27
Als sie vier Tage später beim Lagerhaus in Chelsea landeten, hatten beide sofort eine Menge zu erledigen, ehe sie am nächsten Morgen wieder in See stechen konnten. Fitz und Kit kümmerten sich um mehr Vorräte für die Mitfahrt von Angela und ihrer Familie zum Pearl River. Kit mußte Chambers aufsuchen – und das war ein wichtiges Treffen, denn unter anderem sollten die Heiratspläne besprochen werden. Angela würde zum Lawton House gehen, um das Personal von ihrer bevorstehenden Reise zu unterrichten und ihre Sachen packen zu lassen, und dann May, Bergie und Nellie von Violet abholen.
Als Angela Lawton House betrat, wurde sie sofort davon unterrichtet, daß Brook während ihrer Abwesenheit mehrfach nach ihr gefragt habe. Er sei jeden Tag auf der Suche nach ihr erschienen. Solche Hartnäckigkeit von Seiten ihres Mannes deutete auf eine dringende Angelegenheit hin – bestimmt ging es wie immer um Geld. Sonst ließ er sich nur selten blicken. Sie war dankbar, das Land nun eine Weile verlassen zu können. Sollten sich doch die Anwälte um ihn kümmern; am liebsten würde sie ihn nie wieder sehen.
Während die Zofen rasch die Sachen für May, Fitz und sie selbst einpackten, schrieb sie einen kurzen Brief an ihre Mutter, in dem sie ihr von ihrer Scheidungsabsicht und den Heiratsplänen berichtete. Es hatte wenig Sinn, sie persönlich aufzusuchen. Sie würden hinsichtlich der Scheidung getrennter Meinung sein, denn das waren sie bei wichtigen Themen immer gewesen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die Koffer gepackt waren: Man mußte Mays Lieblingsspielzeug aussuchen, Fitz' Bücher und Segelzeug finden und ihre eigene Garderobe mit Blick auf ihre umfangreicher werdende Taille auswählen. Aber schließlich war das Gepäck unterwegs zur Desirée, und nachdem sich Angela von ihrem Personal verabschiedet hatte, machte sie sich auf den Weg zu Violet, um May und die beiden Dienerinnen abzuholen.
Der nachmittägliche Verkehr war sehr dicht, aber in London mit der Kutsche unterwegs zu sein, war immer eine unsichere Angelegenheit, und sie konnte die Zeit nutzen, um letzte Listen für Dinge aufzustellen, die unbedingt noch besorgt werden mußten. Als die Kutsche daher mehrfach kurz anhielt, achtete sie nicht weiter darauf. Doch sie wurde schließlich unruhig, als das Kopfsteinpflaster der Stadt in einen unbefestigten Weg überging. Sie warf einen Blick aus dem Fenster auf die Umgebung.
Die Stadtlandschaft war von Gärten umgebenen Häusern gewichen. Sie fuhren durch einen Vorort Londons, den sie nicht kannte. Sie klopfte ans Dach der Kutsche, zog das Verdeck fort und rief dem Fahrer zu: »Das ist der falsche Weg, Burton, ich will zum Eaton Square.«
Doch statt einer Antwort hörte sie einen Peitschenknall. Das Tempo nahm zu, und eine Welle der Angst durchschoß sie. Sie klopfte erneut ans Dach der Kutsche und forderte diesmal in schärfstem Befehlston, anzuhalten. Doch die Kutsche raste nur noch schneller weiter, und in ihrer Magengrube breiteten sich höchst unangenehme Vorahnungen aus.
All dies hatte etwas mit ihrem Mann zu tun.
Kein anderer außer Brook würde auf die Idee einer Entführung kommen. Und wenn er wahnsinnig genug war, sie zu entführen, dann war er über alle vernünftigen Verhandlungen hinaus. Sie griff nach der Türklinke, in dem Entschluß, trotz des Tempos aus der Kutsche zu springen. Die verzweifelte Tat ihres Mannes versetzte sie in höchste Beunruhigung. Aber die Klinke bewegte sich nicht, obwohl sie sich mit dem ganzen Körpergewicht dagegen stemmte und versuchte, sie zu öffnen.
Tränen der Frustration stiegen in ihren Augen auf, und Panik überwältigte jeden vernünftigen Gedanken.
Die Tür ließ sich nicht öffnen.
Sie war eingeschlossen.
Die Fenster waren zu klein, um auf diesem Weg zu fliehen. Sie ließ sich zurück auf den Sitz sinken und dachte schaudernd nach: Die rasende Kutsche schleppte sie fort – schleppte sie zu ihrem Gatten. Seit Brook sie damals geschlagen hatte, hatte sie es nicht mehr gewagt, mit ihm allein zu sein. Stets hatte sie dafür gesorgt, daß Diener oder Freunde zugegen waren, jemand, den sie um Hilfe rufen konnte. Das war wohl diesmal nicht möglich. Sie zwang sich, ihre Möglichkeiten logisch zu überdenken.
Auf der Desirée würde sie erst in einer Weile zurückerwartet, dachte sie mit sinkendem Herzen. In Lawton House hatte sie sich bereits auf mehrere Monate verabschiedet. Violet wußte nicht einmal, daß sie wieder in London war. Es würde Stunden dauern, ehe man unruhig würde, überlegte sie voller Angst. Schlimmste Vorahnungen überwältigten ihre Gedanken: Ihre einzige echte Hoffnung bestand darin, Brook auszuzahlen. Aber selbst dieser übliche Weg war nun nicht mehr garantiert. Wenn Brook wie sonst auch gewillt war, sich auf eine Geldsumme einzulassen, warum griff er zu solchen extremen Maßnahmen?
»Na, da bist du ja endlich«, sagte Brook leichthin ein paar Stunden später, als man Angela in einem kleinen Landhaus, das sie nicht kannte, zu ihm in ein Zimmer geschoben hatte. »Meine Männer waren schon ganz verzweifelt von dem vergeblichen Warten auf dich. Aber ich habe ihnen versichert, daß du May schließlich abholen würdest. Es geht ihr übrigens gut, kann ich dir sagen, denn sie haben Violet auch unter Beobachtung gehabt.«
»Warum solche Umstände, Brook? Hätte es nicht einfach gereicht, bei mir anzuklopfen?« Sie sprach in gemäßigtem Tonfall, obwohl ihre Angst sich beim Anblick ihres Gatten verschärfte. Er hatte getrunken und wirkte ungepflegt. Seine Augen glitzerten sie böse an.
Er räkelte sich in seinem Sessel und starrte sie an, als sie in der Raummitte stehenblieb, wo die beiden stämmigen Burschen sie hingeschoben hatten. »Wir sind an dem Punkt angelangt, meine Liebe, wo wir die Geldangelegenheiten einmal ernsthafter diskutieren müssen.«
»Habe ich dir nicht immer alles gegeben, Brook, was du brauchtest? Sicher war eine so dramatische Aktion nicht nötig.« Wenn sie sich kerzengerade hielt, dachte sie, dann bekam sie vielleicht das Zittern unter Kontrolle. Sein fahles Gesicht bot einen schrecklichen Anblick – es war wie die Maske eines Irren.
»So einfach ist das nicht, Angela.« Er hob sein Glas und leerte es. Dann schenkte er sich mit einer raschen, unsicheren Bewegung nach und schwenkte das Glas in ihre Richtung, wobei der Schnaps auf den Teppich schwappte. »Auf unsere neue finanzielle Vereinbarung«, sagte er großspurig. Sein bösartiges Lächeln dabei löste größtes Entsetzen in ihr aus.
»Und die wäre?« fragte sie, fast benommen vor Angst, doch sie zwang sich zu einer Antwort, weil sie ihre Furcht verbergen wollte.
»Diesmal will ich alles«, sagte er leise. Seine Stimme klang wie ein Flüstern aus der Hölle.
Wie ein Hammerschlag traf sie die Erkenntnis, in welcher Gefahr sie nun stand. Wenn sie zustimmte, brauchte er sie nicht mehr; wenn nicht, würde er sie mit Freuden so lange malträtieren, bis sie zustimmte. »Warum besprechen wir das nicht beim Essen weiter?« sagte sie in der Hoffnung, damit Zeit für eine mögliche Flucht zu gewinnen. »Ich bin sicher, daß wir zu einer Vereinbarung kommen.«
»Wie gelassen du bleibst, meine Liebe.«
»Wir schaffen es seit Jahren in unserer Ehe, Abmachungen zu treffen, Brook. Ich bin sicher, das schaffen wir auch diesmal.« Es kostete sie ungeheure Mühe, so gelassen zu sprechen und unter seinem bösen Blick die Haltung zu bewahren.
»Es gibt eigentlich nichts mehr für dich zu vereinbaren«, entgegnete er unverblümt. »Von jetzt an habe ich das Sagen.«
»Ach so. Dann kann ich also gehen?«
»Erst, wenn du ein paar Papiere unterzeichnet hast.«
»Dazu brauchst du doch sicher Zeugen.«
»Die habe ich. Noch weitere Fragen?« fragte er sarkastisch.
»Wann kann ich gehen?« Das war ihr wichtigstes Ziel.
»Wir werden sehen«, sagte er mit drohendem Unterton. »Momentan darfst du nach oben gehen. Ich brauche dich erst morgen früh wieder.« Er entließ sie mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Als sie das Zimmer verließ, folgten ihr die beiden Männer, die die Tür bewacht hatten, die Treppe hinauf und behielten sie auch im Auge, als sie kurz die Räume inspizierte, die von dem schmalen Gang abgingen. Sie suchte sich das letzte Zimmer aus, weil es möglicherweise einen Ausweg in den ungepflegten Garten bot. Doch als sie nach Schließen der Tür zum Fenster trat, erkannte sie, daß der Abstand zum Boden draußen gefährlich hoch war.
Einer der Männer brachte ihr ein einfaches Abendessen – einen Teller mit Brot und Käse, aber sie aß trotz ihrer gefährlichen Lage mit Appetit. Wegen der Schwangerschaft war sie ständig hungrig.
An diesem Abend blieb sie lange auf und überlegte, wie sie mit ihrem Mann fertig würde. Vielleicht war er am Morgen, wenn er nicht betrunken war, nachgiebiger, und sie könnten hinsichtlich ihres Vermögens zu einer Vereinbarung kommen. Vielleicht konnte sie einfach die Papiere unterzeichnen und sich auf den Weg machen, dachte sie voll Optimismus, denn wenn sie ihn erst los war, hatte sie genügend Zeit, die erzwungene Unterschrift zu widerrufen. Vielleicht boten die Zeugen ihr eine Chance, der Verhandlung zu entkommen, wenn ihr Mitgefühl einen Preis hatte. Doch gleich, was sie vorhatte, sie war völlig auf sich gestellt. Kit würde sie hier niemals finden; sie hatte dieses Haus selbst noch nie gesehen.
Am Nachmittag, als man die Vorräte verladen hatte, ließ Kit Fitz in der Obhut des Ersten Offiziers zurück und machte sich auf den Weg zu dem Treffen mit Chambers und den Anwälten, die er in dessen Büro bestellt hatte. Kurz nach dem Anlegen hatte Kit Chambers einen Brief mit einem kurzen Überblick über seine Pläne geschickt.
Unterwegs machte Kit kurz in seiner Wohnung halt, wo er Whitfield von der Planänderung unterrichtete, ehe er sich mit Chambers und den Anwälten zusammensetzte, um die Verfahrensweise und die gesetzlichen Vorschriften für eine Scheidung nach englischem Recht durchzusprechen. Sie diskutierten das Vorgehen in allen Einzelheiten, doch als Kit Brooks Drohung erwähnte, den Prinzen von Wales in die Scheidung zu verwickeln, falls Angela diese beantragte, wurden die Männer sichtlich blaß.
»Wenn Sie lieber nicht an dem Fall beteiligt sein wollen«, sagte Kit an dieser Stelle unverblümt, »dann lassen Sie es mich jetzt wissen. Ich brauche ein aggressives Team, das keine Angst vor möglichen Sanktionen hat. Mir ist es egal, wenn selbst die Königin als Zeugin aufgerufen wird. Haben wir einander verstanden?«
Da nickten alle nervös und in dem Wissen, welche Summen er gewillt war zu zahlen, um diese Scheidung durchzusetzen. Chambers hatte sie bereits über die Einzelheiten der finanziellen Aspekte unterrichtet.
»Ich biete jedem von Ihnen fünfzigtausend Pfund als Bonus, wenn die Scheidung in sechs Monaten durch ist«, sagte Kit. »Irgendwelche weiteren Fragen?« Er saß am Kopf des langen Tisches: Elegant gekleidet, selbstsicher, sich absolut bewußt, was er mit seinem Geld erreichen konnte.
»Ist die Gräfin gewillt, als Zeugin auszusagen?«
»Nein, ich will sie nicht vor Gericht sehen.« Er sprach mit der Stimme der Autorität, wie ein Mann, der es gewöhnt ist, daß man seinen Befehlen gehorcht. »Tun Sie alles Nötige, um sie davor zu bewahren.«
»Sie könnte dazu gezwungen werden.«
»Dann sorgen Sie dafür, daß sie nur zur Beweisaufnahme und nicht als Zeugin geladen wird. Ihr Gesundheitszustand ist angegriffen«, fügte er leise hinzu. »Ich habe Chambers bereits die Umstände erklärt, und wenn die Einzelheiten an die Öffentlichkeit gelangen, werde ich persönlich dafür sorgen, daß Sie alle in der Hölle schmoren.« Kit lächelte bei diesen Worten, als habe er nicht gerade ihr Leben bedroht. »Ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen, aber in dieser Hinsicht verdient die Dame, ungestört zu bleiben. Sind wir uns einig?« Sein Lächeln war voller Charme, aber der Blick, der über die Männer streifte, war direkt und kompromißlos.
Dann wartete er gelassen, bis jeder einzelne entweder mit einem Nicken seine Zustimmung erteilte oder sich verlegen erhob. »Dann ist ja alles klar«, sagte er, ebenfalls nickend. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Dabei ließ er ein kurzes, kühles Lächeln aufblitzen. »Chambers ist autorisiert, Sie über die Einzelheiten zu informieren«, fuhr er fort, sich an den Bankier wendend. »Sie wissen, wie Sie mich bei wichtigeren Dingen erreichen können.«
»Ja, Sir.« Chambers rundliches Gesicht war gerötet; sein spärliches graues Haar stand ihm zu Berge, denn seit Kits Brief hatte er wie panisch gearbeitet.
»Wir werden vermutlich vier Monate unterwegs sein. Einen guten Tag, meine Herren«, sagte Kit dann zu der Runde. »Meine besten Wünsche im Umgang mit den Grevilles.«
Als er den großen, getäfelten Raum verlassen hatte, schien es, als habe seine geballte Energie ein Vakuum hinterlassen, und in das gedämpfte Schweigen hinein sagte einer der Anwälte zögernd: »Er weiß, um was er uns gebeten hat, oder?«
»Er ist bereit, den Preis zu zahlen«, sagte Chambers leise – seine Stimme wirkte ebenso vornehm wie sein gutgeschnittener schwarzer Überrock. »Und darum habe ich Sie hergebeten. Er will nur die besten Anwälte ...« Die unausgesprochene Fortsetzung dieses Satzes »... die man mit Geld kaufen kann«, wurde von allen begriffen.
»Ein Vorschlag an die Grevilles, die Sache finanziell zu regeln, wäre der erste Schritt«, sagte einer der Männer. »An welche Summe würden Sie da denken, Chambers. Sie kennen sich doch in Mr. Braddocks Finanzen aus.«
»Er hat keine Obergrenze festgelegt. Wichtiger ist ihm, daß die Sache beschleunigt wird. Warum schauen wir uns nicht Grevilles Einkommen und Ausgaben an und machen der Familie dann ein Angebot, das sie dem Grafen nur dringend empfehlen können? Greville hat in der letzten Zeit ziemlich viel Geld verloren, habe ich gehört. Vielleicht fände er eine Summe, die über seine Verluste hinausgeht, ganz verlockend. Die Summe ist für Mr. Braddock egal.«
Noch keinem von ihnen war jemals ein solcher Blankoscheck geboten worden, und als Chambers ihre Mienen mit dem geschulten Auge eines Bankiers betrachtete, der oft Entscheidungen allein auf Vertrauensbasis traf, legte er seine Fingerspitzen gegeneinander und fügte die Warnung hinzu: »Aber bitte denken Sie daran, Gentlemen, daß ich bei dieser Angelegenheit als Mr. Braddocks gewissenhafter Vertreter fungiere, und obwohl seine persönlichen Gefühle stark beteiligt sind – meine sind es nicht. Ich werde nicht dulden, daß sein Wunsch nach Eile ausgenutzt wird. Sie werden alle ungewöhnlich gut bezahlt. Werden Sie nicht habgierig.« Dann faltete er sorgfältig die Hände auf der Tischplatte und starrte die Männer mit zurückhaltender Freundlichkeit an. »Ich erwarte morgen um die gleiche Zeit Ihren ersten Bericht.«
Schock zeigte sich auf den Mienen der sechs Anwälte von höchstem Rang.
»Und wenn Sie das nicht schaffen können«, fügte Chambers milde hinzu, »dann kenne ich noch ein paar weitere Herren, die gern Ihr Einkommen an den Bonus einstreichen würden.« Damit stand er auf und deutete an, daß die Konferenz beendet war.
Als Kit von Chambers zurückkam, war es schon Spätnachmittag, aber Angela war noch nicht aufgetaucht.
»Maman und Lady Lanley sind vermutlich in ein langes Gespräch über all die Neuigkeiten in der Stadt vertieft«, meinte Fitz, als Kit sich Sorgen machte. »Die beiden können stundenlang miteinander reden.« Kit hoffte, daß er Recht behielt, aber er hätte kaum angenommen, daß Angela so lange bei Violet bleiben würde. »Dann werde ich sie dort fortlocken«, sagte er beiläufig, denn er wollte Fitz nicht beunruhigen, obwohl bei ihm die Warnlampen schon blinkten.
Violet hatte Angela noch gar nicht gesehen, erfuhr er, und sie flüsterte, sofort voller Sorge und Angst: »Ich hoffe, er hat ihr nichts angetan!«
»Gütiger Gott! Ist er hier gewesen?«
»Nein, aber Angela auch nicht. Denn wenn sie May abholen wollte, wäre sie längst dagewesen. Ich komme mit Ihnen nach Lawton House. Lassen wir May und die Kinderfrauen noch in Ruhe. Können Sie warten, May zu sehen, bis wir ...?« Aber sie brach ab, weil Kit sie schon beim Arm genommen und aus dem Raum gezogen hatte.
Die Nachrichten, die sie in Lawton House erwarteten, waren noch beunruhigender. Angela war bis zum frühen nachmittag dort gewesen und vor Stunden schon aufgebrochen. Weder die Kutsche noch der Fahrer waren zurückgekehrt. »Die Gräfin war unterwegs zu Lady Lanley«, sagte Childers mit ernster Miene.
»Hat Sie Ihnen von dem Besuch des Grafen zu später Stunde vor ihrer Abreise zur Desirée berichtet?«
Das hatte sie nicht.
»Sie hatte mir einen Brief gegeben, den ich am folgenden Morgen zu ihrer Bank bringen sollte, Sir. Was, wenn ich das sagen darf, gewöhnlich bedeutet, daß sie Lord Greville Geld überweist.«
»Wann ist sie hier losgefahren?« fragte Kit scharf.
»Etwa um zwei Uhr, Sir.«
Das war über vier Stunden her – eine sehr lange Zeit, wenn sie in Gefahr schwebte, dachte Kit nervös. »Könnte jemand Lady Lanley nach Hause bringen?« fragte er. »Violet, wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie hier verlassen«, fügte er hinzu. »Geben Sie mir die Adresse des Grafen und seiner Familie. Ich muß ein paar Besuche machen.«
Die Wohnung des Grafen in Mayfair war verlassen, wie Kit rasch feststellte: Kein Licht, keine Diener, kein Zeichen, daß sich irgend jemand dort aufhielt. Der Türsteher erklärte, daß Lord de Grae seit dem Morgen nicht mehr in seiner Wohnung weilte und die Diener in Urlaub geschickt habe: Höchst unangenehme Nachrichten in Verbindung mit Angelas Verschwinden.
Kits nächste Station war Greville House, wo man ihn in der Eingangshalle warten ließ. Dann kam der Butler mit einer kühlen Abfuhr. Lady Greville sei für Mr. Braddock nicht zu sprechen.
Da sie sich offensichtlich im Haus befand, weil der Butler sonst keinen derartigen Befehl erhalten hätte, schlug Kit den erstaunten Mann zu Boden und rannte die Treppe hinauf. Oben riß er nacheinander alle Türen auf dem Hauptgang auf und gelangte schließlich in den Ost-Salon, in dem Brooks Schwestern vor einem überfüllten Eßtisch saßen.
Gwendolyn blickte ungehalten über die stürmische Unterbrechung hoch und rief gereizt: »Wie können Sie es wagen!«
»Wo ist Ihr Bruder?« fragte Kit kurz angebunden. »Entweder geben Sie mir sofort seinen Aufenthaltsort, oder Sie haben in zehn Minuten Scotland Yard und sämtliche Polizisten der Gegend vor der Tür stehen.«
»Rowland!« schrie Gwendolyn.
»Geben Sie sich keine Mühe, der liegt in der Eingangshalle. Beantworten Sie meine Frage.«
»Und warum sollte ich das tun, Mr. Braddock«, erwiderte sie zornig und blickte an ihrer langen Nase entlang auf den Mann, der genau der Beschreibung des neuesten Liebhabers ihrer Schwägerin entsprach.
»Sagen wir, weil es angenehmer für Sie wäre.«
»Ist das etwa eine Drohung?« explodierte Beatrice.
»Ja, genau das ist es, und ich bin in verfluchter Eile. Ich brauche den Aufenthaltsort Ihres Bruders.« Seine Stimme wurde nun sehr leise. »Und ich brauche diese Information noch in dieser Sekunde.«
»Seien Sie doch nicht albern«, bellte Gwendolyn. »Wir wissen doch, wer Sie sind. Mein Bruder will nichts mit Ihnen zu tun haben.«
»Schauen Sie«, sagte er immer ungehaltener werdend. Wenn er sie doch körperlich bedrohen und sich durchsetzen könnte. »Ich habe wirklich nicht die Zeit, zu warten, bis die Polizei herkommt. Wenn Ihnen an dem ziemlich häßlichen Poussin da etwas liegt...«, fuhr er fort und klappte dabei ein kleines goldenes Taschenmesser auf, das an seiner Uhrkette hing, »dann sagen Sie mir lieber, wo ich Ihren Bruder finden kann.«
»Sie sind ja wahnsinnig!« schrie Gwendolyn und starrte ihm nach, als er auf das große Gemälde zuschritt.
»Nicht so wie Ihr Bruder, aber in diesem Moment bestimmt ebenso gefährlich. Ich habe die Absicht, seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Warum fange ich nicht mit dieser Ecke an?« meinte Kit und deutete auf die Gestalt eines Schäfers in der bukolischen Landschaft. Dann richtete er kühl und abschätzend die Klinge darauf.
»Er ist in Wickem House«, erklärte eine Stimme aus dem Hintergrund.
Kit fuhr herum und sah eine ältere Dame im Türrahmen. Sie war klein, schlank und noch in Haube und Umhang. Ihr Blick war sehr streng. »Ich komme gerade von einem eiligen Treffen mit unseren Treuhändern. Man hat ihnen mitgeteilt, daß Ihr Mr. Chambers morgen früh eine Antwort erwartet. Sie sind sehr großzügig.«
»Er hat Angela entführt. Haben Sie davon gewußt?«
Die alte Gräfin de Grae wirkte bei dieser Nachricht bestürzt, und ihre Stimme zitterte vor Erschütterung. »Ich hatte so etwas befürchtet. Bitte beeilen Sie sich.«
Kit steckte sein Messer fort und trat auf sie zu. »Wie weit ist Wickem entfernt?« fragte er. Und als sie ihm die Beschreibung gab, sank ihm das Herz. Es war unmöglich, das Haus in weniger als drei Stunden zu erreichen. Er konnte sich nicht einmal dazu durchringen, danke zu sagen, obwohl ihre Informationen unschätzbar waren. In dem Augenblick wünschte er alle Grevilles in die finstersten Regionen der Hölle.
Er schob sich an ihr vorbei und rannte los.
Unterwegs zu dem Landsitz hielt Kit kurz bei Chambers an, um dessen bestes Pferd und Waffen auszuleihen. Nach wenigen Minuten saß er zu Pferde und unterrichtete den Bankier rasch in kurzen, knappen Sätzen von seinen Plänen, während die Stallburschen drei weitere Pferde sattelten und an einem Leitzügel miteinander verbanden. »Ich möchte, daß Fitz benachrichtigt wird – nichts Beunruhigendes, nur, daß Angela und ich aufgehalten wurden und morgen früh wieder da sind. Schicken Sie einem Ihrer einflußreichen Freunde in Scotland Yard eine Nachricht, daß sie sich mit der Polizei in Wickem verständigen. Die Gräfin muß aus dem Haus gerettet werden – machen Sie das ganz klar. Sie soll in ihrer Obhut bleiben, bis ich komme. Erwähnen Sie gegenüber der Polizei keine Namen, außer Grevilles, falls ...«
Chambers nickte und verstand den Satz, ohne daß er beendet wurde.
»Ich werde morgen früh mit der Gräfin zurücksein«, sagte Kit mit einem Blick auf den Burschen, der die letzten Riemen festband. Als der Mann beiseite trat, riß Kit die Zügelhand scharf an. Das Tier sprang vor, Kit zerrte an dem Leitzügel, und Chambers beste Rennpferde rannten aus dem Stallhof hinaus.