XIII
Die drei saßen in ihrer Kammer, die Tür gut verriegelt. Sie berieten, was zu tun war und dabei konnten sie keine Zeugen gebrauchen. Eviana war kaum zu beruhigen. Unauffällig hatten sie sich umgehört und so in Erfahrung gebracht, dass für den nächsten Tag eine Hinrichtung geplant war. Der König hatte herausgefunden, dass sich eine Verschwörung der Brahmen anbahnte und so wurden nicht mehr nur Zauberer und Gesindel erbarmungslos aufgegriffen. Auch gegen die Brahmen wurde mit harter Hand vorgegangen, wenn sie sich auch nur kleinste Vergehen zu Schulden kommen ließen. Gefangene wurden in die Kerker der Stadtwache gebracht. Doch da die voll waren, gab es regelmäßig Hinrichtungen. Um die Brahmen zur Vernunft zu bringen, wurden an ihnen Exempel statuiert. Deswegen rechneten die drei fest damit, das Golly und seine Familie in größter Gefahr schwebten und dass sie sie vor morgen Mittag retten müssten. Auch Rolf war nicht so gelassen wie sonst. Ihm war aufgefallen, dass in der Stadt viel mehr Soldaten des Königs patrouillierten als sonst. Es hielt sich auch hartnäckig das Gerücht, dass Isidor in der Stadt weilte, auch wenn ihn noch niemand gesehen hatte. Rolf hatte ein schlechtes Gefühl und seine Intuition, die Intuition eines fünf Sterne Zauberers, hatte ihn noch selten getäuscht.
“Ich muss das Artefakt holen. Das ist wichtiger als alles andere. Ich verstehe ja, dass du dich um deinen Freund kümmern musst, aber meine Aufgabe ist das Artefakt. Das Schicksal aller Zauberer und auch das Schicksal Alusias hängt daran.” Eviana nickte verständnisvoll.
“Ja, und auch das Schicksal der Elfen. Aber ich kann Golly nicht im Stich lassen. Er würde dasselbe für mich tun.” Cedric hatte einen Vorschlag:
“Die Hinrichtung findet morgen Nachmittag statt. Noch wissen wir nicht sicher, ob Golly überhaupt in so großer Gefahr ist. Ich schlage vor, Eviana und ich kundschaften das aus und gehen dort schon mal hin. Ihr Rolf, kümmert euch um das Artefakt. Sobald ihr es habt, kommt ihr zu uns, wir befreien Golly und seine Familie, wo immer sie auch sind, und machen uns dann so schnell es geht aus dem Staub.” Rolf und Eviana nickten. Das war einen Versuch wert. Cedric und Eviana würden bei der Rettung des Horns wahrscheinlich kaum eine Hilfe sein, womöglich wären sie Rolf nur ein Klotz am Bein. Indem sie die Lage von Golly klärten, würde es ihnen später leichter fallen, ihn zu retten.
“Gut, dann lasst uns jetzt ruhen, es wird eine kurze Nacht. Sobald es dämmert machen wir uns an die Arbeit.”
Rolf hatte seinen Wintermantel in die Kutte eines Mönchs verwandelt. Die Stadt lag ruhig da, die meisten Bewohner schliefen noch. Er hatte sich die Kapuze der Kutte tief ins Gesicht gezogen und seinen Zauberhut darunter verborgen. So schlurfte er langsam und unauffällig durch die Straßen Wahlingens, geradewegs zum Dom. Auch der Dom war um diese Stunde verlassen, das Haupttor noch verschlossen. Aber eine der Seitentüren war bereits geöffnet und als er eintrat sah er, dass einige ältere Frauen bereits in den Kapellen knieten und beteten und Kerzen anzündeten um ihre Gebete zu verstärken. Er ließ sich auf einer der Bänke nieder, faltete die Hände zum Gebet und spähte unter seiner Kapuze hervor. Er musterte den Dom. Es war eine gewaltige Kirche, aber er hatte genaue Anweisungen, wo er das Horn finden würde. Zu seiner Rechten befand sich die Kapelle des Ritters Kurt von Holtrup. Es war eine kleine, fast schmucklose Kapelle. Er sah einen einfachen Altar, ein Kruzifix darüber. Die Figur des Jesus war nicht sehr kunstvoll gearbeitet. Der Ritter war kein ausnehmend wohlhabender Mann gewesen, Bilder und weitere Skulpturen waren nicht zu sehen. Rolf wusste, an der Rückseite des Altars würde er einen losen Stein finden. Dahinter war ein Hohlraum und darin musste sich das Horn befinden. Rolf wartete. Er wollte sicher sein, dass ihm niemand gefolgt war. Ein Kind betrat die Kirche und setzte sich ebenfalls auf eine der Bänke zum Gebet. Nach und nach kamen weitere Menschen herein. Rolf war überrascht, dass sich der Dom schon so früh füllte. Sein mulmiges Gefühl wollte nicht verschwinden. Er hätte lieber sofort zu dem Altar gehen sollen. Rolf überlegte fieberhaft, wie er es nun unauffällig anstellen könnte. Es kam noch eine erwartete Schwierigkeit hinzu. Die Artefakte waren Zaubergegenstände, geladen mit stärkster Zauberenergie. So einen Gegenstand konnte er nicht einfach schrumpfen. Er wusste nicht genau, wie groß das Horn war, aber er würde es in seiner vollen, natürlichen Größe tragen müssen. Und natürlich durfte niemand sehen, dass er den Dom mit einem Horn verließ. Wurde er des Diebstahls bezichtigt, wäre er schneller in den Klauen der blauen Soldaten, als ihm lieb wäre. Er brauchte einen Plan und zwar jetzt. Zu allem Überfluss spürte Rolf, dass er nicht der einzige Zauberer in der Kirche war.
Eviana und Cedric hatten sich schnurstracks zur Stadtwache begeben. Dort im Kerker musste Golly sein. Der Platz vor der Wache war leer, nur am Tor standen zwei Soldaten des Königs, mit langen Piken in der Hand und hielten Wache.
“Wir müssen mit Golly reden. Wir müssen rausfinden, was sie mit ihnen vorhaben. Nur wie?” Eviana war aufgeregt und verzweifelt.
“Rolf hat mit mir, als ich im Kloster war, mittels Gedankenkraft gesprochen. Du bist doch eine Zauberin, kannst du das nicht auch?”
“Nein, nein, Gedankenlesen ist ein mächtiger drei Sterne Zauber. Das liegt weit jenseits meiner Möglichkeiten.” Die beiden gingen in eine Nebenstraße und dachten nach. Sie folgten der Straße, sie machte einen Knick. Gedankenverloren gingen sie weiter.
“Eviana, schau mal.” Fragend sah sie Cedric an.
“Die Straße führt an der Rückseite der Stadtwache vorbei. Und hier ist niemand.” Ihr Interesse war geweckt. “Vielleicht können wir von hier aus hineingelangen. Meist sind Kerker ja eher gegen Ausbrüche gesichert, nicht so sehr gegen Einbrüche.” Eviana nickte eifrig und sie suchten nach offenen, unvergitterten Fenstern oder unverriegelten Türen. Doch die gab es nicht. Erschöpft und enttäuscht hockten sie sich an die Wand der Wache.
“Was machen wir jetzt nur?” Eviana schlug wütend über ihre Ohnmacht mit der flachen Hand auf einen der Gitterstäbe, die neben ihnen den Zugang zu einem Kellerfenster versperrten. Ein metallenes Dröhnen folgte. Einige Sekunden später kam ein ähnliches Dröhnen als Antwort von unten.
“Was war das?”, fragte Cedric.
“Da muss jemand sein”, frohlockte Eviana. Sie schlug zweimal auf die Gitterstäbe. Jemand antwortete ebenfalls mit zwei Schlägen. Eviana legte sich flach auf den kalten Boden und steckte den Kopf zwischen die Stäbe.
“Hallo, ist da wer?”
“Ja. Hier ist jemand. Wer ist da?” Evianas Herz schlug ihr bis zum Hals, sie hätte am liebsten laut gejubelt. Diese Stimme kannte sie und würde sie ihr Leben lang nicht vergessen.
“Golly, bist dus?” Keine Antwort. Dann doch.
“Eva Lotta? Bist du es wirklich? Oder träume ich?” Cedric schaute schräg von der Seite.
“Wer ist Eva Lotta?”
“Golly, oh, Golly, ich freue ich so, dass wir dich gefunden haben.” Schnell schilderte Eviana die Begegnung vom Vorabend.
“Was geschieht mit euch?”
“Das haben sie uns nicht gesagt. Aber ich habe einiges aus den Unterhaltungen der Wachen herausgehört. Ich fürchte, sie planen uns heute Mittag auf dem Marktplatz zu richten. Eva Lotta, wenn ihr uns retten wollt, kommt ihr am besten dorthin und helft uns dort zu entkommen.” Golly schien keine Angst zu haben. Er war schon immer ein mutiger Junge gewesen. Eviana bewunderte ihn. Hätte sie in so einer Zelle gesessen und auf ihre Hinrichtung gewartet, sie wäre wahrscheinlich nicht mehr ansprechbar gewesen.
“Eins müsst ihr noch wissen.” Eviana horchte gespannt.
“Ja?”
“Rangy ist auch hier.” Eviana jubelte innerlich.
“Super, dann wird er uns helfen.” Plötzlich schwand ihr Jubel. “Oder ist er auch bei euch im Kerker?”
“Nein, das nicht. Eva Lotta, Rangy hat sich verändert, seit du geflohen bist. Er ist gefährlich. Ihr müsst vor ihm auf der Hut sein. Er kann zaubern.”
Cedric stieß sie unsanft
an.
“Schnell, komm hoch, ich höre Schritte.”
Kaum stand Eviana wieder auf ihren Beinen, kam eine der Wachen um
die Ecke.
“Kinder? Was macht ihr da? Warum treibt ihr euch hier rum? Die Stadtwache ist kein Ort zum Spielen. “Die zwei liefen so schnell sie konnten davon und der Wächter, dem noch die Nacht in den Beinen steckte, machte keine Anstalten ihnen zu folgen. “Kinder”, sagte er stattdessen laut zu sich selbst, schüttelte den Kopf und setzte seinen Rundgang fort.
Rolf ging wie beiläufig zur Kapelle des Ritters von Holtrup. Er kniete sich auf den Steinfußboden vor den Altar und betete. Er hatte sich darauf verlassen, dass um diese Zeit die Kirche leer war. War sie aber nicht. Er hatte keine Wahl. Er glitt nach vorne und kauerte sich hinter den Altar. Er konnte nicht sehen, ob einer der anderen Besucher etwas bemerkt hatte. Behutsam tastete er die Altarsteine ab. Da war der lockere Stein. Langsam zog er ihn heraus. Geschafft. Er fühlte in den Hohlraum. Da war das Horn. Leider war es noch größer als er erwartet hatte, mehr als eine Elle lang. Es war auch kein Trinkhorn, wie der Zauberrat vermutet hatte, sondern ein Horn, mit dem man Musik machte. Erfreulicherweise war ein Lederband dabei, mit dem er sich das Horn um den Hals hängen konnte, was er auch sofort tat. Rolf wollte den Stein zurück in den Altar legen, als er glaubte, seinen Sinnen nicht mehr trauen zu können. Vor seinen Augen verwandelte sich der Stein in eine Giftschlange. Rolf war ein wenig furchtsamer Mann, doch wenn er vor irgendetwas Angst hatte waren es Spinnen und Schlangen. Mit einem Schrei sprang er auf. Alle Augen hefteten sich auf ihn. Mit zwei großen Sätzen ließ er Altar und Schlange hinter sich, sah aber auch, dass vier Gestalten mit dunklen Mönchskutten auf ihn zu kamen. Und da war noch jemand, ein Kind, das einen Zauberhut trug. Obwohl sie in einer Kirche des Herrn waren, zogen die vier Mönche Schwerter. Das waren sicherlich keine Mönche. Rolf schleuderte ihnen Luft entgegen, die die vier zu Boden warf. Er sprintete auf die nächstgelegene Tür zu. In seinem Gehirn ratterte es. Ein Kind mit einem Zauberhut? Er kannte keinen Zauberer in dem Alter, der schon eine der Prüfungen bestanden hatte. Das musste ein ein Sterne Hut sein. Er sah echt aus. Also war das ein dunkler Zauberer, ausgebildet von einem der Zauberer der bösen Seite der Energie. Endlich hatte er die Tür erreicht. Die vier Männer hatten sich derweil wieder aufgerappelt und die Verfolgung fortgesetzt. Vor seinen Augen verwandelte sich die Tür in einen ausgewachsenen Löwen. Rolf hatte mit so etwas gerechnet. Der kleine Zauberer würde versuchen, ihn mit Verwandlungszaubern zu stoppen. Rolf gedachte das zu seinem Vorteil zu nutzen. Er wandelte die Schwerter seiner Verfolger in Stücke blutigen, rohen Fleisches. Der Löwe leckte hungrig sein Maul und sprang auf die Verfolger zu, um gierig nach den Fleischstücken zu schnappen. Die vier Männer suchten ängstlich das Weite. Rolf rannte auf den Platz vor dem Dom. Er hatte sich inzwischen mit Menschen gefüllt. Der junge Zauberer ließ sich nicht so leicht abhängen. Was noch viel schlimmer war, er hatte das Horn gesehen. Die Lage drohte zu eskalieren, er musste so schnell es ging die Stadt verlassen. Während des Hindernislaufs durch die Menge erhob er seine Hand, sammelte Energie und stieß Nebel auf seinen Verfolger. Ohne jede Sicht war der gezwungen, seine Jagd einzustellen. Auch Rolf blieb stehen, schloss die Augen, konzentrierte sich und war Augenblicke später wie vom Erdboden verschwunden.
“Wie meint ihr das, entkommen?” Riedrich zuckte mit den Schultern.
“Es ist unverzeihlich eure Obrigkeit. Er hat einen Löwen auf meine Männer gehetzt. Sie liefen um ihr Leben.”
“Von Reußen, ihr habt doch selbst einen Zauberer dabei gehabt. Hat er euch nicht helfen können?” Isidor zuckte bei dem Wort Zauberer wieder einmal nervös mit seiner Nase.
“Euer gnädigster Gewichteter, der hat doch den Löwen erst herbeigezaubert.” fistelte Riedrich.
“Oh.” Rangard, ganz in schwarz gekleidet, hatte bisher schweigend daneben gestanden.
“Herr, dieser Zauberer hatte mindestens fünf Sterne. Er war mir kräftemäßig bei weitem überlegen. Verzeiht meine Schwäche.” Der Großinquisitor hatte sich von seinem unbequemen Stuhl erhoben, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und eilte rastlos durch den Raum.
“Junger Zauberer, euch trifft keine Schuld. Aber bestellt eurem Großmeister einen schönen Gruß und fragt ihn, ob es wirklich so eine ausgezeichnete Idee war, einen eine Sterne Zauberer gegen einen Fünf Sterne Zauberer ins Feld zu schicken.” Rangards Miene verfinsterte sich. Er traute sich durchaus zu, höherklassige Zauberer zu besiegen. Dass er erst ein Zauberer der Stufe eins war, war ganz und gar der Zeit und dem Stand seiner Ausbildung geschuldet. Er war überzeugt davon, einst der mächtigste Zauberer der Welt zu werden. Für Isidor und die anderen Menschen hatte er nur Verachtung übrig. Es würde der Tag kommen, an dem sie alle nach seiner Pfeife tanzen würden.
“Natürlich, ich werde eure Botschaft überbringen.” Isidor raufte sich die Haare.
“Habt ihr denn wenigstens herausbekommen, was er im Dom wollte?” Riedrichs Gesicht hellte sich auf.
“In der Tat, Größtinquisitor. Er hat ein Horn gesucht und gefunden.”
“Ein Horn? Was will der Mann mit einem Horn?” Rangard schaltete sich ein.
“Es ist das Horn von Alusia. Eines der sieben magischen Artefakte.” Isidor setzte sich.
“Eines der Artefakte”, murmelte er vor sich hin. “Es war so nah.. Wir müssen es ihm abnehmen.”
“Ich fürchte dazu ist es zu spät, erhabener Inquisitorius. Er ist weg. Und wir haben keinerlei Ahnung wohin.” Isidor grübelte, dann begannen seine Augen feurig zu leuchten.
“Er ist doch allein im Dom gewesen, oder? Und allein verschwunden? Wo sind denn seine beiden kindlichen Gefährten? Vielleicht sind die noch in der Stadt?” Nun hellten sich auch die Gesichter seiner Kumpane auf.
“Durchkämmt die ganze Stadt, sucht und findet die Kinder und bringt sie zu mir.”