I

Eva Lottas gleißend blaue Augen bohrten sich in den Punkt, der sich schnell auf sie zu bewegte. Noch konnte sie nicht unterscheiden, ob es ein Mensch oder ein Tier war. Es war schon Mittag. Rehe sah man zu dieser Zeit normalerweise nicht mehr. Hatte jemand ein Wildschwein aufgestöbert? Dazu bewegte sich der Punkt zu gradlinig.

“Golly, Rangy, schaut mal.” Die beiden Jungs unterbrachen ihre Arbeit an dem Baumhaus und blickten in die gleiche Richtung wie Eva Lotta.

“Ich sehe nichts.” Golly war einen Kopf größer als Eva Lotta und überragte auch Rangy deutlich. Für sein Alter war er erstaunlich stark. Weil er schon bei seiner Geburt groß und schwer gewesen war, hatten seine Eltern ihn Goliath getauft. Aber seine beiden Freunde nannten ihn nur Golly. Nur Kraft und Größe verbanden ihn mit dem biblischen Riesen. Ansonsten war er von sanftem, manchmal einfachem Gemüt. Scharfsichtigkeit hatte ihm noch niemand nachgesagt.

“Du blindes Huhn. Das ist ein Wildschwein.” Auch Rangy war kleiner als Golly, aber er glich die fehlende Kraft durch Geschicklichkeit und Pfiffigkeit mit Leichtigkeit aus.

“Jetzt sehe ich es auch. Wie ungewöhnlich. Es schlägt kaum Haken?” Eva Lotta flocht weiterhin aus jungen Zweigen eine Wand ihres Baumhauses. Sie war überaus geschickt darin, auch deswegen, weil sie zu Hause stundenlang Körbe flechten musste. Doch das war noch eine ihrer liebsten Arbeiten.

“Das Schwein möchte sich sicherlich zum Essen anbieten, schaut nur, hinter ihm ist noch ein Punkt.”

“Wo?” Golly hielt nun eine Hand über seine Augen, aber das half nichts, schließlich stand die Sonne hinter ihnen.

“Golly, vergiss es, du wirst es erst sehen, wenn es dich umläuft.” Rangy machte häufig Scherze auf Gollys kosten. Golly machte das aber nichts aus, denn das führte nur dazu, dass Eva Lotta Mitleid bekam und sich auf seine Seite stellte, was er sehr genoss. Die drei Freunde waren unzertrennlich, aber das Band zwischen Golly und Eva Lotta war noch etwas dicker.

“Lass ihn, er hänselt dich auch nicht dafür, dass du so ein Handtuch bist. Ohne Golly hätten wir die dicken Äste niemals hier heraufbekommen.” Das Baumhaus war fast fertig. Fast den ganzen Sommer hatten sie daran gebaut. Die drei saßen in fast fünf Metern Höhe in einer großen Eiche. Eva Lotta hatte es mit vielen frischen Ästen, an denen das Laub noch grün war, verkleidet und es war vom Boden aus nicht zu erkennen. Es war ihr Geheimversteck. Hier konnten sie sich ungestört treffen. Eva Lotta lebte bei ihrer Pflegefamilie. Über ihre leiblichen Eltern wusste sie nichts. Und ihr Stiefvater erzog sie streng. So streng, dass ihr manchmal nur die Flucht in den Wald, in ihr Baumhaus, blieb. Golly war der einzige Sohn seiner Eltern, die ihn mit viel Liebe erzogen. Doch da seine Auffassungsgabe nicht die schnellste war, setzte er sich oft dem Spott der anderen Dorfkinder aus. Noch war er erst neun. Später würde er sich dank seiner Größe mit Leichtigkeit wehren können, aber noch musste er die größeren Kinder meiden und flüchtete ebenfalls oft in den Wald.

“Jetzt müsstest du es aber auch sehen. Hinter der Wildsau läuft ein Mensch. Oh, ist der hager. Er hat einen Bogen in der Hand.”

“Stimmt. Und es ist kein Jäger des Königs. Er ist allein, seine Kleidung ist einfach. Oh nein, das darf er nicht.” Eva Lotta schlug die Hand vor den Mund. Im Wald des Königs ein Tier zu schießen war Wilderei, darauf stand eine schwere Strafe.

“Und trotzdem wird es immer wieder gemacht. Das Fleisch ist so wertvoll wie ein halbes Jahr Arbeit auf dem Feld. Es ist einfach zu verlockend.” Eva Lotta wusste das auch, aber sie hatte die Geschichten von den armen Unglücklichen noch im Ohr, die bei der Wilderei im Forst des Königs erwischt worden waren. Sie wurden durch das Dorf getrieben und zur Abschreckung vor den Augen der anderen Bewohner schwer bestraft. Man stieß sie in den Misthaufen, stellte sie dann den ganzen Tag, in beißender Sonne, auf dem Dorfplatz aus und schließlich landeten sie im muffigen Burgverließ, wenn ihnen nichts Schlimmeres geschah. Ihre Familien sahen sie jedenfalls nie wieder.

Rangard hatte nicht nur hervorragende Augen, er verfügte auch über eine exzellente Beobachtungsgabe.

“Es gibt im Dorf nur einen, der so läuft. So dürr, leicht gebeugt, das muss der Forkner sein.” Jeder im Dorf kannte den Forkner, denn er hatte sieben Kinder, mehr als jeder andere. Seine Frau war liebreizend und zu jedermann nett. Seine Kinder waren sieben kleine, wenn auch sehr laute und eigensinnige Sonnenscheine. Auch er selbst war sehr beliebt. Doch sie hatten wenig Land, denn er war zugezogen und seine Frau hatte noch drei Brüder und somit nur ein kleines Lehen geerbt. Das wenige Land reichte in einem normalen Jahr gerade so, die Münder zu stopfen. Doch dieses Jahr war es im Sommer sehr trocken gewesen und die Getreideernte war entsprechend dürftig ausgefallen. Sicherlich versuchte er hier im Wald zusätzliche Vorräte zu beschaffen, damit sie im Winter nicht hungern mussten. Die drei Kinder drückten ihm die Daumen, dass er das fette Schwein erwischte. Nun legte er an und schoss, doch im letzten Moment schlug die Sau einen Haken. Der Forkner bewies großes Geschick, es gehörte eh schon einiges dazu, einem flinken Tier wie einer Wildsau zu Fuß so nahe zu kommen. Auch Mut gehörte dazu, denn so eine Sau konnte einem Menschen auch gefährlich werden. Diese aber war nun in Panik.

“Er ist bestimmt mit den Elfen verwandt, so geschickt wie er jagt.” Golly schaute ihm mit großen Augen zu.

“Den Elfen? Du hast wirklich viel Fantasie. Das sind doch nur Sagengestalten. Das gibt’s doch gar nicht. Er ist einfach gut im Training. Ich wette, der jagt hier häufiger.” Rangard hatte nichts übrig für Träumereien. Er wusste, was er konnte und er war ehrgeizig. Er wollte nicht träumen, er wollte erreichen und machen. Das Tier rannte in einem Bogen um den Baum, in dem das Baumhaus thronte. Der Forkner hatte seinen Weg vorausgeahnt und war wieder in Schussposition. Eva Lotta und Golly hielten gespannt den Atem an. Rangy schloss die Augen und konzentrierte sich. Auch er gönnte dem Mann die Beute. Und er empfand eine animalische Freude bei dem Gedanken, dass er das Schwein erwischen würde. Das musste ein uralter Jagdinstinkt sein, der sich da in ihm Bann brach. Er stellte sich vor, wie der Pfeil den Bogen verließ und nach kurzem Flug das Wildschwein traf. Er stellte sich das mit aller Intensität vor, derer er fähig war. Er öffnete die Augen. Das Schwein schlug wieder einen Haken. Der Pfeil, den der Forkner soeben abgefeuert hatte, würde es wieder verfehlen. Rangy fixierte den Pfeil.

“Ich befehle dir, nach links zu fliegen”, dachte er angespannt. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, obwohl es nicht übermäßig heiß war. Ein Ruck ging durch den Pfeil, er änderte seine Flugbahn und traf die Sau, die in vollem Lauf zusammenbrach. Sie sahen, wie der Forkner jubelte. Doch seine Freude war nicht von langer Dauer. Auch Eva Lotta und Golly blieb nicht viel Zeit, sich über die ungewöhnliche Flugbahn des Pfeils zu wundern. Sie waren so auf die Jagd fixiert gewesen, dass sie nicht bemerkt hatten, dass eine kleine Reiterschar eingetroffen war. Ohne jeden Zweifel waren das Reiter des Königs. Sie trugen das blaue Wams mit dem goldenen Wappen und teure Hüte mit weißen Federn. Sie waren zu fünft. Einer stach heraus, er war ganz in Gold gekleidet und schwang ein Schwert, das in der Sonne blinkte. Er war es auch, der voranritt und am lautesten schrie. Dabei schwankte er seltsam in seinem Sattel. Ein guter Reiter war er wohl nicht. Was genau er sagte, konnten sie in ihrem Versteck nicht hören, aber seine Gestik war eindeutig. Die Männer hatten den Wilderer auf frischer Tat ertappt und wollten ihn nun zur Strecke bringen. So geschickt der Forkner eben noch dem Schwein gefolgt war, so geschickt floh er nun vor den Männern des Königs. Doch der Wald war hier licht und bot den Reitern wenig Hindernisse und dem Mann wenig Deckung. Gegen fünf Reiter war er chancenlos. Rangy wachte auf wie aus einem leichten Schlaf. Er konnte kaum fassen, was er soeben getan oder besser, gedacht hatte. Er hatte den Pfeil mit der Kraft seiner Gedanken ins Ziel gelenkt. Und er hatte das nicht einmal bewusst gemacht. Was war das für eine Kraft? Wer war er? Was hatte seine Gedanken gelenkt? Eine Sekunde lang gruselte es ihn vor ihm selbst, bis er die Situation, in der sich der Forkner nun befand, erfasst hatte. Sein Herz schlug nun schneller, so wie auch die seiner Freunde. Ihr Baumhaus bot eine gute Deckung, doch Gnade ihnen, die Reiter würden auch sie entdecken. Die Dorfkinder wurden nicht gern gesehen im Wald des Königs. Noch waren sie voll und ganz auf den Forkner fixiert, doch wenn sie den erst mal erwischt hatten? Und dass sie ihn erwischen würden, daran zweifelten sie nicht. Doch plötzlich war der Forkner verschwunden.

“Wo ist er hin?”, flüsterte Golly. Auch Eva Lotta blinzelte überrascht, traute sich aber nicht zu sprechen.

“Er hat sich in den Busch dort gerollt. Und wie geschickt er ist. Der macht das nicht zum ersten Mal. “ Auch Rangy sprach so leise er konnte und strich sich mit der Hand nervös durch seine schwarzen Locken. Die Männer des Königs schienen ihn aus den Augen verloren zu haben. Der Mann in der Goldkleidung versuchte von seinem Pferd zu steigen. Dabei blieb er mit einem Fuß im Steigbügel hängen und fiel wie ein Sack Mehl der Länge nach auf den Boden. Mühsam rappelte er sich wieder auf und befreite sich von den Blättern, die an ihm klebten. Seine Mitstreiter beachteten ihn nicht weiter, sie waren an seine Ungeschicklichkeit scheinbar gewöhnt. Ziellos ließen sie ihre Pferde umhertraben und suchten nach dem Forkner, als plötzlich ein Blitz die Luft zerschnitt. Obwohl es helllichter Tag war, schlossen die drei Kinder geblendet ihre Augen. Als sie sie wieder öffnen konnten und die klare Sicht zurückgekehrt war, war der Busch verschwunden. Der Forkner kauerte immer noch auf der Erde, doch nun für jedermann sichtbar. Die verwunderten Reiter hatten ihn alsbald entdeckt und kamen näher. Der Goldgekleidete begann wieder herumzuschreien. Rangy und Eva Lotta aber suchten die Stelle im Wald ab, aus der der Blitz gekommen sein musste. Dort stand ein Mann. Er trug ein schwarzes Gewand aus edlem Stoff und einen kleine Holzstab in der Hand. Nur seine schäbige Mütze passte nicht zu der teuren Kleidung. Er hatte einen langen, schwarzen Bart. Ungewöhnlich aber war seine Nase, die eher wie eine Kartoffel aussah. Kaum dass sie ihn gesehen hatten, war der seltsame Mann wieder verschwunden. Sie hatten ihn nicht fortgehen sehen.

“Das kann nur ein Zauberer gewesen sein.” Eva Lotta war fahl im Gesicht geworden.

“Ihr macht mich verrückt. Es gibt keine Zauberer.” Rangy traute seinen Augen nicht, die ihn doch sonst nie im Stich ließen. Er war gerade Zeuge eines mehr als seltsamen Ereignisses geworden. Doch noch hatten die blauen Männer den Wilderer nicht erwischt. Rasch hatte der sich von der Überraschung erholt, war wieder auf die Beine gekommen und setzte seine hoffnungslose Flucht fort.

“Da ist ja noch ein Zauberer.” Sogar Golly hatte den alten Mann gesehen, der jetzt in der Lichtung erschienen war. Zwar war er eher kleinwüchsig, schäbig gekleidet, mit einer grauen, etwas schmuddeligen Kappe auf dem Kopf, doch die Art, wie er seinen rechten Arm ausstreckte, ließ bei den Dreien keinen Zweifel. So benahmen sich Zauberer, zumindest in ihrer Vorstellung. Dieser hier musste schon sehr alt sein. Seine kurzen Beine waren krumm, er wackelte auf ihnen wie eine Weide im Wind.

“An seinen Fingern scheint sich ein Licht zu entzünden, wie eine Kerze.” Eva Lottas Mund stand nun schon eine ganze Weile offen. Wie aus dem Nichts bildeten sich Nebelschwaden in dem Licht und breiteten sich schnell aus. Bald war die ganze Ebene von dem Nebel bedeckt. Merkwürdigerweise reichte der Nebel nicht sehr hoch. Die drei Kinder blickten von ihrem Versteck von oben auf den Nebel. Bei ihnen war noch immer gleißender Sonnenschein.

“Und das war auf jeden Fall ein Zauberer.” Golly starrte versonnen in den Nebel, der sich nun langsam wieder verflüchtigte. Rangy sagte gar nichts. Das waren wirklich Zauberer gewesen. Das widersprach allem, was ihn seine Eltern gelehrt hatten. Sein Vater war ein ernster, schweigsamer Mann, der aus dem Norden gekommen war. Er hatte in diesem Dorf Zuflucht gefunden und Rangards Mutter kennengelernt. Beide arbeiteten hart und spornten auch ihren Sohn zu harter Arbeit an. Auch weckten sie den Ehrgeiz in ihm, nach mehr zu streben.

“WAS WAR DAS? DAS WILL ICH AUCH”, sagte Rangard nun laut und deutlich. Der Anblick der Zauberer hatte etwas in ihm erweckt. Sein Leben nahm eine neue Bahn. Er hatte nun ein Ziel vor Augen.

“Bloß nicht. Zauberei ist Teufelszeug”, entgegnete Golly.

“Ich will damit lieber auch nichts zu tun haben. Seht, der Nebel ist verschwunden und mit ihm die ganzen Menschen. Der Forkner scheint es doch noch geschafft zu haben.” Eva Lotta lächelte erleichtert. “Er hat sogar das Schwein mitgenommen.” Auch der Kadaver war nicht mehr da.

“Heute war im Wald ja mehr los als sonst im Jahrmarkt in der Burg.”

“Am besten wir gehen schnell zurück ins Dorf.”
“Ja, aber lasst uns am Bach zurückgehen. Ich möchte keinem von denen in die Arme laufen.”

“Ich gehe den direkten Weg,” Rangard hing seinen Gedanken nach, “ich möchte mir die Spuren etwas genauer ansehen.”