlos die Schultern. Seine Haltung entspannte sich wieder. Dann sagte er überraschend: „Ich würde Sarah gerne wiedersehen.“
Ich schaute hoch. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte, der Kontakt hätte sich längst erledigt, weil Dane kein Wort mehr über sie verloren hatte. In mir hellte sich etwas auf. Das war doch schon mal was. Es freute mich, dass Dane dieser Freundschaft eine Chance gab. Sie wären ein gutes Paar. Sarah bot sich geradezu ideal an, ihn zu führen. Sie war ruhig und geduldig. Sie würde ihm den Weg in ein neues Leben zeigen. Da war ich mir ganz sicher.
„Warum fährst du nicht hin?“, fragte ich sofort.
„Wegen Johnathan“, sagte er und trank ein weiteres Glas Gin. „Ich kann ihm nicht schon wieder alleine das Lokal überlassen. Nein, das kann ich nicht tun.“
Dachte er dabei wirklich an Johnathan oder an den finanziellen Verlust, den das Lokal erlitten hatte?
Ich nickte. Sie hatten sich beide in einem Dilemma von Pflichten festgefahren. So ist das eben manchmal im wahren Leben.
Dane trank ein weiteres Glas. Die Flasche leerte sich.
„Hör zu, Dane. Johnathan hatte das Lokal damals, als du im Krankenhaus warst, nur eine Woche geschlossen. Es würde doch funktionieren, richtige Betriebsferien anzukündigen. Für zwei oder drei Wochen. Dann setzt die Arbeit komplett aus, und Du könntest Sarah besuchen. Rede doch mal mit Johnathan. Und dann seht ihr weiter.“
Dane schwieg und dachte nach. Er wirkte selbstverloren und übernachtete bei mir auf dem Sofa. Er fuhr mit der Corvette nicht alkoholisiert.
*
Am nächsten Morgen sprach er Johnathan ohne Umschweife am Frühstückstisch an. Johnathan war entsetzt. Es machte ihm schon genug Angst, Dane in den letzten Wochen so anders zu erleben. Doch das, was er jetzt forderte, war nicht nur anderes, es war neu. Und undenkbar! Was sollte er mit Ferien? Er lehnte den Vorschlag rigoros ab, doch nachdem Dane sich bemühte, ihm die Hintergründe zu schildern, fand sein Vorschlag schließlich Gehör, und sie beschlossen, die Ankündigung heute noch an der Eingangstüre auszuhängen. Das Lokal sollte für zwei Wochen schließen.
Johnathan musste sich in nächster Zeit an viel neues gewöhnen. Es war im Grunde egal, wann er damit anfing.
Dafür blühte Dane auf. Er teilte Sarah am Telefon mit, sie besuchen zu kommen. Johnathan maß dem Ganzen eine gehörige Portion Misstrauen bei. Die Freude, die Dane fortan zeigte, machte ihn immer noch nicht zu dem, der er einmal war. In Johnathan braute sich ein ungutes Gefühl zusammen. Nicht so wie damals, als er Joan im Lokal sah. Diesmal war es Dane, der ihm Angst machte. Er konnte die Befürchtung nicht unterdrücken, dass die anstehende Veränderung größer werden würde, als er sich zu denken getraute.
Er stand bedrückt am Fenster, als Dane einen Koffer in seine Corvette packte. Seine Gefühle zu ihm hatten sich merklich verändert; das alte Vertrauen war weg. Fuhr er wirklich zu Sarah?
*
Das Gefühl die Corvette auf dem Highway auf Höchstgeschwindigkeit zu jagen, gab Dane Gelton erstmals wieder das Gefühl von Macht über sich selbst. Er genoss die Fahrt und freute sich auf Sarah. Sie war immer noch eine Patientin der Klinik, doch ihr Aufenthalt näherte sich dem Ende.
Die Anlage von Garden's Inn hatte an Schönheit nichts verloren. Die Blätter waren inzwischen herbstlich gefärbt, und es sah hinreißend aus. Und dann sah er sie, Sarah, und all seine Resignation der letzten Wochen verschwand. Er brachte den Wagen zum Stehen, stieß die Fahrertür auf und rannte auf sie zu. Sie fielen sich in die Arme und verschmolzen ineinander. Sie spürten die heiße Sehnsucht, die sie Wochen gefangen gehalten hatte und nun herauslassen konnten. Plötzlich hörte Dane von weitem seinen alten Namen Galloway.
Dr. Roosevelt kam herbeigelaufen. Beide ließen voneinander ab, und Dane drückte dem Arzt reserviert die Hand.
„Mr. Galloway! Wie schön, Sie hier zu sehen. Sie sehen gut aus! Wie geht es Ihnen?“
Dane wollte auf den falschen Namen hinweisen, unterließ es jedoch. Er hatte keine Lust, die alten Geschichten aufzurollen.
„Es geht so“, sagte er leise. „Ich wollte eigentlich Sarah besuchen.“ Er schaute sie an. „Gibt's hier in der Umgebung eine Möglichkeit zur Übernachtung?“
Sarah freute sich. Er wollte länger bleiben.
„Ach was, Sie sind mein Gast“, sagte Roosevelt kurzentschlossen. „Sie können hier ein Zimmer haben, wenn es Ihnen recht ist.“
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, aber ich werde es mir überlegen. Ich sage Ihnen nachher Bescheid.“
Roosevelt nickte freundlich und sah Sarahs flehenden Blick. Sie wollte alleine mit Dane sein. Er war schließlich kein Patient mehr.
Wo er in den letzten Wochen doch so wortkarg war, sprudelten die Worte plötzlich nur so aus ihm heraus. Er erzählte von seinen Problemen, die er in Glendale nicht mehr bewältigen konnte. Alles hatte sich seit dem Klinikaufenthalt verändert. Sarah erzählte von den neuen Patienten und dem neuen Pfleger, der Rhyan bei Weitem nicht das Wasser reichen konnte.
„Wie geht es ihm eigentlich?“, fragte sie.
„Als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er furchtbar abgenommen. Ich habe ihn zum Vorsprechen bei Richter Slinger getroffen, der seinen Prozess führen soll. Es war schon komisch ihn wiederzutreffen.“
Sarah nickte verständnisvoll.
Bei Einbruch der Dunkelheit entschloss sich Dane, das Angebot von Dr. Roosevelt anzunehmen und in der Klinik zu bleiben.
Es war merkwürdig, als er das Zimmer betrat, was seinem ersten Zimmer sehr ähnlich war.
Als er mit offenen Augen im Bett lag, fragte er sich zum ersten Mal, was Sarah eigentlich in diese Klinik getrieben hatte. Und warum war sie immer noch hier?
*
„Wir haben uns nie über den Vorfall mit Deinem Vater hier unterhalten, Dane“, sagte Sarah am nächsten Morgen.
Nein, hatten sie nicht.
„Lass es ruhen“, wehrte Dane ab. „Ich bin nicht so, wie du denkst.“
Sie spürte sofort seine Ablehnung. Also fragte sie behutsam: „Was denke ich denn?“
„Dass ich gewalttätig bin.“
„Bist du das nicht?“
„Sarah, es war eine Situation, die sehr schwer zu verstehen ist.“
„Dann erklär' sie mir.“
„Das ist eine zu lange Geschichte.“
„Du warst nicht nur gewaltsam, du warst grausam.“
Dane spürte Unbehagen aufkommen. Für solche Gespräche war er nicht gekommen. So sagte er: „Ich hatte nichts mehr unter Kontrolle. Du kennst nicht die Zusammenhänge. Ich kann es nicht so einfach erklären. Da ist etwas zwischen meinem Vater und mir vorgefallen, was diese Auseinandersetzung unumgänglich machte.“
Sie sah ihn an. Er fühlte sich aufgefordert weiterzusprechen: „Wenn ich mich nicht gewehrt hätte, hätte er mich umgebracht.“
„Auseinandersetzung nennst du das? Du hast dich nicht gewehrt, du hast angegriffen.“
„Er hat auf mich geschossen! Sollte ich ihm noch einen Schuss schenken?!“
Sie spürte seine aufkommenden Aggressionen. Er fühlte sich aufgebracht und redete weiter: „Es war mehr als eine Auseinandersetzung! Es war ...“ Er nahm plötzlich ihre eingeschüchterte Haltung wahr und holte sich wieder zurück. „Ich kann es nicht mehr rückgängig machen.“
Sarah senkte den Kopf. „Nein, das kannst du nicht.“
Dane sah sie erwartungsvoll an. „Aber wir können jetzt und hier neu anfangen.“
„Man kann nicht mit allem neu anfangen. Sicherlich mit so einigem. Aber manches ist so tief drin, dass es immer wiederkommen wird.“
„Mein Vater wird nicht wiederkommen.“
„Nein, dein Vater nicht.“
„Sarah, bitte. Ich bin nicht zu dir gekommen, um dich mit meinen Problemen zu konfrontieren. Die sind jetzt vorbei.“
Sarah war unnachgiebig. Sie war ein gebranntes Kind. „Nichts ist für immer vorbei. Alles wird wiederkommen.“
„Mein Vater nicht, versteh doch!“
„Ja, Dane, ich versteh, dein Vater nicht.“
Dane spürte wieder Zorn in sich aufsteigen. So hatte er sich die Zeit mit Sarah nicht vorgestellt. So hatte er sich Sarah überhaupt nicht vorgestellt. Seine Stimme wurde wieder lauter: „Was willst du von mir hören?“
Sie sah ihn an und blieb ruhig.
„Was kann ich tun?“, flehte er.
Es lag nicht in ihrer Absicht, sich wieder einem gewalttätigen Mann anzuvertrauen. Um das zu lernen, war sie hier in dieser Klinik.
Er ging auf Distanz und sagte plötzlich: „Darf ich dich wenigstens wieder anrufen?“
Jetzt war sie verwirrt. „Du willst wieder weg?“
Er nickte. „Es wird das beste sein. Es wird nicht funktionieren. Ich kann dir nicht ununterbrochen Erklärungen geben. Alles ist so, wie es jetzt ist.“
Jetzt bekam sie Angst. Hatte sie ihn mit ihren Vorwürfen verschreckt? Hatte ihre Mutter recht, als sie sagte, du wirst nie einen anständigen Kerl finden? Sie lenkte ein: „Vielleicht sollten wir versuchen, einfach ein paar schöne Tage miteinander zu verbringen. Es wird uns beiden guttun.“
Vielleicht sollte sie ihm eine Chance geben. Vielleicht war es zu früh und auch unfair, diese Beziehung schon zu beenden, bevor sie richtig begonnen hatte.
Dane reagierte unzufrieden, aber nickte. Er wollte so einen Vorfall nicht noch einmal mit ihr erleben.
*
Dane Erfindungsreichtum hatte schon immer alle überrascht. Diesmal überraschte er Sarah zum ersten Mal damit. Von morgens bis abends machte er mit ihr Ausflüge zu den schönsten Schauplätzen, die Dallas zu bieten hatte. Sie schlugen sich vom Communication Tower über John Neely Bryan´s Blockhütte bis hin zum John F. Kennedy Denkmal durch. Sie fanden gemütliche Restaurants zum dinieren und stille Parks zum Sonnen und Entspannen. Alte Farmen außerhalb der Stadt luden sie zu romantischen Picknicks ein und machten ihre Tage perfekt.
Sarah war überwältigt. Wie lange war es her, als sie so ein tiefes Glück gefühlt hatte? Sie tanzte durch die Felder wie ein kleines Kind und schmiss sich glücklich in das Heu der Ernte. Sie erzählte von ihren Träumen als Kind, auf einer solchen Farm einmal leben zu wollen. Dann liebten sie sich in einer alten, verlassenen Scheune und jagten durch die Wälder, als hätten sie etwas nachzuholen.
Zum ersten Mal bekam Dane das Gefühl, dass sich wirklich etwas veränderte. Sarah brachte ihn auf völlig neue Gedanken. Sie entführte ihn nicht nur in das Gefühl des vollkommenen Glücks, sie gab ihm Kraft und neue Lebenslust zurück. So etwas hatte er noch nie gespürt. So etwas reines und unverdorbenes, wo sein Leben doch immer von Dunkelheit und eiskalter Berechnung bestimmt war. Wie schön war diese Welt, die er mit Sarah erleben konnte. Er dachte auf einmal wieder an sein Elternhaus in Topeka, Valley Falls bei Jefferson in Kansas. Es stand leer mitten in den Feldern, solchen Feldern, die Sarah so sehr liebte. Die Farm war rechtmäßig sein Eigentum.
Die Tage gehörten Sarah, aber die Nächte gehörten ihm. Sie rissen ihn, seit er angefangen hatte, an die Farm zu denken, immer wieder in wilde Alpträume. Inwieweit war er überhaupt fähig, die Farm wiederzusehen? Sie hatte so ein großes Loch in seine Gefühle gerissen. Vielleicht war alles ganz anders, wenn Sarah dabei sein würde. Vielleicht würde alles besser heilen.
Dane dachte aber auch an das Lokal und Johnathan. Was war dieser Ort schon ohne das Spiel mit seinem Vater? Was war Johnathan schon als Freund, wo er doch nun Sarah hatte? Glendale war nicht mehr der Ort, an dem er leben wollte und Johnathan nicht mehr der Freund, den er um sich haben wollte. Jim? Der wusste überhaupt nicht mehr, was er wollte. Aber Kansas! Das konnte eine wirkliche Herausforderung werden!
*
Am nächsten Morgen wurde Danes Gang zum Frühstück von Mrs. Buit jäh unterbrochen. Sie wedelte mit dem Telefonhörer und winkte ihn zu sich. „Es ist Dr. Clark, Mr. Galloway.“
Sein alter Name begann ihn zu stören, ja fast zu verfolgen. Etwas verstimmt nahm er den Anruf entgegen. „Hallo, Jim, was gibt's?“
„Dane, es tut mir leid, wenn ich dich jetzt stören muss, aber ich bin ganz außer mir und dachte, ich muss es dir sagen.“
„Was, Jim? Was musst du mir sagen?“ Dane wurde nervös und dachte an Johnathan, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Oder hatte Jim etwas neues herausbekommen?
Ich schickte ihm eine ganz andere Nachricht durch den Hörer: „Rhyan hat sich heute Nacht in seiner Zelle erhängt. Mit einem Ledergürtel. Keiner weiß, wie er da dran gekommen ist.“ Ich war entsetzlich aufgeregt.
„Oh, mein Gott!“, entfuhr es Dane, und er bemerkte, wie Mrs. Buit erschrocken aufsah. Er musste jetzt unbedingt Fassungslosigkeit zeigen. Die Nachricht war zweifellos furchtbar, aber keineswegs überraschend für ihn. Rhyan wusste zuviel. Dafür hatte er ihm den Gürtel geschenkt. Eine kleine Hilfe, wie er nebenbei bemerkte. Für die Hose natürlich. Sie schlabberte um seinen mageren Leib.
„Jim, das tut mir entsetzlich leid. Was sagt Whiseman?“
„Tja, der Fall ist damit wohl komplett ad acta“, sagte ich. „Es wird jetzt keinen Prozess mehr geben. Vielleicht wusste Rhyan doch mehr, als wir vermuteten und hatte Angst. Wie sagt man so schön: Das war's.“
Dane fühlte sich gut. Die Sache mit der Spritze hätte nicht sein müssen.
„Wie geht es dir?“, fragte ich neugierig, um das Thema zu wechseln.
„Im Moment oder überhaupt?“
„Überhaupt. Im Moment geht es mir auch beschissen.“
„Ich denke, dass sich etwas verändern wird. Was und wie weiß ich noch nicht.“
Sarah kam die Treppe hinunter und sah Dane bei Mrs. Buit am Telefon. Schon das alleine beunruhigte sie irgendwie. Dane sah besorgt aus. Er führte kein entspanntes Gespräch. Auch, dass er sich wegdrehte, als er sie kommen sah, behagte ihr nicht. Sie ging forschen Schrittes auf ihn zu.
„Sarah kommt, Jim. Wir sprechen später. Ich komme in drei Tagen nach Hause. Grüße Johnathan von mir. Sag ihm, ich freue mich auf ihn.“
Noch ehe sie ihn erreichen konnte, legte er den Hörer auf und zwang sich ein gequältes Lächeln ab. Sie nahm seine Nervosität wahr. „Du schaust so komisch aus. Was ist passiert?“
Dane griff nach ihrem Arm und zerrte sie aus der Hörweite von Mrs. Buit. „Sarah, ich habe gerade eine sehr schlimme Nachricht erhalten.“
Sarahs Augen weiteten sich. „Was ist los?“
„Jim hat mich gerade angerufen. Rhyan ist tot. Er hat sich in der Zelle erhängt.“
Sie war auf alles Mögliche gefasst, aber dass es Rhyan betraf, den sie so gemocht hatte, schockierte sie zutiefst. Sie wollte etwas sagen, aber sie sah nur mit einem betretenen Blick zu Boden. Sie spürte seine Hand an ihrer Wange. Seit Dane in diese Klinik gekommen war, hörten die Grausamkeiten nicht auf.
Beiden war der Appetit vergangen. Sie tranken nur Kaffee und redeten nicht miteinander. Dane war durcheinander. Heute sollte eigentlich ein ganz besonderer Tag werden. Sarah sollte von seiner Vergangenheit erfahren, zumindest einen Teil davon. Auf jeden Fall hatte Rhyan nicht in diesen Tag gehört. Er ärgerte sich, dass er es ihr erzählt hatte. Die Nachricht von seinem Tod brachte ihre Gefühle sichtlich durcheinander. Sie war nicht mehr belastbar. Das ärgerte ihn noch mehr. Er war wütend, während sie traurig war. Danes Plan fiel ins Wasser. Sie teilten Roosevelt die Nachricht von Rhyans Tod mit und schlichen wie nasse Katzen durch das Klinikgelände. Dane versuchte, mit Sarah zu trauern, aber es war ihm unmöglich. Er fand es äußerst anstrengend, sie so still neben sich ertragen zu müssen. Sie musste lernen, dass das Leben mit ihm kein Zuckerschlecken war.
In der folgenden Nacht schlief er wieder unruhig. Wollte er mit Sarah wirklich leben? Was konnte sie überhaupt ertragen? Hatte das Loch recht, dass sie Gift für ihn war?
*
Sarah fröstelte es am nächsten Morgen. Dafür kam Dane frohgelaunt die Treppe hinunter. Er sah kurz zu Mrs. Buit. Sie war beschäftigt und hatte keinen Anruf für ihn. Das war auch gut so.
Er hatte sich in dieser Nacht genau überlegt, was er Sarah erzählen konnte und was nicht. Er organisierte in der Küche einen Picknickkorb und begleitete sie zum Wagen.
„Wohin geht's? Was hast du vor?“, fragte Sarah. Dane lächelte sie nur an.
Es trieb ihn in die Einsamkeit, die er brauchte, um das zu regeln, was für ihn einmal von größter Bedeutung werden sollte. Er fand ein entlegenes Waldstück und stellte seinen Wagen unter eine alte Eiche. Dann öffnete er ihr wohlerzogen die Beifahrertür.
„Was hast du vor?“ Sarah war ungeduldig wie ein Kind. Sie genoss seinen Einfallsreichtum jeden Tag aufs Neue und hoffte so inständig, dass er anders sein würde, als ihr erster Ehemann. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart wie eine Blume, die ihre Blüten entfaltete.