VIII
Am nächsten Morgen machten sie sich früh auf den Weg. Sie verabschiedeten sich von Gandalf, der sich in die entgegengesetzte Richtung aufmachte und folgten dem Weg in Richtung Eichenheim.
“Eviana, ich habe heute
Nacht nachgedacht.” Eviana sah Rolf gespannt an.
“Du hast ja nun keinen Lehrmeister mehr.
Willst du immer noch Zauberer werden?” Sie nickte.
“Ja, sehr gerne. Auch wenn ich nur durch Zufall zu Gandalf gekommen bin.” Rolf lächelte geheimnisvoll.
“Eins solltest du wissen, es gibt keine Zufälle. Nichts geschieht ohne Grund. Dass du auf Gandalf gestoßen bist, war Schicksal.” Eviana fühlte, dass Rolf Recht hatte und ein Schauer durchlief sie.
“Dann ist es wohl auch mein Schicksal Zauberer zu werden.”
“Eviana, ich würde gern euer Lehrmeister sein. Wollt ihr bei mir in die Lehre gehen?” Eviana war überrascht und jubelte innerlich. Bei einem fünf Sterne Zauberer in die Lehre gehen, das war das Gegenteil von dem, was sie bisher gemacht hatte, von ihrer Lehre bei einem Null Sterne Zauberer.”
“Oh, das wäre wundervoll.” Rolf schmunzelte, Eviana ahnte scheinbar nicht, wie schwer es war, ein richtiger Zauberer zu werden. Aber das erinnerte ihn an sich selbst, als er vor vielen Jahren seine Lehre begonnen hatte. Er hatte das Glück gehabt, die Zauberei von seinem Vater lernen zu können und er war von frühester Jugend an mit dem Zaubern vertraut gewesen. Es war schön zu sehen, wie unbeschwert dieses Mädchen an die Zauberei heranging. Sie hatte keinen falschen Respekt. Und sie hatte eine starke Aura. Sie hatte das Zeug zu einem großen Zauberer. Allerdings lag darin auch eine große Gefahr. Je stärker der Zauberer, umso größer waren die Verlockungen der bösen Seite der Zauberei. Aber noch eine Sache reizte ihn daran, dieses kleine Mädchen auszubilden. Neben der starken Aura war da noch etwas. Sie trug ein Geheimnis und womöglich hatte es etwas mit diesem Ring zu tun, den er so noch nie gesehen hatte.
Sie kamen gut voran auf dem einsamen Weg und endlich konnte Eviana einige ihrer Fragen zu dem Zauberbuch loswerden.
“Es gibt zwei große Kraftquellen, die gute und die böse Energie. Wenn wir zaubern, dann zapfen wir eine der beiden Quellen an, je nachdem, ob wir etwas Gutes oder etwas Böses bewirken wollen. Es hängt alles von der Absicht ab.”
“Wir sind gute Zauberer, oder?”
“Na ja, zumindest wollen wir es sein. Keinem Zauberer gelingt es, nur Gutes zu Zaubern. Wir Zauberer sind auch nur Menschen. Aber wir versuchen deutlich mehr gute Zauber als böse Zauber zu nutzen. Sonst zieht uns das Böse nach und nach auf seine Seite. Aber wir müssen stark sein um zu widerstehen. Der böse Weg ist der einfachere.” Eviana schluckte. Sie musste an den Gurkenzauber denken. Den konnte man schwerlich als guten Zauber zählen. War sie schon auf den falschen Weg abgebogen? Sie traute sich nicht, Rolf davon zu erzählen.
“Und jetzt wollen wir mal mit den ersten Vorübungen von Verwandlungszaubern beginnen. Ein guter Zauberer kann alles in alles verwandeln, aber wir fangen ganz einfach an, mit Verwandlungen von toten Dingen. Lebende sind deutlich schwerer und am schwersten sind Verwandlungszauber von Menschen.” Wieder dachte Eviana an die Gurke im Gesicht ihres Vaters. Das war dann ja schon mal ein starker Zauber gewesen, überlegte sie nicht ohne Stolz.
“Im Prinzip ist es ganz einfach. Du schaust dir die Sache, die du verwandeln willst genau an. Dann schließt du die Augen, lässt die gute Energie in dich hineinströmen und nutzt sie, um das Ding zu verwandeln. Dazu stellst du es dir erst vor, wie es jetzt ist und dann wie es sein soll. Während es sich in deinen Gedanken verändert, verändert es sich auch in Wirklichkeit.” Ja, so war es bei der Gurke gewesen. Eigentlich ganz einfach.
“Das hört sich ganz einfach an, aber am Anfang ist es das nicht. Viele Zauberer brauchen hunderte von Versuchen bis sich irgendetwas tut. Da darf man einfach nicht verzagen und muss immer wieder üben. Irgendwann klappt es dann schon. Niemals aufgeben, niemals. Wir fangen mit etwas ganz Einfachem an, wir verwandeln Steine.”
“Oh prima, welche?”
“Nicht jetzt. Wie gesagt, idealerweise schließt man dabei die Augen, das sollte man natürlich nicht während des Gehens machen. So mancher Zauberer ist dabei schon ins Straucheln geraten oder hat sich an einem Baum eine Beule geholt.” Eviana musste grinsen. Ganz schön dumm.
“Brauche ich denn dafür einen Zauberstab?”
“Oh, das hat dir Gandalf auch nicht erklärt? Zauberstäbe sind nur zur Zierde. Man braucht sie nicht zum Zaubern. Darum ist es auch egal wie groß sie sind, aus welchem Material sie sind und wer sie geschnitzt hat. Sie sind nur etwas für den Jahrmarkt. Im Grunde brauchst du zum Zaubern nichts weiter. Aber zwei Dinge können dir helfen, einen Zauber zu verstärken.” Eviana hörte gebannt zu. Sie sog Rolfs Worte in sich hinein wie ein Schwamm.
“Welche?”
“Vor allem ein Zauberhut. Er wirkt wie ein Trichter für die Energie, die du in einen Zauber verwandelst. Allerdings darfst du erst einen tragen, wenn du deinen ersten Stern erworben hast. Jede Zauberklasse hat ihren Hut.”
“Gandalf hatte aber doch auch einen Hut, ohne dass er seine Prüfung bestanden hat?”
“Aber der war nur zur Zierde. Hat er doch gestern Abend erzählt. Das war kein Zauberhut.”
“Und das zweite?”
“Gewürze. Die richtige Ernährung kann einen Zauber deutlich verstärken. Iss am besten viele verschiedene Gewürze, fast alle helfen. Am besten aber wirkt Knoblauch. Es ist das stärkste Zaubergewürz, das auf dieser Welt wächst. Ich habe immer ein paar Knollen dabei.” Er schlug breit grinsend auf seine Umhängetasche.
“So, und jetzt ist es Zeit für eine Pause.” Sie waren an einem lustig plätschernden Bach angekommen. Rolf schöpfte frisches Wasser in seine Trinkflasche und sie tranken in großen Schlucken. Neben dem Bach stand ein Apfelbaum, doch die Früchte lagen am Boden und sahen zu dieser Jahreszeit nicht mehr gut aus. Rolf visierte sie an, Eviana spürte ein Sirren und vor ihr lagen zwei knackige, frische, rote Äpfel.
“Und die sind jetzt echt? Oder verwandeln die sich in meinem Magen wieder zurück?” Rolf musste lächeln.
“Die sind so echt wie Äpfel sein können. Wir Zauberer lassen nichts erscheinen, wir verändern die Realität. Das SIND jetzt echte, knackige Äpfel. Guten Appetit.” Er biss in seinen und auch Eviana war hungrig und fiel nun über ihren her. Nachdem sie satt waren, begann die erste praktische Übung. Rolf nahm einen roten und einen grauen Kiesel.
“Ich zeig’s dir mal.” Er schloss die Augen und mit einem Sirren wurde aus dem grauen Kiesel ein roter. Es sirrte ein zweites Mal und einer der roten Kiesel wurde grau.
“Und jetzt du.” Eviana nahm den grauen Kiesel in die Hand. Sie betrachtete den roten genau. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Nichts.
“Macht nichts. Das sind immer noch Vorübungen. Wie gesagt, es kann hundert Versuche und mehr dauern, bis etwas passiert.” Eviana konzentrierte sich noch einmal und zwar l weniger verkrampft. Sie spürte wie die Energie in sie eindrang und wie sie sie auf den Stein leitete. Dieses Mal war sie sich sicher, dass es funktioniert hatte. Rolf saß mit offenem Mund neben ihr, als sie die Augen wieder aufmachte.
“Großartig. Beim zweiten mal. Das hab ich noch nie erlebt.” Dann verwandele ihn doch mal zurück. Eviana stellte sich den grauen Kiesel vor, der er vorher gewesen war. Wieder ließ sie bewusst die Energie in sich einströmen und jetzt ging es sogar noch leichter. Ein Sirren, sie schlug die Augen auf, der graue Kiesel lag wieder vor ihr.
“Applaus, Applaus”, sagte Rolf staunend. “Komm, lass uns weitergehen.”
Am frühen Abend stießen sie auf Spuren von vier Wagen. Eviana kannte die vielfach geflickten Räder ihres Wagens und war sicher, dass sie die richtige Spur gefunden hatten. Am Abend stießen sie auf das Lager der fahrenden Leute. Kaum angekommen wurde Eviana von ihren Freunden begeistert in Empfang genommen und mit neugierigen Fragen bestürmt. Sie stellte Rolf als Zaubererfreund vor und ohne in die Details des Zauberns einzusteigen schilderte sie in knappen Worten, wie er Gandalf und sie selbst gerettet hatte,
“Aber wie ist es euch ergangen? Wo ist Cedric?” Mister Roberts ergriff das Wort.
“Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen. Nachdem ihr weg wart und alle wieder zu sich gekommen waren, war der Inquisitor außer sich vor Wut. Am liebsten hätte er uns alle in ein Verließ geworfen, aber zum einen hatten wir ja nichts getan und zum anderen hatten sie gar nicht so viele Zellen frei. Also haben sie nur Cedric gegriffen, den einzig verbliebenen Zauberer. Sie sind dann mit ihm abgezogen und niemand hat sich mehr für uns andere interessiert. Noch in der Nacht haben wir unsere sieben Sachen auf die Wagen geladen und sobald die Stadttore geöffnet wurden haben wir Eichenheim verlassen.
“Oh wie schrecklich. Haben sie nichts darüber gesagt, was nun aus Cedric wird? Sie werden ihm doch kein Leid zufügen?”
“Das weiß man bei denen nie. Aber Cedric ist noch ein Kind.” Medusa mischte sich nun in das Gespräch ein. Mit ihrer kraftvollen Stimme berichtete sie, wie sie gehört hatte, dass man Cedric in ein Kloster stecken wollte, die konnten immer Nachwuchs gebrauchen. Das nächste Kloster war das von Morsch, da würde er wohl sein.” Rolf beobachtete Medusa genau und zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Eviana fragte Mister Roberts, ob sie die Nacht bei ihnen verbringen dürften und diese Bitte schlug man ihr nicht ab. Sie nahmen Teil am leckeren Abendmahl der Runde und durften die Nacht am Lagerfeuer bleiben.
Am nächsten Morgen setzten sie sich zum Frühstück mit Mister Roberts zusammen.
“Rolf, ihr scheint auch ein Zauberer zu sein. Unserer ist uns ja nun leider abhandengekommen. Sein Ziegenbartzauber war unsere wichtigste Attraktion. Wir brauchen einen Ersatz für ihn. Ich weiß ja nicht, wie gut ihr zaubern könnt, aber hättet ihr Interesse uns zu begleiten?” Rolf starrte ihn entgeistert an. Wie sollte Mister Roberts auch wissen, dass es für einen echten Zauberer, erst Recht für einen fünf Sterne Zauberer, eine rechte Zumutung war, für einen Jahrmarktszauberer gehalten zu werden. Fast hätte Rolf aus Reflex dem armen Mister Roberts rote Pusteln ins Gesicht gezaubert. Doch er beherrschte sich so grade noch.
“Das ist ein überaus liebenswerter und gütiger Vorschlag, lieber Herr Roberts. Doch leider habe ich bereits eine Aufgabe, der ich mich verpflichtet fühle. Ich bin auf der Suche nach einem Artefakt. Und ich habe diese junge Lady hier als Lehrling angenommen. Sie wird also mit mir reisen.” Das mit der Suche verwirrte Mister Roberts, der mit diesen ungenauen Angaben nichts anfangen konnte. Dass auch Eviana sie verlassen würde, sah er eher als Vorteil. Im Zweifel war sie nur ein hungriges Kind, für das man Essen auftreiben müsste.
“Wir müssen zum Kloster Morsch, wir müssen Cedric befreien”, erklärte Eviana. Rolf sah sie zweifelnd an.
“Warum sollten wir das tun? Es gibt schlimmeres in dieser Zeit als im Kloster zu landen. Da gibt’s wenigstens genug zu essen. Und Zauberer will er ja scheinbar nicht unbedingt werden, wenn ich mich an deine Erzählungen richtig erinnere.”
“Schon. Aber ich fühle mich ihm verpflichtet. Er ist nur geschnappt worden, weil er mich retten wollte. Und ich habe das deutliche Gefühl, dass er uns weiterhelfen wird.” Rolf kannte das schon, diese sogenannte weibliche Intuition. In neun von zehn Fällen hatte er damit schlechte Erfahrungen gemacht. Er wusste aber auch, dass es deutlich mühsamer werden würde, Eviana diese Idee auszureden, als einfach zu dem Kloster zu wandern. So wie er das sah, lag das Kloster eh auf seinem Weg. Mister Roberts hatte teilnahmslos zugehört, ihn ging das alles schon nichts mehr an, er hatte genug mit der Verantwortung für seine Leute zu tun.
“Ach, noch eine Kleinigkeit, Herr Roberts. Gandalf hat den Kindern seine Truhe vermacht. Wir würden sie gerne mitnehmen.
“Diese schwere
Eisentruhe? Ihr habt doch weder Pferd, Esel, noch Wagen. Wie wollt
ihr die transportieren?”
“Aber Herr Roberts, wir sind doch
Zauberer.”
“Ach ja”, sagte Mister Roberts und dachte an Meister Gandalf und den Ziegenbart. “Medusa wird euch helfen.” ‘Aufpassen’ dachte Eviana. Sie wusste ja, wo die Kiste war, Medusa sollte sicherlich aufpassen, dass sie nur die Kiste nahmen und sonst nichts.
“Medusa, komm doch mal rüber und hilf den Zweien Gandalfs Kiste aus dem Wagen der Brüder Killmorney zu holen.” Medusa hatte gerade Töpfe und Pfannen gespült und kam nun zu ihnen geschlurft, sie legte Eviana die Hand auf die Schulter, sie hatte das Kind liebgewonnen und sie gingen gemeinsam zum Wagen.
“Du weißt ja, wo die Kiste steht. Kriegst du sie alleine heruntergetragen?”
“Kein Problem, ich helfe ihr.” Rolf und Eviana holten die Kiste stellten sie neben sich vor den Wagen. Sie verabschiedeten sich von Medusa. Rolf musterte die Hände der alten Frau, als sie sich verabschiedeten. Anders als ihr Gesicht waren Hände und Arme frei von Falten. Das waren die Hände einer zwanzigjährigen. Er fühlte sich in seinem Verdacht bestätigt. Sie nahmen die schwere Kiste zwischen sich und begannen ihre Wanderung. Medusa winkte ihnen nach.
Sobald sie außer Sicht waren, setzten sie die Kiste ab. Eviana hätte sie auch keinen Meter weiter tragen können. Rolf konzentrierte sich, sprach einen Zauber und schrumpfte die Kiste auf die Größe eines Golddukatens. Dann steckte er sie in seinen Beutel.
“So trägt sie sich schon leichter”, schmunzelte er.