Donnerstag, Tag 7, Anna

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Mein Leben, gestern.

Immerhin: Er schlug mich nicht, sondern nahm das Buch in die eine Hand, in der anderen hielt er das Messer. Er fesselte die Handgelenke, setzte mich auf dem Bett ab.

Erst dann öffnete er das Buch und über sein Gesicht huschte etwas wie Überraschung.

»Deswegen hast du nach meiner Großmutter gefragt.«

Er ging ein paar Schritte durch den Raum, als wäre er unschlüssig, wie er reagieren sollte.

»Das Buch hättest du mir gleich zeigen sollen«, presste er raus. Mir stockte der Atem, doch der Vorwurf in seiner Stimme hielt sich in Grenzen. Die Überraschung über den Fund war größer.

»Bis wohin hast du gelesen?«

Ich zeigte ihm die Stelle, er schenkte sich Kaffee ein und begann mit der Lektüre; mich ließ er auf dem Bett sitzen wie einen Gegenstand, den man vergessen hat.

Ich verhielt mich still. Vermied Natan anzuschauen, sein Gesicht, das reglos in das Buch starrte. Doch wohin mit den Augen? Der stumme Mann in den Holzlatten macht mir immer mehr Angst. Wird immer mehr zu einer Gestalt, zu einem Wesen mit Füßen und Händen. Händen, die nach mir greifen, mich berühren wollen. Genau wie er. Als hätte er sich verdoppelt, Natan. Sich noch in die Holzlatten verkrochen, um auch dort über mich zu wachen. Als er fertig war, blieb er still. Der Kaffee in seiner Tasse war kalt geworden, allenfalls zwei Schlucke hatte er davon getrunken. Lange Zeit sagte er nichts, starrte bloß aus dem Fenster. Irgendwann stand er auf und schaltete die Glotze ein.

Bis ich ihm wieder einfiel. Da war ja noch etwas, das er in die Ecke gestellt hatte.

»Wieso sagst du nichts? Willst du nichts frühstücken?«

Er legte ein Brot für mich auf den Teller.

»Was willst du draufhaben?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Käse vielleicht.«

Er schenkte mir Kaffee ein, reichte mir ein Glas Saft, das ich in kleinen Schlucken trank. Er versorgte mich wie ein kleines Kind.

»Du hast ja sogar Eier gemacht«, ermunterte ich ihn, versuchte, etwas in Bewegung zu bringen. Ein bis zwei Wochen dachte ich mir. Durchhalten, Anna.

Doch er starrte mich bloß an.

»Das Buch. Wo genau hast du es entdeckt?«

Ich zeigte es ihm.

Die locker sitzende Fliese nahm er mit ins Zimmer. Legte sie auf den Tisch neben das Messer. Im Hintergrund lief der Fernseher, irgendeine Sendung über Argentinien. Er hatte nicht leiser gedreht, ich verstand kaum, was er sagte.

»Wieso hast du das Buch nicht wieder versteckt?«

Er saß dicht neben mir, beugte sich über mein Gesicht, damit ihm keine Regung entging.

»Wir müssen doch über irgendwas sprechen, Natan.«

Er gab mir einen Klaps mit der flachen Hand, wie bei einem kleinen Kind, das sich endlich konzentrieren soll.

»Verarsch mich nicht«, sagte er leise. »Also?«

Ich schaute ihn an. Grün durchsprenkelte Augen, der Herpes auf seiner Lippe warf dicke, hässliche Blasen.

»Ich hab Angst.«

Abrupt stand er auf und rieb sich das Kinn, sein Dreitagebart machte dabei wieder diese Kratzgeräusche. Unschlüssig tigerte er durchs Zimmer. Ein krankes Tier, das die Orientierung verloren hat.

Ich begriff: Er hatte keinen Plan. Er würde alles den Gegebenheiten anpassen.

»Deine Oma – Ida. Was weißt du eigentlich über sie?«

Endlich kam er auf dem Stuhl zur Ruhe. Wippte bloß noch ungeduldig mit den Füßen und zuckte schließlich mit den Schultern.

»Anscheinend nicht besonders viel. Deswegen …«, er warf mir das Buch aufs Bett. »Lies.«

8. November 1941

Heute war mein letzter Tag mit Jakob. Er schlief bis in die Mittagsstunden hinein, bis ich begann, in der Küche herumzuwerkeln. Als er eintrat, trug er die Sachen, die Papa ihm gegeben hatte; sie waren ihm zu groß, die Ärmel musste er hochkrempeln, die Hose schlackerte um seine Hüfte.

»Brauchst du einen Gürtel?«, fragte ich.

Er grinste, und die Röte stieg mir ins Gesicht: Wie dumm meine Frage gewesen war! Als gäbe es nichts Wichtigeres als einen Gürtel, als hätte das die erste Frage sein müssen, die ich an diesem Morgen an ihn stellte! Verlegen wandte ich den Kopf ab, spürte aber sein verschmitztes Grinsen im Rücken: Dieser leicht zynische Zug um seine Lippen, schon immer hat er so gelacht, das rechte Auge etwas mehr zusammengekniffen als das linke.

»Haben sie im Wald nach dir gesucht?« Er schüttelte den Kopf. Nur vor dem Förster hätte er sich verstecken müssen.

Dann sein Griff, er zog mich zu sich heran. Umfasste mit der einen Hand meinen Nacken, mit der anderen die Taille, küsste mich lang.

Ein Gefühl der Wärme hatte sich in meinem Bauch ausgebreitet, hatte gekribbelt.

Den Nachmittag und Abend verbrachten wir zu dritt: Papa, Jakob und ich.

Vater hatte ein Stück Rindfleisch besorgt, wir kochten es in der Pfanne, ich briet Kartoffeln dazu. Man hätte meinen können, wir wären eine Familie. Die ganze Zeit über saß Jakob so, dass man ihn vom Fenster aus nicht sehen konnte.

In der Nacht bettelte ich so lang, bis Papa mir erlaubte, Jakob ein Stück zu begleiten.

»Zehn Minuten«, mahnte er. Aber natürlich blieb ich länger fort. Erst küssten wir uns unter der Weide. Dann sagte Jakob: »Zeig mir, wo es passiert ist.«

»Nein.« Ich weinte.

»Du verstehst nicht. Wir könnten uns dort lieben.«

Ich schüttelte energisch den Kopf. Nein. Natürlich verstand ich, was er meinte. Er wollte, dass ich eine zweite Erinnerung hatte. Eine, die mich die erste vergessen ließ.

Ich spürte seine Enttäuschung, er hatte sie nie gut verbergen können. Doch er versuchte nicht, mich zu überreden. Er ist einer der stolzesten Menschen, die ich kenne.

»Auf Wiedersehen«, sagte er leise und ging.

Es war seltsam, Natan den Text vorzulesen. Meine Stimme klang brüchig, hangelte sich von Zeile zu Zeile. Er muss den Text hören. Damit er sich eine bessere Vorstellung machen kann, wie weh es tun kann, wenn man einen Menschen einfach so berührt.

Aber wie er mich beim Vorlesen fixierte. Wie er jede Regung meines Gesichtes beobachtete, als würde er bloß einen Grund suchen, mir einen Vorwurf daraus zu machen. Ich las nur einen Eintrag, legte das Buch dann zur Seite.

»Wusstest du das?«, wollte ich wissen. »Dass deine Oma dabei geholfen hat, einen Juden zu verstecken?«

Er schüttelte den Kopf, starrte zum Fenster hinaus. Ließ mich nicht teilhaben an seinen Gedanken.

Auch zum Weiterlesen forderte er mich nicht auf: Den restlichen Tag lag das Buch unberührt auf dem Tisch. Genau wie ich auf dem Bett.

»Kann ich was zeichnen?«, traute ich mich zu fragen.

Unschlüssig hob er die Schultern, warf mir Block und Stift hin. Ich skizzierte ihn: in sich versunken, den Kopf zur Seite gedreht. Seine Hände in seinem Schoß. Wie ruhig sie da liegen können.

Irgendwann ging er fort, schlief sogar in einem anderen Zimmer, ließ nur den stummen Mann zurück. Erst in den Morgenstunden kam er zurück und schmiegte sich an mich.

Jetzt schaut er sich meine Zeichnungen an. Betrachtet lange sein eigenes Gesicht auf dem Blatt.

Das nächste stellt das Stillleben auf dem Tisch dar: Geschirr türmt sich, in den Gläsern die Reste von Saft und Wein. Meine Zeichnung vom Messer, ich skizzierte seine zwei Klingen: eine zum Sägen und eine zum Schneiden. Gestern war es mir egal, wie er darauf reagieren könnte. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher und presse den Rücken dicht an die Wand.

Doch das war nicht alles, was ich gemalt hatte. Dort war noch der stumme Mann. Diese hässliche Fratze.

Zuletzt der Blick aus dem Fenster. Das kleine Stückchen Freiheit dort, wo sich manchmal die Krähen auf der Tanne treffen. Sich dort niederlassen, als würden sie eine Konferenz abhalten. Oder als würden sie uns beobachten.

»Du hast wirklich Talent«, sagt er und streicht mir über das Knie. Ich ziehe die Beine an. Obwohl ich weiß, dass das nichts bringt, dass er sich ohnehin nehmen kann, was er will.

Das ist noch etwas, das ich zeichnen könnte: eine Selbstbedienungstheke für Männer: geöffnete Beine, Brüste, Münder. Eine Gestalt, die davor steht und nach einzelnen Körperteilen greift. Als würde man sich an der Kühltheke statt eines Joghurts eine Frau auswählen. Sie sich so zusammenstellen, wie man sie gerade haben möchte.

Ich sehe es genau vor mir, dieses Bild. Auf Leinwand könnte ich es zeichnen, die Gestalt des Mannes grell, die Körperteile dahinter eine einheitliche, fleischige Masse. Ich könnte endlich ein richtiges Bild malen, so wie Mama.

Doch ich vergesse, ihn bei Laune zu halten.

»Du hast auch Talent«, beginne ich, blicke ihm ins Gesicht. Er soll sehen, dass ich es ernst meine.

»Was hast du fotografiert in den letzten Jahren? Zeig’s doch mal …«

Etwas in seinem Blick verändert sich. Seine Lethargie scheint verschwunden zu sein. Ich spüre, dass er schwankt. Ob er mir glauben oder eine reinhauen soll. Weil ich ihm schmeichele. Versuchen könnte, ihn zu manipulieren.

»Ich mein das ernst, Natan«, sag ich deswegen. »Nur weil ich hier mit gefesselten Händen sitze, muss das nicht heißen, dass ich deine Bilder nicht gut finde. Das weißt du.«

Er zuckt mit den Schultern, steht auf und greift nach einem Glas Wasser.

»Mag sein«, sagt er endlich. »Aber ich hab eh nicht viel gemacht in den letzten paar Jahren. Ein paar Aufträge auf Hochzeiten, Taufen. So ’n Scheiß eben.«

»Was ist mit deinem Studium?«

»Hab ich geschmissen. Sind alle Arschgeigen da! Der Prof meinte, meine Bilder wären zu krass. Die gemalten, mein ich. Zu viel Blut, zu aggressiv. Was die suchen, ist Mainstream. Ein bisschen abgefahren darf’s ja schon sein. Aber einem Künstler wirklich in die Seele schauen – das will man dann doch nicht.«

»Was denn für Blut?«

Wieder zuckt er mit den Schultern und richtet den Blick aus dem Fenster. Dann eine Art zynisches Lachen, seine Augen heften sich auf mein Gesicht.

»Du würdest die Bilder verstehen. Hab mir halt vorgestellt, wie meine Eltern auf der Straße liegen. Ihre Wunden, ihre Körper auf dem Asphalt. Manchmal hab ich sie auch auf dem Sofa sitzend gemalt, weil sie immer dort saßen: zwei alte Säcke, die sich nichts mehr zu sagen hatten. Die immer nur dahockten und in die Glotze starrten. So ein Leben führten die. Völlig leer. Da hab ich gemalt, dass ihnen Blut aus den Augen tropft. Weil heulen konnten die ja nicht. Die saßen quasi schon da wie zwei Leichen, jahrelang.«

Ich zwinge mich, ihn weiter anzuschauen. Ihm zu zeigen, dass ich dem gewachsen bin. Doch ich weiß nicht, was er will: Mitleid oder ein Gespräch auf Augenhöhe?

Ich entscheide mich für Letzteres und winke die Angst vorbei.

»Wo hast du die Bilder jetzt? Kann ich sie sehen?«

»Vielleicht später. Hab ein paar abfotografiert und die Daten auf meinem Laptop.«

Ihn zu fragen, was er jetzt machen will, trau ich mich nicht. Auf was für eine Idee könnte er schon kommen. Doch ich bin froh, als er von selbst vorschlägt, ich könnte ihm weiter vorlesen.

9. November 1941

Jakob ist angekommen. Eben sah ich Herrn Klaus in der Kirche, sein bärtiges Gesicht, das mir kaum merklich zunickte. Vor Dank fiel ich auf die Knie, betete vor Erleichterung.

Vor der Kirche fiel die Sonne senkrecht auf das Kopfsteinpflaster. Die große Kastanie auf dem Platz hat die meisten Blätter verloren. Ihr Laub verfärbt sich braun, nicht gelb oder rot. Kinder sprangen unter dem Baum umher, suchten nach ein paar übrig gebliebenen Früchten, wollten damit die Schweine füttern. Heinrich stand an den Stamm gelehnt.

Ich eilte mich, meine Finger nestelten nach dem Schlüssel für das Fahrrad. Zu spät.

»Ida«, sagte er hinter meinem Rücken.

Ich drehte mich um und schaute ihn an.

Sein Blick war anders, nicht mehr herablassend. Ein wenig wie früher, als wir Kinder waren. Als er mich nach der Kirche immer ein Stück die Allee hinunter begleitet hat. Manchmal spielten wir auch zusammen: Er, Eva und ich. Sogar Jakob war manchmal dabei gewesen.

Er wollte um Verzeihung bitten. Doch er brachte kein Wort heraus, blickte nur verstohlen auf seine blank polierten Stiefel.

Ich setzte mich aufs Fahrrad und fuhr davon.

10. November 1941

Heute hatte ich meinen ersten Tag in der Schule. Jetzt bin ich müde, so müde! Es ist, als könnte ich jetzt, wo Jakob in Sicherheit ist, endlich wieder schlafen.

Herr Klaus hat mich in die hintere Reihe gesetzt, als hätte er gewusst, wie schwierig es für mich gewesen wäre, Heinrich und die anderen in meinem Rücken zu wissen.

Vorne in der ersten Reihe sitzt Greta, außer mir ist sie das einzige Mädchen in der Klasse. Von den Knaben wird sie oft gehänselt, Brillenschlange gerufen. Doch diese Art von Bemerkungen lassen sie unberührt, sie versteckt sich hinter ihren Büchern. Uns verbindet nichts, nur dass wir Mädchen sind, lässt uns zusammenhalten.

Eigentlich hätten wir auf eine eigene Mädchenschule gehen müssen: Greta, Maria, Lisbeth, Clara und ich. Die einzigen Mädchen sind wir, die Abitur machen dürfen! Doch die nächste Schule ist zu weit entfernt, mit dem Bus wären es drei Stunden hin und wieder zurück. Man macht eine Ausnahme für uns.

In den Pausen sitzen wir zusammen. Hören, wie die Jungen über den Krieg sprechen. Die Ostfront, die Balkanländer, die erobert worden sind. Ich versuche mir vorzustellen, wie groß das Deutsche Reich geworden ist.

An die verstohlenen Blicke der Knaben gewöhnt man sich. All ihre dummen Sprüche, ihr Grölen, mal offenkundig, mal hinter verborgener Hand.

Clara ist die hübscheste von uns. Ihre Haut ist porzellanfarben, ihre Hände klein, ganz fragil. Wie eine Puppe sieht sie aus: Man möchte sich vor sie setzen und sie lange anschauen. Eine Schönheit, die seltsam entrückt wirkt. Wenn sie der Lehrer etwas fragt, wird sie rot. Und weiß doch immer die richtige Antwort.

Heinrich und die anderen habe ich in der Pause nicht gesehen. Bestimmt sind sie heimlich rauchen gegangen. Wirklich erwachsene, starke Männer wollen sie sein. Manchmal werden sie erwischt und müssen nachsitzen. Ihre Hände nach dem Lineal ausstrecken, die Handinnenflächen nach oben. Sie fühlten sich rau an, ihre Hände.

13. November 1941

Ich schreibe einen Brief an Jakob, den ich Herrn Klaus mit ein paar Kartoffeln zustecke. Natürlich darf ich dem Lehrer nichts geben. Wie sähe das denn aus für die Kameraden? Nach Bestechung sähe es aus! Aber ich verlasse als Letzte den Klassenraum und lege das Bündel vorne auf dem Pult ab.

Ich weiß, dass Herr Klaus den Brief nicht lesen wird. Was sollte auch Geheimes darin stehen? Nicht mal sein Name steht darin, bloß die Gedanken einer jungen Frau, für die alle Tage gleich sind. Am Morgen das Frühstück, der Weg zur Schule auf dem Fahrrad: Papa begleitet mich. Der Unterricht, der Pausenhof in klirrender Kälte.

Man kann froh sein, schreibe ich, wenn man nicht draußen sein muss. Den Wind nicht spüren muss, wie er durch alle Stoffritzen dringt. Jakob wird verstehen: Hätte er sich noch länger im Wald versteckt, wäre er gestorben.

Ich berichte vom Unterricht; sicher möchte Jakob wissen, welche Bücher wir lesen. Schiller, schreibe ich. Immer wieder Schiller. Das würdest du auch langweilig finden.

Von meiner Sorge schreibe ich nichts. Schließlich kam meine letzte Periode zu früh. Alles geriet durcheinander wegen Heinrich, Arnold und Severin. Warum nicht auch mit Jakob?

16. November 1941

Nichts! Kein Blut in der Wäsche, bloß ein Ziehen im Bauch, als ob etwas kommen würde. Morgens bekomme ich keinen Bissen runter.

Papa betrachtet mich im Schein der Lampe, ich würde blass aussehen, behauptet er.

In der Schule spricht Herr Klaus mich im leeren Klassenzimmer an: Keine Briefe mehr, Ida! Ich müsste verstehen: Er riskiere Kopf und Kragen! Jakob gehe es gut – ich soll mir keine Gedanken machen. Er würde ihn sogar ein bisschen unterrichten: Geschichte, Latein, Literatur. Abends würden sie gemeinsam vor dem Ofen sitzen.

Ich schreibe Jakob trotzdem. Lauter Briefe, die ich nicht abschicke, ich lege sie zwischen die Seiten meines Tagebuches – richtige kitschige Liebesbriefe sind es.

Was mache ich nur, wenn meine Periode nicht kommt?

19. November 1941

Natürlich weiß ich, dass es nur eine Möglichkeit gibt.

Ich kann es nicht wegmachen lassen – ich wüsste auch gar nicht, wie, ich wüsste nicht, wo.

Ich würde es wegmachen lassen, wäre es von Heinrich, Arnold oder Severin. Doch das kann nicht sein! Ich hatte ja Blutungen, nachdem es geschah.

Heinrich. Allein die Vorstellung, zu ihm zu gehen! An seiner Haustüre zu schellen, in das Gesicht seiner scheuen Mutter zu blicken.

Ida, wird sie ausrufen, wie lange habe ich dich nicht gesehen!

Dabei hasse ich Heinrich, ich hasse ihn so!

Wie konnte er, was hat er sich nur gedacht? Dieser Schmerz, unvorstellbar war er gewesen!

Was wird Jakob nur denken, wenn ich zu Heinrich gehe? Was soll ich nur tun?

Heinrich wird nicht wollen, dass ich es wegmachen lasse. Er wird denken, es ist von ihm. Schließlich war er der Erste.

Und nach dem Abitur wird er zur Wehrmacht gehen, danach in den Krieg. Ich werde ihn kaum sehen, könnte wieder bei Papa wohnen. Alles wäre so wie immer. Nur ein Kind wäre noch da, Jakobs Kind.

Und vielleicht wird Heinrich fallen. Er und Arnold und Severin. Eine Kugel sollen sie in den Kopf bekommen, die großen arischen Männer!

25. November 1941

Natürlich habe ich Angst, dass er mich nicht nehmen wird. Was soll ich dann machen?

Aber das ist Unsinn, Ida. Du weißt genau, wie es ist. Dass er dich schon immer so angeschaut hat, schon seitdem ihr Kinder seid, hat er die Hand nach dir ausgestreckt.

Ich frage mich, was ihn so verändert hat. Was ihn so jähzornig gemacht hat. Es wäre leicht zu sagen, da wäre nie diese stille Wut in ihm gewesen. Manche Menschen haben zwei Gesichter: ein sanftes und eines, das hässlich ist. In der HJ: Da hat er schreien gelernt. Da kann er etwas sein. Nicht so wie zu Hause, wo er der jüngste Bub ist. Wo er die Faust seines Vaters kennt.

Papa weiß nichts. Ich muss erst mit Heinrich sprechen.

27. November 1941

Heinrichs Haus in der Abenddämmerung. Ruhig hat es dagelegen; ein einfaches Haus ist es, mit Menschen darin, die etwas sein wollen.

Heinrichs Vater hat einen strengen Schnurrbart, von ihm kennt er die Faust. Sechs Kinder sind es zu Hause: Jonas, der Älteste, im Krieg an der Westfront. Dann Anselm, Friedrich, Heinrich. Zuletzt die beiden Mädchen, die nichts wert sind.

Das Mutterschaftskreuz hängt in der Küche: der ganze Stolz der Familie. Der Vater ist von Beruf Schuhmacher – sie hatten nie viel, die Möllers. Jetzt macht er Militärstiefel für die Nazis. Stellt immer mehr Lehrlinge ein und verdient einen Haufen Geld.

Ich klingelte und war froh, dass die Sonne schon fast untergegangen war. Auf mein Gesicht sollten bloß noch Schatten fallen, man sollte nicht sehen, dass ich geheult hatte.

Die Jüngste öffnete, Else. Ihr Gesicht ist pausbäckig wie das eines Babys. Sie werden sich Fleisch leisten können, die Möllers.

»Ida! Da wird sich der Heinrich aber freuen!« Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Komm rein.«

»Lieber nicht. Muss ihn nur kurz etwas fragen. Wegen der Schule, verstehst schon.«

Sie prustete: »Die Schule, jaja!«

Heinrich sah verlegen aus und griff schnell nach seiner Jacke. Sein Scheitel war verrutscht, als hätte er gebalgt.

»Bringst du mich nach Hause?«, fragte ich.

Er trottete neben mir her wie ein dummes Kalb. Ich hielt den Lenker meines Fahrrades umklammert, als könnte er Halt bieten. Ich wollte die letzten Häuser hinter uns lassen, bevor ich mit der Sprache rausrückte. Am Horizont wurden die letzten Sonnenstrahlen verschluckt.

»Ida.« Seine Berührung war vorsichtig, ich blieb stehen und weinte. Er starrte auf die Straße.

»Es tut mir leid. Bitte, glaub mir. Es tut mir leid.«

»Wie konntest du es zulassen. Dass die anderen …!«

Ich sprach nicht zu Ende, versteckte das Gesicht hinter den Händen. Er wollte mich in den Arm nehmen, ich stieß ihn fort.

»Ich bin schwanger!«, fuhr ich ihn an. Ich brüllte das fast, ich spuckte, ich hasse ihn!

Er blieb still stehen, eine Weile, sein Blick war auf irgendeinen Punkt in der Dunkelheit gerichtet.

Mein Rad war umgefallen, ich hob es auf.

»Dann heirate mich.«

Ich ließ zu, dass er meine Wange streichelte.

Mag sein, dass ich vorerst sicher bin! Mag sein, dass er keinen Verdacht schöpft. Aber ich verabscheue ihn wie eine widerliche, fette Spinne! Die man tottreten mag, vor der man sich ekelt, selbst wenn sie längst verreckt ist.

Immerhin, er versicherte mir, ich müsste nicht bei seinen Eltern wohnen. Er versteht, dass ich mich um Papa kümmern muss, der sonst keinen hat.

Zum Abschied wollte er mich küssen, aber ich ließ ihn stehen und ging ins Haus. Papa muss alles erfahren. Doch nicht heute, ich habe keinen Mut. Schlecht ist mir, hab mich erbrochen. Ich will schlafen, nur schlafen. Mein Abitur – ob ich das noch machen kann, mit einem dicken Bauch?

Ich lege das Buch aus der Hand und bitte Natan um ein Glas Wasser, das er mir reicht.

Zwischen uns bleibt es still. Während ich trinke, schaue ich hinaus in den Abend. Bald wird die Sonne untergehen; ich wünschte, ich könnte hinaus und die Farben am Horizont betrachten. So wie ich bin, würde ich hinausgehen: im T-Shirt, die Haare fettig, die Augenlider verklebt, die Lippe verkrustet. Gerne würde ich ihm sagen: Es ist, als würde sie nicht über Heinrich, sondern über dich sprechen – einen Menschen mit zwei Gesichtern. Ein hässliches und ein sanftes.

Ob ihn sein Vater auch geschlagen hat? So wie Heinrich von seinem Vater geschlagen wurde? Ob sich das weitervererbt, vom Urgroßvater zum Vater? Oder ob Jakob sein Großvater war?

»Das heißt also, dass Jakob dein Großvater ist …?«

Er springt auf, nimmt mir das Buch aus der Hand und knallt es missmutig in die Ecke.

»Was weiß denn ich! Hab noch ’nen Onkel: Oskar. Der ältere Bruder meines Vaters. Den ich nur ein paar Mal gesehen hab, zuletzt auf der Beerdigung von Oma.«

»Und? Meinst du …?«

»Ach Anna, halt doch die Fresse! Was sind das immer für Fragen? Meinst du? Weißt du? Vielleicht …?«, äfft er mich nach.

Die Zeit verstreicht, Schatten beginnen durchs Zimmer zu wandern. Ich zwinge mich, zum Fenster zu schauen. Dieses kleine Rechteck Freiheit. Schau dorthin, Anna. Stell dir den Himmel vor, das Weizenfeld, den Wind auf deinem Gesicht. Stell dir all das vor, bloß nicht, dass er dich wieder berührt.

Auf der Tanne landet eine Krähe und beginnt zu krächzen. Ob es dieselbe ist wie gestern Abend?

»Darf ich auch ans Fenster?«

Er betrachtet mich wie einen lästigen Gegenstand. Doch schließlich löst er die Fessel vom Bettrahmen, treibt mich wie ein Stück Vieh vor sich her. Das Messer hält er wieder in der Hand.

Den Sonnenuntergang zu betrachten, hat seinen Preis. Zu nah presst er sich heran, hält mich dicht umarmt: Mit dem einen Arm umfasst er meine Brust, mit dem anderen die Taille. Der stumme Mann lacht und wirft Steine in meinen Bauch.

Leg es weg!, möchte ich ihm sagen. Leg das Messer endlich weg! Doch weg ist bloß die Krähe, die Tanne bleibt leer. Sein Atem kitzelt in meinem Nacken, er schiebt mir die Haare zur Seite, damit er Platz für einen Kuss hat.

Nicht, möchte ich sagen. Nicht.

Aber was wird das schon ändern. Nichts wird es ändern, es sei denn, man schließt die Augen und sieht nur noch Dunkelheit.

Ein Geräusch zerschneidet unvermittelt die Stille, und ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass ein Telefon klingelt. Dass es sie noch gibt: die Tür zu der anderen, normalen Welt.

Er reagiert schneller, als ich gedacht hätte. Schleift mich zum Badezimmer, schließt ab. Danach höre ich ihn schnellen Schrittes das Zimmer verlassen, laut zu schreien, wird sich nicht lohnen. Denn ich höre nicht mal seine eigene Stimme – wer sollte mich dann wahrnehmen können durch die Leitung. Doch was man möchte und was man tut, sind zwei verschiedene Sachen. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Auch nicht das Hämmern gegen die Tür. »Lass mich raus«, schreie ich, »lass mich endlich raus!«

Ich will ihn nicht spüren: nicht seinen Atem, nicht seine Hände. Ich stelle mich unter die Dusche, möchte ihn jetzt schon von mir abwaschen.

Irgendwann poltert seine Stimme: »Komm endlich raus. Was hockst du da so drin.«

Dass ich mich zusammengekauert habe, gefällt ihm nicht.

»Gib mir ein T-Shirt«, fordere ich. »Und eine Hose.«

Er holt zum Schlag aus. Weil ich so mit ihm spreche. Weil ich nicht gesagt habe, wer der Chef ist. Doch er hat das Messer vergessen und ich schlage zurück. Rücklings knallt er auf die Toilette. Ich springe auf, will an ihm vorbeirennen. Aber natürlich ist er schneller, packt mich am Knöchel, und ich falle hin, genau wie er.

Sie prasseln herab. Fausthiebe: wie schwere, nicht enden wollende Hagelschläge.

Irgendwann liegt man bloß noch da. Mit Augen, die man nicht mehr öffnen kann. Einem Körper, der bloß noch eine leere Hülle ist.

Nur hören, das kann ich noch. Aber ich wünschte, auch das ginge nicht mehr. Ich würde nicht wahrnehmen, dass er sagt: »Eben am Telefon. Das war Liam.«