17
DOKUMENT 17. Den Sonntag nutzte Marie dazu, ihre Gedanken zu ordnen. Nach den verschiedenen Missionen der letzten Wochen - Lebensende, Nachlasszensur, Shoppingausflug, Krimirecherche - war ihr im Moment nur noch eines wichtig: den Eindruck, den Lutz nach dem gründlich verpatzten Abend von ihr gewonnen haben musste, wieder geradezurücken. So änderten sich manchmal die Prioritäten. UNTERSTREICHEN. Um den Rest konnte sie sich danach immer noch kümmern.
Welche Erklärung konnte sie ihm liefern, um ihr Gesicht zu wahren, die ganze Aktion nicht zu gefährden und seine Sympathie nicht zu verlieren? Dass sie ihre eigene Geschichte aus Versehen mit einer fremden vermischt haben sollte, glaubte er einer scheinbar erfahrenen Krimi-Autorin nie. Schon gar nicht als Experte auf diesem Gebiet, der er ja wohl war. Seit sie das wusste, gefiel Marie ihre Idee, die Schriftstellerin zu mimen, noch weniger. Dieser Tatbestand hatte die Verabredung versaut - kein Zweifel. Künstlerpech, sozusagen. Und die Angelegenheit Maibach wurde dadurch weiter erschwert.
Was konnte sie ihm denn jetzt noch als eigene Story auftischen? In keinem Fall etwas bereits Vorhandenes; er würde alles, was sie kannte, auch erkennen. Sich selbst etwas auszudenken war unter den neuen Umständen fast noch weniger Erfolg versprechend. Alles, was ihrem literarisch unkreativen Hirn entspringen konnte, würde den Dozenten sicher nicht beeindrucken. Und sollte ihr doch noch irgendetwas Brauchbares unterkommen oder einfallen, dann hatte sie damit immer noch keine Erklärung parat für ihren peinlichen Plagiatsversuch im Restaurant. Egal, wie sie es drehte und wendete: Marie war ganz gewaltig in der Zwickmühle. UNTERSTREICHEN.
Sie konnte Lutz natürlich (vielleicht unter Tränen?) beichten, dass sie den Roman nur erfunden hatte, um das Seminar besuchen zu können. Dann allerdings musste sie für ihr Interesse an den »Gefahren und Chancen durch Gift« eine andere Erklärung liefern, und die war wiederum mit der Wahrheit nicht mehr zu bewerkstelligen. Welche Frau war schon, kurz nachdem sie ihr erstes Date seit Jahren gehabt hatte, scharf darauf, dem Mann gleich danach ihre doch recht aktuellen Selbstmordpläne zu präsentieren? Marie jedenfalls nicht. SPEICHERN.
Falls sie die Romanschriftstellerin zu den Akten legte, musste sie sich eine andere Begründung für ihr Interesse an Giften einfallen lassen. Da konnte sie ebenso gut gleich eine neue Rechtfertigung für ihren Fettnapf am Samstag erfinden. Aber welche?
Inzwischen war Marie schon einige Zeit beim Frühstücken, ohne jedoch die geringste Idee zu haben, was sie Lutz zu ihrer Entschuldigung sagen sollte.
Migräne aufgrund des Wetters? Deshalb musste man doch keine Krimi-Idee klauen, fand Marie und schob sich einen Löffel Himbeerjoghurt in den Mund.
Übergroßer Druck aufgrund der Verlags-Deadline? Ein weiterer Löffel. VERWERFEN. Das wirkte so, als würde sie ihrem Lektor bei Schreibblockaden regelmäßig fremde Geschichten unterjubeln. Durchaus kein Ruhmesblatt. Außerdem würde sie damit nur auch noch einen nicht existierenden Verlag ins Spiel bringen, der ein Ausgangspunkt für weitere Erklärungsnot sein konnte. Marie dachte an Alma und die Kasimir-Problematik und schloss beim letzten Löffel Joghurt genervt die Augen. Dabei fiel ihr siedendheiß ein, dass sie ihrem Haustier heute noch kein Futter gegeben hatte, was dieses seit einiger Zeit auch schon lautstark kundzutun versuchte. Doch Marie war so sehr in Gedanken gewesen, dass sie es einfach nicht bemerkt hatte.
Der unhaltbare Zustand für den Kater wurde sofort behoben, und Marie kehrte zu ihrem Frühstück und ihren quälenden Gedanken zurück.
Wie wäre es denn zum Beispiel, wenn sie Lutz sagte, sie könne ihm die tatsächliche Geschichte aus urheberrechtlichen Gründen noch nicht erzählen und habe deshalb eine ähnliche zum Besten gegeben? Nicht schlecht. Doch würde er sich dann vermutlich fragen, warum sie das nicht schon viel früher gesagt hatte. Ja, warum eigentlich nicht? Das wäre die perfekte Lösung ihres Problems gewesen. Zu spät. Die Peinlichkeit von gestern war nicht mehr rückgängig zu machen.
Und wenn sie sich einfach nur für ihren überstürzten Aufbruch entschuldigte und beteuerte, es sei ihr sehr wichtig, dass er ihr verzeihe? Dann würde er vermutlich denken, sie wolle nur unter keinen Umständen den Fortgang der Roman-Fertigstellung gefährden und sich mit Recht benutzt fühlen. VERWERFEN.
Da half nur eins: ablenken. Etwas ganz anderes, Wichtiges, vielleicht sogar Dramatisches musste her, das Lutz Maibach ihre Verirrung vom Samstag einfach vergessen ließ. Und diese Idee musste bald gefunden werden, denn Marie hatte immer noch sein: »Ich ruf dich an« bei ihrem überstürzten Aufbruch im Ohr. Natürlich wollte er ihr bei diesem Telefonat in der Hauptsache die Illegalität ihres vermeintlichen Plagiats darlegen. Er würde sie ausführlich auf die Parallelen der beiden Geschichten und die Folgen einer Veröffentlichung hinweisen. Und vermutlich bei dieser Gelegenheit auch fragen, wie es zu diesem dreisten Diebstahl geistigen Eigentums gekommen war. Spätestens dann musste die sorgfältig erdachte Ablenkungsgeschichte zum Einsatz kommen. Da Marie aber nicht wusste, wann genau er anrufen würde, war ein guter Einfall nötig, je früher, desto besser. WEITER.
Noch bevor sie das Frühstücksgeschirr spülte, durchforstete Marie sämtliche Zeitungen der vergangenen Tage auf der Suche nach brisanten Ereignissen, mit denen sie ihren Dozenten von der eigenen Pleite des Samstags ablenken konnte. Dabei stellte sie sich vor, wie sie auf seine private Nachfrage hochpolitisch ein bedenkliches: »Diese Situation in Nahost …« oder ähnliches fallen lassen würde. Auch ein: »Was meinst du eigentlich zur Außenpolitik der Amerikaner?« würde ihn mit Sicherheit eher zum Gespräch anregen als überfordern. Doch leider fand sie auf die Schnelle kein Thema, das brisant und trotzdem verständlich genug gewesen wäre. Und bevor sie sich mit ihren laienhaften Kenntnissen ungewollt in die Nähe des nächsten Fettnäpfchens manövrierte, verwarf sie schließlich die hohe Politik als geeignete Ablenkungstaktik.
 
Erst am frühen Nachmittag kam Marie endlich dazu, ihr Frühstücksgeschirr zu spülen und die Küche aufzuräumen. Nicht gerade die beste Sonntagsbeschäftigung, doch am siebten Tage zu ruhen war in ihrer Situation sowieso nicht ratsam. Die Zeit war schließlich knapper denn je. SPEICHERN.
Während sie Teller, Tassen und Besteck abtrocknete und in den Schrank zurückstellte, überlegte sie weiter, mit welcher Geschichte sie den Dozenten davon abbringen konnte, genauer über ihren geistigen Diebstahl nachzudenken.
Vermutlich war etwas Persönliches geeigneter als allgemeinpolitische Vorgänge, die sie und ihn nicht unmittelbar betrafen. Denn eine Geiselnahme an der Uni oder Ähnliches hatte es nicht gegeben und war auch für die nächsten Tage nicht zu erwarten. Und selbst eine zu starten … Diese Idee wollte Marie lieber doch nicht weiter verfolgen. Dann hätte sie nämlich nicht nur einen misstrauischen Lutz, sondern auch noch die Polizei am Hals gehabt. Das wäre wirklich ein zu riskantes Ablenkungsmanöver, um das etwas lädierte Autoren-Gesicht zu wahren.
Gerade als Marie dabei war, den Küchenboden zu wischen, was mehr als nötig war, klingelte das Telefon. Lutz? Dass er sie gleich am folgenden Tag anrufen würde, hatte sie nicht erwartet, es ließ aber darauf schließen, dass ihm ihr Krimi-Plagiat keine Ruhe ließ. Wer sollte schließlich sonst am Sonntag ein Interesse an ihrem Befinden haben? Elmar würde an der Wohnungstür läuten, Alma verbrachte Sonntage als Ausgleich zum Wochenlärm am liebsten allein. Also Lutz.
Da Marie zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht wusste, was sie ihm sagen wollte, entschied sie kurzerhand, zunächst den AB drangehen zu lassen.
»Hallo, das ist der Anrufbeantworter von Marie Hartmann. Bitte sprechen Sie jetzt.« Piep.
»Hallo, Marie, hier ist Papa.« Ungewöhnlich. Ihre Eltern riefen sie nur äußerst selten an und wenn, dann meldete sich eigentlich immer ihre Mutter.
»Gott sei Dank, nicht Maibach«, dachte Marie. Abheben wollte sie trotzdem nicht. WEITER.
Sie fuhr mit dem Wischen des Bodens fort und hörte dabei dem Vater zu, der aufgeregt den Grund seines überraschenden Anrufs auf das Tonband sprach: »Mama ist im Krankenhaus. Ruf mich doch bitte bald zurück! Gegen Abend fahre ich allerdings noch einmal zu ihr. Vielleicht schaffst du es ja vorher. Bis später.« Piep.
Obwohl sie zur Mutter nicht gerade ein entspanntes Verhältnis hatte, war Marie erschrocken, als das Wort »Krankenhaus« fiel. Dass ein Elternteil irgendwann einmal erkranken oder gar sterben könnte, hatte sie in den letzten Jahren erfolgreich verdrängt. Und da sie immer weniger Kontakt zu ihnen gehabt hatte, war das auch kein Problem gewesen. Nun allerdings war mit einem Schlag der Gedanke daran da und ließ sich nicht so einfach wegschieben.
Marie überlegte ernsthaft, ob sie überhaupt zurückrufen sollte. Die Beziehung zu ihrer Mutter war seit ihrem Auszug von zu Hause so sehr abgekühlt, dass sie nicht wusste, wie sie jetzt mit derer wie auch immer gearteten Krankheit umgehen sollte. In den vergangenen Jahren hatte sie zunehmend das Gefühl gehabt, den Vorstellungen der Eltern so gar nicht zu entsprechen. Und obwohl nie ein Wort des Vorwurfs oder der Kritik über Monika Hartmanns Lippen gekommen war, war sich Marie immer sicher gewesen, dass vor allem sie sich ein anderes Leben für ihre Tochter gewünscht hatte. UNTERSTREICHEN.
Ob es Angst vor dem Kontakt mit den Eltern oder vor der eventuell schlimmen Nachricht war, konnte Marie nicht sagen, doch irgendetwas hielt sie davon ab, den Vater sofort zurückzurufen. Wenn er erst abends noch einmal ins Krankenhaus wollte, hatte sie immerhin noch einige Stunden Zeit. Also wischte sie zunächst den Boden fertig, gab Kasimir frisches Wasser und machte es sich anschließend auf dem Sofa bequem. Doch so recht wollte sich keine Sonntagsruhe einstellen. Der Gedanke an die kranke Mutter blieb, und auch die Blamage vom Vorabend meldete sich jetzt im Gedächtnis zurück. LÖSCHEN? Da kam Marie plötzlich eine Idee, die sämtliche Probleme auf einmal zu lösen schien: Die mütterliche Krankheit konnte doch ein gutes Gesprächsthema für Lutz sein. Wenn sie ihm beim nächsten Treffen erzählte, wie sehr es ihr naheging, würde er vielleicht gar nicht mehr an den geklauten Krimiplot denken. Und es wäre auf jeden Fall plausibel, wenn auch sie unter diesen Umständen Wichtigeres im Kopf hatte, fand Marie und griff nun umso schneller zum Telefonhörer, um mehr Informationen über das Befinden der Mutter zu erfragen.
Gustav Hartmann war ein bisschen überrascht über den umgehenden Rückruf seiner Tochter, aber offensichtlich sehr froh, mit jemandem reden zu können. Marie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal telefoniert hatten. Meistens überließ er seiner Frau den obligatorischen Anruf.
»Mama ist am Freitag in die Klinik, nachdem man bei ihr eine Zyste am Eierstock festgestellt hat.«
»Und da rufst du mich erst heute an?«
»Ich hab es schon ein paarmal bei dir versucht, Marie, aber du warst nie zu Hause, und ich wollte nicht auf den Anrufbeantworter sprechen. Zuletzt hab ich es gestern Abend probiert.«
»Ja, da war ich verabredet.« Würde sich richtig gut anhören, wenn der Abend nicht so ein Fiasko gewesen wäre.
»Mama wird sowieso erst morgen Vormittag operiert. Bis dahin kann man noch nichts Genaues sagen.«
»Und was kann im schlimmsten Fall dabei herauskommen?«
»Der schlechteste Befund wäre Krebs. Die Wahrscheinlichkeit ist in ihrem Alter ziemlich groß. Dann müsste alles entfernt werden.« Wie nüchtern der Vater darüber sprach. »Kannst du Urlaub nehmen und kommen?« Zumindest das sollte kein Problem sein. Frei hatte sie sowieso, und nach Rom fliegen würde sie erst am Donnerstag. Und je länger sie einem möglichen Anruf von Lutz Maibach entkam, desto besser. SPEICHERN.
»Okay, Papa, ich fahre so bald wie möglich los«, versprach Marie, beendete das Telefonat und machte sich sofort daran, ihren Koffer zu packen. Auf einmal waren Uni, Krimi und Selbstmord völlig nebensächlich.
Danach bat sie Elmar, Kasimir in den nächsten Tagen zu versorgen, wozu dieser sofort bereit war. Es war schön, jemanden in der Nähe zu haben, der in solch einem Notfall so unkompliziert einspringen konnte, fand Marie und machte sich mit ihrem Koffer auf den Weg zum Bahnhof.
 
Von München nach Rosenheim fuhren auch am Sonntag immer wieder Züge, sodass eine Verbindung auch kurzfristig keinerlei Problem darstellte. Für die Zugfahrt hatte sich Marie eines ihrer neuen Bücher mitgenommen - dass sie die überhaupt noch anschauen würde, hätte sie noch vor einigen Tagen nicht gedacht -, doch die Gedanken an den bevorstehenden Besuch bei den Eltern und die Krankheit der Mutter ließen ihr keine Ruhe. Zu lange schon hatte sie kaum noch Kontakt zu ihnen gehabt. Bei jedem Telefonat hatte sie die Frage »Was gibt es Neues?« als unmissverständliche Aufforderung empfunden, ihrem Leben endlich eine andere Wendung zu geben. Das Interesse ihrer Mutter hatte sie immer nur als ungeduldiges Warten auf Karriere, Hochzeit und Kinder gedeutet. UNTERSTREICHEN.
 
Als er Marie vor der Haustür erblickte, strahlte Vater Hartmann, als hätte er im Lotto gewonnen.
»Kind, schön, dass du so schnell kommen konntest! Hoffentlich bekommst du in deiner Firma keine Schwierigkeiten.« Pflichtbewusst wie eh und je. Doch Marie bemerkte zum ersten Mal die elterliche Sorge, die hinter seinen Worten stand.
»Ich habe sowieso gerade Urlaub, Papa, das war gar kein Problem«, beruhigte sie ihn.
»Mama konnte es vorhin, als ich noch einmal bei ihr war, gar nicht glauben, dass du wirklich kommst.«
»Wie geht’s ihr denn?«
»Sie macht sich zu viele Sorgen - wie immer. Morgen wissen wir mehr.« Mit diesem Satz schien der Vater das Thema erst einmal beenden zu wollen. Jedenfalls nahm er Marie den Koffer ab und brachte ihn in ihr Kinderzimmer, das noch fast genauso aussah, wie sie es damals bei ihrem Auszug verlassen hatte.
Beim Anblick der bemalten Tapete und der bunten Kissen auf dem Bett wurde Marie fast etwas wehmütig. Im Vergleich dazu war ihre jetzige Wohnung grau, unscheinbar und leer. Die Poster an den Wänden erinnerten sie an die Schwärmereien für verschiedene Stars der Vergangenheit und ihre Vorliebe für Kunstfotografie, die sie zu dem Praktikum bei Uhlenhorst veranlasst hatte. Und was sagte ihr heutiges Zuhause über sie aus? Was würden ihre Hinterbliebenen entdecken, wenn sie nach ihrem Tod Maries Räume betraten? Eine unpersönliche Behausung ohne Charme und Esprit, keine verspielten Kleinigkeiten, kaum Bilder, kaum Farben. Eine nüchterne und pragmatische Einrichtung, die allerhöchstens durch die bereits zensierten Bereiche wie Kleider- und Bücherschrank etwas Lebendiges bekam.
»Erinnerst du dich noch daran, wie du hier alle paar Wochen umdekoriert hast?« Der Vater hatte offensichtlich die Nostalgie im Blick seiner Tochter bemerkt. »Immer mussten die aktuellsten Poster oder Fotos hängen. Mamas Stoffkiste hast du mehrmals geplündert.« Das wusste er offensichtlich noch genau, sie hatte das schon lange vergessen. Viel ist von dieser Dekorationswut nicht geblieben, dachte Marie traurig. UNTERSTREICHEN. Und sie nahm sich gleich vor, ihre Wohnung tatsächlich noch zu verändern, sobald sie wieder zurück in München war.
»Lass uns heute Abend mal wieder essen gehen«, meinte Gustav Hartmann gleich darauf. »Schließlich warst du schon so lange nicht mehr da.« Erst jetzt wurde Marie bewusst, wie sehr die Eltern offenbar unter ihren spärlichen Besuchen gelitten haben mussten. Dass ihr Vater seine Tochter in ein Lokal ausführte, wäre früher undenkbar gewesen. Sparsam wie er war, hatte er Essengehen immer für unnötigen Luxus gehalten. Umso mehr freute sie sich jetzt, dass er ihr Kommen zum Anlass für eine Kursänderung nahm. SPEICHERN. Zu Hause zu sein gefiel ihr zum ersten Mal wieder, weil die Krankheit der Mutter die alten Erwartungen und Schuldgefühle in den Hintergrund treten ließ. Zu offen und freudig hatte der Vater sie empfangen. Wie die Mutter reagieren würde, war im Moment noch unwichtig. Das kam morgen.
Als Marie an diesem Abend in ihrem Jugendbett lag und noch einmal über alles nachdachte, war sie froh, in die Heimat gefahren zu sein. Und hatte sie es ursprünglich aus eher eigennützigen Gründen in Erwägung gezogen, so zeigte sich jetzt, dass für sie wie für die Eltern doch viel mehr dahinterstand. Vielleicht hatte sie sich zu lange davor gedrückt, sich mit den mutmaßlichen Vorstellungen der Mutter wirklich auseinanderzusetzen. Die Rückkehr der verlorenen Tochter fühlte sich jedenfalls lange nicht so schlimm an wie gedacht. Sogar eigentlich ganz gut, fand Marie und drehte sich auf ihrer etwas durchgelegenen Matratze um.
Für einen kurzen Moment kam ihr Lutz Maibach in den Sinn. Ein bisschen enttäuscht war sie ja doch, dass er heute gar nicht angerufen hatte. Aber wenn sie zurück nach München kam, war seine Nachricht sicher auf ihrem AB. Und dann hatte sie nicht zu Hause sehnsüchtig auf seinen Anruf gewartet und außerdem noch eine dramatische Geschichte zu seiner Ablenkung auf Lager. Hoffentlich nicht zu dramatisch, dachte Marie noch und schlief ein. COMPUTER AUSSCHALTEN. ENTER.
 
Am nächsten Tag fuhren Vater und Tochter gleich nach dem Frühstück ins Krankenhaus, um Monika Hartmann noch vor ihrer Operation kurz sprechen zu können. Leider hatte man den Plan kurzfristig noch einmal geändert, sodass die Mutter bereits auf dem Weg in den OP war, als sie nach ihr fragten.
»Falls sich bei der Operation herausstellen sollte, dass die Zyste bösartig ist und bereits umliegendes Gewebe befallen hat, müsste man unter Umständen die Eierstöcke komplett entfernen«, erklärte ihnen der behandelnde Arzt. »Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko dafür deutlich an. Machen Sie sich trotzdem keine Sorgen, auch in diesem Fall hat Ihre Frau gute Heilungschancen.«
Auch wenn sie Lutz vor einem Tag noch gerne die dramatischste aller Geschichten aufgetischt hätte, wünschte Marie in diesem Moment, die Sache möge einfach nur unspektakulär gut ausgehen. Dass sie die Mutter nicht noch einmal hatte sprechen können, lag ihr ebenso im Magen wie der Gedanke an eine mögliche Krebserkrankung.
Während sie mit dem Vater vor der geschlossenen OP-Tür wartete, gingen Marie die verschiedensten Dinge durch den Kopf - Erinnerungen an die schönen Momente ihrer Kindheit, aber auch Meinungsverschiedenheiten und Probleme. Schließlich musste sie sich selbstkritisch eingestehen, dass der Kontakt mit den Eltern in den vergangenen Jahren vor allem unter ihren eigenen Ansprüchen gelitten hatte. Sie selbst hätte ihnen gerne irgendwann einen Schwiegersohn und Enkelkinder präsentiert. Die Mutter dagegen hatte nie konkret danach gefragt. Doch Maries Angst vor einem Gespräch über ihre »Versäumnisse« hatte Telefonate und Treffen immer häufiger auf das Nötigste beschränkt. ÄNDERN? Vielleicht konnten sie nach gelungener Operation endlich einmal in Ruhe darüber reden.
Der Gedanke, dass der Mutter eventuell die Eierstöcke entfernt werden mussten, weckte in Marie außerdem die Erinnerung an den eigenen Kinderwunsch, den sie für sich schon zu den Akten gelegt glaubte. Wer dachte schon wenige Tage vor seinem Tod noch über Nachwuchs nach? Neun Monate oder länger wollte sie schließlich nicht mehr damit warten. Trotzdem hoffte sie in diesem Moment - neben dem Vater vor dem OP sitzend -, dass der Befund bei der Mutter gutartig und eine erbliche Vorbelastung für sie selbst deshalb unwahrscheinlicher sein möge.
Zum Glück sagte der Arzt genau das, als er wenig später durch die Schwingtür kam. Die Operation war gut verlaufen, die entfernte Zyste sehr wahrscheinlich gutartig und außerdem »alles noch dran beziehungsweise drin«. Erleichtert machten sich Vater und Tochter auf den Weg zur Intensivstation, wo Monika Hartmann zur besseren Beobachtung bis auf Weiteres untergebracht war. Aus der Narkose aufgewacht, schien Maries Anblick sie so zu erfreuen, dass sie zunächst ganz vergaß, nach dem Befund zu fragen.
»Schön, dass du da bist!«, sagte sie mit einem matten Lächeln, »geht’s dir denn auch gut?« Wie immer kam zuerst die Sorge um die Tochter, die diese nun auch als solche akzeptieren konnte. Weil die Patientin für ein ausführliches Gespräch aber noch zu schwach und müde war, verabschiedeten sich Marie und ihr Vater recht bald und versprachen, am Nachmittag noch einmal vorbeizukommen.
Als sie einige Stunden später allein am Bett der Mutter saß, konnte sie erleichtert feststellen, dass diese im Gesicht schon wieder etwas Farbe bekommen hatte. Trotz aller in den letzten Tagen gewonnenen Erkenntnisse fiel es Marie schwer, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Doch da Monika Hartmann immer noch zu erschöpft war, um so viel zu reden, wie es sonst ihre Art war, blieb der Tochter nichts anderes übrig, als den ersten Schritt zu tun.
»Ich hab mir wirklich Sorgen um dich gemacht«, gestand sie der Mutter. Noch vor ein paar Tagen hätte sie nicht gedacht, dass sie so etwas je zu ihr würde sagen können. »Zum Glück hast du alles gut überstanden.«
»Wenn ich dich sehe, Marie, geht es mir gleich deutlich besser. Schade, dass du so selten heimkommst.« Was Marie vor Kurzem noch als Vorwurf verstanden hätte, hörte sich für sie jetzt eher nach Sehnsucht an. Deshalb traute sie sich endlich, ihre Ängste auszusprechen.
»Ich hab immer gedacht, ihr wünscht euch so unbedingt Schwiegersohn und Enkelkinder, dass ihr nur enttäuscht von mir seid.« Nach diesem ersten Geständnis atmete Marie erst einmal tief durch, um sich dann gleich noch einen weiteren Schritt vorzuwagen: »Und im Job hab ich es ja auch nicht gerade weit gebracht.«
Die Mutter nahm ihre Hand und sah sie betroffen an: »Aber Kind, wie kommst du denn darauf? Du hast doch einen interessanten Beruf. Ich habe das immer bewundert, wie man sich mit diesen Computersachen überhaupt auskennen kann.«
»Nach dem Studium hast du mir irgendwann mal begeistert erzählt, dass Katja Klein schon Oberärztin im Krankenhaus ist, obwohl sie nur ein paar Jahre vor mir abgeschlossen hat. Da hab ich mich gefühlt, als hätte ich gar nichts zustande gebracht.« Als sie an dieses Gespräch dachte, wurde Marie bewusst, dass es tatsächlich einer der Auslöser für ihr schwieriges Verhältnis zur Mutter gewesen war. Diese versicherte ihr jetzt, dass sie mit der damaligen Aussage keinerlei Erwartungen verknüpft hatte.
»Ich war immer stolz auf dich. Und dass man Mann und Kinder nicht erzwingen kann, wissen selbst deine alten Eltern.« Monika Hartmann lächelte leicht. »Wenn ich bedenke, wie oft ich nach einem Vorwand gesucht habe, um dich wenigstens anzurufen. So wichtig waren die Computerprobleme meistens gar nicht. Aber du hättest dich ja gar nicht gemeldet.«
»Und ich hab immer gedacht, ihr ruft nur an, wenn ihr was braucht.«
»Na ja, auf die Frage, wie es dir geht, wolltest du schließlich auch kaum antworten.«
Die Tochter senkte beschämt den Kopf und wunderte sich darüber, wie lange Missverständnisse ungeklärt im Raum stehen konnten, ohne beseitigt zu werden. Definitiv zu lange, fand Marie, freute sich aber dennoch, dass diese Zeit zumindest jetzt ein Ende hatte. Besser spät als nie.
 
Am nächsten Morgen im Zug zurück nach München hatte Marie keine Probleme mehr, sich auf das mitgebrachte Buch zu konzentrieren. In ihrem Gepäck befanden sich ein paar Kleinigkeiten, die sie in einem für sie untypischen Anfall von Nostalgie bei der Abreise noch eingesteckt hatte. Darunter ein gerahmtes Foto der Eltern, das sie erst jetzt nach dem klärenden Gespräch mit der Mutter aufstellen wollte. Aus ihren Regalen hatte sie einige bunt gemusterte Dosen genommen, Sammlerstücke von früher, die sie nun zur Nachlass-Verschönerung der Wohnung nutzen würde. Ein im Kunstunterricht selbst bemalter Teller war ihr auch nicht mehr so hässlich vorgekommen und ebenso eingepackt worden wie zwei der unzähligen Kissen auf dem Bett. Auch ein kleines Porzellan-Engelchen, das ihr noch vor einigen Wochen viel zu verspielt gewesen wäre, durfte mitreisen. Nach den letzten Tagen war die Erinnerung an die Kindheit, die damit verbunden war, nicht mehr so unangenehm.
Der Besuch am Vortag war entspannter verlaufen als alle vorherigen. Zum ersten Mal hatte Marie über ihre Angst - die ihr erst vor Kurzem bewusst geworden war - gesprochen, den Vorstellungen der Eltern nicht zu genügen. Und das Verständnis der Mutter hatte so gutgetan, dass sie es im Nachhinein ehrlich bereute, sich nicht früher überwunden zu haben. SPEICHERN. Auf jeden Fall war nun so einiges geklärt, und Marie fühlte sich auf der Heimfahrt deutlich erleichtert und viel freier - um endlich zu sterben oder etwa doch zu leben?
 
Als sie die Wohnung betrat, ging ihr Blick als Erstes zum Anrufbeantworter, der jedoch nicht den kleinsten Ansatz eines Blinkens von sich gab. Lutz hatte also nicht angerufen. Oder bloß keine Nachricht hinterlassen? Was das bedeutete, darüber musste Marie nicht lange nachdenken. Entweder fand er ihren Plagiatsversuch nach einigem Überlegen so daneben, dass er gar nichts mehr mit ihr und ihrem ominösen Krimi zu tun haben wollte. Oder er hatte seine Vorwürfe - rücksichtsvoll wie er war - nicht auf das Tonband sprechen wollen. Positive Anliegen oder die Bitte um Rückruf hätte sicher auch ein Herr Maibach einfach der Kassette anvertraut. Die Chancen, irgendwann noch einmal engeren Kontakt zu dem Dozenten zu bekommen, schwanden zusehends, fand Marie und legte Lutz für heute gezwungenermaßen zu den Akten.