Dienstag, Tag 5, Anna

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Die Enge des Badezimmers, nicht mehr als 2,5 Quadratmeter werden es sein. 2,5 Quadratmeter, in denen ich versuche, meine Beine auszustrecken. In denen ich den Kopf gegen die kühlen Fliesen lehne und mich nicht ekeln will – sie sind so alt, diese 2,5 Quadratmeter, der Staub der Zeit ist längst zu einer klebrigen Kruste auf den Kacheln geworden.

Mit der Zunge taste ich über meine Lippe und fühle ein Herpesbläschen, das immerzu pocht. Ich hoffe, ich sehe hässlich aus, wie eine, die man nicht küssen will. Ich weine leise, stumme Tränen, ich atme durch den Spalt des Milchglasfensters, schaue auf die Ähren hinter den Tannen, die Vögel auf dem Schieferdach. Möchte schreien, brüllen. Und doch weiß ich, dass das nicht geht. Weil er mich an den Haaren aus meinen 2,5 Quadratmeter herauszerren würde. Weil er das Messer in der Hand hält.

Ich mache Kniebeugen: 21, 22, 23. Man muss die Zeit nutzen, ganze 20 Minuten alleine zu sein, muss bedeuten, Pläne zu schmieden. Darf nicht bedeuten zu heulen, sich zu bemitleiden, die Kacheln an der Wand zu zählen. Ich darf mir einen Kampf mit ihm nicht bloß vorstellen. Denn dazu wird es kommen, natürlich.

Ich halte es nicht mehr aus! Und es ist ja nicht so, als gäbe es nichts in diesem Zimmer, mit dem ich ihn schlagen könnte. Die Nachttischlampe. Das Glas auf dem Tisch, das könnte ich zerschmettern, ihm mit einer Scherbe die Pulsadern aufschneiden. Ich weiß genau, wie man schneiden muss, wo die Aorta verläuft.

Und er sagt, er liebt mich. Er würde mir nicht wehtun, er braucht mich.

Nein, Anna, nein! Du machst dir was vor. Er ist stärker. Schreckt nicht davor zurück, dich zu verletzen. Mit der Säge oder der scharfen Klinge. Dich anzuritzen. Dir mit der Faust direkt ins Gesicht zu schlagen. Sein Blick, immerzu dieser Blick. Seine blauen Augen. Selbst jetzt wird er die Badezimmertür anstarren, die Ohren spitzen. Stellt die Glotze jedes Mal leiser, um sicherzugehen, keine Schluchzer zu überhören.

Meine Fingerkuppen tasten über die verklebten Kacheln. Ich suche nach einer losen, die ich herausbrechen kann. Damit könnte ich nach ihm werfen. Ihn am Kopf treffen. Er könnte taumeln, an der Schläfe bluten. Ich könnte dorthin treten, immer und immer wieder, weiter und immer weiter. Bis sein Gehirn zermatscht ist.

Der Rotz in meinem Gesicht. Gleich wird er sehen, dass ich geheult habe. Aus der Nase läuft der Rotz, hinunter auf die Lippen, weicht das Herpesbläschen auf.

Stillstand. Hoffnung. Da, hier. Eine der Kacheln. Sie gibt nach, in der untersten Reihe. Sie wackelt, ich kann sie nach hinten drücken. Ich halte sie in der Hand, die Kachel, atme leise, mein Herz klopft wild. Aus dem Zimmer nehme ich die dumpfen Töne des Fernsehers wahr.

Wie viel Zeit habe ich noch? Zehn Minuten oder bloß fünf? Wie viel Zeit hab ich mit Heulen verplempert?

Ich starre auf das Loch in der Wand, etwas liegt dahinter. Ein Buch, mit einer dicken Staubschicht darauf. Auf der Innenseite eine geschwungene Handschrift: Idas Tagebuch. Bitte nicht lesen! Ich blättere um, es riecht nach altem Staub:

Idas Tagebuch

30. Oktober 1941

Papa schenkte mir das Tagebuch, ich besaß noch nie eines. Er drückte es mir in die Hand und sagte: Schreib. Vielleicht geht es dir dann besser.

Das war gestern, acht Tage, nachdem es passiert ist.

Die dunklen Flecken an meinen Handgelenken sind fast verschwunden. Auch die Tage werden kürzer, und die Nächte sind kalt, kündigen den Winter an.

Vor ein paar Tagen habe ich meine Periode bekommen. Ich weinte, weil ich so erleichtert war. Eine Angst fiel von mir ab, die noch größer war als in dem Moment, in dem sie mich gepackt hatten. Was denkt man schon in so einem Moment? Ich dachte: Die wollen dich bloß ärgern, Angst machen wollen sie dir. Der Geruch von Heu in meiner Nase, gleich hinter den großen Ballen hielten sie mich auf den Boden gedrückt. In Heinrichs Haar war Stroh. Blond ist es, wie meines. Man könnte meinen, wir wären Bruder und Schwester, lachte er einst.

»Geh morgen in die Schule«, sagte Papa. Über die Haare strich er mir dabei, um die Augen hat er diese tiefen Falten. »Ich bring dich hin, Ida, und hol dich wieder ab. Das machen wir jetzt so.«

»Du musst doch arbeiten, Papa.«

Er streichelte meine Hand, er sagte: »Ich hol dich in der Mittagspause ab. Das machen wir jetzt so.«

31. Oktober 1941

Aber ich bin nicht in die Schule gegangen. Als könnte ich dorthin gehen, ihnen jemals wieder in die Augen blicken!

Am Morgen klopfte es an der Tür. Sogleich war die Angst wieder da, bleckte die Zähne und grinste mir ins Gesicht. Ich zog ein Messer aus der Küchenschublade und verbarg es in meinen Rockfalten. Dann öffnete ich einen Spalt und sah in sein Gesicht. Ich erschrak, denn natürlich war mein erster Gedanke: Wenn ihn jemand gesehen hat. Wenn Heinrich …

Doch Heinrich war in der Schule. Trotzdem: Es war zu gefährlich, und normalerweise kam Jakob nur in den Abendstunden.

Sein Gesicht, wie sein Gesicht aussah. Grün und blau war es, ich erschrak über die Augenbinde und über den Arm, der vergipst in einer Schlaufe hing.

Warum bist du auch nicht schneller gelaufen, Jakob? In der Schule warst du der schnellste Läufer, der klügste Kopf gewesen. Deine Hand, wie sie immer als Erste nach oben schnellte. Das gefällt ihnen nicht, Jakob.

Ich ließ ihn hinein, er griff nach meiner Hand. Ich ließ es geschehen, hatte zwar Angst vor der Berührung, doch sie war so sanft, dass es schon ging.

Als er mich in den Arm nahm, begann ich zu weinen.

Ich glaube, ich weinte sehr laut, und wir sanken im Flur zusammen. Wir haben uns lange gehalten. Sein Hemd roch nach Sommer, die Haut nach Jakob.

Später machte ich uns Brote und steckte ihm Eier und Brombeermarmelade zu. Er und seine Familie haben seit Monaten keine Arbeit mehr.

Er blieb bis in den Abend hinein. Vater kam und sah ihn am Tisch sitzen, sagte nichts, strich ihm bloß über die Schulter. Ich weiß, dass er Jakob mag. Ich weiß aber auch, dass es ihm lieber wäre, er würde verschwinden, weil er Angst hat um mich.

»Wer hat dir den Gips gemacht?«

»Ein befreundeter jüdischer Arzt.« Ins Krankenhaus hätte er gar nicht erst zu gehen brauchen.

»Warum seid ihr nicht raus?«, wollte Vater wissen, immer wieder dieselbe Frage. Er scheint nicht zu verstehen, dass Jakob und seine Familie hier zu Hause sind.

»Warum nur seid ihr nicht rechtzeitig raus?«

Jakob antwortete nicht, hielt nur den Kopf ruhig auf das Sofa gelehnt.

»Ich habe Angst«, meinte ich, »dass sich dort ein Blutgerinnsel gebildet hat.«

»Nein, Ida. Dann wäre ich jetzt sicher nicht mehr am Leben. Schlimmer sind die Wunden, die man nicht sieht.« Er traut sich nicht, nach meiner Hand zu greifen.

2. November 1941

Ich habe Angst, ihn nicht wieder zu sehen. Sie könnten ihm wieder auflauern. Es ist einfach, einen Juden totzuschlagen, wenn man will.

Heute ist Sonntag, aber ich gehe nicht in die Kirche. Alle meinen, ich wäre krank. Der Schulleiter, die Kameradinnen vom Bund deutscher Mädchen.

Lotte kam vorbei und ließ Grüße und einen Blumenstrauß zurück. Sie wollte mich sehen, aber Vater meinte, ich würde fest schlafen.

Lotte könnte eine Freundin sein. Ihr Blick ist offen, ich mag die vielen Sommersprossen auf ihrer Nase. Lotte mit den roten Haaren. Sie ist einsam wie ich, und ihr Lachen wirkt genauso aufgesetzt, wenn die Kameradinnen einen Witz machen. Aber man weiß nie, wem man trauen kann.

Eva kann ich vertrauen. Schließlich kenne ich sie schon von Kindesbeinen an. Doch Eva ist fort, in die Stadt gezogen, Krankenschwester geworden.

»Und du wirst Ärztin, Ida«, beschwört sie mich immer. »Mach etwas aus deinem klugen, schönen Kopf!«

Nicht mal richtig schreiben kann ich ihr.

Vater mahnt: »Erzähle ihr bloß nichts von Jakob!« Manchmal werden die Briefe geöffnet. Und das Tagebuch, das soll ich verstecken.

Dabei hatten wir uns nur ein paar Mal geküsst. Küsse, die kratzen, weil er sich ja doch nie richtig rasiert.

Doch Geheimverstecke bleiben nicht geheim. Geheimverstecke werden aufgespürt. Von einer Meute wild kläffender Hunde mit spitzen Zähnen. Ihre Lippen sind rau, ihr Atem sauer. Erst tasten sie, dann beißen sie.

Mit ihren Fahrrädern schnitten sie mir den Weg ab.

»Wir haben dich gesehen, du Schlampe, zusammen mit dem Jud! Lass uns mal schauen, Ida. Ob du noch Jungfrau bist. Falls ja, haste ja Glück. Falls nicht, kannst du was erleben!«

Wie Heinrich da stand, niemals zuvor sah ich solche Wut in seinen Augen. Und natürlich war er der Erste. Ich konnte noch flüstern: »Wie kannst du es wagen.«

4. November 1941

Ich habe solche Angst, ihn nie wieder zu sehen. Nicht zu erfahren, was mit ihm geschieht.

Jakob hat recht: Schlimmer sind die Wunden, die man nicht sieht. Der Schmerz geht vorbei. Nach ein paar Stunden spürt man ihn weniger und am nächsten Morgen ist da bloß noch ein dumpfes Pochen. Das bisschen Blut im Höschen zählt nicht. Das andere, nicht Fassbare, ist schlimmer. Ich öffne das Fenster, lasse die Abendluft hinein. Es ist kälter geworden. Ich strecke die Finger hinaus in die Nacht, als wären sie Fühler. Gerne würde ich wissen, ob er in der Nähe ist.

Es wären welche abgeholt worden in der Stadt, sagte Vater eben beim Essen, und sofort schossen mir Tränen in die Augen.

»Und das sagst du mir jetzt erst!?«

Vaters Blick war flehend, er weiß nicht, ob Jakob und seine Familie dabei waren.

Das Scharren im Zimmer, mein Herz steht still. Natürlich tue ich nichts Verbotenes, kann nichts dafür, dass ich das Tagebuch gefunden habe. Doch ich darf nichts Eigenes haben. Bloß zweimal am Tag alleine im Badezimmer sein.

Das Scharren kündigt seine Unruhe an, geht jedes Mal dem Klopfen an der Tür voraus. Gleich wird er sagen: Die Zeit ist um.

Ich versuche, langsam und konzentriert zu atmen. Lege das Tagebuch ins Versteck, schiebe die Kachel darüber.

Versuche, sie mit den Fingernägeln in die richtige Position zu bringen, doch schon klopft er an der Tür.

»Anna!«

»Ja«, sag ich. »Moment.«

Noch immer sieht man einen Spalt in der Wand. Die kleinen Kratzgeräusche, während ich die Kachel zurechtrücke, ich höre ihn atmen vor der Tür.

Als er sie öffnet, sieht er mich nur kauern. Er greift meinen Arm, zieht mich hoch. An meinen Fingern haften noch die Spuren vom Betonstaub, ich zerbrösele sie mit den Kuppen.

Zurück auf dem Bett, kneift er mir in die Wange und kann sich nicht entscheiden, ob die Geste liebevoll oder mahnend gemeint sein soll, deswegen tut es ein wenig weh.

»Was machst du da immer so lange?«

Ich schaue durch ihn hindurch, gehe meinen eigenen Gedanken nach. Das Buch muss von jemandem sein, der in diesem Haus lebte. Ida. Was war mit ihr geschehen? War sie im Krieg umgekommen? Wann hatten die Deportationen in Deutschland begonnen? 1941 oder bereits in den Jahren zuvor?

Ich betrachte Natan: Er sitzt vor der Glotze, die Fernbedienung missmutig in der Hand haltend. Stunden kann er mit dem Umherzappen verbringen. Keinen Sender lässt er länger als fünf Sekunden stehen, nichts kann ihn zufrieden stellen. Wie krankhaft das ist. Schnappschüsse lässt er an sich vorüberziehen, auf nichts vermag er sich zu konzentrieren.

»Wem gehörte eigentlich dieses Haus?«

Sein Blick, etwas anderes als Misstrauen kennt er nicht.

»Wieso willst du das wissen?«

»Du wolltest dich doch mit mir unterhalten.«

Das Einzige, womit er sich gerne beschäftigt, bin ich. Das Streichen über meine Wange, wieder und wieder. Das Kämmen meiner Haare, die sind ganz trocken, sagte er, er würde was besorgen, was sie weich macht.

»Kauf lieber ’ne neue Klobürste«, hatte ich gesagt. »Die alte sieht aus, als hätte sie schon 20 Jahre auf dem Buckel.«

Sein Lachen, es ist genau diese Art von Unterhaltung, die er sich wünscht. Etwas Normales. Etwas Alltägliches. Das ich ihm zu geben versuche, damit er stabil bleibt. Damit er nicht ausrastet.

»Meiner Großmutter«, antwortet er schließlich in die Stille, und zunächst begreife ich gar nicht, was er meint. Dann dämmert es mir: Er hat auf meine Frage reagiert, die ich vor Minuten gestellt habe. Das Haus – es gehörte seiner Großmutter.

Wer weiß, wie er die Zeit empfindet. Ob sich ein paar Minuten für ihn wie eine anfühlen. Oder ob fünf Sekunden für ihn wie eine Minute sind.

»Kommt die denn nicht hierher?«

Eine Tiersendung, ein Koch mit gezwirbeltem Bart, die Nachrichten. Bilder ziehen vorüber, nur eines haben sie gemein: Flimmernden Schnee, der über den Bildschirm huscht, der Empfang ist schlecht.

Ich warte ab. Möchte ihm Zeit lassen, vielleicht fängt er ja von selbst an zu reden. Doch ich weiß: Es kann ewig so weitergehen, bis ihm einfällt, wie er sich wieder mit mir beschäftigen könnte.

»Und das Haus gehört jetzt dir?«

Sein eisiger, starrer Blick. Mit einem Ruck schaltet er die Glotze aus, starrt zu mir herüber.

»Ist das ein Verhör, oder was?«

»Nein. Ich versuche nur, mit dir zu reden.«

Stille, bis auf die Vögel, bis auf den Sommer, der vor dem Fenster lacht.

»Du fragst dich, ob sie hier auftauchen könnte. Ob sie dich retten könnte. Kannste vergessen. Die Alte ist tot, längst verscharrt!«

»Wie war sie denn so?«

Er grinst und steht auf, als hätte er eine spontane Idee.

»Machen wir es doch so, Anna. Für jede Antwort von mir bekomme ich einen Kuss.«

Ich grabe das Gesicht zwischen meine Knie, er kann mich mal, dieses kranke Arschloch!

»Was denn? Willste jetzt nicht mehr, oder was?«

»Du siehst doch, dass ich was an der Lippe habe.«

Seine Berührung, gedankenverloren streichelt er meinen Kopf.

»Soll ich dir mal die Haare kämmen?«

Ich bleibe still, er macht ohnehin, was er will. Und solange ich den Kopf irgendwo verbergen kann. Solange er nicht in meinem Gesicht lesen kann.

Ida – dieses Mädchen. Ich rechne nach. Wenn Natans Großmutter heute über achtzig wäre, könnte sie die Autorin des Tagebuchs sein. Wie alt sie damals gewesen sein mag? Sie ging noch zur Schule, als sie das schrieb. Sie muss 16 gewesen sein, vielleicht 17? Durften Mädchen in diesem Alter die Höhere Schule noch besuchen? Durften sie überhaupt Medizin studieren?

Natürlich weiß ich, was mit ihr geschehen ist. Gleich am Anfang wusste ich es. Es hat etwas Beruhigendes, wenn man weiß, dass man nicht alleine ist damit. Doch es passierte ihr nur einmal, nicht? Nur einmal.

Und ihre Periode. Die hatte sie bekommen. Alles verkrampft sich, ich spüre das Schluchzen, wie es aufkommt, ich werde es nicht zurückhalten können, obwohl ich weiß, dass er zornig werden wird.

Meine Periode. Ich denke an die letzten drei Pillen in der Packung, die ich nicht mehr nehmen konnte. Normalerweise setzen drei Tage nach der letzten Einnahme die Blutungen ein. Gestern wäre das gewesen, gestern und heute spüre ich nichts. Kein Ziehen im Bauch, das die Menstruation ankündigen würde.

Das Kämmen der Haare wird zum Ziehen, zum Rütteln, zum Schmerz.

»Hör auf«, motzt er, »hör auf! Sonst.«

Er reißt meinen Kopf hoch, ich schaue in seine Augen und denke: Aber eigentlich könnte es nur von Liam sein.