10. KAPITEL
Lexi ging in der Küche auf und ab, bis sie das Garagentor hörte. Dann lief sie nach draußen, um Cruz zur Rede zu stellen. Ungeduldig wartete sie, bis er aus dem Wagen ausgestiegen war.
In ihrem Kopf drehten sich Gedanken, die alle keinen Sinn ergaben.
„Du hast ein Kind“, sagte sie, als er auf sie zukam. „Eine Tochter. Sie ist fünfzehn.“
Er runzelte die Stirn. „Willst du mir eine Neuigkeit mitteilen oder stellst du mir eine Frage? Ich weiß das nämlich schon.“
„Aber ich wusste es nicht. Du hast ein Kind. Und offenbar bleibt sie für eine Weile bei dir, bei uns, und du hast es nicht einmal für nötig gehalten, es zu erwähnen. Wir haben das ge samte Wochenende miteinander verbracht. Wir haben über unsere Vergangenheit gesprochen. Und da hast du nicht den richtigen Moment gefunden, um mir zu erzählen, dass du eine Tochter hast und, ach ja, dass sie hier für ein paar Tage woh nen wird?“
Er ging auf das Haus zu. „Ich habe versucht, eine Alterna tive zu organisieren, damit sie nicht herkommt.“
„Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?“ Sie packte den Ärmel seiner Anzugjacke und zog daran, bis er stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. „Cruz, du hast eine Tochter.“
„Das hast du jetzt schon mehrmals gesagt.“
„Ich will, dass du es sagst.“
Er wirkte ungeduldig. „Ich habe eine Tochter. Vor sech zehn Jahren habe ich ein Mädchen geschwängert. Wir waren beide noch Kinder, wir wollten nicht heiraten. Sie beschloss, das Baby zur Adoption freizugeben. Also erledigten wir den Papierkram, aber als die Zeit gekommen war, wollte sie das Kind behalten. Ich nicht. Wir trafen eine Abmachung: Sie würde sich um alles kümmern, und ich würde Geld schicken. Alle Jubeljahre kommt Kendra aus verschiedenen Gründen her, aber das war’s auch schon. Sie wird nicht lange bleiben.“
Lexi konnte nicht fassen, dass sie dieses Gespräch führten. Mit den Details seiner Äußerungen würde sie sich später auseinandersetzen.
„Aber jetzt ist sie da, und du hast es mir nicht gesagt.“
„Ich verlange nicht von dir, dass du dich um sie kümmerst, wenn es das ist, was dir Sorgen macht. Ich mache das schon.“
Lexi wünschte, sie wäre groß genug, um ihn zu schütteln. „Das ist doch gar nicht der Punkt. Du hast mir nicht gesagt, dass sie kommt. Du hast mir nicht gesagt, dass sie existiert.“
„Das geht dich nichts an.“
Dieser Schlag wird eine Narbe hinterlassen, dachte sie. Sie konnte den Hieb bis tief in die Magengrube spüren. „Anscheinend geht es mich sehr wohl etwas an. Immerhin sitzt sie in diesem Haus.“
„Gut. Ich hätte es erwähnen sollen. Sonst noch was?“
Es gab Millionen Dinge, über die sie hätten sprechen müssen, aber die konnten alle warten.
Sie ließ ihn los und hob die Hände.
Er wandte sich von ihr ab und verließ die Garage. Während sie einfach dastand, wünschte sie, sie sähe nicht so viel von ihrem Vater in ihm. Jed war auch ein Mann, der sich nie um seine Töchter geschert hatte. Nicht ehe sie alt genug gewesen waren, um für ihn „von Wert“ zu sein. Kendra war Cruz offensichtlich gleichgültig.
Er hatte vielleicht eine Vereinbarung mit der Mutter des Mädchens getroffen, aber nicht mit dem Mädchen selbst. Jedes Kind wünschte sich einen Vater – wie ging Kendra damit um, einen zu haben, der sich anscheinend nicht für sie interessierte?
Lexi öffnete den Kühlschrank und durchstöberte die verschiedenen Schachteln. „Sieht so aus, als hätten wir Shrimps. Ich könnte Reis dazu machen.“
„Nein, danke“, sagte Kendra von ihrem Platz auf der Arbeitsplatte.
„Hier sind auch diverse Tiefkühlgerichte. Oder wir machen ein Resteessen.“
„Klingt zwar sehr verlockend, aber nein.“
Lexi schloss die Kühlschranktür und musste an sich halten, um nicht mit dem Fuß aufzustampfen. Die Situation war sonderbar, und das Mädchen tat nicht das Geringste, um sie irgendwie zu verbessern. Noch schlimmer: Cruz hatte auch den Hausangestellten nichts vom Besuch seiner Tochter gesagt, und deshalb war nicht genügend zu essen im Haus.
„Du musst was essen“, meinte Lexi.
Kendra schnippte eine gelockte Strähne über die Schulter. „Sie sind anders als die anderen. Sie wissen, wo die Küche ist und dass Kinder essen sollten. Interessant. Weiß mein Vater, dass Sie denken können?“
Lexi lehnte sich gegen den Tresen. Sie würde sich nicht provozieren lassen. Die Kleine musste stark darunter leiden, dass sich ihr Vater in keiner Weise auf ihren Besuch vorbereitet hatte.
Cruz kam in die Küche. Kendra sah ihn an.
„Sie hat ein Gehirn. Wusstest du das? Das kann dir unmöglich gefallen. Die anderen konnten jedenfalls nicht eigenständig denken.“
„Es wäre nett von dir, wenn du nicht so sarkastisch wärst“, meinte Lexi. „Dazu bist du nämlich noch ein wenig zu jung, und deshalb wirkt es ziemlich angestrengt.“
Kendras Gesichtszüge verhärteten sich. „Ich bin nie angestrengt.“ Sie sprang von der Arbeitsfläche auf den Boden. „Sehen Sie, wie leicht das geht? Ich bestell mir ’ne Pizza. Dad, hast du mal einen Zwanziger?“
Cruz gab ihr zwei Geldscheine.
„Super. Dann bis später, ihr Turteltauben.“ Kendra wandte sich zum Gehen.
„Warte mal“, hielt Lexi sie zurück. „Du wirst nicht einfach so gehen.“
Cruz und Kendra sahen sie an, als wäre sie verrückt.
„Warum nicht?“, fragte Cruz. „Es geht ihr doch gut.“
„Sie ist ein Kind. Was ist mit Hausaufgaben? Was ist mit ihren Plänen für diese Woche?“
Kendra verdrehte die Augen. „Keine Sorge, ich kann mich selbst um mein Leben kümmern, ehrlich.“
„Du bist erst fünfzehn.“
„Kinder sind heutzutage reifer. Dad, sag es ihr.“
„Sie kümmert sich selbst um alles“, bestätigte Cruz. „Ich mische mich nicht in ihre Angelegenheiten ein, und sie sich nicht in meine.“
„Das kann doch nicht dein Ernst sein“, kritisierte Lexi. „Sie ist immer noch ein Kind. Sie braucht Regeln und Grenzen.“ Sie war sich sicher, dass es noch mehr gab, aber im Augenblick konnte sie sich nicht an mehr erinnern.
„Ich werde so was von keine dämlichen Regeln befolgen“, stellte Kendra trotzig fest. „Wer hat Ihnen überhaupt gesagt, dass Sie sich so aufspielen sollen? Sie sind nur eine von vielen. Wie gesagt, wir brauchen uns gar nicht erst näher kennenzulernen, weil Sie beim nächsten Mal sowieso nicht mehr da sein werden.“
Ein Punkt für Kendra. Lexi war nur vorübergehend, in vielerlei Hinsicht. Aber hier ging es nicht um sie.
„Das hier ist kein Hotel“, erwiderte sie, „sondern das Haus deines Vaters.“
Kendra beugte sich vor und sagte in einem spöttischen Flüstern: „Er ist nicht mein Vater. Er hat nur das Sperma spendiert. Ich nenne ihn nur Dad, weil es für uns alle einfacher ist. Aber zwischen uns ist nichts. Es ist wirklich süß von Ihnen, dass Sie sich Sorgen machen, aber lassen Sie es. Es geht uns gut.“
Lexi konnte den unermesslichen Schmerz fühlen, den das Mädchen hinter seinem Verhalten verbarg. „Kendra, ich weiß, dass das schwer für dich ist“, begann sie. Doch Kendra öffnete bloß den Kühlschrank, nahm sich eine Flasche Wasser und ging in Richtung Tür.
„Wissen Sie, was wirklich schwer für mich ist? Das wir hier wirklich nicht im Hotel und Sie keine Angestellte sind. Denn sonst könnte ich Ihren Arsch einfach feuern. Lassen Sie mich in Ruhe.“ Damit war Kendra verschwunden.
Lexi wandte sich Cruz zu.
„Und das war’s jetzt?“, fragte sie. „Damit ist diese Unterhaltung beendet?“
„Ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht einmischen. Wir haben diese Situation schon öfter gemeistert.“
„Offenbar ziemlich schlecht.“ Warum verstand er sie nicht? „Cruz, sie ist ein Kind. Dein Kind. Du hast Verantwortung.“
„Um die sich mein Buchhalter jeden Monat kümmert. Kendra hat alles, was sie braucht.“
„Außer einem Vater.“
Er zuckte nur leicht zusammen. „Ich habe meinen Vater nicht gebraucht, und ihr geht es genauso. Sie kommt gut zurecht.“
„Sie fühlt sich wie ein Stück Scheiße. Du hast weder mir noch sonst irgendwem von ihr erzählt. Es gibt nichts zu essen im Haus. Wie kommt sie zur Schule und zurück?“
„Keine Ahnung. Darum kümmert sich ihre Mutter.“
„Du musst dich damit beschäftigen.“ Sie verstand einfach nicht, warum er sich ihr nicht verbunden fühlte. „Fühlst du denn gar nichts, wenn sie in deiner Nähe ist?“
„Abgesehen von dem brennenden Verlangen, überall zu sein, nur nicht hier?“ Jetzt ging er. Im Türrahmen blieb er stehen. „Du steckst viel zu viel Energie in die Sache. Sie bleibt ein paar Wochen, dann ist sie wieder weg. Mach dir keine Sorgen deswegen.“
„Sie ist deine Tochter“, murmelte sie in dem Wissen, dass sie nicht zu ihm durchdringen würde.
„Warum wiederholst du das immerzu?“
„Weil sie eine eigenständige Person ist. Warum bist du nur so wild entschlossen, ein riesiges Arschloch zu sein?“
Seine Augen verdunkelten sich. „Ich schätze, das liegt mir im Blut.“
Er ging, und sie stand allein in der Küche. Allein und mit dem Gefühl, das Schlechteste aus der Situation gemacht zu haben. Sie stützte die Ellbogen auf die Arbeitsfläche und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Welche Art von Mann schrieb einen Scheck und machte sich dann aus dem Staub? Und selbst wenn sie vielleicht den Teenager verstehen konnte, der keine Verantwortung gewollt hatte – inzwischen war Cruz ein Mann. Es gab keine Ausreden.
Lexi musste daran denken, wie es war, als Kind von seinem Vater ignoriert zu werden. Jed war immer schwer beschäftigt gewesen. Jede Minute, die er ihr geschenkt hatte, war kostbar gewesen. Für diese Momente hatte sie gelebt. Eltern waren wichtig, selbst dann noch, wenn ein Kind alt genug war, um über den Konflikten zu stehen. Lexi kämpfte täglich um Jeds Anerkennung. Skye hatte die Liebe ihres Lebens aufgegeben, um einen Mann zu heiraten, der ihrem Vater besser gefiel. Izzy riskierte täglich ihr Leben, um sich und Jed irgendwas zu beweisen.
Warum konnte Cruz nicht sehen, wie sehr er Kendra verletzte?
Sie richtete sich auf und marschierte in sein Arbeitszimmer. Er saß hinter seinem Schreibtisch und starrte aus einem Fenster ins Dunkle.
Er sah sie an. „Was soll der Wirbel? Sie ist nicht dein Kind.“
„Aber sie ist ein Kind und keine Pflanze. Du kannst ihr nicht einfach eine Pizza hinwerfen und erwarten, dass es ihr gut geht.“
„Das ging bisher aber immer.“ Er stand auf. „Sieh mal, alle paar Jahre kommt sie her und bleibt für eine Weile. Als sie noch jünger war, habe ich jemanden angestellt, der sich um sie kümmerte, aber das braucht sie nicht mehr. Sie hat es mir vor einigen Jahren selbst gesagt. Es geht ihr prächtig. Sie kommt und geht, wann sie will, und wir lassen einander in Ruhe. Das ist genug.“
„Das ist gar nichts. Ist es dir noch nie in den Sinn gekommen, dass sie mehr will? Sie will eine Beziehung. Du bist ihr Vater. Sie braucht deine Liebe. Du musst für sie da sein.“
„Es geht hier um mich und Kendra, nicht um dich und Jed.“
„Kinder brauchen alle dasselbe.“
„Ich habe meinen Vater nicht gebraucht. Das Leben war schöner, als er weg war.“
„Du schlägst Kendra nicht.“ Aber war sein Vater vielleicht der Knackpunkt? Wollte Cruz sichergehen, dass Kendra niemals so von ihm dachte wie er von seinem Vater? „Sie will, dass du sie liebst.“
„Ich kenne sie ja kaum, und du kennst sie überhaupt nicht. Lass uns beide in Ruhe.“
„Ich kann nicht.“
„Du willst nicht. Du willst die Dinge unbedingt ändern. Aber das hier ist weder dein Haus noch dein Kind noch deine Angelegenheit. Also halt dich zum Teufel da raus.“
Wenn er geschrien hätte, hätte sie zurückschreien können. Doch seine Stimme war ganz ruhig, fast schon unheimlich.
Sie würde nicht gewinnen. Nicht an diesem Abend. Und im Augenblick war Kendra wichtiger als er.
Sie verließ sein Arbeitszimmer und ging nach oben. Kendras Zimmer war das letzte auf der linken Seite. Der Raum war klein, aber fröhlich eingerichtet, mit einem Doppelbett an einer Wand und einem Tisch vor dem Fenster.
Dort saß Kendra und tippte auf einem Laptop, während sie Musik von ihrem iPod hörte. C.C. schlief auf dem Bett.
Lexi klopfte an die halb geöffnete Tür. „Hey. Hast du dich schon eingerichtet?“
„Mhm.“ Kendra machte sich nicht die Mühe hochzusehen.
„Ich dachte, wir könnten vielleicht in die Stadt fahren und was zu essen holen. Ich kenne einen tollen Burgerladen.“
Kendra seufzte tief und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren. Ihr Lächeln war allenfalls beschwichtigend.
„Es ist wirklich nett von Ihnen, es zu versuchen. Ich weiß es zu schätzen. Ehrlich. Aber es geht mir gut. Ich habe nicht das Bedürfnis, mich an jemanden zu binden, und schon gar nicht an eine der zahlreichen Freundinnen meines Vaters. Es ist ja schließlich nicht so, als wären Sie nächstes Mal noch hier, stimmt’s? Ich meine, ist es was Ernstes?“
Lexi dachte an die Abmachung und schüttelte dann den Kopf.
„Das dachte ich mir. Und jetzt gehen Sie und spielen Sie mit meinem Vater. Ich halte mich von Ihnen fern, und dann bin ich wieder weg. In ein paar Wochen können wir alle vergessen, dass das hier passiert ist. Ist das nicht toll?“
Kendra griff nach den Kopfhörern und schaute dann noch mal hoch. „Ach ja, ich hab mir eine Pizza bestellt. Würden Sie dem Typen aufmachen, wenn er klingelt? Danke. Tschüs.“
Um halb zehn war Cruz bei seinem dritten Glas Scotch. Er hatte nicht vor, sich zu betrinken, aber er wollte seine Sinne ein wenig betäuben.
Die Vergangenheit drängte sich in sein Zimmer und machte es ihm schwer, an irgendetwas anderes zu denken. Er musste nicht mal die Augen schließen, um zu sehen, wie sein Vater seine Mutter schlug. Juanita war eine kleine Frau, und ihr Ehemann hatte es genossen, so lange auf sie einzuprügeln, bis sie auf dem Boden zusammenbrach und ihn anflehte aufzuhören. Cruz würde Zeit seines Lebens nicht das Geräusch von Fäusten auf Fleisch und die schrillen Schmerzensschreie vergessen.
„Sag mir, dass du mich liebst“, verlangte sein Vater. „Sag es. Sag es!“
Irgendwann gab sie auf. Sie sagte die Worte, sagte sie lauter, wenn er darauf bestand. Wenn sie versprach, dass sie ihn für alle Zeiten lieben würde, ließ er von ihr ab und ging.
Cruz erinnerte sich an die Stille. Seine Mutter gab keinen Laut von sich, während sie beide auf das Geräusch des Automotors warteten. Auf den Beweis, dass der Sturm vorübergezogen war und sie wieder sicher waren.
Cruz wartete zusammengekauert und verängstigt im Flur, bis sie sich aus eigener Kraft auf die Füße gehievt hatte. Sie versicherte ihm, dass es ihr gut ging, auch wenn sie sich das Blut abwaschen musste. Sein Vater hatte ihr nicht nur die Knochen gebrochen, sondern auch ihr Herz und ihren Willen zerrüttet, immer und immer wieder.
Die letzten Prügel waren ihm ewig vorgekommen. Er war zwölf – alt genug, um sie beschützen zu wollen. Als er seinen Vater angriff, schlug ihm der alte Mann hart ins Gesicht. So hart, dass Cruz stürzte, er Ohrensausen hatte und nur noch verschwommen sah.
„Wenn du das noch ein Mal machst, Junge“, brüllte sein Vater, „dann bringe ich sie um.“
In diesem Moment, während seine Mutter um Gnade für sie beide flehte und unter dem kontinuierlichen Fausthagel immer wieder aufschrie, hatte Cruz sich geschworen, dass alles anders würde. Er hatte Geld verdient, um sich bei einem Jungen am Ende der Straße eine Waffe zu kaufen, und er hatte sie benutzt, um seinen Vater zu vertreiben.
Er wusste, dass es auch anders ging. Er wusste, dass es Väter gab, die ihre Kinder liebten. Manny, sein Partner, war so einer. Er vergötterte seine Kinder, und sie vergötterten ihn. Sie machten gemeinsame Unternehmungen – wie Familien das so taten. Sie kuschelten sich auf dem Sofa zusammen und sahen fern. Sie gingen campen und besuchten Baseballspiele. Wenn die Kinder verletzt waren oder Angst hatten, rannten sie zu ihm. Es wäre ihnen niemals in den Sinn gekommen, dass er sie schlagen könnte. Sie wussten nicht, was es bedeutete, sich vor ihrem Vater zu fürchten.
Aber Cruz wusste es. Er kannte die lauernde Finsternis und den darauffolgenden Schmerz. Er wusste, was es hieß, aus Angst, entdeckt zu werden, nicht zu atmen. Er wusste, was es bedeutete, so zu tun, als sähe er die Blutergüsse im Gesicht und auf den Armen seiner Mutter nicht; zu wissen, dass sie sie vor ihren Arbeitgebern versteckte, damit sie keine Fragen stellten … oder, was noch schlimmer gewesen wäre, sie feuerten.
Er wusste auch, dass er genauso war wie sein alter Herr. Einmal, als Kendra noch ein Baby war, hatte sie nicht aufgehört zu schreien. Er hatte einen Nachmittag lang auf sie aufgepasst, und das schrille Geräusch war nicht abgerissen. Er hätte alles getan, damit sie endlich still wäre. Er war kurz davor gewesen, sie zu schütteln. Stattdessen hatte er draußen gewartet, bis seine Mutter zurückgekommen war. Sie hatte Kendra auf eine Weise beruhigt, wie er es nie geschafft hätte.
Er hatte gespürt, was er seiner Tochter antun könnte. Wie er sie verletzen könnte. Er wusste, woher er kam, und dass es für sie beide besser war, wenn er sich von ihr fernhielt.
Bis weit nach Mitternacht blieb er in seinem Büro. Dann ging er leise nach oben.
Im Schlafzimmer war es dunkel. Er öffnete die Tür und sah Lexi auf ihrer Seite des Bettes liegen. Falls sie nicht schlief, beachtete sie ihn jedenfalls nicht. Er ging weiter den Flur hinunter.
Kendras Tür war geschlossen. Er öffnete sie, ohne anzuklopfen.
Seine Tochter lag zusammengerollt in der Mitte des Bettes. Am Tage war sie gerissen und angriffslustig und fast schon erwachsen, aber im Schlaf wirkte sie klein und zerbrechlich. C.C. hatte sich an sie geschmiegt. Beide schliefen.
Er musterte Kendra und fragte sich, ob sie irgendwas von ihm hatte. Diese Hoffnung zu hegen war hilfreicher als das, was sein Vater ihm gegeben hatte. Er zog die Decke hoch, strich sie glatt und ging.
Diese Nacht würde er Wache halten. Sowohl Kendra als auch Lexi würden ihm sagen, dass sie ihn nicht brauchten, und vielleicht stimmte das sogar. Aber er würde wach bleiben, nur für alle Fälle.
„Sie müssen Witze machen“, moserte Kendra auf dem Weg in die Küche. „Haben Sie das aus Die gute Hausfrau?“
Lexi ignorierte den Sarkasmus und legte zwei Scheiben Toastbrot auf einen Teller, den sie dem Mädchen vorsetzte.
„Wir haben kein Müsli“, sagte sie. „Und da ich nicht wusste, wie du deine Eier magst, musst du jetzt hiermit vorlieb nehmen.“
„Ich frühstücke nie“, informierte Kendra sie. „Das sind nur überflüssige Kalorien.“
„Wer morgens nichts isst, hat bloß schlechte Laune, was du ja gerade hervorragend demonstrierst. Je eher du was isst, umso schneller kannst du gehen.“
Kendra schimpfte vor sich hin, bevor sie ihren Rucksack mit einem dumpfen Knall auf den Boden fallen ließ. Sie nahm den Teller, schnappte sich eine Scheibe Toast und aß.
„Milch?“, fragte Lexi und achtete sorgfältig darauf, sich den Triumph über ihren Etappensieg nicht anmerken zu lassen.
„Kaffee.“
Tranken Teenager Kaffee? Zu Lexis Teeniezeiten jedenfalls nicht. Trotzdem schenkte sie eine Tasse ein und reichte sie Kendra, die einen Schluck nahm.
„Wie kommst du zur Schule?“, erkundigte sie sich.
„Bus.“
„Kommt dein Bus hierher?“
„Es ist ein anderer Bus, aber ja, er fährt durch dieses Viertel. Auch reiche Kinder brauchen einen Abschluss.“
„Du wohnst in demselben Schulbezirk wie dein Vater?“
Kendra hob die Augenbrauen. „In demselben Highschool-Bezirk. Unsere Wohnung ist nur ungefähr drei Meilen von hier entfernt. Hat er Ihnen das auch nicht erzählt?“
„Anscheinend nicht.“
Kendras Zuhause war also zu Fuß erreichen, und trotzdem verbrachte er keine Zeit mit ihr?
Kendra sah auf die Wanduhr und kreischte. „Ich verpasse noch den Bus. Bis dann.“
Sie stellte den Teller ab, schnappte sich den Rucksack und rannte zur Haustür. Lexi goss sich eine Tasse Kaffee ein und fragte sich, wie sie das alles in Ordnung bringen sollte. Es war zwar nicht ihr Problem, aber trotzdem konnte sie nicht einfach ignorieren, was hier geschah. Kendra und Cruz brauchten einander – sie wussten es nur noch nicht.
An diesem Nachmittag kam Cruz um kurz nach zwei in Lexis Büro. Sie redete sich ein, dass sie sich nicht freute, ihn zu sehen, obwohl ihre Hormone den schon bekannten Tanz der Erregung vollführten.
Alles nur eine Sache der Chemie, dachte sie, während sie aufstand und um ihren Schreibtisch ging. Irgendwas in seinen Pheromonen oder in ihrem Nervensystem erzeugte ein beinahe unkontrollierbares Verlangen, das jedes Mal in ihr anschwoll, wenn sie in seiner Nähe war.
Er sah gut aus, als er das Zimmer durchquerte. Groß und entschlossen in seinem maßgeschneiderten Anzug.
Ob er gekommen war, um sich für ihren Streit am Vorabend zu entschuldigen? Vielleicht hatte er begriffen, wie wichtig es war, eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen. Aber das bezweifelte sie eher. Cruz war fest entschlossen, sich nicht um sie zu kümmern.
„Ich muss dir was sagen“, begrüßte er sie, und sie war von seinem ernsten Tonfall überrascht. „Du solltest dich wohl besser setzen.“
Panik verjagte die Erregung. „Ich will mich nicht setzen. Was ist los?“
Er nahm ihre Hand und sah ihr fest in die Augen. Angst stieg in ihr auf.
„Cruz, was ist? Wurde jemand verletzt?“
„Nein, nichts dergleichen. Alle sind wohlauf. Ich muss dir etwas über Garth Duncan sagen.“
„Wie schlimm kann das schon sein? Habe ich ihm mal einen Parkplatz weggenommen, und nun ist er wütend auf mich?“
„Nicht nur auf dich. Vielleicht sogar auf deine gesamte Familie.“
„Du sprichst in Rätseln.“
Cruz umfasste ihre Hand fester. „Garth ist Jeds unehelicher Sohn.“