Epilog
Es klingelt, endlich. Obwohl: Da ist auch ein bisschen Angst. Angst, er könnte erwarten, dass ich ihm lange in die Augen schaue. Dass ich ihm etwas Bestimmtes erzähle, ihn vielleicht küsse.
Ich habe lange gewartet auf dieses Klingeln. Am Küchentisch gesessen, mit den Händen über die hölzerne Oberfläche gestrichen, wieder und wieder. Als würde ich mehr als nur die letzten Brotkrümel fortwischen wollen. Diese Struktur im Holz, sie gefiel mir nicht. Alles wollte ich daraus fortwischen, alles, was mich an das stumme Gesicht zu erinnern vermag.
Das Klingeln reißt mich aus dieser Bewegung, lässt mich erstarren, innehalten. Vielleicht ist es so: Wenn man sich lange etwas herbeisehnt, wird man im entscheidenden Moment langsam. Braucht man lange, um aufzustehen und tatsächlich an die Tür zu gehen.
Es klingelt zum zweiten, zum dritten Mal.
Die Türklinke fühlt sich kalt an. Und ich höre, dass er im Treppenhaus kehrtmacht. Dass er gehen, nicht länger warten will.
Vielleicht war es das, was ich wollte. Dass er nicht so dicht vor der Tür steht. Dass Abstand zwischen uns gelangt, dass er nicht auf die Idee kommt, mich zu umarmen.
Als ich öffne, sieht er mich von der Treppe aus an. Der Hund reißt sich von ihm fort, springt an mir hoch. Ich bücke mich und brauche lange, um ihn zu beruhigen. Er liegt auf dem Rücken und streckt seine lächerlich kurzen Beine in die Luft.
Liam steht vor mir, seine Stirn ist gerunzelt.
»Komm rein.«
Meine Wohnung wird ihm fremd vorkommen. Das Zimmer: ein Tisch, zwei Stühle, Umzugskisten. Eine Flasche Wasser und zwei Gläser.
Er setzt sich.
»Möchtest du was trinken?«
Er nickt, weicht meinem Blick aus. Wäre der Hund nicht da – zwischen uns wäre nichts, das sich lebendig anfühlen würde.
»Wie geht’s dir?«, traut er sich zu fragen, als das Glas Wasser vor ihm steht. Ich setze mich, ziehe die Füße hinauf auf den Stuhl, umschließe die Knie mit den Armen.
Ich schaue an ihm vorbei an die Wand. Eines von Mamas Bildern hing dort, hat einen Abdruck auf der Tapete hinterlassen. Genau wie in seinem Wohnzimmer. Dort, an den Wänden, blickte man auf eine Galerie voller Schatten.
Zittern, wie Schüttelfrost. Gänsehaut unter dem Pullover.
Duckskin.
»Das geht irgendwann vorbei«, entschuldige ich mich.
»Mit wem sprichst du darüber?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Mit Selma. Einer Psychologin. Mit Rebecca, manchmal.«
»Wie geht es ihr?«
»Rebecca?«
»Ja.«
Wenn ich könnte, würde ich schmunzeln. Es ist offensichtlich, dass er über alles sprechen will, bloß nicht über uns. Gerne würde ich ihn jetzt schon direkt fragen: »Kommst du mit?«
Nach Indien, mit mir. So wie ich es dir vorgeschlagen habe. Eine Mail habe ich dir geschrieben, nicht wahr? Gesehen habe ich dich seit drei Monaten nicht mehr.
Stunden werden zu Tagen, zu Wochen, zu Monaten. Man wacht im Krankenhaus auf und schaut geradeaus. Die Wände dort sind kahl, sind kühl, sind fremd.
Weinen tut man erst spät. Und die Tränen kommen vor den Schreien. Die man endlich rauslassen kann, wenn man begreift, dass es vorbei ist. Wenn man versteht, was geschehen ist.
Liams Gestalt, verschwommen, auf diesem Stuhl im Zimmer. Natans Stuhl. Von dem er runtergekippt ist. Dieses schwere Plumpsen, als sein Körper zu Boden sackte. Er versucht, die Stille zu durchbrechen.
»Und Marie? Wie geht’s ihr?«
Plötzlich merke ich, wie trocken mein Rachen ist. Dass ich schon lange nichts getrunken habe, obwohl ich schon seit Ewigkeiten hier sitze.
»Marie …«
Mein Blick klebt wieder an der Wand hinter ihm, ich schließe die Augen und versuche, mir das Bild vorzustellen, das dort hing. Ich glaube, ich könnte es nachmalen, kenne jede Nuance darauf, jeden Pinselstrich.
Ich greife nach meinem Glas, nehme einen kräftigen Schluck.
»Ich hab sie lange nicht gesehen«, gebe ich zu.
Kapitän kratzt an meinem Stuhl und endlich nehme ich die Füße herunter. Ziehe den Hund herauf zu mir auf den Schoß, kraule ihn hinter den Ohren.
»Wer wäscht dich jetzt?«, murmele ich.
»Möchtest du nicht mit ihr reden …?«
»Mit Marie? Nein.«
Sein nachdenkliches Gesicht – »Wieso nicht?«, will er fragen, doch er lässt mir Zeit, selbst die Antwort zu geben.
»Ich habe mit Marie geredet. Lange. Wollte wissen, warum ihr das mit Natan nicht schon früher eingefallen ist. Wie sie das nur vergessen konnte, dass unsere Eltern bei demselben Unfall starben.«
»Und?«
»Und nichts. Sie hat dagesessen und an mir vorbeigeschaut. Das wäre einfach so lange her, hat sie gesagt, Natan wäre ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen.«
»Find ich seltsam.«
Ich zucke mit den Schultern und denke: Ich auch. Und natürlich ist dadurch etwas kaputtgegangen zwischen Marie und mir. Ich habe kein Bedürfnis mehr, mit ihr zu sprechen, sie zu treffen. Genauso scheint es ihr zu gehen, denn sicherlich ist es schon drei Wochen her, dass sie mich zum letzten Mal anrief.
Doch das alles sage ich ihm nicht. Stattdessen nehme ich sie in Schutz: »Wenn Marie nicht gewesen wäre …«
Mitten im Satz halte ich inne, denn Liam schaut so wie immer, wenn er nicht einverstanden ist: die eine Augenbraue leicht nach oben gezogen, die Mundwinkel kaum merklich verzogen. Etwas wie einen zynischen Zug kann man in ihnen lesen.
»Wenn es Marie schon vorher eingefallen wäre«, kontert er, »wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen.«
Nachdenklich rücke ich Kapitäns Augenklappe gerade. Der Hund leckt mir liebevoll die Hand. Er könnte auch mitkommen nach Indien.
»Sie wird es nicht absichtlich vergessen haben«, schließe ich.
Liam antwortet nicht, starrt stattdessen aus dem Fenster in den Hinterhof. Wein rankt an der gegenüberliegenden Mauer entlang, seine Blätter leuchten rot und gelb.
Bald werden die letzten Blätter fallen. Werde ich in Indien sein, mit oder ohne Liam. Im Winter.
Dass Liam meine letzte Bemerkung im Raum stehen lässt, wundert mich. Normalerweise möchte er immer das letzte Wort haben. Aber noch blickt er auf das bunte Blattwerk, als gelte es, bloß abzuwarten, bis ich seinen Gedanken folge.
»Warum sollte sie das tun …?«, frage ich. »Absichtlich was verschweigen?«
»Weiß ich nicht«, sagt er zu schnell und zieht ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche. »Stört es dich …?«
»Nein. Nur dass du rauchst …«
»Inzwischen schon eine Weile. Wenn man wartet, Anna. Und nichts mit seinen Händen anzufangen weiß.«
»Gibst du mir eine?«
Er zieht eine für mich aus der Schachtel, hält mir das Feuer hin.
Gedanken an Marie spinnen sich durch den Raum. Warum sagt er nicht, was er sagen will? Ist etwas vorgefallen zwischen Marie und ihm?
Ich schließe die Augen und komme zu dem Schluss: Was soll’s.
»Das ändert nichts, Liam. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen bis zu dem Tag, an dem er mir das Tuch vors Gesicht presste.«
Er nickt kaum merklich, steht schließlich auf und öffnet das Fenster, schnippt die Asche hinaus in den Hof. Dabei wirkt er, als ob er schon jetzt Abstand zwischen uns bringen wollte.
Wie kann das sein? Dass er das Gift getrunken hat, aber nicht für ein paar Monate mit mir nach Indien gehen will? Ob ihm seine Arbeit wirklich wichtiger ist? Glaubt er, dass dieses Volontariat der einzige Job ist, den er jemals finden wird?
Er könnte in Indien schreiben. Fotografieren, sich nützlich machen. Er könnte zusehen, wie Wunden heilen. Idas Geschichte habe ich ihm schon erzählt. Zumindest das Wesentliche, wie sehr mir ihr Tagebuch geholfen hat. Jetzt berichte ich, dass ich es an Oskar geschickt habe, ihren Sohn. Der mir aus Florida einen langen Brief zurückschickte.
Liebe Anna, sprach er mich an. Und wiederholte diese Worte in seinem Brief immer wieder: liebe Anna.
Wie sehr er bedauert. Wie sehr er sich schämt.
Er klingt wie ein warmherziger Mensch, erzähle ich Liam. Der mich zu sich nach Hause eingeladen hat; man könne bei ihm in der Nähe mit Seekühen schmusen.
»Stell dir vor. Du liegst neben so einer Seekuh. Die sind unglaublich niedlich.«
Liam lacht, lässt die Zigarette in den Hof fallen und kommt endlich zurück zu mir an den Tisch.
»Wie muss Oskar sich gefühlt haben, als er davon erfuhr …«, fragt er sich.
»Ich glaube, er hat jemanden geschickt, um das Haus zu verkaufen.«
Zu Natans Beerdigung wird er jedenfalls nicht gekommen sein. Niemand wird gekommen sein, auch kein Priester, denn Natan war aus der Kirche ausgetreten. Also wird man ein Grab ausgehoben und ihn herabgelassen haben. Keine Blumen, keine Kerze, keine Tränen. Ein Mensch verschwindet, einfach so.
»Ich frag mich, wo er überhaupt begraben liegt.«
»Ist doch scheißegal!« Liam reibt mit den Händen über seine Jeans, sein Jähzorn macht mir ein wenig Angst.
»Wahrscheinlich ist auch niemand zu seiner Beerdigung gekommen …«
»Du machst dir Gedanken, wer zu seiner Beerdigung gekommen ist? Anna …«
»Das ist es nicht. Es ist dieses Bild, das mir in den Sinn kommt. Eines offenen Grabes, an dem niemand steht. Dieses einsame, tiefe Loch. Dass ein Mensch so vereinsamen kann. Das macht mir immer noch Angst.«
Er nickt, lässt die Worte im Raum stehen. Bis sie schwer werden, sich zwischen uns ausbreiten. Ich wünschte, sie wären Brotkrumen, die ich vom Tisch wischen könnte.
»Anna, wegen Indien …«
Ich hebe die Hand, möchte, dass er innehält. Trau dich, Anna. Deine Hand über den Tisch zu schieben. Sie ihm hinzuhalten, die offene Hand. Wie selbstverständlich legt er seine hinein.
»Ich hab mir was überlegt«, sag ich schnell, damit die Tränen mir nicht zuvorkommen.
»Ich geh ein wenig spazieren. Vielleicht bist du noch da, wenn ich wiederkomme. Vielleicht auch nicht. Falls nicht, weiß ich Bescheid.«
»Anna …«
»So machen wir es, ja?«
Wie er dasitzt, mir in die Augen schaut.
»Okay«, antwortet er langsam. »So machen wir es.«
Meine Handtasche hängt über der Stuhllehne, ich streife sie über die Schulter.
»Da ist noch was für dich. Hinten im Wohnzimmer. Ein Geschenk. Du siehst es, wenn du reinkommst. Es ist der einzige Gegenstand im Raum.«
»Wieso schenkst du mir was?«
»Hast du doch auch. Die Bilder, die du gemacht hast, als ich fort war. Sie bedeuten mir viel. Am besten gefällt mir das neue Wort: Shadowmountains.«
Ich schenke ihm ein Bild. Eines, das er verstehen wird. Darauf ist das Zimmer zu sehen, in dem ich all diese Tage verbrachte. Mein Blick vom Bett aus: auf den Tisch, den Stuhl, Natans Stuhl. Dennoch ist es kein trauriges Bild, denn den größten Teil davon nimmt das offene Fenster ein, die Tanne dahinter, der Himmel. Ein Ausblick ins Blaue, ohne eine einzige Krähe.
Ich taste mich zur Haustüre vor. Und er folgt mir, steht da: mit den Händen in den Hosentaschen, die Haare trägt er jetzt kürzer, besonders im Nacken. Stoppelig würden sie sich anfühlen, wenn man darüber streichen würde.
»Verabschieden brauchen wir uns dann nicht …«
Er schüttelt den Kopf, aber richtig anschauen kann ich ihn nicht. Zu groß ist die Angst, ich könnte etwas in seinem Gesicht lesen.
Die Tür hinter mir zuziehen: Das ist alles, was noch geht. Mich draußen im Flur mit dem Rücken gegen sie zu lehnen und die Augen zu schließen.
Anna, flüstert etwas in meinem Kopf.
Mach die Augen auf.