9. KAPITEL

Lexi wachte auf, bevor es dämmerte. Das war nicht besonders schwer, schließlich hatte sie kaum geschlafen. Cruz’ Frage war ihr einfach nicht aus dem Kopf gegangen. Vor allem, weil sie ihm die Antwort schuldig geblieben war.

Warum war er ihr erstes Mal gewesen? Warum hatte sie sich nicht für jemand Besonderen aufgehoben oder sogar bis zu ihrer Hochzeitsnacht? Sie war sich noch immer nicht si cher. Aber sie hatte ein paar Theorien. Vielleicht war er auf eine Art gefährlich und sexy gewesen, die sie bis dahin nicht gekannt und die sie deshalb einfach umgehauen hatte. Bei die ser Theorie missfiel ihr allerdings der Mangel an Eigenver antwortung. Vielleicht hatte sie bei ihrem ersten Kuss auch gespürt, dass sie sich leicht in ihn verlieben könnte. Dass es zwischen ihnen eine Verbindung gab, die sie zuvor oder seit dem nicht mehr gefühlt hatte. Eine Verbindung, die immer noch zwischen ihnen bestand … wenigstens von ihrer Seite aus. Sie glaubte nicht, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte.

Cruz hatte diese Vermutung vergangene Nacht bestätigt, als er sich nicht zur ihr ins Bett gelegt hatte. Sie hegte den Ver dacht, dass er Angst hatte, sie könnte emotional werden, und welcher Mann mochte das schon? Also war er in Deckung ge blieben.

Sie duschte und zog sich an und wollte gerade aus dem Schlafzimmer gehen, als die Tür aufging und Cruz herein schlenderte. Er war ebenfalls angezogen, trug Jeans und ein langärmliges Shirt.

„Gut“, begrüßte er sie. „Du bist schon auf. Wir fahren in ein paar Minuten los.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Es ist Sonntag.“

„Ich weiß.“

„Und wenn ich schon was vorhabe?“

„Hast du aber nicht. Ich habe in deinem Kalender nachgesehen. Gestern hast du mir deine Welt gezeigt. Heute zeige ich dir meine.“

„Und das bedeutet was genau?“

„Dass wir zu einer Rennstrecke nach Louisiana fahren. Dort startet ein Junge, den ich mir gern ansehen möchte.“

„Louisiana? Weißt du, wie weit das ist?“

„Es ist näher, als du denkst.“

Sie sahen nach C.C. und gingen anschließend zur Garage. Aber statt nach Osten in Richtung Louisiana fuhr Cruz sie zu einem nahegelegenen Flugplatz, wo ein Hubschrauber auf sie wartete.

„Du hast betrogen“, sagte sie, als sie in den Helikopter stiegen. „So ist es natürlich nicht weit.“

„Ich mache nur meinen Job.“

Sobald sie sich angeschnallt hatten, hob der Hubschrauber ab.

Cruz zeigte auf einen Kopfhörer mit angeschlossenem Mikrofon. Lexi setzte ihn auf und schaltete ihn an. Sofort verschwand der Lärm des Motors, und sie konnte Cruz’ Stimme klar und deutlich hören.

„Schallschutzkopfhörer“, sagte er. „Alles okay? Einige Menschen vertragen die Bewegung nicht.“

Sie schaute aus dem Fenster und sah zu, wie sie sich senkrecht in die Luft erhoben. „Mir macht das nichts aus. Izzy hasst es, was ziemlich lustig ist. Sie ist so eine Draufgängerin, aber Hubschrauber machen sie ganz verrückt.“ Sie lächelte. „Normalerweise hört sie auf ihrem iPod immer Rap und Rockmusik, aber beim Fliegen laufen auf dem Gerät ausschließlich Meditationsübungen. Du weißt schon: ‚Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich einen leeren Strand mit sanfter Brandung vor.‘ Zurzeit arbeitet sie auf einer Ölplattform und erledigt Unterwasserschweißarbeiten.“

„Deine Schwester Izzy? Die ich auf der Party getroffen habe?“

Lexi konnte sein Erstaunen gut nachvollziehen. Izzy verstand es, sich so sexy und mädchenhaft zu präsentieren wie jede andere Frau, aber wenn sie die Wahl hätte, würde sie sich immer für die Bergtour oder den Kampf mit einem Grizzly entscheiden.

„Genau die. Sie war schon immer wild.“

„Interessante Schwestern.“

„Hast du außer deinen Eltern noch Familie?“

„Nein. Ich bin Einzelkind. Meine Mutter hat zwei Schwestern in Kalifornien. Über die Familie meines Vaters weiß ich nichts. Sie haben allen Grund, mich nicht besonders zu mögen.“

„Weil du ihn vertrieben hast?“

Er nickte.

Familie ist schon was Kompliziertes, dachte sie. Cruz hatte seinen Vater vertrieben, und ihre Mutter war nach der Scheidung einfach gegangen. Lexi wusste nicht, warum sie in Texas zurückgelassen worden war. Hatte Jed darauf bestanden, oder hatte ihre Mutter einfach keine Lust gehabt, sie mitzunehmen?

„Hat Jed Skyes Ehe wirklich arrangiert?“, unterbrach Cruz ihre Gedanken.

„Ihr zwei habt euch in den paar Minuten auf der Party ja erstaunlich viel erzählt“, kommentierte Lexi und fragte sich, was ihr Vater noch alles ausgeplaudert hatte. „Ja, das hat er. Aber wir reden nicht viel darüber.“

„Warum hat er das gemacht? War er dem Kerl was schuldig?“

„Keine Ahnung. Vielleicht. Ray war wirklich sehr nett. Älter, vielleicht zwanzig Jahre älter als Skye. Er betete sie an, und anscheinend haben sie eine relativ glückliche Ehe geführt.“ Zumindest hatte es von außen so ausgesehen. Sie vertrieb sich die falsche Verlobungszeit ja auch nicht damit, wieder und wieder „Mrs. Cruz Rodriguez“ zu schreiben, auch wenn die Leute das vielleicht von ihr dachten.

„Wieso hat sie der Heirat zugestimmt?“

„Noch eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Skye und Jed stehen sich sehr nah. Als ihre Mutter starb, übernahm Skye den Job als Jeds persönliche Assistentin. Zumindest so gut sie konnte, bis sie alt genug war, um es als Full-time-Job zu machen. Sie kümmert sich um das Haus, um die Einhaltung seines persönlichen Terminplans, und sie macht ihm das Leben generell leichter. Ich glaube, es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, Nein zu sagen.“

Der Preis wäre zu hoch gewesen, dachte Lexi. Skye hätte es nicht riskieren wollen, die Zuneigung ihres Vaters zu verlieren. Darin waren sich die beiden Schwestern sehr ähnlich.

„Es gab noch einen Mann – Mitch. Ihm gehört die Ranch nebenan. Er und Skye waren zusammen. Ich dachte, es wäre was Ernstes, aber am Ende hat sie ihn verlassen und Ray geheiratet. Bevor Ray starb, bekamen sie eine Tochter. Erin. Sie ist sieben.“

„Ray ist tot?“

„Seit ein paar Jahren. Skye ist mit Erin zurück nach Glory’s Gate gezogen. Seitdem ist sie Jeds inoffizielle Assistentin.“

„Verdammt anstrengend, eine Titan zu sein“, sagte Cruz.

„Manchmal.“

Sie landeten unweit einer Rennstrecke. Lexi trat in die feuchte Morgenluft und hörte in der Ferne die aufheulenden Motoren.

„Wieder auf der Jagd nach anderer Leute Autos?“, neckte sie Cruz, als er ihre Hand nahm und sie auf die Strecke zugingen.

„Heute nicht. Wie gesagt, ich will mir ein Talent ansehen.“

Richtig, sie waren hier, um einem Jungen beim Fahren zuzusehen. „Wie hast du von ihm erfahren?“

„Mein Partner Manny gibt mir Bescheid, wenn jemand Besonderes dabei ist, die Rennbahn zu erobern. Erfahrene Fahrer kann man immer anheuern, aber ich entdecke lieber neue Talente und trainiere sie auf meine Art.“

„Dann sind sie dir für immer treu ergeben“, kommentierte Lexi. Am Ende dieses Tages schliefe womöglich ein Teenager mit dem Gefühl ein, im Himmel zu sein, nachdem er erfahren hatte, dass Cruz Rodriguez glaubte, er habe das Zeug zum Profi-Rennfahrer.

„Wenigstens für die nächsten Jahre, bis er älter wird.“

Cruz setzte sich seine Sonnenbrille auf. An einem provisorischen Verkaufsstand, an dem es von Wasser bis zu Baseballkappen alles gab, blieben sie stehen. Cruz kaufte ihnen beiden beides und zeigte dann auf die andere Seite der Rennbahn.

„Wir setzen uns da drüben hin.“

So weit weg vom Geschehen?

Als er die Baseballkappe aufsetzte und weiterging, ohne für die eine oder andere Plauderei stehenzubleiben, fiel bei ihr der Groschen. Niemand sollte wissen, dass er da war.

„Wenn wir nicht mit dem Hubschrauber gekommen wären, sondern mit dem Auto, wäre dein Auftritt vielleicht etwas anonymer gewesen“, frotzelte sie.

„Das hat niemand mitbekommen. Außerdem waren wir so schneller hier.“

Sie blickte sich um und stellte fest, dass alle Blicke auf die Autos gerichtet waren.

Sie kauften sich Eintrittskarten und kletterten auf ihre billigen Plätze. Wenige Minuten später begann das erste Rennen.

Bei den Autos handelte es sich erkennbar um Straßenfahrzeuge. Cruz erklärte ihr, welche Umrüstungen erlaubt waren. Ein junger Mann in einem BMW gewann den Lauf.

„Ist das derjenige, für den du dich interessierst?“, erkundigte sie sich.

„Nein. Der hat keine Substanz. Der Junge, den ich will, startet als Nächstes.“

Sie sah sich die Zuschauer an. Das hier war keine Veranstaltung von der Größe eines NASCAR-Rennens mit Sponsoren und einem riesigen Publikum. Hier fieberten nur die Ortsansässigen mit, und jeder von ihnen kannte mindestens einen der Rennfahrer.

Unter den Zuschauern waren viele Frauen. Mehr als sie gedacht hätte. Sie musterte die Menge, um den Frauenanteil zu schätzen.

„Ob ich wohl ein Day Spa in einem LKW unterbringen könnte?“, murmelte sie.

„Bitte?“

„Hier sind so viele Frauen. Okay, viele von ihnen leben vermutlich für die Autorennen, aber ein guter Prozentsatz ist wahrscheinlich einfach nur so mitgekommen. Wenn ich hier einen Anhänger aufstellen würde, mit Maniküre- und Pediküretischen und vielleicht einem bequemen Sessel für Gesichtsbehandlungen – ich könnte ein Vermögen machen. Wie groß ist die NASCAR-Rennbahn?“

Statt einer Antwort gab er ihr einen Kuss. „Du bist ziemlich gescheit für ein Mädchen.“

„Ich bin unschlüssig, ob ich dir in den Arm boxen oder Danke sagen soll. Das war ganz schön sexistisch.“

„Willst du mich später bestrafen?“

„Vielleicht.“

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Menge und bemerkte ein paar Typen, die zu ihnen herüber sahen. Sie knuffte Cruz in die Seite. „Man hat dich entdeckt“, flüsterte sie.

Er folgte ihrem Blick und sah sie dann an. „Nein, querida. Die gucken dich an.“

Sie sah zu den Männern rüber. Einer winkte ihr zu. Sie rutschte dichter an Cruz heran. Er lachte.

Am zweiten Rennen nahmen sechs Autos teil. Sie beobachtete den roten Mustang, den Cruz ihr zuvor gezeigt hatte, und drückte dem Jungen die Daumen.

Die Wagen starteten in einer Staubwolke, Motoren heulten auf. Ein Auto geriet sofort ins Schleudern. Ein anderes raste in die Heuballen, die eine Kurve einfassten, und kam von der Fahrbahn ab. Die anderen vier fuhren weiter, alle ungefähr im gleichen Tempo.

Drei Runden später waren nur noch drei Autos übrig. Der Mustang lag auf Platz drei, ließ sich jedoch nicht abhängen. Er nutzte eine unerwartete Lücke und übernahm die Führung. Der Wagen, der nun an zweiter Stelle lag, versuchte, ihn zu überholen, erwischte ihn an der Stoßstange, und der dritte Wagen raste vorbei und gewann.

Lexi stöhnte. „Das ist unfair. Die dürfen doch nicht auf den anderen drauffahren.“

„Sie machen es ja nicht absichtlich. Manchmal passiert es einfach.“ Cruz stand auf. „Wollen wir?“

„Sind wir schon fertig? Das war’s?“

„Ich habe gesehen, was ich sehen musste. Aber wenn du noch bleiben willst …“

„Nein, nein, schon gut.“

Er nahm ihre Hand und führte sie zur Rennstrecke hinunter, wo einige Leute dem Sieger gratulierten. Cruz ignorierte sie und ging zu dem Jungen, der neben dem Mustang stand.

Er war schätzungsweise siebzehn. Groß und dünn. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er sich über die Delle in der schwarzen Stoßstange beugte.

„Justin Thibodeaux?“

Der Junge richtete sich wieder auf und drehte sich um. „Ja, das bin ich“, antwortete er argwöhnisch. „Wer will das wissen?“

Er sprach mit einer bestimmten Sprachmelodie. Cajun? Lexi gefiel sein Auftreten. Wie er Cruz, der auf den ersten Blick ziemlich Furcht einflößend sein konnte, die Stirn bot.

„Ich“, erwiderte Cruz. „Ich habe dich fahren sehen.“

„Sie haben mich verlieren sehen.“ Er hockte sich neben seinen Wagen. „Nächstes Mal schaffe ich’s.“

„Am Ende warst du sehr geschmeidig, als du die Lücke gefunden hast, um an die Spitze zu fahren. Nur hast du dann leider vergessen, dem anderen aus dem Weg zu gehen.“

Der Junge ignorierte ihn.

„Dein Instinkt ist gut, aber das wird nicht reichen. Du musst noch verdammt viel lernen. Falls es dir mit dem Renn-fahren wirklich ernst ist.“

Justin stand auf und sah Cruz fest in die Augen. „Ich weiß, was ich tue.“

„Nein, tust du nicht, aber das ließe sich ändern.“

Justin reckte das Kinn in die Luft. „Wer sind Sie?“

Cruz zog eine Visitenkarte aus seiner Hemdtasche und reichte sie dem Jungen. Justin riss die Augen auf. Erst fluchte er, dann entschuldigte er sich.

„Ich meine, es ist eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mr. Rodriguez.“

Cruz schüttelte den Kopf. „Du kannst Cruz zu mir sagen. Ich bin auf der Suche nach einem neuen Fahrer. Du würdest ganz unten anfangen und müsstest dich nach oben arbeiten. Ich würde von dir erwarten, dass du nach Dallas ziehst und in meinem Laden arbeitest. Damit könntest du dir den Lebensunterhalt verdienen. In deiner Freizeit würdest du fahren. Die Tage wären lang, und du hättest nicht viel Spaß. Aber wenn du dranbleibst – wenn du das hast, was ich glaube –, bist du in weniger als einem Jahr ein Profifahrer. Interessiert?“

Justin fing an, in einem Mix aus Französisch, Englisch und einer Sprache zu sprechen, die Lexi nicht verstand. Dann hielt er Cruz die Hand hin.

„Ich bin interessiert. Sagen Sie mir, wohin ich fahren soll, und ich werde da sein. Ich mache alles, was Sie sagen.“

Cruz kniff die Augen zusammen. „Du bist doch schon achtzehn, oder?“

„Seit vier Monaten.“

„Bring mir deinen Ausweis mit. Meine Adresse steht hinten auf der Karte. Sei bis Donnerstag da. Frag nach Manny. Er wird dir alles zeigen. Wenn deine Eltern vorher mit jemandem sprechen wollen, sag ihnen, sie sollen direkt bei mir anrufen.“

Justin schüttelte noch einmal Cruz’ Hand, wandte sich dann Lexi zu und küsste sie auf die Wange. „Danke“, sagte er und glühte vor Aufregung. „Vielen, vielen Dank. Sie werden es nicht bereuen. Ich werde der Beste sein. Sie werden schon sehen.“

„Ich zähle auf dich.“

Der Junge stieß einen lauten Freudenschrei aus und rannte davon.

Lexi drehte sich zu Cruz. „Das hat Spaß gemacht. Können wir das noch mal machen?“

„Er ist der Einzige, der mich hier interessiert. Aber wenn ich mir das nächste Mal ein vielversprechendes Talent ansehe, kannst du gern wieder mitkommen.“

„Oh ja! Das ist doch bestimmt der beste Teil deines Tages.“

Er runzelte die Stirn. „Behalte das bitte für dich. Die Welt hält mich für einen hartherzigen Bastard, und dabei soll es auch bleiben.“

Sie ging so dicht an ihn heran, als wollte sie ihn küssen, berührte dann aber nur flüchtig seine Lippen. „Aber ich kenne jetzt die Wahrheit. Du bist wirklich süß.“

Er zuckte zusammen. „Das ist nicht gerade das Wort, das ich benutzen würde.“

„Aber es stimmt. Du bist ein totaler Softie.“

„Lexi“, brummte er.

Sie lachte. „Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben, großer Junge.“

Sie umrundeten die Rennbahn und gingen in Richtung Hubschrauber. Lexis Brust fühlte sich eng an … als wäre auch sie bis oben hin voll mit Emotionen. Das war gut, dachte sie. Besser als gut. Cruz hatte ihr eine Seite von sich gezeigt, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte. In ihm steckte ein richtiger Mensch – einer, der ihr gefallen könnte. Vielleicht sogar einer, der ihr mehr als gefallen könnte.

„Das Bein höher“, schrie Dana. „Er hat dir das Herz gebrochen. Schlimmer – er hat gesagt, dein neues Paar Designer-X-Schuhe sieht dämlich aus.“

Lexi straffte die Schultern und rieb sich mit der Rückseite ihrer Boxhandschuhe über die Nase. „Designer-X? Das ist alles, was du kannst? Komm schon, Dana. Jeder kennt Manolo. Sogar du.“

„Ich komme mir blöd dabei vor, es zu sagen“, erwiderte Dana, der nicht eine einzige Schweißperle auf der Stirn stand. „Ich trainiere hier. Die Leute kennen mich.“

„Dann wissen sie ja auch, dass du ein Mädchen bist“, keuchte Skye zwischen zwei tiefen Atemzügen. „Niemand wird schlechter von dir denken.“

„Das kann man nie wissen“, murmelte Dana.

„Ich bin mir ganz sicher. Wenn du uns motivieren willst, musst du die richtige Sprache sprechen.“

Dana zeigte auf die Boxsäcke vor Lexi und Skye. „Also gut. Der Bastard ist mit seinem Auto rückwärts über dein neuestes Paar Manolos gefahren. Besser?“

Lexi stellte sich einen armen, kaputten, schutzlosen Schuh vor, der in der Einfahrt lag, während ein blasierter, selbstgerechter, Cruz kein bisschen ähnlicher Typ, davonbrauste. Sie trat hart und hoch gegen den Sandsack und brachte ihn dann mit einer Rechts-Links-Rechts-Kombination zum Schwingen.

Dana stemmte die Hände in die Hüfte. „Okay. Punkt für dich. Ab jetzt kämpfen wir für Schuhe.“

Lexi lachte. Skye verzog das Gesicht und machte die gleichen Bewegungen. Als sie fertig war, schlug sie mit Lexi ein – soweit ihre Boxhandschuhe das zuließen.

„Wer ist der Mann?“, fragte Skye und erntete verwirrte Blicke. „Ihr wisst, was ich meine“, fügte sie hinzu.

Dana schüttelte den Kopf. „Der Punkt ist, dass ihr stärker seid, als ihr glaubt. Außerdem verbrennt man beim Boxen wunderbar Kalorien.“

Lexi nahm die Information dankbar auf, aber das hier war nun wirklich nicht das, was sie in ihrer Freizeit machen wollten. „Wir müssen dir leider sagen, dass sich das hier nicht wiederholen wird – außer du zwingst uns dazu“, sagte sie und zerrte bereits an ihren Handschuhen.

„Vielleicht nicht für dich“, entgegnete Dana, „aber der Rest von uns braucht weniger spannende Wege, um Kalorien zu verbrennen. Wir schlafen nicht alle mit Cruz.“

„Ich bestimmt nicht“, seufzte Skye. „Ich schlafe mit niemandem.“ Sie sah Dana an. „Was ist eigentlich mit Martin? Seid ihr noch zusammen?“

„Irgendwas sagt mir, dass er nicht gerade das perfekte Workout ist“, sagte Lexi mit einem breiten Grinsen.

Dana starrte sie an. „Martin ist im Bett absolut ausreichend.“

„Uuuuh, bei diesen Worten würde sein Herz bestimmt gleich viel höher schlagen“, neckte Lexi sie.

„Ja, das ist eine Beschreibung, die ich auch liebend gern hören würde“, fügte Skye hinzu. „Absolut ausreichend im Bett. Man sollte T-Shirts damit bedrucken.“

Die Schwestern schlugen noch einmal ein.

„Ich ignoriere euch beide einfach“, sagte Dana.

Skye zog ihren rechten Handschuh aus. „Hier kommt die Preisfrage: Warum suchst du dir nicht mal jemanden, der dich interessiert? Jemanden, der lustig ist und cool. Jemanden, der dich herausfordert?“

„Mein Beruf fordert mich heraus“, erwiderte Dana. „Da will ich umkomplizierte Männer.“

„Aber du langweilst dich mit ihnen.“

„Tu ich nicht.“

Lexi zog sich die Handschuhe aus. „Dana, mal im Ernst: Martin entlockt dir doch schon längst nicht mehr als ein Gähnen. Er ist genauso wie alle anderen, mit denen du zusammen warst. Probier doch mal was Neues aus.“

„Ihr zwei solltet euch lieber zurückhalten. Ich kann gut mit Waffen umgehen.“

„Ich möchte nur, dass du glücklich bist“, meinte Lexi und fragte sich, welche Geheimnisse sich im Herzen ihrer Freundin verbargen, die sie dazu brachten, immer mehr Martins aufzutun, statt sich endlich mal einen Mann zu suchen, der sie wirklich anmachte. Jede von ihnen hatte ihre Geheimnisse, natürlich. War das nicht der eigentliche Grund für jede verwirrende Handlung?

„Ich möchte, dass du Leidenschaft findest“, ergänzte Skye. „Die Art Leidenschaft, die einen nicht schlafen lässt, die auf der Haut ein Kribbeln verursacht und die da unten alles zum Zucken bringt.“

Dana starrte sie an. „Erstens sagt kein Mensch unter achtzig ‚da unten‘, und zweitens ist es ja nicht gerade so, als hätte Ray bei dir das Feuer der Leidenschaft entfacht. Er war die Wahl deine Daddys, nicht deine.“

Instinktiv stellte sich Lexi dichter neben Skye, um sie zu beschützen, aber sie kam zu spät. Dana war vor ihr da. Zerknirscht fasste sie sie an der Schulter.

„Tut mir leid“, flüsterte sie. „Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich bin zu weit gegangen. Ihr zwei habt die Schwesternnummer abgezogen, und dabei fühle ich mich immer außen vor. Es tut mir leid. Ray war ein toller Mann, und du hast ihn geliebt.“

„Ich habe ihn geliebt“, wiederholte Skye langsam. „Mehr als du weißt.“ Sie hielt inne, um sich zu sammeln, und warf dann ihre Boxhandschuhe in die Kiste, die in der Hallenecke stand. „Schon gut. Wir werden dich nicht mehr mit Martin aufziehen. Das geht uns ja auch nichts an.“

Einen Moment lang herrschte verlegenes Schweigen. Lexi fühlte sich zerrissen. Sie wollte Skye beschützen, sorgte sich aber auch um Dana. Sie stellte keine weiteren Fragen, da sie fürchtete, dass die reumütige Dana mehr sagen könnte als sie wollte. Dass sie etwas gestehen könnte, das keine von ihnen zu hören bereit war.

Geheimnisse, dachte sie noch einmal. Sie alle hatten welche.

Dana holte tief Luft. „Also“, sagte sie fröhlich. „Man hat dich und Cruz am Wochenende in der Stadt gesehen.“

„Wir, äh, waren im Calico Café frühstücken“, erwiderte Lexi. „Danach habe ich ihn ins Venus Envy mitgenommen und ihm eine Massage spendiert.“

„Eine mit Happy End?“, witzelte Skye.

Dana und Lexi starrten sie an. „Woher weißt du davon?“, fragte Lexi.

„Man hört halt so dies und das“, sagte Skye geziert.

„Offensichtlich“, erwiderte Lexi. „Und nein, nicht so eine. Das machen wir in meinem Spa nicht.“

„Ich dachte, für deinen Verlobten machst du vielleicht eine Ausnahme.“

„Ich muss dort arbeiten.“

Sie gingen in den Umkleideraum.

„Was habt ihr am Wochenende sonst noch so gemacht?“, erkundigte sich Dana. „Oder will ich das gar nicht wissen?“

„Wir waren in Louisiana, um ein neues Talent für Cruz’ Rennstall zu sichten“, erzählte Lexi ohne zu erwähnen, wie sie dorthin gekommen waren. „Das war schon beeindruckend. Er ist ein ganz normaler Junge mit großen Träumen, der in einer kleinen Stadt lebt. Er hätte einen langen, steinigen Weg vor sich, wenn nicht Cruz in sein Leben geplatzt wäre und ihm seine Visitenkarte gegeben hätte. Er hat das Leben dieses Jungen für immer verändert. Ein wirklich großer Moment.“

„Er ist auf der Suche nach neuen Talenten?“, hakte Skye nach.

„Mhm. Anscheinend macht er so was öfter. Er sagt, er baut sich sein Team lieber selbst auf, statt sich eins zu kaufen. Das finde ich gut. Die Zukunft eines anderen Menschen auf die Art zu beeinflussen, muss das beste Gefühl auf der Welt sein. Ich kann einem anderen einen Job geben, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was Cruz macht.“

Dana und Skye wechselten einen Blick. Lexi trat einen Schritt zurück.

„Was?“, fragte sie.

„Du glühst ja förmlich“, sagte Skye. „Im Ernst, mit der Energie, die du abgibst, könnte man problemlos eine Lampe zum Leuchten bringen. Das passiert jedes Mal, wenn du von Cruz sprichst.“

„Stimmt gar nicht“, protestierte Lexi. Warum sollte sie seinetwegen glühen? Ja, gestern hatte er sie beeindruckt, aber das änderte nichts.

„Doch, irgendwie schon“, bekräftigte Dana und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu, als wollte sie sie daran erinnern, dass sie und Cruz keine echte Liebesbeziehung führten. Sie waren Geschäftspartner mit einem ungewöhnlichen Deal.

„Das ist doch nichts Schlimmes“, meinte Skye. „Du heiratest ihn schließlich. Er soll dich zum Glühen bringen. Ich finde das wunderbar.“ Sie zeigte auf Dana. „Martin bringt dich nicht zum Glühen. Vielleicht denkst du darüber mal nach.“

„Habe ich eigentlich schon erwähnt, wie nervtötend du bist?“, fragte Dana gereizt.

Skye lachte. „Das eine oder andere Mal.“

Das Gespräch plätscherte dahin, aber Lexi hörte nicht länger zu. Sie dachte darüber nach, was sie über Cruz gesagt hatten. Glühen? Das ging nicht. Er war nicht Mr. Right. Er konnte es nicht sein. Sie würden beide weiterziehen. Es ging ihr gut. Mehr als gut. Sie hatte ihr Herz sorgfältig außer Reichweite gebracht, ganz egal, was passierte.

Um kurz nach fünf am Nachmittag kam Lexi zu Hause an und ging durch die Garage in die Küche. Während sie auf die Stufen zuging, vernahm sie Stimmen.

Cruz hatte eine Haushälterin, die mehrmals in der Woche vorbeikam. Sie und ihre Leute putzten, machten die Wäsche und füllten die Vorräte auf. Aber bis drei oder vier Uhr waren sie immer fertig. Hatte eine von ihnen den Fernseher angelassen?

Sie betrat den Flur und folgte dem Geräusch bis ins Medienzimmer. Der riesige Flachbildschirm lief, und ein Mädchen im Teenageralter lag auf dem Ledersofa, den zusammengerollten C.C. auf dem Bauch.

„Kann ich dir helfen?“, fragte Lexi. Sie war verärgert, weil irgendein Nachbarskind einfach ins Haus gekommen war. Und was jetzt? Sollte sie sie einfach gehen lassen? Oder ihre Eltern anrufen?

Als das Mädchen aufblickte und sie sah, schaltete sie den Fernseher stumm. Nachdem sie C.C. von sich heruntergeschubst hatte, setzte sie sich auf und streckte sich.

„Hi“, sagte sie. „Wer sind Sie?“

„Das wollte ich dich gerade fragen. Wer bist du, und was machst du in diesem Haus?“

Das Mädchen war vielleicht vierzehn oder fünfzehn und hatte lange, gewellte dunkle Haare und große, braune Augen. Mit einem dezenteren Make-up wäre sie sehr hübsch gewesen. Aber mit dem breiten Lidstrich und der dicken Schicht Lipgloss sah sie aus wie die Karikatur einer Nutte. Ihr zu enges T-Shirt war ihr bis über den Bauch gerutscht.

Das Mädchen streckte sich noch mal und gähnte. „Lassen Sie mich raten. Sie sind die neue Flamme des Monats. Das ist ja so typisch. Macht mein Dad sich etwa die Mühe, mich zu erwähnen? Natürlich nicht. Warum überrascht mich das eigentlich? Er erinnert sich ja doch nicht an mich, wenn ich nicht hier bin.“

Lexi stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab. Es war, als würden die Wände schwanken und dann wieder stillstehen.

„Ich heiße übrigens Kendra“, sagte das Mädchen und sah sie aufmerksam an. „Geht es Ihnen nicht gut?“

„Doch, doch. Alles bestens“, flüsterte Lexi. „Cruz ist …“

„Mein Daddy. Ich weiß genau, dass er nichts gesagt hat. Sie sehen nämlich nicht gerade gut aus. Mann, der Typ ist so sensibel wie eine Kakerlake.“ Kendra seufzte und stand auf. „Ich bin seine Tochter. Ich sehe ihn nicht gerade oft, aber meine Mom ist auf Geschäftsreise in Europa und meint, dass ich nicht alleine bleiben kann.“ Die schockierende Äußerung wurde von einem Augenrollen begleitet. „Ich bin fünfzehn. Praktisch erwachsen. Aber bemerkt das vielleicht jemand? Natürlich nicht. Normalerweise gehe ich in solchen Fällen zu meiner Oma, aber sie hat gerade ein neues Kniegelenk bekommen und wohnt bei einer Freundin, also hat Dad mich jetzt am Hals.“

Sie nahm C.C. hoch und knuddelte ihn. „Gehört die Katze Ihnen? Die ist echt süß.“

„Er“, korrigierte Lexi automatisch. Cruz hatte eine Tochter? Er hatte ein fünfzehnjähriges Kind und nie davon gesprochen? Nicht ein Mal?

„Ach so. Wie heißt er denn?“

„C.C.“

„Für Cruz Control?“ Kendra schüttelte den Kopf. „Mann, Sie hat’s ja übel erwischt. Im Ernst, Sie müssen sich unnahbar geben. Männer respektieren das. Wenn man zu viel gibt, verliert man alles. Zumindest sagt meine Mutter das immer. Ich habe keinen Freund. Ich darf mich nicht alleine mit Jungs verabreden. Ich darf nur in der Gruppe ausgehen, aber das ist mehr als lahm.“

Das alles war zu viel für Lexi. Hier musste irgendwo ein Irrtum vorliegen. Cruz hatte ein Kind?

„Du, äh, wohnst also erst mal hier?“, fragte sie.

„Sie sind ja echt ’ne Blitzmerkerin. Ja, ich wohne für die nächsten Wochen hier. Wir werden wie eine Familie sein. Ist das nicht toll?“

Lexi spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte.

Kendra zeigte auf ihre Hand. „Hübscher Stein. Sie sind verlobt?“

„Was?“ Lexi blickt auf den Diamantring an ihrer linken Hand. „Ähm, ja.“

„Interessant. Aber wenn ich Sie wäre, würde ich mir nicht allzu große Hoffnungen machen. Er war schon öfter verlobt. Hält normalerweise nicht lange.“

Das waren eindeutig zu viele Informationen. „Hast du hier ein Zimmer, in dem du für gewöhnlich schläfst?“

Auf dem Gesicht des Mädchens zeigte sich Mitleid. „He, hören Sie, Sie brauchen sich nicht um mich zu kümmern. Ich komme schon klar. Ich halte mich einfach aus Ihren Angelegenheiten raus, und Sie sich aus meinen. So habe ich das immer gehandhabt. Und da Sie ja ohnehin nicht lange bleiben werden, bleibt das Ganze auch eine einmalige Sache. Okay?“

„Aber er wusste schon, dass du kommst, oder?“

„Ja-ha.“ Sie zog das Wort über zwei Silben. „Ich glaube, die Einzige, die nichts davon wusste, sind Sie.“