1. KAPITEL

Es sind doch nur zwei Millionen. Ist das etwa ein Problem?“

Lexi Titan zwang sich zu einem Lächeln. „Natürlich nicht“, log sie, während sie sich fragte, ob John, ihr Bankberater, den Verstand verloren hatte. Zwei Millionen Dollar? Sie sollte zwei Millionen Dollar in einundzwanzig Tagen aufbringen? Na klar. Sie würde einfach nach Hause gehen und die Sofaritzen absuchen. Irgendwo zwischen den Kissen musste doch noch der eine oder andere zerknüllte Eine-Million-Dollar-Schein stecken.

„Zur Not kannst du ja deinen Vater fragen“, schlug John vor und studierte dabei die Unterlagen auf seinem Schreibtisch, als wären sie das Interessanteste auf der Welt.

Lexi lächelte. „Vielen Dank für den Tipp“, erwiderte sie, als sie aufstand. Ihren Vater fragen? Eher nicht. Selbst wenn Jed Titan gewillt wäre, sie aus der Sache herauszuhauen – ihn um Hilfe zu bitten würde ihren sorgfältig ausgeklügelten Dreijahresplan mit einem Schlag zunichte machen. „Ich melde mich wieder.“

„Warte nicht zu lange, Lexi.“ John erhob sich und schüttelte ihr die Hand. „Wenn du das Geld in drei Wochen nicht aufgetrieben hast, verlierst du alles.“

John hatte es tatsächlich geschafft, die Katastrophe ihres Lebens in einem einzigen Satz zusammenzufassen.

„Ich überlege mir was“, sagte sie. „Du hörst in ein paar Tagen von mir.“

John wirkte verlegen. „Eigentlich sehen wir uns ja schon heute Abend, auf der Benefizveranstaltung deiner Schwester.“

Wo er allen und jedem die Nachricht über ihr Unvermögen auf die Nase binden würde? „Gilt für Bankberater eigentlich dasselbe wie für Anwälte? Hast du so etwas wie eine Schweigepflicht?“

„Ja“, versicherte er ihr. „Wir halten uns an einen Ehrenkodex. Meine Lippen sind versiegelt.“

Hoffentlich sagte er die Wahrheit. „Dann bis heute Abend“, verabschiedete sie sich mit gespieltem Enthusiasmus. Sie nahm ihre Tasche und verließ das elegante Büro.

Frust und Verärgerung jagten sie den mit Teppich ausgelegten Flur entlang. Sie schlüpfte durch den nächsten Ausgang und ging über den Parkplatz zu ihrem Auto. Als sie auf dem Fahrersitz saß, musste sie sich zusammenreißen, um nicht die Stirn gegen das Lenkrad zu schlagen. Sie konnte es akzeptieren, wenn es mal schlecht lief. Aber sie fand es unerträglich, wenn sie selbst schuld daran war.

„Wenn du Mist baust, musst du stark sein.“

Sie stöhnte, als sie in ihrem Kopf eine Stimme aus der Vergangenheit hörte, die diese Familienweisheit vortrug. Sie steckte in großen Schwierigkeiten, und die Einzige, der sie die Schuld daran geben konnte, war sie selbst.

Dreißig Minuten später hatte sie Dallas hinter sich gelassen und die Stadtgrenze von Titanville erreicht. Sie ignorierte das Schild, das sie mahnte, fünfzig zu fahren, und düste die Schnellstraße hinunter. Ihr Leben war ein riesiger Misthaufen, der noch viel größer wurde, als sie hinter sich eine Sirene hörte.

Lexi fuhr an den Straßenrand und ließ die Scheibe herunter. Sie wartete, bis der Deputy Sheriff neben ihr stand, nahm dann die Sonnenbrille ab und seufzte.

„Falls Sie mich verhaften wollen – könnten Sie mich vorher bitte ein bisschen vermöbeln? Dann könne ich nämlich die Polizei verklagen.“

„Weil es so eine lahme Woche ist?“, fragte die Polizistin.

„Weil ich ein wenig Geld brauche.“

„Über welche Summe reden wir?“

„Zwei Millionen Dollar.“

Deputy Dana Birch stieß einen Pfiff aus. „Ich habe im Auto noch einen Rabatt-Coupon von einem Einrichtungsladen, aber das wird wohl kaum reichen.“ Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Willst du darüber reden? Ich habe in fünfzehn Minuten Mittagspause. Wir könnten uns bei Bronco Billy’s treffen.“

Lexi nickte. „Das wäre toll. Aber ich werde dir nur die Ohren volljammern.“

„Das bin ich ja schon gewohnt“, erwiderte Dana unbekümmert. „Und jetzt hör auf so zu rasen. Du weißt, dass ich das nicht leiden kann.“

„Schon gut. Tut mir leid.“

Eine Viertelstunde später setzte sich Dana zu Lexi an den Tisch. Es war noch früh, halb zwölf, weshalb in dem Restaurant nicht viel los war. Lexi hatte sich die Wartezeit damit vertrieben, sich die zahlreichen Clint-Eastwood-Poster an den Wänden anzusehen. Bronco Billy’s feierte Clint auf jede erdenkliche Art. Seine Filme liefen in Endlosschleifen in den scheinbar wahllos aufgestellten Fernsehern, es gab T-Shirts und DVDs zu kaufen, und der „Ist heute dein Glückstag, Penner?“-Eisbecher war in der Gegend der absolute Knaller.

Dana schaute gar nicht erst in die Karte, sondern fragte sofort: „Was ist passiert? Hat dir jemand zu unsanft die Bikinizone gewachst?“

Lexi tat, als hätte sie die schnippische Bemerkung nicht gehört. Normalerweise hatten sie und Dana großen Spaß daran, sich wegen ihrer extrem unterschiedlichen Auffassungen von weiblicher Schönheit zu kabbeln. Lexi war Inhaberin eines luxuriösen Wellnesstempels und überzeugt davon, dass eine Frau das Beste aus sich machen sollte. Dana hingegen fand, dass es völlig ausreichend war, wenn sie während ihrer täglichen dreiminütigen Dusche eine Pflegespülung in den Haaren verteilte. Lexi war sich nicht mal sicher, ob Dana wusste, wozu man Mascara benutzte.

Dana hatte dunkle, kurze Haare, trug während der Arbeit eine Uniform und in ihrer Freizeit Jeans und T-Shirt. Die beiden Frauen kannten sich, seit sie zehn waren, und Lexi hatte Dana in all den Jahren erst dreimal im Kleid gesehen.

Dana lehnte sich zurück. „Alles klar, du hast also ernste Sorgen. Was ist los?“

„Das mit den zwei Millionen vorhin war kein Spaß. Ich muss mir überlegen, wie ich sie in drei Wochen auftreibe.“

„Wirst du erpresst oder so?“

Lexi musste lächeln. „Du bist wirklich durch und durch ein Cop. Keine Erpressung. Nur ich, eine dämliche und gierige Kuh.“ Sie seufzte. „Als ich aus der Firma meines Vaters ausgestiegen bin, um mein eigenes Geschäft aufzuziehen, hatte ich ein kleines Erbe von meiner Großmutter. Das reichte zwar, um das Venus Envy zum Laufen zu bringen, aber für mehr auch nicht. Abgesehen von meiner Wohnung hatte ich keinerlei Privatvermögen. Und ohne die richtige Bilanz ist es weit weniger von Bedeutung, eine Titan zu sein, als die Leute denken. Auf jeden Fall kam ich gehörig ins Schlingern. Vor ungefähr zwei Jahren rief mich eines Tages mein Bankberater an. Einer seiner Kunden wolle mir für die Vergrößerung meines Geschäfts zwei Millionen Dollar leihen. Die Bedingungen waren simpel – ich brauchte bloß meine Raten direkt an ihn zu zahlen. Er wollte nicht mal einen Geschäftsanteil. Mit dem Geld kaufte ich das Gebäude und vergrößerte und renovierte mein Day Spa. Ein Traum hatte sich erfüllt. Aber es gab einen Haken.“

„Wie fast immer“, warf Dana ein.

„Der Investor hielt seine Identität geheim, und das Darlehen war rückforderbar. Er konnte jederzeit die Rückzahlung der vollen Summe binnen einundzwanzig Tagen verlangen.“ Sie zuckte die Achseln. „Der Countdown hat heute begonnen.“

Dana fluchte. „Steckt dein Dad dahinter? Das klingt verdächtig nach Jed.“

„Ich weiß es nicht“, gestand Lexi. „Aber ich habe mich das auch schon gefragt.“ Jed Titan war in der Geschäftswelt von Texas eine lebende Legende. Hatte ihr Vater ihr einen Kredit gewährt, nur um ihn zurückzuverlangen? Gewissermaßen als Test?

„Aber ich tendiere zu Nein“, fuhr Lexi fort, „weil Jed nicht so subtil ist. Wenn er mich fertigmachen wollte, würde er es offen tun.“

„Wer ist es dann?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Und mein Bankberater wird es mir auch nicht verraten.“

Dana schnaubte verächtlich.

„Was?“, fragte Lexi.

„Dein Bankberater. Du hast einen Bankberater. Ich kenne da so einen kleinen Geldautomaten neben der Drogerie, aber wir waren nie mehr als flüchtige Bekannte.“

„Alle Geschäftsleute haben Bankberater“, erklärte Lexi, doch sie wusste, dass Dana ihr nicht glaubte, wenn auch zu Unrecht. Jeder dachte, es bedeutete etwas, eine Titan zu sein. Vielleicht stimmte das ja sogar – aber was es auch bedeuten mochte, es war nicht zwangsläufig gut.

„Was hast du denn jetzt vor?“, wollte Dana wissen. „Im Ernst, ich habe fünftausend Dollar gespart. Die kannst du gern haben, aber das dürfte dir wohl kaum eine Hilfe sein.“

„Lieb von dir, dass du es mir anbietest, aber danke. Das ist die Ironie an der Sache. Jeder geht davon aus, dass die Titan-Mädchen im Geld schwimmen, aber so ist es nicht. Na gut, Skye hat das Erbe von ihrer Mutter, aber Izzy und mir geht es wie jedem anderen auch: Wir hangeln uns von einem Gehaltsscheck zum nächsten. Jed verfügt über das gesamte Familien-vermögen, und er will, dass wir uns beweisen, bevor wir einen Teil vom Familiengeschäft bekommen. Deshalb habe ich das Day Spa ja überhaupt erst aufgebaut. Es war mein großartiger Plan, um zu zeigen, dass ich es auch allein schaffe. Und ich denke gar nicht daran, jetzt alles an irgendeinen gesichtslosen Mistkerl zu verlieren. Ich werde einen Weg finden, die zwei Millionen aufzutreiben. Ich werde alles tun. Ganz egal, was.“

Dana tippte auf das Namensschild auf ihrer linken Brusttasche. „Vorsicht, kleine Lady. Du willst doch nicht etwa gegen das Gesetz verstoßen?“

„Falls doch, werde ich es dir nicht auf die Nase binden.“

„Immerhin.“

Die Kellnerin kam. Sie bestellten Burger mit Pommes Frites und Cola light, schließlich war die richtige Balance das A und O.

„Ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich so dumm war“, sagte Lexi, als sie wieder alleine waren. „Das macht mich besonders wütend. Dass ich es doch eigentlich besser weiß.“ Sie seufzte. „Okay. Ich verspreche dir, dich für den Rest der Mittagspause nicht mehr vollzujammern. Wie geht es dir denn?“

„Deine Schwester ist eine wahre Nervensäge“, grummelte Dana. „Skye gibt heute Abend im Haus oben eine ihrer extravaganten Partys, um Geld für ihre Stiftung zu sammeln, und sie erwartet von mir, dass ich komme. Dabei weiß sie genau, dass ich solche Veranstaltungen nicht ausstehen kann.“ Sie verdrehte die Augen. „Meine Freundin besitzt eine Stiftung. Das ist wie ein Leben in einem Paralleluniversum.“

„Wenigstens kannst du ihr absagen“, erinnerte Lexi sie. „Ich muss hingehen. Aber ich will mich gar nicht beschweren. Vielleicht verliert ja jemand ein wertvolles Diamantcollier, das ich mir krallen kann.“

Dana hob die Augenbrauen, und Lexis Blick fiel auf ihr Dienstgradabzeichen.

„’Tschuldigung“, murmelte sie. „Du hast nichts gehört.“

„Zum Glück glaube ich nicht, dass du so was tun würdest. Denk mal positiv: Dort wird ein ganzes Rudel langweiliger, stinkreicher Typen auflaufen. Vielleicht kannst du einen davon überreden, dir ein Darlehen zu geben.“

„Ich weiß aber nicht, ob ich denen wirklich das geben will, was sie für so ein Darlehen verlangen würden.“

„Das ist wieder eine andere Sache.“

Lexis Gesicht hellte sich auf. „Los, komm doch mit. Das wird sicher lustig. Du kannst über jeden lästern. Das wird dir Spaß machen.“

„Nein danke“, erwiderte Dana. „Ich habe eine Verabredung.“

„Mit Martin?“ Lexi zwang sich, nicht die Augen zu verdrehen.

„Warum sagst du das so komisch?“

„Weil Martin genauso ist wie all die anderen Typen, mit denen du was hattest. Er ist viel zu nett, und du kommandierst ihn nur herum.“

„Mache ich gar nicht.“

„Tust du wohl. Du suchst dir immer diese netten, bescheidenen Männer, die dich anhimmeln und zugleich Angst vor dir haben. Du gibst in der Beziehung den Ton an und beschwerst dich dann darüber, dass du dich langweilst. Du brauchst mal jemanden, der dich etwas herausfordert.“

„Sagt die Frau, die seit einem halben Jahr kein Date mehr hatte. Du bist nicht gerade eine Expertin in Sachen Beziehungen.“

„Ich muss mich um meine Karriere kümmern. Um mein Geschäft.“

Dana warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

Lexi ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. „Das ich in drei Wochen verlieren werde, wenn nicht bald ein Wunder geschieht.“

„Deiner Schwester gehört eine Wohltätigkeitsorganisation. Bitte sie doch um das Geld.“

„Sie würde es mir nicht geben. Sie hortet es für benachteiligte Kinder. Du kennst doch Skye. Sie ist quasi eine Heilige. Geradezu nervig heilig.“

„Was du nicht sagst. Zumindest wird es heute Abend gutes Essen geben. Und du kannst deine Sorgen in Aperitifs mit lustigen Namen ertränken. Du darfst dich nur nicht betrinken.“

Lexi setzte sich aufrecht hin. „Du brauchst wirklich dringend einen Mann, der sich nicht herumschubsen lässt.“

Dana grinste. „So etwas gibt es nicht.“

„Oh doch, und ich kann es kaum erwarten, bis du ihm endlich begegnest. In der Zwischenzeit muss ich einfach einen Mann finden, der sich von mir herumschubsen lässt. Oder es muss ein Wunder geschehen. Wenn ich es mir aussuchen dürfte, würde ich gerne das Wunder nehmen.“

Cruz Rodriguez hatte nie daran geglaubt, dass Autos und Frauen viel gemeinsam hatten. Er liebte Autos – sie waren sein Leben. Aber sie konnten ihn nachts nicht wärmen … oder morgens. Und selbst wenn sie brandneu waren, rochen sie nicht so gut wie eine schöne Frau kurz vor der Kapitulation.

Er stieg aus seinem silbernen Bugatti Veyron und warf dem jungen Mann vom Parkservice den Schlüssel zu. Der konnte sein Glück kaum fassen und starrte den Wagen an.

„Oh Mann. Den lassen Sie mich fahren?“

Cruz betrachtete sein Auto. „Hast du vor, ihn kaputt zu machen?“

„Nein Sir!“ Der Junge ging dichter ran und streckte eine Hand aus, um die Seite zu berühren, zog sie dann aber zurück. „Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe.“

Cruz lächelte und ging auf das große Haus zu. Nun war er an der Reihe, das Schönste zu betrachten, das er je gesehen hatte.

Lexi Titan stand auf der Veranda von Glory’s Gate und sprach mit einem ihm unbekannten Paar. Selbst aus der Entfernung konnte er ihr kunstvoll hochgestecktes blondes Haar sehen und die feinen, klassischen Züge ihres perfekten Gesichts. Sie lachte über irgendeine Äußerung der Frau. Der Klang ihres Lachens trug ihn auf der warmen Abendluft fort. Es war ein Klang, den er aus längst vergangenen Zeiten kannte.

Er wusste alles über Lexi – an Statistiken heranzukommen war nicht schwer, und außerdem hatte er sich die Zeit genommen, sich an sie zu erinnern. Er wusste eine Menge. Wie sich ihre Haut anfühlte und wie ihr Atem ging, wenn sie sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Dass sie ihren richtigen Namen nicht leiden konnte, und dass sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengten und sich ihr die Nackenhaare aufstellen, wenn man ihn aussprach. Er wusste, dass Stolz ihre größte Stärke und zugleich ihre größte Schwäche war, dass sie spielte, um zu gewinnen, und dass sie selbst dann noch mit einer von ihm nie erreichten Größe verlor, wenn sie mit dem Rücken an der Wand stand.

Sie war in eine wohlhabende Familie geboren worden. Er war ein Mann, der sich seinen Weg nach oben hart erkämpft hatte. Doch noch immer gab es unzählige soziale Türen, die ihm verschlossen blieben. Und genau deshalb war er hier. Er war bereit, diese Türen zu öffnen … wenn nötig auch mit Gewalt. Und ob sie wollte oder nicht, Lexi würde ihm dabei helfen.

Er ging die sechs Stufen zur Eingangstür hinauf, sorgsam darauf bedacht, dass immer ein paar Gäste zwischen ihm und Lexi standen. Sie sollte ihn jetzt noch nicht sehen. Er wollte bestimmen, wann und wo sie sich trafen, damit der Vorteil auf seiner Seite war. Ein weniger selbstbewusster Mann hätte sich gefragt, ob sie ihn vielleicht vergessen hatte, aber er wusste, dass sie sich noch an ihn erinnerte. Keine Frau vergaß ihr erstes Mal.

Im Haus angekommen, nahm er sich einen Moment, um die Architektur des Gebäudes zu bewundern. Es war in den 1940ern erbaut worden, als das Land billig war und ein Mann nach der Kraft seiner Pferde, der Schönheit seiner Frauen und der Größe seines Hauses beurteilt wurde.

Beidseitige Treppenaufgänge führten in einem Bogen hinauf zur ersten Etage, auf einen Treppenabsatz von der Größe einer Landebahn. Das funkelnde Licht im Eingangsbereich spiegelte sich in den schwarzweißen Fliesen. An einer der gewölbten Wände stand ein Flügel. Was war schon eine Eingangshalle ohne Flügel?

Obwohl er Glory’s Gate zum ersten Mal betrat, wusste er, dass die in sechs Metern Höhe liegenden Decken handgeschnitzt waren. Er bemerkte, dass die scheinbar gemauerten Wände der beiden Wohnzimmer und des Salons zur Seite gerollt worden waren, wodurch sich Raum für mindestens fünfhundert Personen bot. Er betrat ein elegantes Zimmer, das hauptsächlich in Gold und Salbeigrün mit einem Hauch Rot gehalten war. Im mittleren Salon waren für die Auktion, die dem Empfang folgen sollte, mehrere Reihen Stühle ohne Armlehnen aufgestellt worden.

Er war gekommen, um gesehen zu werden. Um Schulter an Schulter mit der texanischen Elite zu stehen. Um einen Weg in ihre erlesene Gemeinschaft zu finden. Eine Wohltätigkeitsauktion war der perfekte Rahmen, um mit Raffinesse und Klasse seine Präsenz zu zeigen. Wenn er hier Geld spendete, würde man ihn auch zu anderen Benefizveranstaltungen einladen. Mit der Zeit würde man ihn akzeptieren. Zumindest war das sein Plan.

Er ging tiefer in den Raum hinein, bestellte einen Scotch pur an der Bar und betrachtete dann die Leute, die er nur vom Hörensagen kannte. Er wusste genau, wann Lexi das Zimmer betrat und mit welchen Gästen sie sich unterhielt. Während er sie dabei beobachtete, wie sie sich zu ihrer Schwester gesellte, fragte er sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie ihn entdeckte. Lexi Titan wäre in der Lage, ihm alles zu geben, was er wollte. Es gab nur ein Problem – seit ihrer letzten Begegnung mochten vielleicht zehn Jahre vergangen sein, doch er war sich sicher, dass sie ihn eher töten würde, als ihm ihre Hilfe anzubieten.

Lexi versteckte sich, bis der Senator Skye zur Begrüßung auf die Stirn geküsst hatte und weiterging. Zwar bewunderte sie ihn für seine Redegewandtheit, aber er war auch ein bekannter Frauenheld, und sie war nicht in der Stimmung, sich von einem alten Knacker an den Hintern grapschen zu lassen.

„Sag mir, warum du dir das antust“, begrüßte sie ihre Schwester. „Hast du nicht schon genug Geld, um mit deiner Stiftung zu tun, was immer du tun musst?“

Skye Titan, Lexis jüngere Schwester, nahm einen Schluck Champagner. „Soll ich dir mal sagen, wie viele Kinder in Amerika jeden Abend hungrig zu Bett gehen?“

„Ich hatte einen schlechten Tag. Ich will mich nicht auch noch klein und wertlos fühlen. Bitte.“

„Tut mir leid.“

Die Schwestern umarmten sich.

Lexi trat einen Schritt zurück und musterte Skye in ihrem grünen Abendkleid. „Du siehst fabelhaft aus. Ich bin neidisch auf dein Dekolleté.“ Sie blickte auf ihren kleinen Busen hinab. „Mir sind nie richtige Brüste gewachsen.“

„Sie sind weniger aufregend als du denkst“, versicherte Skye ihr. „Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst. Du kannst meine Wohltätigkeitsveranstaltungen doch nicht ausstehen.“

„Das kann man so nicht sagen. Ich unterstütze den Anlass. Aber ich stehe nicht so auf den Small Talk mit all den Reichen und Mächtigen.“

Skye grinste. „Ich weiß, dass es langweilig ist. Aber ich muss Geld sammeln. Einfach nur Scheckanfragen per Post zu verschicken ist nicht annähernd so lukrativ wie diese Partys. Wie geht es dir?“

Lexi erwog kurz, ihr von den zwei Millionen Dollar zu erzählen, die sie so dringend brauchte, zwang sich aber zu lächeln und zu sagen: „Alles bestens.“ Eigentlich belog sie ihre Schwester aus Prinzip nicht, aber das war etwas anderes. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass sie die Wahrheit hätte sagen können.

„Du meintest vorhin, du hattest einen schlechten Tag.“

„Ach, nur die Arbeit. Ist Izzy hier?“ Izzy, Isadora, war die jüngste der drei Schwestern.

„Natürlich nicht“, sagte Skye. „Izzy hasst diese Events noch mehr als du. Ich erwarte sie jeden Tag zurück, aber bisher steckt sie noch auf einer Bohrinsel vor Louisiana fest.“

Wo sie als Unterwasser-Schweißerin arbeitet, dachte Lexi und fragte sich einmal mehr, wie es sein konnte, dass sie alle Schwestern waren. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können.

„Und, neue Gesichter im Kreis der Gäste?“, erkundigte sich Lexi. „Irgendjemand, der mit Geld um sich wirft, dessen Herkunft er nicht erklären kann?“

„Eigentlich nicht. Suchst du nach jemand bestimmtem?“

Nach dem, der versucht, ihr Geschäft zu ruinieren. Je mehr Lexi darüber nachdachte, wie man ihr die Finanzierung angeboten und sie ihr dann wieder aus den Händen gerissen hatte, desto stärker wurde das Gefühl, reingelegt worden zu sein. Hatte das jemand mit Absicht getan? Spielte jemand mit ihr, und falls ja: wer?

„Ich weiß nicht genau“, erwiderte sie und drehte sich, um ihren Blick über die Menge schweifen zu lassen. „Jemanden, der Grund hat …“

Sie erblickte gut gekleidete Paare, in Gespräche vertiefte Grüppchen, einen Mann in dunklem Anzug. Der Präsident der zweitgrößten Ölgesellschaft befand sich in Begleitung seiner Frau im Raum.

Ihre Aufmerksamkeit kehrte zu dem Mann im dunklen Anzug zurück. Irgendetwas war mit ihm … Er kam ihr bekannt vor.

Da drehte er sich um. Hätte sie einen Drink in der Hand gehabt, er wäre mit lautem Klirren zu Boden gefallen. Ihr Herz setzte ein paar Schläge aus. Jahre waren vergangen. Wenn sie einen Kalender zur Hand gehabt hätte, hätte sie die Zeit auf den Tag genau auszählen können. Vielleicht sogar auf die Stunde.

Während der ersten sechs Monate hatte sie sich gewünscht, ihm zufällig zu begegnen und ihn dann mit dem Auto zu überfahren. Während der zweiten sechs Monate war sie rationaler gewesen, eher bereit, das Ganze objektiv zu betrachten. Sie würde ihn nicht umbringen, sondern einfach nur schwer verletzen, und dann wären sie quitt. Danach war es ihr so gut wie gelungen, ihn zu vergessen. Er war ein Fehler gewesen. Sie hatte angenommen, ihre gemeinsame Nacht hätte etwas bedeutet – aber das hatte sie nicht. Ihre gemeinsame Zeit war ein Fehler gewesen, den die Frauen begingen, seit der erste Neandertaler eine Neandertalerin in seine Höhle gelockt hatte.

„Wen guckst du denn da an?“, wollte Skye wissen und folgte ihrem Blick. „Ach so. Den Autotypen. Cruz Irgendwas. Er ist sehr wohlhabend. Autohandel, eine Kette für Autozubehör und ein Rennstall. Bei der NASCAR und noch irgendwo. Weiß nicht mehr genau. Er hat uns mit einer großzügigen Spende bedacht. Kennst du ihn?“

Diese Frage werde ich nicht beantworten, dachte Lexi, während sie sich nach einem Fluchtweg umsah. Doch es gab keinen.

Ich werde einfach nicht reagieren, sagte sie sich. So wie sie ihn einschätzte, würde er sich ohnehin nicht an sie erinnern. Was in ihrem Leben ein einschneidendes Erlebnis gewesen war, hatte ihm vermutlich überhaupt nichts bedeutet. Wahrscheinlich war sie einfach nur das wertlose Date Nummer 157.

Zehn Jahre waren vergangen, und sie hatten sich beide verändert. Der Typ aus ihrer Erinnerung hatte Jeans und T-Shirt getragen, keinen maßgeschneiderten Anzug und teure italienische Schuhe. Nur sein Gesicht war noch dasselbe. Immer noch diese dunklen, glühenden Augen, in denen sich jede Frau für immer verlieren konnte. Also, andere Frauen. Sie nicht.

Sie würde sich wie eine Fremde verhalten und sich dann entschuldigen. Er würde nie erfahren, wie sehr die Erniedrigung nach jener Nacht … und jenem Morgen … noch immer schmerzte.

„Guten Abend“, sagte er im Näherkommen und lächelte Skye zu. „Ich bin Cruz Rodriguez. Vielen Dank für Ihre Einladung, Miss Titan.“

Skye lächelte zurück. „Sie sind mehr als willkommen. Nennen Sie mich Skye. Ich hoffe, Sie haben Ihr Scheckbuch dabei. Ich werde später schamlos um extravagante Auktionsgebote betteln. Aber zuerst möchte ich Ihnen für Ihre großzügige Spende danken.“ Sie schaute zu Lexi. „Cruz hat uns ein Wochenende in Daytona angeboten, in einem Privathaus, inklusive zwei Tage Rennfahrertraining mit seinem Top-Fahrer.“

„Wie beeindruckend“, murmelte Lexi und bemühte sich, den Mann, der so dicht vor ihr stand, nicht anzusehen. Sie konnte ihn förmlich schmecken. Nicht, dass sie noch wusste, wie er schmeckte. Es war schon Jahre her. Äonen. Er war ein unbedeutendes Zwischenspiel in ihrem Leben gewesen. Nicht mehr.

„Oh, Entschuldigung. Ich habe euch noch gar nicht vorgestellt. Lexi, das ist Cruz Rodriguez. Cruz, meine Schwester Lexi Titan.“

Er sah sie höflich interessiert an. Wie man die entfernte Großtante der Familie musterte. Als wären sie sich noch nie begegnet.

Na prima. Er erinnerte sich nicht an sie. Sie hatte Tage, nein, Wochen ihres Lebens damit verbracht, tödliche Rachepläne zu schmieden, und er erinnerte sich nicht an sie. War das nicht einfach toll?

Er reichte ihr die Hand. Verzweifelt suchte Lexi nach einer Möglichkeit, den Körperkontakt zu vermeiden und trotzdem höflich zu sein, aber es gab keine. Verfluchte Kinderstube. Sie holte Luft und ließ zu, dass er ihre Hand nahm.

Einen Moment lang zeigte ihr Körper keine Reaktion. Er war tatsächlich der Fremde, der er sein sollte. Dann sah sie ihm ins Gesicht. Markantes Kinn, fester, sinnlicher, wohlgeformter Mund. Mit einem Schlag wusste sie wieder, wie es war, von ihm geküsst zu werden.

Eine Hitzewelle durchflutete sie. Wäre sie zwanzig Jahre älter gewesen, hätte sie es auf die Wechseljahre geschoben. Doch nun musste sie das Kribbeln ignorieren, das ihre Knie weich wie Butter machte, und ihn anlächeln, als würde sie nicht das Geringste empfinden.

„Mr. Rodriguez“, begrüßte sie ihn kühl. „Nett, Sie kennenzulernen.“ Sie zog ihre Hand zurück.

„Cruz, bitte.“

Interessant. Genau das Gleiche hatte sie vor Ewigkeiten gegen zwei Uhr nachts ekstatisch gerufen.

„Ich bin Lexi“, erwiderte sie und beobachtete, wie er reagierte. Er blinzelte nicht einmal.

Eine Frau in schwarzem Kostüm tauchte auf. Skye erblickte sie und sagte: „Entschuldigt mich, das ist die Catering-Chefin. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.“

Dann war sie verschwunden, und Lexi war allein mit ihrer Vergangenheit. Als sie sich wieder Cruz zuwenden wollte, war dieser bereits weitergegangen. So stand sie alleine inmitten der Party.

Cruz beobachtete, wie Lexi ihre Kreise durch die Menge zog. Sie bemühte sich, ihn im Auge zu behalten und gleichzeitig so zu tun, als würde sie ihn nicht beachten. Er tat dasselbe, aber er beherrschte das Spiel besser. Er hatte ihre Verwirrung bemerkt, genauso wie ihre Verärgerung darüber, dass er sie scheinbar nicht erkannte. Auch das Knistern, das ihm vor zehn Jahren so viel Freude bereitet hatte, war ihm nicht entgangen. Dass es immer noch existierte, erleichterte seine Mission.

Sie war genau das, was er brauchte – ein Weg in die geschlossene Gesellschaft der texanischen Elite. Dorthin zu gelangen war der nächste logische Schritt in seiner Karrierelaufbahn, und er würde Lexi dazu benutzen. Er brauchte nur Zeit, um sie zu beobachten und so die beste Vorgehensweise auszutarieren.

Die günstige Gelegenheit bot sich schneller als erwartet. Cruz beobachtete, wie Lexi einen Mann mittleren Alters mit lichtem Haar und Bauchansatz begrüßte. Sie sprachen wie Bekannte miteinander. Cruz ging dichter heran und versteckte sich hinter einer Säule.

„Deine Schwester hat mir schon verschiedene Dinge genannt, auf die ich bieten soll“, sagte der Mann. „Skye ist wirklich skrupellos.“

„Und entschlossen. Denk daran, dass es für einen guten Zweck ist, John. Und gib bloß nach, sonst macht sie dir solche Schuldgefühle, dass du nie wieder ruhig schlafen kannst. Genau deshalb komme ich überhaupt nur zu diesen Veranstaltungen. Das ist leichter, als sich gegen sie aufzulehnen.“

John lachte. „Wahrscheinlich hast du recht.“ Dann wurde er ernst und sagte leise: „Es widerstrebt mir, auf einer Party über Geschäftliches zu reden, aber du wirst sie doch um das Geld bitten, nicht wahr? Wenn ich mich nicht irre, haben ihre Mutter und ihr verstorbener Mann ihr eine Menge hinterlassen, oder?“

Lexi verkrampfte sich. Cruz sah, wie sich ihre Schultern verspannten und sie sich an ihr Glas klammerte. „Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen. Nicht hier.“

John schaute sich um, als wollte er sicher gehen, dass niemand sie belauschte. Cruz war sorgfältig darauf bedacht, im Verborgenen zu bleiben.

„Lexi, von dem Tag an, als du beschlossen hast, das Day Spa zu eröffnen, warst du meine Kundin. Ich bin derjenige, der dich zu dem Darlehen überredet hat, durch das du jetzt Probleme hast. Ich will nicht, dass du dein Geschäft verlierst. Und deshalb musst du etwas unternehmen, um das Geld aufzutreiben, und zwar schnell.“

„Das weiß ich“, flüsterte sie. „Und das werde ich. Aber Skye zu fragen steht nicht zur Debatte.“

„Zwei Millionen Dollar – so eine Summe taucht nicht einfach aus dem Nichts auf.“

„Danke für die Information. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst – ich brauche einen neuen Drink.“

Sie ging energisch davon. John sah ihr nach, genau wie Cruz. Doch während der ältere Mann besorgt wirkte, war Cruz höchst zufrieden.

Im Leben ging es nur ums Timing. Das richtige Geschäft zur richtigen Zeit. Die richtigen Bedingungen für das Rennen. Er war davon überzeugt, dass man nur vorbereitet sein und dann im richtigen Moment angreifen musste.

So wie jetzt.