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DOKUMENT 3. Mit dem Sonntag lieferte das
Wochenende einen weiteren sonnigen Herbsttag frei Haus, den Marie
allerdings erst registrierte, als sie gegen Mittag vom schrillen
Klingeln des Telefons geweckt wurde.
»Hier ist deine Mutter!« Diese Begrüßung drang
nicht minder schrill durch den Hörer an Maries Ohr. Bei Monika
Hartmann hatte man am Telefon immer das Gefühl, sie wolle die
Distanz zwischen den Beteiligten allein durch Lautstärke
überbrücken. Früher als Kind hatte Marie das lustig gefunden,
inzwischen nervte es sie. LAUTSPRECHER … AUS.
»Wie geht es dir denn, Kind? Was gibt es Neues?«
Immer die gleichen Fragen zu Beginn, und jedesmal vermittelte die
Mutter ihr damit das Gefühl, kein abwechslungsreiches Leben zu
haben. Und da es auch diesmal nichts Neues zu berichten gab,
antwortete Marie nur einsilbig: »Nichts. Warum rufst du denn
an?«
»Hör zu, der Papa und ich möchten uns endlich einen
neuen Computer anschaffen. Vielleicht kriegst du da über deine
Firma Prozente? Sprich doch bitte mal mit deinem Chef
darüber!«
Ihrem ersten Impuls aufzulegen gab Marie nicht
nach. Die Eltern sollten nach ihrem Tod nicht auf eine undankbare,
widerspenstige, sondern auf eine pflegeleichte Tochter
zurückblicken können. Was das betraf, hatte sie
aus den letzten Jahren sowieso noch einiges geradezubiegen. Den
Kontakt hatte sie nicht gerade eifrig gepflegt - aus Angst, den
Eltern mit ihrem ereignislosen Leben nichts zu bieten, worauf sie
stolz sein konnten. BEARBEITEN. Telefonate hatte sie meistens im
Ansatz abgewürgt, Besuche irgendwann ganz gestrichen.
Jetzt also handsam. »Ja, Mama, woran habt ihr denn
da so gedacht? Wollt ihr nicht vielleicht doch mal über einen
Laptop nachdenken? Wäre doch viel praktischer.« Gar nicht so
schwer, die Freundlichkeit, angesichts des nahen Endes jeglicher
zwischenmenschlicher Beziehungen.
»Wenn du meinst, Kind. Du kennst dich schließlich
bei Computern besser aus als wir.« Sieh mal einer an, diese
Erkenntnis aus Mutters Mund war neu. »Was würde denn so ein Laptop
kosten?«
Nur nicht zu familiär werden. Marie versprach, sich
am nächsten Tag wegen eines günstigen Angebots in der Firma zu
erkundigen. Wie immer beendete man das Gespräch, ohne auch nur das
Geringste über Befinden oder Erlebnisse des anderen ausgetauscht zu
haben. Eine grundlegende Reform des Eltern-Tochter-Verhältnisses
würde also auch noch massive Anstrengungen erfordern.
Während sich Marie sonst mit der Aussicht auf einen
einsamen Sonntag nach dem Telefonat wieder in ihr Bett gelegt
hätte, widmete sie sich heute sofort ihrer Morgentoilette und
danach einem ausgedehnten Frühstück. Schließlich gab es viel zu
tun. AKKU AUFLADEN. Ob der Kühlschrank-Inhalt allerdings für die
Ernährung am gesamten Sonntag ausreichen würde, war fraglich. In
Erwartung ihres nahen Endes und der Unterschätzung der Problematik
des Unternehmens hatte Marie am Samstag
schon keine Einkäufe mehr getätigt. Hoffentlich konnte sie
wenigstens am Montag rechtzeitig Feierabend machen, um das
Versäumte nachzuholen. Tod durch Verhungern war nämlich auch nicht
adäquat. Zu billig, zu langwierig, zu qualvoll. VERWERFEN.
Nun zurück zur Lebenszensur. Wichtiger Bestandteil
hierbei waren sämtliche Tagebücher aus verschiedenen Lebensphasen,
die sie selbstverständlich in der Pubertät begonnen und danach in
unregelmäßigen Abständen, aber dennoch konsequent weitergeführt
hatte. Diese mussten natürlich mit den zensierten Liebesbriefen
konform gehen. Außerdem hatte schon der Aufruhr um die
Hitler-Tagebücher gezeigt, dass man in diesem Genre mit Fälschungen
durchaus eine gewisse Bekanntheit erreichen konnte. Sie durfte sich
eben nur nicht erwischen lassen, was posthum mit ziemlicher
Sicherheit gewährleistet sein würde. SUCHEN. Sieben Tagebücher fand
Marie nach einiger Zeit im Kleiderschrank hinter den
Winterpullovern. Nachdem sie in dieser Wohnung außer Kasimir nie
einen anderen Mitbewohner gehabt hatte, fragte sie sich jetzt, vor
wem sie die privaten Niederschriften so gut versteckt hatte.
Wahrscheinlich wollte sie selbst nicht allzu oft an so manches
Kapitel ihres Lebens erinnert werden. Drücken gilt nicht, dachte
Marie jetzt wieder und unterzog ihre Tagebücher einer ersten
Prüfung.
Schon äußerlich hätten sie unterschiedlicher nicht
sein können. Das erste, am zwölften Geburtstag begonnen, war rosa,
mit kleinen bunten Blümchen verziert, und hatte ein winziges
Vorhängeschloss, das vor unerwünschtem Lesen schützen sollte. Ein
ebenso winziger Schlüssel dazu war praktischerweise mit einem
Klebestreifen am Buch befestigt. Dieses Patent würde Marie
beibehalten, um der Nachwelt den Zugang zu ihren Geheimnissen zu
erleichtern. Schließlich konnte sie sich nicht darauf verlassen,
dass irgendjemand nach ihrem Tod aus ungebändigtem Interesse die
Energie aufbringen würde, das Schloss zu knacken. Es jedoch einfach
zu entfernen, würde dem Inhalt des Buches zu wenig Bedeutung
beimessen, fand Marie. ÖFFNEN.
Kasimir, der die nächtliche Internet-Aktion
komplett verschlafen hatte, gesellte sich nun wieder zu seinem
Frauchen. Er legte den Kopf schief und schien die Stirn zu runzeln,
als missbillige er jede weitere kriminelle Handlung in seinem
Beisein. Um ihn zu besänftigen, öffnete Marie eine Dose
Katzenfutter, was ihn seine Missbilligung tatsächlich bis auf
Weiteres vergessen ließ. Genussvoll schlabberte er seine
Geflügelpastete und rollte sich danach auf dem Wohnzimmersessel
zusammen. Was Kasimir betraf, war posthume Zuneigung hoffentlich
gewährleistet.
Bei der Durchsicht des rosa Tagebuchs wurde Marie
sehr schnell klar, dass dieses Schriftstück für ihre Imagepflege
recht unerheblich war. EIGENSCHAFTEN. In der Hauptsache waren darin
Berichte über schulische Erfolge oder Misserfolge verzeichnet (die
Seite mit der Klage über eine Sechs in Latein trennte sie
vorsichtshalber sorgfältig mit einem scharfen Messer heraus) und
zahlreiche Jugendschwärmereien beschrieben. Ging es dabei zunächst
um die verschiedensten Film- und Rockstars, so befanden sich die
Objekte der Begierde ein Jahr später schon in den höheren Klassen
der eigenen Schule. Dagegen war ja nun nichts zu sagen, fand Marie
und verschonte den Großteil ihrer (un)poetischen Ergüsse vor
radikaler Vernichtung.
Ein Kapitel am Ende fiel aber doch noch der Zensur
zum Opfer. Wie hatte sie diesen Vorfall nur vergessen können, der
wohl zu den peinlichsten ihres Lebens zählte. Beim Durchlesen ihres
detaillierten Berichts kam die Erinnerung sofort umso unmittelbarer
zurück. ANSICHT. Marie meinte, wie damals zu fühlen, wie ihr die
Röte ins Gesicht schoss, als Felix in der siebten Klasse zur
allgemeinen Belustigung ihren Liebesbrief zum Besten gegeben hatte.
Die Mitschüler hatten vor Lachen gebrüllt, und Marie wäre am
liebsten im Erdboden versunken.
»Oh, ich finde dich echt toll!« Felix hatte sich
seinen Pullover wie ein Kopftuch umgebunden und verzückt die Augen
gen Himmel verdreht, während er mit gespitzten Lippen Maries Stimme
nachzuahmen versucht hatte.
»Du gemeiner Kerl!« Mit Tränen in den Augen war
Marie nach vorne gestürzt, um ihm den Brief zu entreißen und
wenigstens Schlimmeres zu verhindern.
Doch so war es nur noch schlimmer gekommen. Auf
halbem Weg Richtung Lehrerpult, wo Felix langsam zur Hochform
auflief, stolperte sie über eine am Boden abgestellte Schultasche
und ergriff haltsuchend ausgerechnet eine Latte des Bastelregals,
was einen dort aufbewahrten Topf mit Farbe für das Klassenprojekt
zu Fall brachte. Etwa fünf Liter fliederfarbene Dispersionsfarbe
ergossen sich über Marie, die am Regal hing und zum Glück nicht in
die Gesichter ihrer Klassenkameraden schauen konnte. Halbblind
stürzte sie aus der Klasse und nach Hause. Dass sie dabei eine
nicht zu übersehende fliederfarbene Spur hinter sich herzog, machte
die Schmach in den darauffolgenden Tagen nicht geringer.
Schnell hatte sich herumgesprochen, wer für die
unfreiwillige Koloration des Schulbodens verantwortlich gewesen
war. Marie wäre in den nächsten Tagen am liebsten zu Hause
geblieben, aber ihre Mutter hatte es nicht erlaubt. So musste sie
die Witze und Spötteleien der Schüler und Lehrer über sich ergehen
lassen und konnte sich nur abends ihrem Tagebuch anvertrauen. Beim
Lesen war Marie fast etwas überrascht und stolz, wie lange sie
damals offensichtlich die Demütigungen geduldig ertragen hatte.
Einen Monat, in dem immer wieder von jenem Vorfall die Rede war,
trennte Marie nun sorgfältig und ohne Rückstände aus ihrem
Tagebuch. WOLLEN SIE DAS DOKUMENT WIRKLICH IN DEN PAPIERKORB
VERSCHIEBEN? JA. ENTER.
Damit war der erste Teil der Tagebuchzensur
erledigt. SCHLIESSEN. Marie verschloss das rosa Buch und klebte den
kleinen Schlüssel wieder gewissenhaft an seinen Platz. Der zweite
Band der Hartmannschen Biografischen Schriften war weder mit
Ornamenten noch mit Vorhängeschloss versehen. Marie hielt ein
schmales rotes Notizbuch in ihren Händen und erinnerte sich noch
gut, wie sie es in einem kleinen Schreibwarenladen gekauft hatte.
Es enthielt Einträge bis zur neunten Klasse. Weitere Schwärmereien,
die ersten Freunde. Hier durften Günther und Jörg bleiben, nur die
leidige Angelegenheit mit Jörgs Fußballerqualitäten hatte der
Zensur zu weichen. VERWERFEN. Auf einer freien Seitenhälfte an
dieser Stelle fügte Marie unter Aufbietung ihres neu erworbenen
Kalligrafiekönnens eine völlig neue Version der Trennungsgeschichte
ein: Jörg hatte eine andere geküsst und sie mehrere Tage
ununterbrochen geheult. Nicht sehr originell, aber glaubwürdig und
nachvollziehbar. Im Gegensatz zur unschönen Wahrheit.
Die Lektüre des nächsten Teils gestaltete sich eher
trocken.
Schulerlebnisse, Auseinandersetzungen mit den Eltern, die Zeit im
Schwimmverein. Um den Inhalt etwas interessanter zu gestalten,
versah Marie einige herausragende Erfolge ihrer Vergangenheit, wie
den ersten Platz im Brustschwimmen beim Schulsportfest und den
Jahresabschluss als Jahrgangsbeste in der neunten Klasse, mit
bunten Klebezetteln, auf die sie Notizen schrieb, als habe sie
diese schon damals zur Hervorhebung guter Leistungen dort
angebracht. EINFÜGEN. Am Ende des Buches fand sie einige leere
Seiten, die sie zum Anlass nahm, eine weitere Episode an diesen,
wie sie fand, äußerst langweiligen Abschnitt ihres Lebens
anzufügen. Allmählich begann es, ihr richtig Spaß zu machen, Teile
ihres Lebens nach ihren Wünschen neu zu erfinden.
Marie holte sich ein Glas Wasser aus der Küche und
zückte ihren Schulfüller, der ihr schon bei ihrer Liebesbriefpoesie
gute Dienste erwiesen hatte. »Die fünfzehnjährige Marie reißt aus«,
setzte sie sich gedanklich als Thema für die zu erfindende Episode.
Dass sie das nie getan hatte, wussten schließlich nur die Eltern
genau, und die würden beim Lesen sicher stolz und allenfalls etwas
amüsiert über die blühende Fantasie ihrer heranwachsenden Tochter
sein. Doch leider fiel es ihr wesentlich schwerer, die Sprache
einer Fünfzehnjährigen nachzuahmen als ihre Jugendschrift. Um sich
etwas hineinzufinden, las Marie erst noch einmal einige Passagen,
die schöne und weniger angenehme Erinnerungen wach werden ließen.
Die Worte wollten sorgsam gewählt sein, allzu viele leere Seiten
waren nicht vorhanden.
»Heute habe ich mich schrecklich mit Mama und Papa
gezofft … SUCHEN …, weil sie meinen, dass ich nicht so viel Zeit
fürs Fotografieren vergeuden soll, sondern
lieber lernen.« Das war noch nicht gelogen, über das Thema gab es
zu der Zeit öfter Streit. »Da habe ich meinen Rucksack gepackt und
die Haushaltskasse geplündert.« Eine solche hatte es zwar in der
Familie Hartmann nie gegeben, doch wer außer den Eltern wusste das
schon? Nun der Weg zum Bahnhof … Nein, besser: »Als es dunkel war,
bin ich aus dem Fenster von meinem Zimmer gestiegen und habe mich
auf den Weg zum Bahnhof gemacht.« Und wohin wollte sie fahren?
SUCHEN … nur jetzt keinen Fehler machen.
Marie holte ihren alten Schulatlas aus dem Schrank
auf der Suche nach einem geeigneten repräsentativen Reiseziel. Nach
Inaugenscheinnahme verschiedener Karten entschied sie sich für
Mailand. EINFÜGEN. »Ich habe einfach den Zug nach Mailand genommen,
weil der der nächste war. Jetzt sind wir schon in Österreich, und
ich weiß noch nicht, wohin die Reise gehen wird.« So etwas kam
immer gut. Marie als spontane, risikofreudige Weltenbummlerin. Sehr
schön. Erneuter Blick in die Karte. Dann machte sie einen
deutlichen Absatz, der zeigen sollte, dass inzwischen ein Großteil
der Fahrt vergangen war. »Jetzt bin ich in Verona und habe einen
gut aussehenden jungen Italiener namens Mario kennengelernt. Papa
würde er nicht gefallen, aber dem gefällt ja nie einer.« Auch das
kam gut. Väter mussten eifersüchtig auf die Freunde ihrer Töchter
sein, auch wenn Gustav Hartmann das nie gewesen war.
Die gemeinsame Zeit mit Mario in Verona schmückte
Marie so weit wie möglich aus. Sie schrieb über seine lustige Art,
sein gutes Aussehen und vor allem über seine Bitte an Marie, mit
ihm nach Deutschland zu fahren, wo er zuvor noch nie gewesen war.
Jetzt hätte sie gerne noch
einiges mehr über den Italiener geschrieben und ihre gemeinsame
Zeit in Deutschland, doch die freien Seiten waren fast gefüllt, und
das Ende der Geschichte musste natürlich den Freudentränen der
Eltern bei ihrer Rückkunft gehören. Nach kurzem Nachdenken
entschied sich Marie für einen Streit. Wie sonst sollte sie
erklären, dass Mario sang- und klanglos von der Bildfläche
verschwand und auch später nie mehr in ihren Tagebüchern erwähnt
wurde? SUCHEN … Da sie selbst in den letzten Jahren kaum noch
gestritten hatte - kein Partner, kein Kontakt zu den Eltern, im
Büro nur kommunikationsunfähige Kollegen -, fiel ihr auch das nicht
ganz leicht. Komisch, dass sie das in diesem Moment bedauerte, aber
schließlich konnten auch Konflikte ein Leben interessanter machen.
Doch zurück zu Mario - für Daseinsphilosophien war jetzt keine
Zeit. Natürlich musste diese Auseinandersetzung so verlaufen, dass
Marie eindeutig im Recht war. Alles andere wäre äußerst
kontraproduktiv gewesen. Vielleicht war er zudringlich geworden,
hatte den italienischen Macho raushängen lassen oder auch eine
andere angebaggert. Marie entschied sich für den Macho. Gut gelaunt
schrieb sie Mario ein paar üble Angebersprüche zu: »Kaum waren wir
über der deutschen Grenze, musste ich ständig seine Tasche tragen
und ihm Kaffee holen. Er meinte, dass er ja schließlich auch die
Verantwortung tragen würde. Frauen könnten das nämlich nicht. Die
wären besser ›assistente‹. Zum Dank für den Kaffee nannte er mich
dann immer herablassend ›brava‹ und tätschelte mir die Wange. Das
war zu viel für mich!« Jetzt noch ein guter Konter von Marie, und
Mario war Geschichte. ABSCHLIESSEN.
Äußerst zufrieden mit ihrem Werk, klappte Marie
das Buch zu und beschloss, eine kleine Pause im kreativen
Schaffensprozess einzulegen. Sie zog sich ihre Wolljacke und einen
dazu passenden Schal an, schnappte sich ihren Schlüssel und verließ
das Haus, um einen Spaziergang zu machen. Einige Straßen weiter bog
sie ab und nahm die Treppe hinab zu den Isarauen, wo an einem
derart sonnigen Herbstsonntag allerlei Radfahrer, Jogger und
spazierende Paare und Familien unterwegs waren. Etwas einsam kam
sich Marie schon vor in so einem bunten Treiben diverser sonnen-
und bewegungshungriger Mitmenschen. An solchen Tagen wünschte sie
sich manchmal, sie hätte sich vor drei Jahren anstelle von Kasimir
einen Hund zugelegt. Den hätte sie nun wenigstens Gassi führen
können. So jedoch wanderte sie allein unter Grüppchen die Isar
entlang und tat Kasimir im Stillen Abbitte für ihre selbstsüchtigen
Gedanken.
Nach etwa einer Stunde Spaziergang durch grüne
Wiesen und bunten Herbstwald kehrte Marie, trotz strahlendem
Sonnenschein etwas durchgefroren, in die Münchner Straßen zurück,
wo sie den kürzesten Weg zu ihrem Wohnhaus einschlug. Eine
Querstraße vor dem Ziel bemerkte sie plötzlich einen nicht zu
überhörenden, heftigen Wortwechsel hinter einem geöffneten
Fenster.
»Immer muss es nach deinem Kopf gehen!«, keifte
eine Frauenstimme. »Wenigstens am Sonntag könntest du mich ein Mal
unterstützen!«
Der offensichtlich dazugehörige Mann gab nicht
minder lautstark zurück: »Du bist es doch, die ständig vor
der Glotze hockt!«
»Ich? Zwischen deinen ganzen Sportsendungen bleibt
doch kaum Platz für ein anständiges Programm!«
»Und jetzt würde ich nur gerne die Nachrichten
sehen!«
»Nachrichten? Dass ich nicht lache!«
Marie blieb direkt unter dem Fenster im zweiten
Stock stehen und lauschte einige Minuten dem sinnlosen Streit des
Ehepaares. ZOOM. In dieser Hinsicht hatte sie mit ihrer »Beziehung«
Glück gehabt. Mit Kasimir konnte man nicht streiten. Er war immer
da und widersprach selten. Wenn er regelmäßig seine
Streicheleinheiten bekam, die er immerhin - im Gegensatz zu den
meisten Männern - recht eindeutig einforderte, war er ein treuer
Lebensgefährte. Er konnte einem wenigstens ein bisschen das Gefühl
vermitteln, gebraucht zu werden. Und das Fernsehprogramm
interessierte ihn auch nicht. Bei dem Gedanken an ihren Kater bekam
Marie plötzlich einen Schreck. Was wurde aus Kasimir, wenn sie ihre
Lebenszensur erfolgreich abgeschlossen hatte? Da tat sich ein
weiterer Punkt auf der To-do-Liste auf, an den sie bis jetzt noch
gar nicht gedacht hatte. SPEICHERN.
Im Zuge der verschiedensten Unternehmungen war es
fast unbemerkt Abend geworden. Dass allein verbrachte Zeit wie im
Flug vergehen konnte, war für Marie ganz ungewohnt. Fast fürchtete
sie, mit ihrer Tagebuchzensur in Verzug zu geraten. Andererseits
drängte sie schließlich niemand. Ob sie nun heute, morgen oder in
einer Woche ihrem Leben ein Ende setzte, war nicht wichtig.
Wichtiger war, dass ihr Tod und die Zeit danach sorgsam vorbereitet
waren.
Mit Feuereifer, einer frischen Kanne Tee und einer
Tafel Zartbitter-Schokolade machte sich Marie wenig später wieder
ans Werk. Die nächsten beiden Tagebücher waren einfache
Schreibhefte, die ihre Studienzeit beinhalteten. Zehn Semester
Informatikstudium in München. Davon
die ersten drei Jahre an der Seite von Ben Bergemann, dem »Manager
des Jahres«.
Während Marie ihre Aufzeichnungen aus jener Zeit
akribisch nach Schönheitsfehlern durchforstete, wurde ihr klar, wie
glücklich sie mit Ben und wie unglücklich sie ohne ihn gewesen war.
Kurzerhand verkürzte sie die damalige Leidenszeit um einige Wochen,
indem sie etwa die Hälfte ihrer Klageschriften heraustrennte und in
den Papierkorb wandern ließ. VERWERFEN. Ein gefaltetes DIN-A4-Blatt
dagegen, das im hinteren Teil des Heftes zwischen den Seiten
steckte, behandelte sie mit weitaus mehr Sorgfalt.
ANSICHT. Sehr gut erinnerte sie sich beim Anblick
des Plakats daran, wie sie es damals kurz nach der Trennung von Ben
in einem unbeobachteten Augenblick vom Schwarzen Brett der Fakultät
abgenommen und sorgsam in ihrer Mappe verstaut hatte: »Die Krise
der Informatik als Ausdruck der Krise der Produktivkraftentwicklung
- Vortrag von Ben Bergemann im Audimax«. Der Vortrag war am Tag
darauf Gesprächsthema Nummer eins in der Fakultät gewesen. Marie
war eine von ganz wenigen, die ihn nicht gehört hatten. Ben hatte
wohl einen Sieg auf der ganzen Linie errungen. Seine
Forschungsergebnisse hatten sogar die Professoren beeindruckt, der
Text war wenig später in einer der bedeutendsten
Informatik-Zeitschriften veröffentlicht worden.
Um wenigstens im Nachhinein ein bisschen von Bens
Lorbeeren zu profitieren, begann Marie, das abgegriffene Plakat an
den freien Stellen mit handschriftlichen Notizen zu versehen.
Allgemeine Informatik-Inhalte, zu mehr reichten ihre theoretischen
Kenntnisse schon seit Langem nicht mehr aus. Wer auch immer es nach
ihrem Tod
in die Finger bekam, er würde die Dimensionen sowieso nicht
verstehen. Marie betrachtete ihr Gekritzel zufrieden und faltete
das Blatt wieder in den bestehenden Kanten. ANSICHT SCHLIESSEN. Nun
sah es für jeden Außenstehenden so aus, als hätte sie den Vortrag
gehört und auch verstanden. Was sie zum damaligen Zeitpunkt auch
mühelos gekonnt hätte, dessen war sich Marie sicher.
Nachdem die Bearbeitung der eigenen Biografie mehr
Zeit in Anspruch nahm, als Marie gedacht hätte, unterbrach sie an
dieser Stelle die Zensur, um sich gegen Ende des Tages noch etwas
mit ihrem Lebensende zu beschäftigen. Sie bereitete sich ein
Abendbrot aus den kümmerlichen Resten, die der Kühlschrank hergab,
und setzte sich an ihren Laptop. LOGIN. Weil die Recherche in der
Nacht zuvor kein zufriedenstellendes Ergebnis gebracht hatte,
versuchte Marie es heute mit einer neuen Herangehensweise.
Auf verschiedenen Internetseiten über berühmte
Suizidfälle in Literatur und Geschichte informierte sie sich
ausführlich darüber, wie andere vor ihr dieses Problem gelöst
hatten. Bei Romeo und Julia bekam sie erstmals eine Ahnung, bei
Ferdinand und Luise bestätigte sich der Verdacht, und bei Madame
Bovary war sich Marie sicher: Der richtige Weg ins Jenseits war
Gift. SPEICHERN. Natürlich meinte sie damit nicht so profane
Vergiftungsmethoden wie Schlaftabletten oder Autoabgase. Nein, sie
musste ein ausgefallenes, teures Gift finden, das nur schwer zu
bekommen war.
Froh, einen weiteren Schritt vorangekommen zu sein,
warf Marie Kasimir, der sich wieder einmal auf dem Wohnzimmersessel
zusammengerollt hatte, einen Beifall heischenden Blick zu. Doch
Anerkennung war von dieser
Seite nicht zu erwarten. Der Kater schnarchte leicht und nahm von
den Erfolgen seines Frauchens keine Notiz. Vielleicht auch besser
so, sonst wären ihm womöglich die Auswirkungen auf seinen Verbleib
zu früh klar geworden. Und diesbezüglich konnte Marie sicher auf
keinerlei Anerkennung hoffen.
Sie öffnete nun die unterschiedlichsten
Internetseiten aus den Bereichen Medizin und Chemie und fütterte
verschiedene Suchmaschinen mit höchst giftigen Fragestellungen.
SUCHEN … Auch hier taten sich unerwartete Schwierigkeiten auf. Ohne
chemische oder medizinische Fachkenntnisse waren die Inhalte nur
schwer auf das Wesentliche und in diesem Fall Nützliche zu
reduzieren. Marie hatte sich ihren Selbstmord deutlich einfacher
vorgestellt. Allerdings musste sie zugeben, dass sie es durchaus
einfacher hätte haben können. Wer kam schon auf die Idee, sein Ende
derart minutiös zu planen? Bei diesem Gedanken überfiel Marie ein
leichtes Bedauern, dass ihre Bemühungen bezüglich ihres Todes
niemals honoriert werden würden. Schließlich gab sie sich alle
Mühe, jegliche Manipulation der Hinterlassenschaften nicht
offenkundig werden zu lassen. Schade. Aber für den Erfolg der
Aktion dringend notwendig. UNTERSTREICHEN.
Eigenrecherche schien also in diesem Fall nicht zum
Ziel zu führen. Ein Experte musste her.
Doch nicht mehr in dieser Nacht. ZWISCHENABLAGE.
Morgen war wieder ein Arbeitstag, mit dem Marie vor Beginn des
Wochenendes nicht mehr hatte rechnen können. Nun, da sich das
Unternehmen »Lebensende« bis auf Weiteres verzögerte, musste sie
morgen wohl oder übel noch einmal an ihren Arbeitsplatz
zurückkehren, der in letzter Zeit leider allzu oft nur
Routinearbeiten
zu bieten hatte. Dafür benötigte sie allerdings auch etwas Schlaf,
sodass sie wohl nicht wieder die gesamte Nacht am Laptop verbringen
konnte. Schweren Herzens verließ Marie den Computer.
Sie zog ihr Schlafshirt unter dem Kopfkissen hervor
und ging ins Bad, um sich umzuziehen. Beim Zähneputzen ließ sie das
Wochenende noch einmal Revue passieren und registrierte zufrieden,
dass sie zwar vordergründig von ihrem Ziel weiter entfernt war als
je zuvor, tatsächlich aber einen erheblichen Schritt
vorwärtsgekommen war.
In dieser Gewissheit und der Überzeugung, dass es
sich bei der kommenden Woche mit ziemlicher Sicherheit um ihre
letzte Arbeitswoche handeln würde, ging sie an diesem Herbstsonntag
zuversichtlich in ihr Bett. SIE KÖNNEN DEN COMPUTER JETZT
AUSSCHALTEN. Welch beruhigende Aussichten!