5. KAPITEL

Der Frühlingsnachmittag war kühl und klar. Es wehte kein Lüftchen, und der Klang der Pferdehufe rollte wie Donner durch die Landschaft. Lexi ritt neben ihrer Schwester, Skyes Tochter vor ihnen. In einem Alter, in dem die meisten Kinder noch auf Ponys saßen, ritt die siebenjährige Erin ihr Pferd mit einer Leichtigkeit, die von langen Stunden im Sattel zeugte. Sie kannte keine Angst. In ihrer momentanen Situation hätte Lexi ein bisschen von Erins Courage gebrauchen können.

Sie nahmen eine leichte Steigung und hielten dann an. Lexi ließ ihren Blick über das Land schweifen, das sich vor ihnen ausbreitete. Abgesehen von dem Cassidy-Anwesen, das sich im Westen erstreckte, war alles, was sie sah, Titan-Land.

Genau deshalb tun wir es, dachte sie, unsicher, ob das gut oder schlecht war. Sie hatten dieses Land im Blut. Es hatte schon Einfluss auf sie genommen, als sie noch dachten, gegen Dinge wie Schicksal und Tradition immun zu sein. Sie konnte sich genauso wenig von der Aussicht auf Jeds Vermächtnis trennen wie sie sich den Arm hätte abschneiden können.

„Wie läuft es mit Cruz?“, fragte Skye.

„Gut“, log Lexi. „Er ist so wunderbar. Ich bin wirklich glücklich, dass wir wieder zueinander gefunden haben.“

„Eure Geschichte ist so romantisch“, murmelte Skye, und es klang ein bisschen neidisch.

Lexi fühlte sich schlecht. Nichts an ihrer Geschichte war romantisch. Sie hielt Cruz immer noch so weit wie möglich auf Abstand. Sie hatte sogar die Pille abgesetzt, nur damit sie ihre Periode bekäme. Das hatte ihr eine ganze Woche Zeit verschafft. In ein paar Tagen würde sie wieder mit der Einnahme beginnen und sich dann eine andere Ausrede einfallen lassen, damit er nicht in ihrem Bett schlief.

Sie hatte die ungute Ahnung, dass der Sex mit Cruz besser sein würde, als sie es in Erinnerung hatte. Der Gedanke daran machte ihr Angst.

„Mommy, darf ich zu Fiddle gehen?“, fragte Erin.

Mit ihren roten Haaren und den großen Augen sah sie ihrer Mutter sehr ähnlich. An ihren verstorbenen Vater erinnerte höchstens die Form ihres Kinns, aber im Grunde war sie eine Miniaturausgabe von Skye.

Skye lachte. „Wird sie für immer Fiddle heißen?“

Erin grinste. „Mhm. Darf ich?“

„Natürlich. Sag Fidela, sie soll bitte anrufen, wenn du dich auf den Rückweg machst.“

„Mach ich.“

Das Mädchen winkte und trieb sein Pferd an. Der kleine Wallach fiel in Trab und dann in einen ruhigen Galopp.

Fidela war die Haushälterin der Cassidys. Lexi und ihre Schwestern waren als Kinder oft dort gewesen. Fidela hatte immer frisch gebackene Plätzchen für einsame Mädchen da. Das hatte Erin offenbar auch schon spitz gekriegt.

„Ich habe sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen“, sagte Lexi leise.

„Du solltest mal vorbeifahren. Sie würde sich freuen, dich zu sehen.“

„Bist du oft dort?“

„Jede Woche. Nimm dir doch mal die Zeit. Sie war schließlich mal wichtig für uns.“

Überempfindlich wie Lexi im Augenblick war, konnte sie mit der leichten Kritik ihrer Schwester nicht umgehen und schoss ohne nachzudenken zurück. „Ist Mitch immer noch weg?“

Kaum hatte sie die Frage gestellt, machte sich das schlechte Gewissen breit.

„Schätze schon“, erwiderte Skye knapp. „Hab nichts anderes gehört.“

Mitch Cassidy war für die drei Titan-Mädchen der perfekte Schwarm gewesen – gut aussehend und stark mit einem lässigen Lächeln auf den Lippen, bei dem sie alle weiche Knie bekommen hatten. Aber allein Skye hatte sein Herz vor acht Jahren erobert.

Erobert und fallen gelassen, als Jed darauf bestanden hatte, dass sie jemand anderen heiratete. Sie musste sich zwischen ihrem Vater und dem Mann entscheiden, den sie liebte, und wählte die Familie. Tage später ging Mitch zur Navy, wo er später der Spezialeinheit SEAL beitrat.

„War er überhaupt schon mal wieder hier?“, fragte sie.

„Woher soll ich das wissen?“ Skye starrte Lexi wütend an. „Ich verfolge nicht jeden seiner Schritte. Es ist lange her. Ich will nicht über ihn reden, okay?“

„Okay. Gut.“ Anscheinend war Mitch noch immer ein sensibles Thema.

Weil sie es bereute, dass sie ihn Jed zuliebe verlassen hatte? Oder weil ihr Herz sich nie ganz erholt hatte?

Skye seufzte. „Tut mir leid. Von Zeit zu Zeit muss ich immer noch an die Sache mit Mitch denken. Es ist schon lange her, und ich bereue nicht, dass ich Ray geheiratet habe. Er war ein guter Mann, ich habe ihn geliebt. Er hat mir Erin geschenkt, und sie ist mein Leben.“

Wohl wissend, dass sie einen weiteren Rüffel riskierte, fragte Lexi: „Hast du dich eigentlich mal gefragt, was geschehen wäre, wenn du bei Mitch geblieben wärst?“

Skye zögerte. „Ja, schon öfter. Ich weiß nicht. Vielleicht … Wir waren noch Kinder, ich bin mir nicht sicher, ob wir es geschafft hätten. Ray war die bessere Wahl.“

„Besser oder sicherer?“

„Das ist keine faire Frage. Verdammt, Lexi, hör auf, über mich zu urteilen.“

„Tu ich doch gar nicht.“

Sie sahen sich an. Die Spannung knisterte.

Das war früher nicht so, dachte Lexi. Sie wusste, dass der eigentliche Grund für ihre Probleme Jed hieß. Sie zwang sich dazu, sich wie eine Erwachsene zu benehmen.

„Waffenstillstand?“, fragte sie.

„Gute Idee.“ Skye zeigte auf das Haus in der Ferne. „Erin ist reingegangen. Wenn du willst, können wir zurückreiten.“

„Okay.“

Sie wendeten die Pferde.

„Ich bin mit der Planung für deine Verlobungsfeier fast fertig“, erzählte Skye. „Wenn du irgendwelche Wünsche hast, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, es mir zu sagen.“

„Niemand macht das besser als du“, erwiderte Lexi. „Ich möchte der Perfektion auf keinen Fall im Weg stehen.“

Ihre Schwester rümpfte die Nase. „Was bedeutet, dass dich der Gedanke, eine Party zu planen, zu Tode langweilt.“

„Das auch.“

„Verstehe. Ich erfülle nur meine Rolle.“

„Deine was?“

„Meine Rolle. Du bist die Geschäftsfrau, Izzy ist die Abenteurerin, und ich bin das Organisationstalent.“

„So habe ich das nie gesehen“, gestand Lexi. Erst in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass jede von ihnen einen Weg gefunden hatte, sich vor ihrem Vater von den anderen abzuheben. „Bist du denn glücklich als Organisationstalent?“

„Ich glaube nicht, dass ich anders sein könnte. Du würdest weder Partys organisieren noch eine Stiftung führen wollen, und ich könnte deinen Job nicht machen. Und Izzys Vorlieben …“ Sie schüttelte sich. „Nein, danke.“

„Da bin ich ganz deiner Meinung.“ Lexi musste an den letzten Urlaub ihrer jüngsten Schwester denken. Sie war mit Haien geschwommen – mit großen Haien, die dafür bekannt waren zu beißen.

„Ich weiß, dass mein Job wichtig ist“, fuhr Skye fort. „Die Stiftung hat Erfolg. Hunger leidende Kinder bekommen etwas zu essen. Das ist wichtig. Es ist nur … ich weiß auch nicht. Manchmal …“

„Ist es nicht genug“, vollendete Lexi den Satz. Sie verstand die Unruhe, die in ihrer Schwester tobte, wenn sie sie auch nicht erklären konnte.

„Wir haben beide großes Glück“, meinte Skye. „Wir sollten dankbarer sein.“

„Ich werde daran arbeiten“, antwortete Lexi. Sie dachte an ihr Geschäft, daran, wie sie beinahe alles verloren hätte. „Kennst du Garth Duncan?“

„Ich habe von ihm gehört, aber wer hat das nicht? Ich glaube, wir sind uns noch nie begegnet. Warum?“

„Cruz würde ihn gern kennenlernen.“ Diesen Vorwand hatte Lexi sich in der letzten Nacht ausgedacht.

„Und du willst, dass dein Mann glücklich ist.“ Skye grinste. „Das ist so süß von dir.“

„Es ist nicht süß, und bitte nenn ihn nicht meinen Mann. Das fühlt sich irgendwie komisch an.“

„Lexi ist verli-iebt“, sang Skye. „Lexi ist verli-iebt.“

„Man sollte meinen, dass eine alleinerziehende Mutter reifer wäre.“

Skye lachte. „Da irrst du dich aber. Natürlich werde ich ihn zu irgendwas einladen. Nicht gerade zur Verlobungsfeier – die ist nur für die Familie und Freunde. Aber zu irgendeinem anderen Anlass. Ich gebe dir Bescheid.“

„Das wäre toll.“ Lexi wollte unbedingt den Mann treffen, der versucht hatte, ihr wehzutun, und herausfinden, was er gegen sie hatte und ob er einen neuen Angriff plante.

„Ich glaube, ich muss mich übergeben“, sagte Lexi, als sie auf die vorbeiziehende Landschaft starrte.

„Soll ich rechts ranfahren?“, fragte Cruz.

Sie schluckte und schüttelte den Kopf. „Nein, es ist eher ein mentales Problem als ein körperliches. Nicht, dass ich deine Mutter nicht kennenlernen möchte.“ Obwohl sie es eigentlich nicht wollte. „Aber ich will sie einfach nicht anlügen.“ Was wie eine einfache Lösung für ihre geschäftlichen Probleme ausgesehen hatte, war blitzschnell außer Kontrolle geraten.

„Wir können ihr auch die Wahrheit sagen“, schlug er vor.

Sie sank tiefer in den Beifahrersitz und schloss die Augen. „Oh, sicher. Das würde alles gleich viel besser machen.“

„Es wird schon gut gehen.“

„Du hast gut reden“, murmelte sie. Männer konnten sich immer leicht rausreden. Wenn die Wahrheit herauskäme, wäre sie diejenige, die in einem schlechten Licht dastünde.

Nicht, dass ihr das wichtig war. Ihr Problem war vielmehr, dass … dass …

Dass Cruz so dicht neben ihr im Auto saß. Sie nahm jede kleinste seiner Bewegungen wahr. Ihr Körper war hypersensibel, ihre Nervenenden gerieten bereits bei der flüchtigsten Berührung in Alarmbereitschaft.

Während sie sich alle erdenkliche Mühe gab, den Sex mit ihm zu vermeiden, musste sie feststellen, dass nicht mit ihm zu schlafen fast genauso verwirrend war wie sich ihm hinzugeben. Er hatte sie weder bedrängt noch auf „sein Recht“ gepocht, und selbst dass sie alleine in seinem großen Bett schlief, hatte er nur beiläufig erwähnt. Sie wusste nicht, wo er die Nächte verbrachte – vermutlich in einem der Gästezimmer. Eigentlich hätte sie das glücklich machen sollen, doch sie musste sich eingestehen, dass sie ihn mit jeder verstreichenden Minute mehr wollte.

Weil sie einfach nicht vergessen konnte, wie es in der einen Nacht vor zehn Jahren zwischen ihnen gewesen war. Man sollte meinen, dass ein Ereignis, das schon so lange zurück lag, nicht mehr von derartiger Bedeutung wäre, aber da irrte man.

Sie dachte daran, wie er sie auf den Mund geküsst hatte, dann am ganzen Körper, vor allem zwischen den Beinen. Etwas, das sie bis dahin noch nie erlebt hatte. Er hatte sie in Sekundenschnelle zum Höhepunkt gebracht, danach sexy und selbstgefällig gelacht und darauf bestanden, dass sie noch mal käme, auf dieselbe Art. Und sie hatte gehorcht.

Er hatte sie geneckt, war zärtlich gewesen und sexy und …

Hör auf, daran zu denken!

Sie schrie sich innerlich regelrecht an. Es ging schließlich darum, keinen Sex mit Cruz zu haben, und an die Vergangenheit zu denken half ihr nicht gerade dabei.

Sie rutschte in ihrem Sitz hin und her. Sie war erregt und fühlte sich zugleich unbehaglich. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie gleich eine alte Frau belügen würden, die es nicht verdient hatte, so behandelt zu werden, und augenblicklich war das Verlangen verschwunden.

„Was hast du ihr über mich erzählt?“, wollte sie wissen.

„Nicht viel. Nur, dass wir uns schon lange kennen und ich dich endlich überzeugen konnte, mich zu heiraten.“

„Toll. Dann bin ich also die Böse?“

Er grinste. „Es ist meine Mutter. Ich werde garantiert nicht der Böse sein.“

Typisch Mann.

In Sugar Land, einer wachsenden Pendlerstadt im Südwesten Houstons, fuhren sie vom Freeway ab. Hier gab es Dutzende Restaurants und Geschäfte, gepflegte Grünflächen und Parks. Ein wahrer Vorstadthimmel. Der ideale Ort für ein Wellnessbad, dachte Lexi abwesend. Sie hatte zwar nicht vor zu expandieren, aber es war interessant.

Zuerst die persönliche Krise, ermahnte sie sich. Das berufliche Brainstorming musste warten.

Lexi wusste zwar nicht viel über Cruz’ Kindheit, aber sie hätte wetten können, dass er nicht aus einem Ort wie diesem kam.

Mrs. Rodriguez musste sehr stolz auf ihren Sohn sein. Ihren einzigen Sohn. Ohne Zweifel das Licht ihres Lebens.

„Sie wird mich hassen“, murmelte sie.

Cruz antwortete mit einem Lachen.

Sie parkten vor einem kleinen Haus in einer hübschen Straße. Lexi stieg aus dem Wagen und gab sich alle Mühe, die aufsteigende Beklemmung herunterzuschlucken. Sie war gut im Umgang mit anderen Menschen. Sie hatte professionelle Trainings bekommen, damit sie sich in Anwesenheit von Prinzen und Präsidenten wohlfühlte und ungezwungen geben konnte. Und wo waren die hochdekorierten Diktatoren, wenn sie mal einen brauchte?

„Atme und lächle“, befahl sie sich im Stillen, während sie auf die Haustür zugingen.

Sie wurde geöffnet, noch bevor Cruz klopfen konnte. Lexi sah eine kleine Frau mit dunklen Haaren und entschlossenem Blick, die Cruz fest umarmte und dabei die ganze Zeit auf Spanisch auf ihn einredete. Sie hatte keine Ahnung, was die andere Frau sagte. Seine Antworten bestanden nur aus „Ja, Mama“ und „Nein, Mama“.

Endlich machte die ältere Frau einen Schritt zurück. „Du lässt deine zukünftige Frau einfach vor dem Haus warten? Cruz, wo sind deine Manieren?“

„Mama, das ist Lexi Titan. Lexi, meine Mutter, Juanita.“

Lexi lächelte und reichte ihr die Hand. „Schön, Sie kennenzulernen, Mrs. Rodriguez.“

Die kleine Frau wischte die Worte mit einer Handbewegung fort. „Nenn mich Juanita. Oder Mama. Das machen alle. Kommt. Kommt rein.“

Sie trieb sie durch den offenen Wohnbereich in eine große Küche, wo aus den Töpfen auf dem Herd köstliche Düfte entwichen.

Der Raum war hell und freundlich, gestärkte Vorhänge schmückten das blitzende Fenster, und die Bodenfliesen glänzten so sehr, dass sie fast als weitere Lichtquelle durchgingen. Sogleich verspürte Lexi den Drang, ihre Schuhe auszuziehen und den Weg, den sie durch die Wohnung gegangen war, zu wischen.

Juanita, hübsch und voller Lebensenergie, stellte sich vor sie und nahm Lexis Hände. „Jetzt lass dich mal ansehen.“

Cruz’ Mutter reichte Lexi bis knapp an die Schultern. Sie war leger gekleidet, trug eine dunkle Hose und eine Bluse. Ihre goldenen Ohrringe schaukelten, als sie den Kopf erst zur einen und dann zur anderen Seite neigte.

„Lexi“, sagte sie. „Du wirst meinen Sohn heiraten? Ja?“

Lexi fühlte sich wie von einer Katze ausgekotzt. „Ja“, flüsterte sie.

„Ich hätte nie gedacht, dass mal jemand meinen wilden Jungen einfängt. Wie hast du es nur geschafft, ihn sesshaft zu machen?“ Juanita hatte einen schwachen Akzent, der ihren Worten einen musikalischen Rhythmus verlieh.

„Das müssen Sie ihn fragen“, erwiderte sie. „Ich weiß es nicht genau.“

„Und du spielst auch keine Spielchen mit ihm?“

Das war zumindest eine Frage, auf die sie ehrlich antworten konnte. „Auf gar keinen Fall. Wir waren von Anfang an ehrlich zueinander. Wir wissen genau, was wir einander geben können und was wir erwarten.“ Ihre Beziehung basierte auf einer Geschäftsverhandlung. Sie hatten ganze fünfzehn Minuten gebraucht, um sich zu einigen.

Juanita schaute zu Cruz. „Sie ist sehr hübsch. Du hast dir eine sehr hübsche Frau ausgesucht.“

Cruz sah Lexi in die Augen. „Ja, aber das ist nicht der Grund, warum ich sie heiraten will.“

Er klang so aufrichtig, dass Lexi ihm am liebsten geglaubt hätte. Was dazu führte, dass sie sich schrecklich fühlte. Wie konnte sie diese liebenswürdige Frau nur anlügen? Aber andererseits: Wie könnte sie ihr die Wahrheit sagen?

Sie dachte an ihren Vater und an ihren verzweifelten Wunsch, er möge ihr sagen, dass er sie liebe und stolz auf sie war. Sie war dreißig Jahre alt. Wann würde sie endlich akzeptieren, dass Jed nie der Vater wäre, nach dem sie sich sehnte? Dass es ihm Spaß machte, wenn sich die Menschen um ihn herum wie Würmer wanden?

Sie lächelte Juanita an und setzte sich zu ihr an den runden Küchentisch in der Ecke. An diesem Tag würde sie es offenbar noch nicht akzeptieren.

Juanita hatte Salat und Tamale gemacht. So sehr Lexi lateinamerikanisches Essen auch mochte, sie bekam kaum etwas herunter, obwohl Cruz charmante Geschichten über ihre Vergangenheit erzählte, ihr Kennenlernen inbegriffen.

„Du hast dein Auto aufs Spiel gesetzt?“, fragte Juanita.

Lexi seufzte. „Ich war jung und dumm, und ich dachte, ich würde gewinnen. Ich war ja so naiv. Natürlich habe ich verloren.“

Seine Mutter sah ihn ungläubig an. „Und du hast ihr Auto genommen? Was für ein Mann macht denn so was?“

„Das gehörte zu meinem Job.“

„Einem illegalen Job.“ Sie wechselten ein paar schnelle spanische Worte.

„Er hat es mir zurückgegeben“, beschwichtigte Lexi. „Er hat mein Auto die ganze Zeit über verwahrt und es mir gewissermaßen zur Verlobung geschenkt.“

Juanita sah zwischen den beiden hin und her. „Du hast ihr Auto gewonnen und es dann nicht verkauft?“

Cruz schien sein Essen auf einmal hochinteressant zu finden. „Ach, weißt du, ich war zu beschäftigt. Bin nicht dazu gekommen.“

Lexi lächelte. Als sie aufsah, bemerkte sie, dass Juanita sie beobachtete. Dann nickte sie langsam. „Verstehe“, sagte sie. „Habt ihr schon ein Datum für die Hochzeit?“

Lexi hätte sich beinahe verschluckt. „Ähm, nein, noch nicht. Wir wollen noch ein bisschen warten.“

„Es gibt ja keinen Grund zur Eile“, fügte Cruz hinzu.

Juanita nickte. Lexi rechnete mit Protest, doch Cruz’ Mutter schien sich über irgendetwas zu freuen.

„Aber ich bekomme doch Enkelkinder, oder?“

Cruz wurde blass. Wenn dieses Thema nicht auch Lexi betroffen hätte, hätte er ihr vielleicht leidgetan. Aber so war diesmal sie an der Reihe, mit großem Interesse auf ihren Teller zu starren.

„Mama, können wir bitte ein andermal darüber sprechen“, sagte er bestimmt.

„Ich werde ja auch nicht jünger.“ Sie warf die Hände in die Luft. „Schon gut. Ich will euch nicht bedrängen. Aber ich will mindestens vier. Mein Nachbar hat auch vier. Das ist eine gute Zahl. Füllt die Stühle am Tisch.“

Als sie zwei Stunden später wieder im Auto saßen, wartete Lexi, bis Cruz auf den Freeway gefahren war, ehe sie sagte: „Sie ist deine Mutter, und ganz offensichtlich liebst du sie. Macht es dir gar nichts aus, sie so anzulügen?“

Er zuckte die Achseln. „Ich finde es nicht gerade toll, aber es ist notwendig. Sie würde die Wahrheit nicht verstehen.“

Lexi fragte sich, ob sie selbst sie verstand. Sie wusste genau, was sie von ihrem Deal hatte, aber Cruz? Ging es ihm wirklich nur um ihren Stammbaum? Wie weit würde er gehen?

„Ich habe mein Leben lang Dinge vor ihr geheim gehalten“, fuhr er fort. „Es hat sich also nichts geändert.“

„Was für Dinge?“

„Wie ich zu meinem Geld gekommen bin.“

„Immerhin wusste sie von deinen Autorennen.“

Er sah sie an, dann wieder auf die Straße. „Das war aber auch das Einzige. Mit zwölf bin ich Mitglied in einer Gang geworden. Ich machte Botengänge und stand bei Überfällen Schmiere. Dafür bekam ich Geld. Ich habe es gespart, bis ich genug hatte, um mir eine Waffe zu kaufen.“

Sie riss die Augen auf. „Im Ernst?“

„Es gab da etwas, worauf ich aufpassen musste. Frag nicht, was. Als die Sache erledigt war, habe ich es geschafft, aus der Gang auszusteigen. Ich habe so getan, als wäre ich zu jung und zu ängstlich, um bei den richtig üblen Sachen mitzumachen. Dann fing ich mit den Autorennen an. Irgendwann nahm ich das Geld, das ich für die gewonnenen Autos bekommen hatte, und investierte es in legale Geschäfte. Autoteile, Handelsunternehmen. Ich habe einen Partner, der für mich die Geschäfte abwickelt. Manny. Wir kennen uns schon, seit wir Kinder waren. Wir sind in derselben Straße aufgewachsen.“

Sie hatte gewusst, dass seine Vergangenheit auch gefährliche Zeiten beinhaltete – sie hatte nur nicht gewusst, wie schlimm es wirklich gewesen war. „Du hast einen langen Weg hinter dir.“

„Ich hatte Ziele und keine Angst, dafür zu arbeiten. Ich tat, was getan werden musste.“

„Hast du die High School abgeschlossen?“

Er lächelte. „Oh ja. Dafür hat meine Mom gesorgt. Sie ist klein, aber entschlossen. Ihretwegen war ich immer vorsichtig. Ich hatte keine Angst vor dem Gefängnis, aber zu riskieren, dass sie sauer auf mich war? Auf keinen Fall.“

„Aber du warst im Gefängnis.“

„Ein paar Mal. Aber nicht mehr nach meinem achtzehnten Geburtstag. Die Akten sind alle geschlossen.“ Er sah wieder zu ihr rüber. „Überdenkst du unseren Deal jetzt noch mal?“

„Nein. Ich bin kein bisschen überrascht.“

„Weil du wusstest, dass ich böse war.“

„Du bist ja vieles, Cruz, aber bestimmt nicht böse.“

„Da irrst du dich, Lexi. Ich kann so böse sein, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“

So wohlbehütet, wie sie in Titanville unter dem Schutz ihres Vaters aufgewachsen war, mochte das sogar stimmen.

„Gibt es noch mehr Geister aus der Vergangenheit, von denen ich wissen sollte?“

„Nein. Hast du denn irgendwelche dunklen Geheimnisse?“, konterte er.

Wenn sie doch nur welche hätte … „Leider nein. Mein Leben ist genau so, wie du es dir vorstellst.“

Langweilig.

Sie wusste nicht, woher das Wort kam. Auf einmal war es da.

Ich bin nicht langweilig, sagte sie sich. Ich führe ein gutes Leben. Meine Arbeit, meine Schwestern … Aber niemand Besonderes. Sie hatte schon immer eine Familie gewollt, hatte sich verlieben wollen. Einmal wäre es fast soweit gewesen. Mit Andrew. Letztlich hatte es in einer Katastrophe geendet.

„Woran denkst du?“, fragte Cruz.

„Ach, an nichts Besonderes.“

Lexi betrat ihr ehemaliges Kinderzimmer. Ihre beiden Schwestern waren schon da. Skye trug ein kurzes grünes Cocktailkleid, das ihre sinnlichen Kurven betonte. Das rot gelockte Haar fiel ihr über die Schultern. Eine Perlenkette zierte ihren Hals.

Beim Anblick von Skyes Schönheit sabberten die Männer wie Hunde an der Fleischtheke. Lexi hätte schwöre können, dass sie den einen oder anderen schon hecheln gehört hatte. Skye war eine irdische Göttin. Lexi hingegen wurde immer mit einer Eisprinzessin verglichen – kalt, unerreichbar und fern. Ein Gegensatz, über den sie sich nie gefreut hatte.

Jedes Mal, wenn sie zufällig Männergespräche über sie beide mitbekam, verspürte sie den Drang, den Männern klarzumachen, dass auch sie warm und sexy sein konnte. Sie war sich ganz sicher. Aber auf die Unterhaltung, die einer solchen Bemerkung zwangsläufig folgen würde, konnte sie gut verzichten – zumal sie sich nicht sicher war, ob sie als Siegerin daraus hervorgehen würde.

„Wenigstens blute ich nicht“, sagte Izzy fröhlich, als sie aus dem Badezimmer kam. Sie sah Lexi und lächelte. „Du hast dich verlobt und mir nichts davon erzählt?“

Lexi lachte und ging auf sie zu. „Und jetzt bist du am Boden zerstört, stimmt’s?“

Izzy, die nur einen Tanga und einen trägerlosen BH trug, umarmte sie innig. „Mehr als das. Du siehst gut aus. Erzählt mir von dem Mann. Ist er heiß? Ich hoffe, dass er heiß ist.“

Lexi machte einen Schritt zurück. „Er ist heiß.“

„Das sagst du“, erwiderte Izzy. „Ich werde dir später sagen, was ich denke.“

„Hast du das gesehen?“, fragte Skye und zeigte auf Izzys Bein.

Lexi schaute nach unten und heulte kurz auf, als sie die lange Schramme sah. Von der Mitte des Oberschenkels bis kurz unters Knie verlief eine dick verkrustete Wunde.

„Ich will gar nicht wissen, woher du das hast“, meinte Lexi.

„Vom Klettern.“ Izzy klang vergnügt. „Ich bin abgerutscht. Ist nicht schlimm. Mir geht’s gut.“

Lexi sah zu Skye, die die Augen verdrehte.

„Sie wird nie erwachsen“, kommentierte sie. „Ich habe ihr gesagt, sie soll vorsichtig sein, aber glaubst du, sie hört mir zu?“

„Oh, bitte“, wandte Izzy ein. „Ich bin schon groß.“

Die beiden Schwestern zogen sich auf liebevolle Art auf. Lexi versuchte, sich über den Schlagabtausch zu amüsieren, aber sie fühlte sich irgendwie ausgeschlossen.

So war es schon immer, dachte sie wehmütig. Skye und Izzy waren nur ein Jahr auseinander. Sie war drei Jahre älter. Skye und Izzy hatten die gleiche Mutter und den gleichen Vater. Lexi war nur durch Jed mit ihren Schwestern verbunden. Manchmal fühlte sie sich wie eine Außenseiterin.

Izzy schlüpfte in eine Seidenhose mit Schlitz an der Seite. Die Öffnung reichte bis knapp unter die Wunde. Dazu zog sie ein leuchtend rotes Neckholdertop an, das perfekt zu ihren dunklen Haaren und den braunen Augen passte. Sie war das heiße, wilde Kind.

Sie betrachtete sich im Spiegel. „Okay, ich sehe toll aus. Also Lexi, dann lass mal alles über den Typen hören. Cruz Rodriguez. Den Namen kenne ich. Er ist reich, was ich nicht besonders spannend finde. Aber er hat einen eigenen Rennstall. Ob er mich wohl mal einen seiner Superflitzer fahren lässt?“

„Frag ihn doch“, schlug Lexi vor und machte sich im Geiste eine Notiz, Cruz aufzufordern, ihr den Wunsch abzuschlagen. Izzy brauchte niemanden, der ihre Abenteuerlust zusätzlich anstachelte.

„Du bist doch nicht schwanger, oder?“, erkundigte sich Izzy.

Lexi hustete. „Nein. Weit davon entfernt.“ Denn dazu wäre Sex erforderlich, und das war ja etwas, das sie seit knapp zwei Wochen erfolgreich zu verhindern wusste.

„War ja nur eine Frage. Du hast es so lange vermieden, dich fest zu binden. Ich kann mir nicht erklären, warum du deine Meinung geändert hast.“

„Sie hat sich Hals über Kopf verliebt“, mischte Skye sich ein. „Zumindest ist das die Geschichte, die sie mir aufgetischt hat. Oder gibt es inzwischen eine neue?“

Lexi behielt die fröhliche Maske auf, obwohl sie am liebsten in Deckung gegangen wäre. „Nein. Es ist die Liebe.“

„Hmm.“ Skye sah diskutierwütig aus.

Izzy nahm die goldene, mit Diamanten besetzte Halskette vom Frisiertisch. „Besser du als ich“, sagte sie. „Ich fände es entsetzlich, mich zu binden. Männer sind toll. Um Sex zu haben, meine ich. Was ist schlecht daran? Aber eine feste Bindung? Ist so was von nicht mein Ding.“

„Familie ist wichtig“, wandte Skye ein. „Wurzeln sind wichtig. Möchtest du nicht zu jemandem gehören? Einen Platz haben?“

Izzy schloss die Kette, legte den Finger quer zwischen ihre Lippen und machte ein Geräusch, als wäre sie geknebelt.

Wie verschieden sie doch waren. Lexi musste lächeln. Skye und Izzy hatten zwar die gleiche Mutter, aber trotzdem trennten sie Welten. Skye wollte ein traditionelles Leben. Izzy ging es darum, jeden erdenklichen Nervenkitzel mitzunehmen, immer und immer wieder. Und Lexi … Sie zog die Stirn kraus. Wo stand sie? Vielleicht irgendwo dazwischen?

Aber jetzt ist alles anders, dachte sie traurig. Seit Jed uns zu Konkurrentinnen gemacht hat.

„Was ist los?“, fragte Izzy, als sie ihren Blick im Spiegel auffing.

„Nichts.“

„Es ist doch irgendwas.“

„Jed. Der Deal. Die Siegerin kriegt alles.“

Die Schwestern sahen einander an.

„Er hat seine Gründe“, meinte Skye und hörte sich geziert an.

„Dämliche Gründe“, erwiderte Izzy. „Er ist ein Volltrottel.“

Vielleicht, dachte Lexi. Aber obwohl Izzy stets behauptete, die Meinung ihres Vaters spiele keine Rolle, hatte sie ihm nicht sagen wollen, dass sie an dem Erbe nicht interessiert war.

Die Siegerin bekommt alles, dachte sie. Was hieß, dass zwei von ihnen leer ausgingen. Sie hatten Witze darüber gemacht, dass Lexi die Firma wollte, Skye Glory’s Gate und Izzy die Welt. In Wahrheit wollten sie alle drei einen Vater, der sie liebte. Die Siegerin bekam alles.

Sie schüttelte das deprimierende Thema ab. „Izzy, kennst du Garth Duncan?“

Ihre jüngste Schwester drehte sich zu ihr um. „Ich habe schon mal von ihm gehört, aber ich glaube nicht, dass ich ihm schon begegnet bin. Warum? Würde er mir gefallen?“

Lexi lachte. „Keine Ahnung. War nur so eine Frage.“

„Ob Cruz mir wohl gefallen wird?“

„Ja.“

„Du hast keine Sekunde gezögert“, stellte Skye fest. „Bist du dir so sicher?“

Lexi machte sich über eine Menge Gedanken, aber nicht über die Begegnung zwischen ihren Schwestern und ihrem Verlobten – auch wenn es ein falscher Verlobter war.

„Ja, das bin ich.“

Sie gingen nach unten. Cruz stand an der Bar und unterhielt sich mit einem anderen Mann. Skye zeigte ihn Izzy.

„Da ist er.“

Als hätte Cruz ihr Interesse gespürt, drehte er sich um und schenkte ihnen sein Killerlächeln. Durch Lexis Körper raste ein Zittern. Neben ihr fächerte sich Izzy mit den Fingern Luft zu.

„Wenn du mit ihm fertig bist, kann ich ihn dann haben?“, flüsterte ihre kleine Schwester. „Nur für Sex. Es wäre nichts Ernstes. Er ist der Hammer.“

„Das ist ja mehr als geschmacklos“, murmelte Skye. „Du bist unmöglich, Izzy.“

„Deshalb habe ich ja auch am meisten Spaß.“

Cruz kam auf sie zu. Lexi stellte sie vor. Er war charmant wie immer, schien aber nur Augen für sie zu haben. Sie konnte die Hitze in seinem Blick spüren. Das Verlangen. Ihr wurde am ganzen Körper heiß, und einen Moment lang fragte sie sich, warum sie ihm überhaupt widerstehen wollte.