15. KAPITEL
Nimm mich zum Abschied
Ich ging ins Bad und zog mich an, dann packte ich die wenigen Habseligkeiten, die ich besaß, zusammen. Ein paar Shirts, zwei Jeans, Unterwäsche, meine Dolche und das Tagebuch. Das war’s. Es dauerte nicht lange. Zehn Minuten vielleicht. Tränen brannten mir in den Augen, ich blinzelte sie weg. Auf keinen Fall würde ich deshalb heulen. Ich hatte schon einmal mein Zuhause verloren, eins, das ich von ganzem Herzen geliebt hatte.
Das hier? Das war gar nichts dagegen.
Warum tut es dann so weh?
Ich glaube, irgendwie hatte ich immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Den Rucksack geschultert, verließ ich das Zimmer, vorbei am kaltherzigen Mr Ankh und am hartherzigen Mr Holland.
Nana lief draußen vor dem Eingang hin und her, ihre Tasche stand auf dem Boden. Besorgt blickte sie mich an, als ich die Treppe zu ihr herunterkam. Sie sah aus, als wäre sie über Nacht zehn Jahre gealtert. Ihre Frisur war unordentlich, ihre Bluse und die Hose vollkommen zerknittert. Sie war ungeschminkt.
Jemand hatte sie aufgeweckt und sie gedrängt, sich zu beeilen.
Ich knirschte mit den Zähnen, spürte, wie mein zweites Herz wild in meiner Brust hämmerte, und zwang mich, langsam zu atmen, mich zu beruhigen, bevor der Hunger sich ausbreiten konnte.
„Geht es dir gut?“, fragte sie mich.
Was hatte man ihr erzählt? Ich gab mir Mühe zu lächeln. „Ich bin … stabil. Und du?“
„Ach, mir geht’s okay.“ Sie warf Mr Ankh einen Blick zu und kniff die Augen zusammen. „Was ist eigentlich los? Warum tun Sie das?“
„Ich überlasse es Ihrer Enkelin, das zu erklären. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, ich setze Sie nicht auf die Straße, sondern habe ein Haus in Ihrer alten Wohngegend für Sie gemietet. Die Adresse ist im Navi programmiert.“
Es gefiel mir gar nicht, dass er für uns bezahlte, und ich wollte am liebsten ablehnen. Tat ich aber nicht. Noch nicht. Ich würde es zulassen, dass er sein Geld für uns ausgab, bis wir was Neues gefunden hatten – etwas, das wir uns selbst leisten konnten und das er uns nicht wieder wegnehmen würde.
Ich nahm Nanas Tasche. Während sie zu verstehen versuchte, was Mr Ankh nicht gesagt hatte, drängte ich sie weiter. Ihr Wagen wartete in der Auffahrt. Der Schlüssel steckte, der Motor schnurrte.
Ich warf unser Gepäck ins Auto, stieg ein und schnallte mich an. Nana setzte sich hinters Steuer, und wenige Minuten später segelten wir den Highway entlang.
„Verrate mir, was hier los ist“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Bitte. In letzter Zeit fühle ich mich ständig wie Reeve. Ich versuche verzweifelt, etwas zu erfahren, und bekomme keine Antwort. Du bist dauernd unterwegs, daran bin ich inzwischen gewöhnt, aber wenn du nach Hause kommst, hast du schlechte Laune und ziehst dich zurück, manchmal wirst du sogar gewalttätig. Und nun wollen die Männer, die dir eigentlich helfen sollten, nichts mehr mit dir zu tun haben.“
„Nana, ich rede gleich mit dir darüber, das verspreche ich, allerdings nicht während der Fahrt.“ Was ich zu sagen hatte, würde sie noch stärker aufregen, als sie es jetzt schon war. Ein Auto und eine aufgewühlte Fahrerin waren keine gute Kombination.
„Ali.“
„Bitte.“
„Na gut. Doch sobald wir drinnen sind …“
Zehn Minuten später erreichten wir das Haus. Nana parkte in der Auffahrt. Es war ein zweigeschossiges Gebäude in Hufeisenform, mit einer roten Ziegelsteinfassade und weißen Fensterläden. Ganz in der Nähe von Nanas alter Adresse, definitiv moderner, aber kälter – und verglichen mit Ankhs Heim eine Bruchbude. Reiß dich zusammen.
Ich schleppte die Taschen ins Wohnzimmer, überrascht, weil der Raum leer war, und überrascht über meine Überraschung. Was denn? Hatte ich erwartet, dass der Mann uns den gleichen hohen Lebensstandard bot, den wir bei ihm hatten? Die Wände waren in knalligen, kräftigen Farben gestrichen. Rot. Blau. Grün. Ich nahm an, dass jemand eine Blutlinie ums Haus gelegt hatte, würde mich aber nicht darauf verlassen. Ich würde mit Nana reden, die Schule ausfallen lassen und später zur Arbeit gehen.
„Ali“, sagte Nana mit brüchiger Stimme.
Ruhig bleiben. „Ich bin gebissen worden“, fing ich an zu erklären. „Man hat mir das Antiserum gegeben, was auch geholfen hat, doch das Zombiegift wurde nicht vollständig zerstört. Ich mache schreckliche Sachen. Gefährliche Sachen. Werde zu dem, was ich am meisten hasse. Mr Ankh hat Angst um Reeve. Und Nana … ich habe Angst um dich. Ich glaube, es wäre besser, wenn ich …“
„Nein!“, rief sie und schüttelte heftig den Kopf. Sie kam auf mich zu und packte mich an den Unterarmen. „Du wirst nirgendwo anders hingehen oder was immer du auch gerade sagen wolltest. Du bist meine Enkelin, und ich liebe dich. Wir bleiben zusammen, und ich werde dir helfen.“
Mein Kinn zitterte. Ich hatte diese Liebe gar nicht verdient.
„Warum hast du mir nicht früher davon erzählt?“
„Zuerst wusste ich gar nicht, was mit mir los war. Dann …“ Himmel, das war nicht einfach zuzugeben. „Ich hatte Panik vor dem, was darauf geschehen würde.“
„Ach, Ali.“
Ich umfasste ihre Hände. „Falls ich jemals irgendwas machen sollte, das dir Angst einjagt, oder wenn meine Augen rot werden oder ich dich lange anstarre, lauf weg. Lauf und sieh dich nicht um.“
Sie drückte mir leicht die Schulter. „Du wirst kein Zombie, junge Dame. Das werde ich nicht zulassen.“
Ich musste lachen und wünschte, ich wäre so zuversichtlich wie sie. Ich umarmte sie. „Danke für deine Liebe. Und es tut mir wirklich leid wegen des Dinners. Wenn ich unsere Verabredung eingehalten hätte, wäre in der letzten Nacht nicht … Na ja, ist ja jetzt egal. Es tut mir einfach nur so, so leid.“
„Denk nicht mehr daran, A-diddy. Du hast eine Verantwortung, das weiß ich doch.“
A-diddy? Wieder musste ich lachen. Nana hatte immer gern versucht, bezüglich der modernen Umgangssprache – jedenfalls was sie dafür hielt – auf dem Laufenden zu bleiben. Nachdem Pops gestorben war, hatte sie damit aufgehört. Zu wissen, dass sie endlich begann, ihr normales Leben fortzuführen, freute mich.
„Nana“, sagte ich und setzte mich auf den Tresen, der die Küche vom Wohnzimmer trennte. „Wusstest du, dass es in dem Tagebuch, das du mir gegeben hast, um die Zombiejagd geht?“
Sie machte große Augen. „Nein, ich hatte keine Ahnung.“
„Hat irgendjemand in deiner Familie jemals … ich weiß nicht, von irgendwelchen Monstern gesprochen, die sonst niemand sehen konnte? Oder ist vielleicht jemand in die Nervenheilanstalt gekommen?“
„Na ja.“ Sie blickte auf ihre Schuhspitzen hinunter. „Meine Mutter war Alkoholikerin und brabbelte was von nächtlichen Gestalten, die ihre Seele stehlen wollten. Mein Vater hat uns verboten, mit irgendjemandem darüber zu reden. So peinlich, wie uns das war, bestand wirklich nicht die Gefahr, dass wir uns nicht daran hielten. Als ich dann mit Pops ausging, hat er sich oft zu mir geschlichen und … na ja.“ Sie räusperte sich. „Egal. Er hat eine ihrer Episoden miterlebt.“
Zombiejäger. In der Familie meiner Mutter. Wie konnte mir das entgangen sein?
Wie viele andere Zombiejäger waren doppelt vorbelastet?
„Das ist einer der Gründe, weshalb Pops und ich so unerbittlich wollten, dass deine Mutter sich von deinem Vater fernhielt. Ach, Ali, ich hätte es wissen müssen, hätte merken müssen, wo die Verbindung war. Für mich war meine Mutter einfach nur eine Trinkerin. Und dann begann dein Vater zu trinken und … na ja, den Rest kennst du ja.“
Allerdings. Sie und Pops hatten meinen Vater gehasst, ihn nie richtig in die Familie aufgenommen. Das hatte ich ihnen nicht übel genommen und tat es immer noch nicht. Es hatte ja eine Zeit gegeben, in der ich meinen Vater selbst gehasst hatte.
„Wie ist dein Urgroßvater gestorben?“, fragte ich.
„Er ist eines Tages verschwunden. Zumindest hat man mir das so erzählt, als ich das Tagebuch erhalten habe.“
Oh. Verschwunden. Ich erinnerte mich an die Passage in seinem Tagebuch …
Manche Zombiejäger können die Zukunft vorausahnen. Manche sind in der Lage, die Blutlinien zu erkennen und unsere Rückzugsorte zu finden. Manche können die Zombies einen nach dem anderen zerstören, dann mehrere auf einmal, nachdem sie gebissen wurden. Etwas in ihrem Geist infiziert die Zombies und verbreitet sich unter ihnen wie eine ansteckende Krankheit, ohne dass der Zombiejäger etwas dazutun muss.
Andere wiederum haben keine dieser Fähigkeiten, während manche alle besitzen. Ich kann alles.
Deshalb weiß ich vom bevorstehenden Krieg. Und ich weiß, dass kein einziger Zombiejäger – oder Zivilist – überleben wird, wenn nicht etwas geschieht.
Deshalb weiß ich, was getan werden muss.
Ich muss sterben.
Dann, ein paar Seiten danach, hatte er geschrieben: Wärst du bereit, dein eigenes Leben aufzugeben, um andere zu retten? Ist dir klar, dass Sterben der einzige Weg ist, um wirklich und wahrhaftig zu leben?
Hatte er sein Leben geopfert, um andere zu retten? War er gestorben, um wirklich und wahrhaftig zu leben?
Wenn ja, großartig. Wunderbar. Aber was sollte das bedeuten? Das hatte ich damals schon nicht begriffen, und ich verstand es auch jetzt ganz sicher nicht.
Ich feilte an meiner aktuellsten Liste der zu erledigenden Aufgaben. Bete, dass alles gut wird. Hoffe darauf, dass die Antworten vom Himmel fallen.
Draußen quietschten Reifen. Eine Autotür wurde zugeschlagen.
Ich runzelte die Stirn und ging zum Fenster, um nachzusehen, wer da kam.
So, wie das Haus geschnitten war, konnte ich allerdings den Wagen nicht sehen, da ich keine Sicht auf die Auffahrt hatte, beziehungsweise auf die Person, die ausgestiegen war und zur Terrasse hochstampfte, um an die Tür zu klopfen.
„Ali! Ich habe es gerade erfahren!“
Mein Herz hüpfte mir fast in die Kehle. Cole? Er hatte mich nicht aus seinem Leben verbannt?
Ich rannte zur Eingangstür und öffnete ihm. Er stürzte herein und blieb vor mir stehen. Zuerst musterte er mich von oben bis unten, und ich tat dasselbe mit ihm. Seine Augen waren blutunterlaufen – er hatte offensichtlich nicht geschlafen. Schnitte, Kratzer und blaue Flecken zierten sein Gesicht, die Wundnaht war geschwollen. Seine Klamotten waren völlig zerknittert, es war nicht zu übersehen, dass er sich hastig angezogen hatte.
„Ich habe kein Wort zu ihnen gesagt.“
„Ich weiß. Sie haben Aufnahmen von einer Überwachungskamera.“
Er runzelte die Stirn. „Dann hast du gesehen, was passiert ist?“
Ich nickte und konnte nicht verbergen, wie sehr ich mich schämte.
Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen, als hätte er immer noch jedes Recht, mich zu berühren. Mein Kinn bebte – nein! Keine Tränen mehr! – und ich kämpfte gegen den Drang an, mich an ihn zu schmiegen, meinen Kopf an seine Schulter zu legen und seine Stärke zu genießen. Ich wich zurück, außerhalb seiner Reichweite.
Seine Gesichtszüge verhärteten sich.
„Also dann …“ Nana räusperte sich und nahm ihre Tasche und den Schlüssel. „Ich fahre zu Target und hole einige Sachen, die uns fehlen. Ihr beide habt offensichtlich noch ein paar Dinge zu besprechen.“
„Ich brauche nichts“, versicherte ich ihr.
Sie gab mir einen Kuss auf die Wange, tätschelte Cole den Arm und ließ uns allein.
„Ich werde mit Ankh reden“, sagte Cole, nachdem er die Tür abgeschlossen hatte und wir ins Wohnzimmer gegangen waren.
„Nein. Tu das nicht. Ich bin wütend, weil er Nana das angetan hat, doch was mich betrifft, verstehe ich ihn. Ich habe dich angegriffen, Cole. Ich wollte dich beißen.“
„Das ist mir egal.“
„Mir aber nicht.“
Er wischte die Worte mit einer Geste weg. „Du warst nicht bei dir.“
„Was ist mit den anderen Vorkommnissen? Ich habe einen Zombie gebissen. Ich will nicht wissen, was das bei mir für einen Schaden angerichtet hat, wie verdorben ich jetzt bin. Ich weiß nicht, was ich machen soll oder wie ich mich heilen kann. Nicht wirklich. Ich meine, im Tagebuch steht, dass ich das Feuer brauche. Das habe ich versucht, aber nichts ist passiert, und nun sind meine Flammen rot. Und hast du das gehört, dass ich verdorben bin?“
„Moment mal. Du hast versucht, dich mit deinem Feuer zu heilen? Dich einzuäschern?“
Oh, oh.
„Du hast tatsächlich versucht, den Zombie – dich – zu töten. Und was wäre mit uns gewesen? Hätten wir dann deine Asche gefunden, uns nicht darum gekümmert und so weitergemacht wie immer?“
„Du hast ja bereits so weitergemacht wie immer“, konterte ich. „Und du hättest erfahren, was passiert ist.“ Jedenfalls so ungefähr. „Ich hatte eine Nachricht hinterlassen.“
Er kniff die Augen zusammen und kam näher. Ich wich zurück. Er war so viel größer als ich, so viel kräftiger, ich fühlte mich fast klein neben ihm.
„Ich bin so wütend auf dich, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Er packte mich mit beiden Händen um die Taille und hob mich auf den Küchentresen. Vor Schreck protestierte ich nicht. Dann drängte er meine Beine auseinander, schob sich dazwischen, ganz dicht an mich heran, und starrte mich mit unglaublicher Entschlossenheit an.
Seine Hitze umfing mich, unwiderstehlich köstlich. Zum ersten Mal, seit Mr Ankh und Mr Holland zu mir ins Zimmer gestürmt waren, wurde mir warm.
Konzentriere dich. „Ich dachte, es wäre richtig, das zu tun.“
„Dann hast du dich geirrt. Und du bist nicht verdorben.“
„Bin ich doch.“ Ich legte die Hände auf seine Schultern. Um ihn von mir zu schieben oder ihn an mich zu ziehen, das war mir nicht ganz klar. Ich hatte nicht vergessen, was er mit Veronica getrieben hatte, und ich war mir nicht sicher, ob ich das je vergessen könnte. „Hör zu, ich versuche, mich von dir fernzuhalten. Das wolltest du so, und das will ich auch. Du machst es mir jedoch ziemlich schwer.“
In seinem Blick lag Schmerz. „Ist mir klar. Aber ich werde nicht gehen, bevor ich nicht weiß, dass es dir gut geht und du verstanden hast, dass du nicht verdorben bist.“
Das hier. Das war der Typ, mit dem ich gegangen war. Besorgt. Liebenswürdig. Entschlossen zu bleiben.
Ich wollte ihn zurück.
Ich konnte ihn nicht zurückhaben. Nicht für immer.
„Tut mir leid, aber ich kann das einfach nicht verstehen. Mein Vater war ein Zombiejäger und meine Mutter offensichtlich auch, obwohl sie es selbst nicht wusste. Wir kennen ja alle die Redewendung darüber, je höher man steigt, desto tiefer fällt man. Mit meinen ganzen Fähigkeiten …“
„Hey, mir geht es genauso. Meine Mutter war ebenfalls eine Zombiejägerin.“
„Deine Eltern waren beide Zombiejäger?“, sagte ich erstaunt. „Wow. Okay. Das hatte ich nicht erwartet. Meinst du, deshalb haben wir die Visionen?“
„Vielleicht. Gavin ist der einzige andere Zombiejäger mit doppeltem Erbe, den ich kenne. Aber er und ich hatten keine Vision, bis du kamst.“
Mir stockte der Atem. „Ihr hattet gemeinsam eine Vision?“
Er nickte steif.
Ich krallte die Finger in sein Hemd. „Wann? Was habt ihr gesehen?“
Er stützte seine Hände rechts und links neben mir ab, als würde er seiner Reaktion nicht trauen, wenn er mich berührte. „Wir haben … dich gesehen. Wir gingen durch eine Tür, du kamst angerannt, als du uns bemerkt hast. Du hast gelächelt und dich in seine Arme geworfen. In seine. Nicht in meine. Du hast ihn ausgewählt und ihn sogar in meiner Gegenwart geküsst.“
„Wann hattet ihr diese Vision?“, wollte ich wissen.
„An dem Morgen, als ich mit dir Schluss gemacht habe. Ich hatte mir solche Sorgen um dich gemacht, war mit den Nerven fertig, dann kam er rein, wir sahen uns an und da passierte es. Die Vision.“ Cole legte seine Stirn an meine. „Das war der Horror, Ali. Für mich war es genauso, als wenn du mich betrogen hättest. Am liebsten hätte ich Gavin umgebracht, wirklich. Auf dich war ich verdammt wütend, gleichzeitig wollte ich dich küssen, bis du mir alles versprochen hättest, alles, was du sowieso nicht hättest halten können.“
In meiner Kehle bildete sich ein Kloß. Ich konnte mir vorstellen, wie weh ihm das getan hatte, dieser Betrug – weil ich es genauso empfunden hätte. „Hattet ihr danach noch eine andere Vision?“
„Nein.“
Ich hatte gedacht, ich könnte die Theorie mit der Mauer, die jemand um sich errichtete, über den Haufen werfen, aber … seine Schutzmauer konnte aufgrund der Sorgen um mich für einen Augenblick fallen und sich wegen seines Zorns auf mich wieder aufrichten. Wenn das so war, hieß es, dass meine Schutzmauer ebenfalls bröckelte. Zumindest, was Gavin betraf. Was bedeutete das?
„Warum hast du mir denn nichts davon erzählt?“, fragte ich.
„Ich habe dir eine Menge nicht erzählt“, entgegnete er finster.
„Zum Beispiel?“
„Zum Beispiel …“
Er hatte sich wieder aufgerichtet, strich sich durchs Haar und zupfte an den Strähnen, als wollte er sie ausreißen. Er lachte trocken.
„Wozu? Bisher hab ich ja alles immer nur schlimmer gemacht. Mir geht’s schlecht. Du fühlst dich mies. Warum sollten wir nicht einen anderen Weg einschlagen?“
„Cole! Bitte!“ Ich war mit meiner Geduld am Ende.
Er schloss die Augen. „Wir haben einen Spion unter uns“, sagte er leise.
„Ich weiß. Ich habe ihn gesehen, wie …“
„Nein. In unserer Gruppe.“
Er sah mich direkt an, ich konnte erkennen, wie aufgewühlt er war.
„Es ist einer von uns. Jemand, dem wir vertrauen. Das weiß ich schon eine ganze Weile.“
„So viel habe ich auch erfahren. Deshalb noch mal: Warum hast du’s mir nicht gesagt?“
„Moment. Woher weißt du das?“
„Emma.“
„Hätte ich mir denken können.“ Er seufzte. „Ich hab’s dir nicht gesagt, weil ich niemanden beschuldigen wollte, bevor ich hundertprozentig sicher bin. Und ich wollte nicht, dass du jeden verdächtigst und deine Beziehung zu den anderen Zombiejägern riskierst, nachdem sie gerade angefangen haben, dich zu akzeptieren. Und was, wenn der Spion rausgefunden hätte, dass du Verdacht geschöpft hast? Was wäre dann mit dir passiert? Du wärst ständig in Gefahr gewesen, falls jemand verzweifelt versucht hätte, dich auszuschalten.“
Gegen diese Logik konnte ich nichts vorbringen. „Warum sagst du’s mir jetzt?“
„Jetzt ist deine Beziehung zu den anderen sowieso im Eimer. Ankh und mein Vater werden allen das Video zeigen. Sie wollen, dass jeder in der Gruppe weiß, weshalb er sich von dir fernhalten soll.“
Das war das Beste. Trotzdem tat es weh, zu wissen, dass ich auf einen Streich so viele Leute verlieren würde, die mir wichtig waren. „Woher weißt du, dass es einen Spion gibt?“
„Justin hat mich angerufen, hat mir erzählt, dass irgendjemand Informationen an Anima weitergibt. Infos, die nur jemand aus der Gruppe haben kann. Termine von Treffen. Welche Verletzungen wir haben. Teile von Gesprächen aus unserem Kreis.“
Justin hatte ihn also tatsächlich angerufen. Ich fragte mich, in welcher Beziehung diese Hundeaugen noch gelogen hatten. „Ich kann einfach … ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wer so was tun würde.“
„Ich auch nicht. Aber einer ist es, und ich muss es rausfinden, bevor die Situation gefährlicher wird und jemand von uns ernsthaft zu Schaden kommt.“
„Was ist, wenn Justin sich mit beiden Seiten arrangiert? Wenn er dir das alles nur erzählt hat, damit du ihn in die Gruppe aufnimmst? Er könnte dir sagen, dass er uns hilft, und in Wahrheit eine Falle vorbereiten.“
„Wie sollte er bestimmte Informationen schon bekommen haben, bevor er wieder in die Gruppe aufgenommen wurde?“
„Von außerhalb spionieren, sodass er von innen weiterarbeiten kann.“
„Ich habe ihn beobachtet“, erwiderte Cole grimmig. „Habe ihn sogar mit falschen Informationen gefüttert. Bisher hat er den Köder nicht geschluckt und irgendwas weitergegeben. Und außerdem. Er hat mir gesagt, dass du ihn gefragt hast, ob wir telefoniert hätten: Er hat dir gegenüber den Unwissenden gespielt, weil er nicht wusste, ob er mit dir darüber reden darf.“
Kluger Schachzug, ob er nun der Spion war oder nicht. Das deckte alle Möglichkeiten ab. „Bist du deshalb so nett zu Veronica? Hast du sie ausspioniert?“
„Zuerst schon.“
Ich kniff die Augen zusammen, mein Herz machte einen Satz. „Und dann hast du plötzlich rausgefunden, dass du was von ihr willst.“
Er legte die Hände um meine Taille und hielt mich fest, als befürchtete er, ich würde weglaufen.
„Ja.“
Ein Teil von mir wollte Reißaus nehmen, ich würde es jedoch nicht tun. Was er getan hatte, war ein böser Schnitt, der eine tiefe Wunde hinterlassen hatte, die erst mal heilen musste. „Und dann hast du … es mit ihr getrieben.“
Er hielt meinem Blick stand, ohne zusammenzuzucken, doch ich sah den Schmerz in den violetten Tiefen.
„Ja. Aber ich habe dir nicht alles erzählt …“
„Das will ich auch gar nicht“, unterbrach ich ihn und legte ihm einen Finger auf die Lippen. Seine wunderbaren Lippen. Ich erschauerte … Nein! „Es ist nicht notwendig. Wir sind ja nicht zusammen. Was machst du überhaupt hier, Cole?“
Er schob meinen Finger beiseite, hielt ihn fest und starrte darauf, als wäre darin all die Medizin gegen seine Leiden. „Ich weiß nicht.“ Er ließ fast reumütig den Kopf sinken, nicht aber meinen Finger. „Es ist … Ich kann mich einfach nicht losreißen. Du bist wie ein Magnet, der mich immer wieder anzieht. Und was ist mit dir? Du müsstest mich anschreien, mir Dinge an den Kopf werfen und mir sagen, ich soll mich aus dem Staub machen und mich nie mehr blicken lassen. Warum schreist du mich nicht an?“, wollte er fast verbittert wissen.
Weil es mir trotz allem gefiel, dass er da war.
Dummes Mädchen.
„Willst du, dass ich schreie?“ Ich holte tief Luft. „Kann ich machen.“
Er schüttelte den Kopf und sah mich durch die dichten, dunklen Wimpern an. „Dafür ist es zu spät. Ich werde dich jetzt küssen, Ali.“
Küssen … ja … nein! „Du hast dir dein Bett selbst gemacht.“
„Ich weiß. Aber ich hätte dich trotz allem gern da drin.“
Einfach. So. Jede Zelle in meinem Körper vibrierte, sehnte ich nach ihm. Voller Verlangen nach ihm. Ich war die ganze Zeit so durstig, und er war mein Wasser, meine Rettung. Das war er immer gewesen.
Ein letztes Mal, dachte ich. Nur ein einziges Mal. Sozusagen als Abschluss. Zum Ende.
Dem endgültigen Ende.
„Es würde … aber nichts bedeuten“, flüsterte ich.
Was machst du denn da?
Die vernünftige Ali kämpfte sich aus dem Sumpf meiner Gedanken.
In diesem Augenblick hasste ich sie. Ich brauchte das hier und würde nicht mit ihr darüber diskutieren.
„Hoffen wir einfach“, sagte er, es klang eher wie ein tiefes Knurren.
Er presste die Lippen auf meinen Mund, unglaublich zärtlich und ohne Eile, kostete jeden Moment aus und wartete auf eine Reaktion – oder war entschlossen, alles zu tun, um eine zu bekommen.
Mehr war nicht notwendig.
Der Funke, der ständig zwischen uns brannte, entzündete sich zu ungebändigtem Feuer. Ich ließ meine Zunge in seinen Mund gleiten, und ein wildes Spiel begann. Keiner von uns war jetzt noch vorsichtig. Ich klammerte mich mit aller Kraft an ihn, forderte mehr, nahm mir mehr. Nahm alles.
Es war nicht genug.
Ich war mir nicht sicher, ob ich je genug bekommen würde.
Er schob mir die Hände ins Haar, packte es im Nacken und zog meinen Kopf zurück, um besseren Zugang zu meinem Mund zu haben. In diesem Moment gehörte ich ganz ihm.
Die Vergangenheit verblasste. Ich war das Mädchen, das so lange auf dem Trockenen gesessen hatte, und er war mehr als das rettende Wasser. Er war wie Honig. Ich verschlang ihn, doch es war nicht genug.
„Du fühlst dich so gut an“, flüsterte er rau. „Schmeckst so gut. Ich habe dich so vermisst. Muss dich haben. Bald. Sehr bald. Schick mich nicht weg.“
„Bleib hier.“ Energie schoss durch meine Blutbahnen. Ich zerrte an seinem Hemd, so hektisch, dass der Stoff zerriss. Er taumelte zurück. So weit weg. Nein. Ich sprang vom Tresen und folgte ihm, drückte ihn auf den Boden und nahm ihn mit den Beinen in die Zange.
Wieder trafen sich unsere Zungen, diesmal noch heftiger. Wir waren wild, ungezähmt, trotzdem war es nicht genug für mich. Er schmeckte nach Minze und Erdbeeren, meine Lieblingsaromen – ich brauchte mehr. Jeder Punkt, an dem wir uns berührten, war wie elektrisch aufgeheizt – ich wollte verbrennen.
„Berühr mich“, forderte ich.
Er rollte mit mir herum, drückte mich mit seinem Gewicht auf den Teppich und seine Hände waren plötzlich überall. Ich strich mit der Zunge über seinen Hals, kostete ihn, schnupperte.
Ja! Ja!
Er neigte den Kopf, um mich wieder zu küssen, doch dann stutzte er und runzelte die Stirn. „Deine Augen. Sie sind rot.“
Augenblicklich löschte das Entsetzen die Flammen. Entsetzen und Angst, so viel hässliche Angst. Ich wand mich unter ihm hervor, kroch rückwärts von ihm weg, immer weiter. „Bleib … bleib auf Abstand. Du darfst mir nicht zu nahe kommen.“
„Ali.“ Er streckte die Arme nach mir aus. „Ich will dir nicht wehtun, ich will dir helfen.“
Oh, Himmel. „Geh“, befahl ich und wehrte ihn mit den Füßen ab. Ich hatte ihn schon einmal angegriffen. Ich würde mir nicht die Gelegenheit geben, es ein zweites Mal zu tun. „Geh zum Unterricht, bevor du zu spät kommst.“
Er ballte die Hände zu Fäusten, ließ die Arme sinken. „Die Schule ist geschlossen. Sechsundzwanzig Leute wurden heute Morgen tot in ihren Häusern gefunden, darunter waren drei Schüler. Sie sind nicht in deiner Klassenstufe, deshalb glaube ich nicht, dass du sie kennst“, fügte er schnell hinzu. „In den Berichten heißt es, dass der Antifäulniserreger in Birmingham tobt und dass er ansteckend ist. Solange sie nicht wissen, wie er sich ausbreitet, werden entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.“
Er kam entschlossen auf mich zu.
„Nein!“ Ich wich zurück, bis ich an die Wand stieß. Heiße Tränen rollten mir die Wangen hinunter. Ich war wohl doch noch nicht ganz fertig mit dem Heulen. „Bitte! Geh!“
Ein langer Augenblick verging, bevor er aufstand. Er sah auf mich herunter, die unterschiedlichsten Gefühle zeigten sich auf seinem Gesicht. Der Schmerz von vorhin. Ärger. Verlangen.
„Ich bin im Moment total durcheinander.“
Die Tränen flossen stärker, schneller. „Ich kann die Dinge für dich klarstellen. Anfangs dachte ich, wir könnten Freunde bleiben. Geht nicht. Ich will dich nicht wiedersehen. Geh bitte, und komm nicht noch einmal zurück.“