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DOKUMENT6. Beim Aufwachen am nächsten Tag galt
Maries erster Gedanke ihrer Arbeit. Schließlich konnte sie heute
nicht noch einmal blaumachen und den Tag für private Unternehmungen
nutzen, nahes Lebensende hin oder her. Demzufolge fielen Frühstück
und Körperpflege an diesem Morgen deutlich kürzer aus als am Tag
zuvor. Kurz vor halb neun nahm Marie Almas Abschiedsgeschenk wieder
aus ihrer Handtasche, packte es erst einmal in die
Kommodenschublade und machte sich auf den Weg ins Büro. GEHE ZU …
Nicht gerade euphorisch, doch durchaus gelassen kam sie dort an,
holte sich eine Tasse Kaffee aus der Teeküche und schaltete den
Computer ein.
Beim Durchsehen ihrer E-Mails vom Tag zuvor stieß
Marie auf eine Mitteilung der Firmenleitung, die die Projekte des
folgenden Jahres ankündigte. In der Hauptsache ging es dabei um die
Programmierung einer neuen Tabellenkalkulationssoftware mit
deutlich erweiterten Möglichkeiten gegenüber der aktuellen Version.
Es sollte im übernächsten Jahr auf den Markt kommen und dann ein
bisher kaum bedientes Marktsegment füllen. Sofort verspürte Marie
den inneren Drang nach einer derartigen Herausforderung, was ihr in
den letzten Jahren kaum mehr passiert war. Zu lange schon war sie
hier ausschließlich mit Wartung und Optimierung bereits etablierter
Programme beschäftigt. Ihre letzte Programmierung lag Jahre
zurück. WIEDERHERSTELLEN?
Zu schade, dass die Zukunft der Softwarebranche mit
ihrem Leben so gar nichts mehr zu tun hatte. Genauso wie die
Zukunft verschiedenster anderer Berufsbranchen, Lebensbereiche,
Menschen … die Zukunft eben. Zukunft war etwas, worüber sie sich
keine Gedanken mehr machen musste, fand Marie. Und das war gut so.
Sie schloss die verführerische E-Mail und entsorgte sie
vorsichtshalber sofort. WOLLEN SIE DAS DOKUMENT WIRKLICH IN DEN
PAPIERKORB VERSCHIEBEN? JA. ENTER. Das weitere Tagesgeschäft
versprach kaum interessanter zu werden als der Tagesanfang. Etwas
Korrespondenz, ein paar Reklamationen, eine Pressemitteilung - wie
aufregend. Marie holte sich eine weitere Tasse Kaffee und tippte
das erste Schreiben in ihren PC.
Nach einer guten Stunde ruhigen, um nicht zu sagen
langweiligen Arbeitens kündigte sich überraschend eine
unvorhergesehene Wende in Maries eintönigem Arbeitsalltag an.
Olaf Schmidt betrat beziehungsweise erstürmte ihr
Büro: »Können Sie bis heute Abend eine umfassende Dokumentation
unserer bisherigen Ergebnisse bei der OptikTec-Entwicklung
erstellen?« Diese Frage war so ziemlich die rhetorischste, die es
in der Geschichte menschlicher Kommunikation je gegeben hatte. »Die
Aufzeichnungen sind völlig unzureichend! Wir können den Herren
heute Abend ja schlecht unsere zusammenhanglosen Notizen
präsentieren.« Mit solchen Anliegen kam er immer zu ihr. Immer in
letzter Minute und immer mit einem Befehlston, der keinen
Widerspruch duldete. LAUTSPRECHER AUS.
Maries erster Impuls war, dem Auftreten ihres Chefs
keinerlei Beachtung zu schenken und die eilige Aufgabe bis zum
Abend klaglos zu erledigen. Die Arbeit, die dadurch liegen blieb,
war nach ihrem baldigen Tod schließlich nicht mehr ihr Problem.
Andererseits hatte sie in ihrer Situation auch nichts mehr zu
verlieren und konnte diesen Umstand nutzen, um Schmidt zum
wiederholten Mal auf die unsystematische Organisation seiner
Abteilung aufmerksam zu machen. Jetzt brauchte er sie. Er wusste
genau, dass sie die Einzige war, die die komplexen Zusammenhänge
bis zum Abend ordnen und zusammenfassen konnte. UNTERSTREICHEN. Es
war also durchaus eine gute Gelegenheit, ihm zum unwiderruflich
letzten Mal gehörig die Meinung zu sagen. Sie wollte ja auch noch
nach ihrem Tod erhobenen Hauptes in den Spiegel sehen können.
»Wenn Sie Ihr Projektmanagement nach einem
vernünftigen Phasenmodell organisieren würden wie jeder halbwegs
professionelle Abteilungsleiter, dann würde es zu solchen Engpässen
überhaupt nicht erst kommen. Und Ihre Mitarbeiter müssten nicht
jedes Mal Ihre unglaubliche Unfähigkeit ausbaden!«
Vielleicht ein bisschen scharf geschossen, aber
Schmidt war so perplex, dass er nicht widersprach.
Marie nutzte seine Hilflosigkeit für weitere
Ausführungen zum Thema: »Warum legen Sie nicht endlich einen
Projektkalender an, wie ich es Ihnen schon vor Monaten
vorgeschlagen habe? Dort könnte man alle Eckpfeiler von der
Anforderungsanalyse bis zum White-box-Test wunderbar dokumentieren
und immer wieder nachlesen. Gäbe es so etwas, dann könnten Sie
heute einfach die letzten Ergebnisse heraussuchen und ausdrucken.
Und ich müsste nicht wieder meine Arbeit liegen lassen, um Ihnen
aus der Patsche zu helfen!«
Nach diesem Schlag unter die Gürtellinie fand
Schmidt seine Sprache wieder: »Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu
reden?« Nicht gerade ein überzeugendes Argument zur Sache. »Die
Einrichtung eines Projektkalenders ist für unsere Firma nicht
praktikabel. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?«
»Das ist doch absoluter Unfug! Die meisten
Unternehmen arbeiten bei der Softwareentwicklung mit einem
Projektkalender. Das ist doch inzwischen üblich. Sie können sogar
Ihre Kollegen aus unseren anderen Abteilungen fragen!« Marie lief
langsam zur Hochform auf. Die Aussicht auf einen allerletzten
Rundumschlag beflügelte sie, ohne Rücksicht auf Verluste ihre
Kritik zu äußern. WEITER.
Auf dem Flur kamen nun immer wieder Kollegen an
Maries geöffneter Bürotür vorbei, um wenigstens einen kleinen Teil
der brisanten Diskussion aufzuschnappen. Einige zeigten ihr hinter
Schmidts Rücken einen nach oben gestreckten Daumen, andere
applaudierten lautlos. Wer den Inhalt der Auseinandersetzung im
Vorbeigehen erfasste, dem war klar, dass ein Sieg Maries für die
gesamte Abteilung extrem positive Auswirkungen haben würde.
»Mit einem Projektkalender könnte man sowohl die
Systemdefinition als auch die Systemspezifikation viel gezielter
und damit effektiver angehen. Und er würde auch die Arbeitsteilung
bei der Implementierung wesentlich erleichtern.« Marie nutzte die
Möglichkeit, ihre Kritik ohne Angst vor Sanktionierung darzulegen,
ausgiebig. WEITER. »Ich kann Ihnen gerne einige Vorschläge
zur Realisierung schriftlich ausarbeiten und noch in dieser Woche
vorlegen. Dann könnten wir nächste Woche …«
Das war zu viel für Schmidt. Mit einem gepressten:
»Ich erwarte bis heute Abend Ihren Bericht«, stürzte er aus dem
Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Fast ein bisschen
schade.
Marie dagegen wandte sich mit einem zufriedenen
Lächeln wieder ihrem Computer zu und begann sofort mit Schmidts
Zusammenfassung für das abendliche Meeting. Der Gute hatte für
heute genug zu verdauen. Noch mehr Widerstand würde wohl kaum noch
größere Wirkung zeigen, fand Marie und erstellte gut gelaunt für
ihren Chef eine Vielzahl bunter Diagramme und Tabellen zu den
Programm-Testläufen der OptikTec-Entwicklung. Schon lange hatte ihr
die Arbeit nicht mehr so viel Spaß gemacht. Um den Bericht
möglichst perfekt vorlegen zu können, ließ sie sogar die
Mittagspause ausfallen. Und so überreichte sie gegen fünf Uhr
abends ihrem Chef freundlich lächelnd mehrere Mappen mit Trends,
Statistiken und Dokumentationen. Schmidt bedankte sich knapp und
zog eilig mit den Unterlagen in Richtung Konferenzraum ab. Und
tschüs. ENTER.
Marie hingegen beschloss kurzerhand, dass sie sich
den sofortigen Feierabend mehr als verdient hatte, packte zufrieden
ihre Sachen in die Handtasche und verließ gleich darauf das
Firmengelände.
Beschwingt lief sie die Straße entlang bis zu ihrer
U-Bahn-Station, ließ sich von der Rolltreppe gemütlich ins
Untergeschoss fahren und reihte sich in die Menge der am Bahnsteig
Wartenden ein. Offensichtlich hatten die meisten Angestellten um
diese Zeit Arbeitsschluss, für Marie dagegen war es ungewöhnlich
früh. Noch nie
hatte sie sich nach dem Büro mit so vielen Menschen einen
Bahnsteig geteilt. Abstand halten? Fehlanzeige. Als die U-Bahn
eingefahren war, zwängte sie sich mit einem gefühlten Drittel der
gesamten Weltbevölkerung in einen Waggon, um dann möglichst
geschickt schwingenden Pferdeschwänzen, kantigen Aktenkoffern und
gestreckten Ellenbogen auszuweichen. Einige Stationen und noch mehr
unangenehme Körperkontakte weiter entstieg sie etwas genervt der
überfüllten Bahn und rollte wieder an die Erdoberfläche.
Trotzdem taten die feierabendlichen Menschenmassen
ihrer Gelassenheit keinerlei Abbruch. Schließlich hatte sie
unverhofft einen langen freien Abend für ein weiteres Kapitel der
Lebenszensur gewonnen. Marie schlenderte den Gehsteig entlang und
durchforstete gedanklich ihre To-do-Liste nach einem Plan für die
nächsten Stunden. In jedem Fall würde sie sich heute ihre Fotos zur
Bearbeitung vornehmen. Da war sicher auch so einiges dabei, das
wenig vorteilhaft war und zu viel Privates preisgab. Anderes
dagegen konnte bestimmt auch zur Imageverbesserung genutzt
werden.
Nachdem sie sich zu Hause etwas zu essen gemacht
und es hungrig verspeist hatte (so ohne Mittagessen war auf Dauer
auch nicht praktikabel, selbst wenn man kurz vor seinem Lebensende
stand), versorgte Marie Kasimir mit Futter und frischem Wasser.
Danach holte sie ihren Fotokarton aus dem Schrank und richtete sich
damit auf ihrem Sofa häuslich ein. Halt, Tee vergessen! Noch einmal
in die Küche. Vielleicht auch noch ein paar Kekse dazu? Schlanke
Linie war für eine zukünftige Leiche schließlich kein wichtiges
Kriterium. Ganz abgesehen davon, dass sich ihre Figur auch bei
höchst unvernünftiger Nahrungsaufnahme
in den wenigen letzten Tagen nicht mehr so grundlegend ändern
würde. FETT … SPEICHERN.
Mit Keksen, Tee und Wolldecke auf dem Sofa bekam
die heutige Fotoaktion auch gleich eine ganz andere Qualität.
Zufrieden kraulte Marie Kasimir, der sich auf den Rücken drehte und
ihr die Hand leckte, und öffnete den Karton. Ein unübersichtlicher
Haufen von Fotoabzügen ihrer unterschiedlichen Lebenslagen grinste
ihr entgegen. In diesem Zustand waren die Bilder definitiv
niemandem zu hinterlassen. Zu viele waren nicht für Jedermanns
Augen bestimmt. In einem derart unorganisierten Durcheinander kamen
außerdem die Highlights, die es sicher irgendwo in diesem Fotoberg
gab, kaum zur Geltung. Vorgehensweise also wieder nach dem
altbekannten Töpfchen-Kröpfchen-Prinzip. Was unvorteilhaft oder
intim war oder schlicht niemanden etwas anging, würde in den
Papierkorb wandern. Was sie, in welcher Form auch immer, in einem
guten Licht erscheinen ließ, würde archiviert werden.
Bei der ersten Sondierung des gesamten Materials
beschloss Marie, am Ende die zur Veröffentlichung freigegebenen
Werke in einem Fotoalbum zusammenzustellen und entsprechend zu
beschriften: »Mein erster Sieg im Turmspringen mit zehn Jahren«,
»Ich als Schülersprecherin mit Leuten vom Kultusministerium«, »Mein
erstes Motorrad«, »Unser Urlaub in Kalifornien« …
Die Bildunterschriften zogen bereits an ihrem
inneren Auge vorbei. Nur schade, dass sie nichts davon erlebt
hatte. Also musste sie aus dem Vorhandenen das Beste herausholen.
Bei Liebesbriefen und Tagebüchern war ihr das schließlich auch
gelungen. WIEDERHOLEN. Leider konnte man Fotos schlechter
fälschen.
Mit zehn Jahren hatte Marie ihren ersten
Fotoapparat geschenkt bekommen. Seitdem hatte sie mehrere Exemplare
von der Pocket- bis zur Spiegelreflexkamera zugrunde gerichtet und
einiges an Bildmaterial angehäuft.
Die ersten Fotos waren in der Hauptsache unscharf,
verwackelt oder halb von einem vorwitzigen Finger verdeckt.
Papierkorb.
Die nächste Bildergeneration zeigte
Klassenkameraden, Schulveranstaltungen und Familienmitglieder.
Wenig informativ, lange her. Ein paar ausgewählte durften bleiben,
der Rest wurde entsorgt. VERWERFEN.
Dann kam eine ganz schlechte Phase. Als Marie die
Fotos ihrer Pubertät in der Hand hielt, musste sie fast lachen. Die
toupierte Frisur, die schrill-bunten Klamotten, geschminkt bis an
die Haarspitzen, unmöglich. Eine Periode der totalen
Geschmacksverirrung: Papierkorb. Wenn das so weiterging, konnte sie
am Ende das Album ihrer Verdienste nur mit einer Handvoll Fotos
füllen.
Aber mit der Kollegstufenzeit näherte sich die
Dokumentation endlich einer optisch vertretbareren Richtung. Aus
dieser Zeit gab es einige Bilder, die sofort ins Töpfchen wandern
durften: eine Oberstufen-Party (bei der sie mit verschiedenen Jungs
abgelichtet war), ein Schulkonzert (bei dem sie ein Solo auf der
Geige spielen durfte), ein Urlaub am Meer (bei dem sie sich zum
ersten und einzigen Mal auf dem Surfbrett versucht hatte).
SPEICHERN.
Marie hielt ein Foto in der Hand, auf dem sie in
einem hautengen Neopren-Anzug und mit gebräuntem Gesicht in die
Kamera blinzelte, sich mit der einen Hand die nassen Haare aus dem
Gesicht strich und mit der anderen das Surfbrett stützte. Marie
Hartmann, die gut aussehende,
sportliche, unabhängige, moderne junge Frau, die das ganze Leben
noch vor sich hatte und auch viel davon erwartete. Wenn sie damals
gewusst hätte, dass es schon mit Mitte dreißig zu Ende sein würde
…
Warum sie damals mit dem Surfen nicht weitergemacht
hatte, wusste Marie heute auch nicht mehr. Schließlich hatte es ihr
sehr viel Spaß gemacht. Wahrscheinlich hatte es zu wenige Urlaube
am Meer gegeben, die eine Fortführung des Trainings ermöglicht
hätten. Ein äußerst vorteilhaftes Bild jedenfalls, das in jedem
Fall einen prominenten Platz im Album verdient hatte.
SPEICHERN.
Das nächste Foto, das inmitten seiner zahlreichen
Kollegen Maries Aufmerksamkeit erregte, war das Schwarz-Weiß-Foto
eines gut aussehenden jungen Mannes. Ein Porträt. Offensichtlich
von einem professionellen Fotografen gemacht. ZOOM. Auch nach
längerem, konzentriertem Nachdenken hatte Marie immer noch keinen
blassen Schimmer, um wen es sich bei dem schönen Unbekannten
handelte, der sich scheinbar unbemerkt in ihre Fotokiste verirrt
hatte. Weder die Rückseite des Bildes noch andere Aufnahmen gaben
Aufschluss über seine temporäre oder geografische Herkunft. Er war
auf keinem Klassen- oder Studienfoto. Auf Urlaubsfotos?
Fehlanzeige.
Schon begann Marie an ihrer Zurechnungsfähigkeit
und ihrem Erinnerungsvermögen zu zweifeln. Mit Mitte dreißig! Da
war es wirklich besser, rechtzeitig, bei vollem Bewusstsein aus dem
Leben zu scheiden. SPEICHERN.
Zum Glück klingelte in diesem Moment das Telefon.
Sosehr Marie abendliche Störungen hasste, so froh war sie in diesem
Augenblick, aus ihren düsteren Gedanken
gerissen zu werden. Das änderte sich allerdings sofort wieder, als
ihr vom anderen Ende ein mütterliches »Hallo!« entgegenschrillte.
»Von dir hört man ja gar nichts! Was gibt es Neues?« folgte wie
üblich auf dem Fuße.
»Wieso? Wir haben doch erst vor ein paar Tagen
telefoniert«, gab Marie patzig zurück. Ihre Mutter schaffte es bei
jedem Telefonat, ihre Laune schon vor Beginn des eigentlichen
Gesprächs in den Keller sinken zu lassen. TON AUS. Marie wusste
schließlich auch allein, dass sie in ihrem Leben leider nicht das
erreicht hatte, was sie (und vermutlich auch die Eltern) sich
erhofft hatte.
Wie immer ließ Marie sich auf keinerlei Berichte
aus ihrem Lebensalltag ein - die größte Neuigkeit, das nahe Ende
und die Vorbereitungen dafür, musste sie sowieso für sich behalten.
Also fragte sie möglichst neutral: »Und? Was gibt’s?«
»Der Papa und ich wollen uns einen Fotoapparat
kaufen.« War die beim letzten Telefonat anvisierte
Computeranschaffung schon getätigt, oder hatte man etwa
umdisponiert oder einfach Langeweile?
Marie bekam kurz ein schlechtes Gewissen, weil sie
diesbezüglich noch nichts unternommen hatte, und schluckte ihre
bösen Kommentare hinunter: »Und warum fragst du da ausgerechnet
mich?«
»Na, du hast doch damals dieses Praktikum bei dem
Fotografen gemacht. Da hast du doch hoffentlich ein bisschen was
gelernt!«
In diesem Moment meldete sich Maries
Erinnerungsvermögen schlagartig in voller Größe und Schönheit
zurück. Das Praktikum bei Uhlenhorst. Drei Monate hatte sie nach
dem Abitur in seinem Fotoatelier gearbeitet. Damals noch in der
Hoffnung, die Eltern würden danach
die ersehnte Fotoausrüstung finanzieren. Doch Gustav und Monika
Hartmann hatten das Ganze unter dem Gesichtspunkt »Hörner abstoßen«
eingeordnet und nach den drei Monaten bei Uhlenhorst ihr geliebtes
Hobby weiterhin nicht ernst genommen.
»Bist du noch dran?« Die sich offensichtlich im
Konsumrausch befindliche Mutter wurde aufgrund mangelnder
Kommunikation am anderen Ende der Leitung ungeduldig.
Marie hatte vor lauter Erinnerungsvermögen ihr
Telefonat vergessen. WIEDERHERSTELLEN. »Ja, ja … Ich denk mal
drüber nach.«
»Dank dir. Und melde dich mal, ja?!«
Zurück bei ihrem Fotoberg betrachtete sie das Bild
des Unbekannten noch einmal eingehend und war sich plötzlich
sicher: Die Aufnahme hatte sie während des Praktikums aus
Uhlenhorsts Labor mitgenommen, weil ihr der junge Mann darauf so
gut gefallen hatte. Jetzt erinnerte sie sich auch wieder genau
daran, wie der Fotograf verzweifelt das vierte der bestellten
Porträts gesucht und schließlich erneut einen Abzug hergestellt
hatte. Marie war damals begierig gewesen, diesen jungen Mann zu
treffen und hatte Tag für Tag darauf gewartet, dass er die Porträts
abholen würde. Doch leider war es nie dazu gekommen. Vermutlich war
ihr Praktikum beendet gewesen, bevor der Unbekannte bereit für eine
Begegnung war.
Jetzt, nach ziemlich genau sechzehn Jahren
unbeachteten Lagerns in einer Fotokiste, konnte ihr sein Bild aber
doch noch von Nutzen sein. In Maries Fotoalbum der
Lebens-Highlights bekam der attraktive Fremde eine ganze Seite für
sich allein und im gleichen Arbeitsgang
auch gleich Namen und Identität. SPEICHERN UNTER … DAVID. Mit der
jugendlichsten Schrift, die ihr nicht mehr ganz so jugendliches
Handgelenk hergab, beschriftete Marie das vorteilhafte Konterfei
mit einem für sie noch vorteilhafteren Kommentar: »David - Zur
Erinnerung an die schönsten drei Monate meines Lebens«. Irgendwie
war das nicht einmal gelogen. Das Praktikum bei Uhlenhorst zählte
wirklich zu den schönsten Monaten ihres Lebens, auch wenn der gut
aussehende Unbekannte darin eine eher untergeordnete Rolle gespielt
hatte. So wollte und konnte Marie ihm auch keinen größeren Raum in
ihrem Leben zugestehen. Schließlich hätten die Familie und Freunde
von damals von einer längeren Beziehung zu dem geheimnisvollen
David irgendetwas mitbekommen müssen. Die Lebenszensur musste bei
aller Ereignis-Kosmetik natürlich glaubwürdig bleiben.
Auch Ben erhielt, im Gegensatz zu David ganz legal,
einen Platz in Maries Album. Sorgfältig wählte sie die hübschesten
Bilder aus, jeder unrasierte und schlecht getroffene Ben wanderte
geradewegs in den Papierkorb. LÖSCHEN. Einen kurzen Moment fand
Marie sich schrecklich oberflächlich. Noch nie hatte sie Menschen
gemocht, die nur auf Äußerlichkeiten und Erfolge Wert legten, und
nun war sie selbst eine von ihnen. RÜCKGÄNGIG? Doch jetzt, kurz vor
Ende des eigenen Lebens, war nicht mehr die Zeit, die Welt zu
verändern. Jetzt ging es einzig und allein um Schadensbegrenzung in
der Lebensrückschau. Die Welt war oberflächlich. Also sollte sie
auch so behandelt werden. PAPIERKORB LEEREN. OK.
Als Marie wenig später das fertige Album
durchblätterte, war sie mit ihrer Arbeit sehr zufrieden. Aufgrund
radikalen Aussortierens bestach der Inhalt des Albums durch
Qualität statt Quantität, was den Gesamteindruck erheblich
verbesserte. In ihrer Euphorie beschloss Marie, die momentane
Energie zu nutzen und gleich mit der noch lange nicht
abgeschlossenen Lebenszensur fortzufahren. Außer den Büchern und
CDs, auf die sie jetzt gar keine Lust hatte, blieb in der
Hartmannschen Medienabteilung noch die durchaus beachtliche Video-
und DVD-Sammlung zu sichten. GEHE ZU … Sie war, je nach Grad der
Öffentlichkeitswirksamkeit, an unterschiedlichen Stellen in der
Wohnung untergebracht.
Intellektuell bedeutsame Filme wie die
Fellini-DVD-Box und einige Filme von Regisseuren wie Truffaut,
Kubrick oder Hitchcock standen im Bücherregal des Wohnzimmers. Sie
durften unbesehen und ausnahmslos bleiben. SPEICHERN. Wen kümmerte
es schon, dass Marie die Fellini-Box noch nie von innen und auch
die anderen Filme höchstens zur Hälfte gesehen hatte? In der
nächsten Kategorie war es schon schwieriger. Sie verbarg sich in
der Wohnzimmerkommode neben dem Fernseher und beinhaltete Komödien
und Liebesfilme aller Art, durchaus auch solche, die von einiger
filmischer Qualität waren. Im Gegensatz zu Fellinis Œuvre und dem
seiner Kollegen kannte Marie diese Filme alle. AUSWÄHLEN. Einige
(sogenannte Klassiker) durften bleiben, andere mussten gehen.
WOLLEN SIE DAS DOKUMENT WIRKLICH IN DEN PAPIERKORB VERSCHIEBEN? JA.
ENTER.
Nun zum heikelsten Teil der Mission, dem
Geheimdepot auf dem Schlafzimmerschrank. Marie schleppte zu
abendlicher Stunde ihre Haushaltsleiter durch die Wohnung und
klapperte dabei so laut, dass sie fast schon Beschwerden der
Nachbarn befürchtete. Sogar Kasimir erhob sich von seinem
Nachtlager und trottete ins Schlafzimmer,
um das Schauspiel aus der Nähe zu betrachten. Mit schief gelegtem
Kopf beobachtete er fragend, wie sein Frauchen die Leiter erklomm,
um den Karton mit den nicht öffentlichkeitswirksamen Videokassetten
vom Schrank zu wuchten. Dabei leckte er sich unsicher Schnauze und
Pfoten und schien die Stirn zu runzeln, als wunderte er sich, dass
Marie jetzt offensichtlich noch einen Videoabend starten
wollte.
Die Schachtel, die bis zum Rand mit selbst
aufgenommenen TV-Filmen und -Serien gefüllt war, ließ sich nur mit
Mühe bewegen. Beim Versuch, sie mit Gewalt über den oberen Rand des
Schrankes zu ziehen, verlor Marie in luftiger Höhe das
Gleichgewicht. Durch die große Wucht, mit der sie am Karton gezerrt
hatte, kippte sie, noch bevor sie irgendwo Halt suchen konnte, von
der Leiter und stürzte in die Tiefe. OPTIONEN …
Kasimir maunzte auf und brachte sich gerade noch in
Sicherheit, bevor Marie mit dem Kopf knapp neben dem Pfosten auf
dem Bett landete. Erschrocken fasste sie sich an die Schläfe,
tastete vorsichtig Arme und Rücken ab. Langsam beruhigte sich ihr
Herzschlag, es schien nichts gebrochen, ja nicht einmal geprellt zu
sein. »Glück gehabt«, bemerkte sie lakonisch, an den verstörten
Kater gewandt, der mit angelegten Ohren in sicherer Entfernung
stand. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass auch ihm etwas hätte
passiert sein können, und untersuchte ihn sorgfältig auf Blessuren.
Da er aber keine Schmerzen zu haben schien, nahm sie ihn liebevoll
in den Arm und streichelte ihn, bis er sich ganz beruhigt hatte.
Dann beschloss sie, den Rest der Entsorgungstätigkeiten lieber auf
den nächsten Tag zu verschieben. Schließlich durfte sie in keinem
Fall riskieren, dass durch einen weiteren,
eventuell tödlichen Unfall der erfolgreiche Abschluss ihrer
Lebenszensur ernsthaft in Gefahr geriet. Stattdessen wollte sie
lieber auf den Schreck hin in der Kneipe schräg gegenüber noch ein
Bier trinken gehen.
Obwohl sie schon länger nicht mehr dort gewesen
war, erkannte der Barkeeper Sascha Marie auf Anhieb und hatte auch
gleich wieder ein heimisches Computerproblem auf Lager, das gelöst
werden wollte. Marie platzierte sich wie früher bei ihm an der
Theke und bestellte ein Helles. Viel war nicht los. Offensichtlich
war das Geschäft auch schon mal besser gelaufen. Vor etwa vier
Jahren hatte der Laden um diese Zeit immer gebrummt. Ihr kam die
ruhigere Atmosphäre aber ganz gelegen, hatte sie doch heute
keinesfalls mehr vor, in ausgelassene Partystimmung zu geraten. Sie
ließ sich von Sascha das Computerproblem schildern und versuchte,
gewissenhaft vom Tresen aus eine Lösung zu finden. SUCHEN … Während
Marie in ihr Bier starrte, als würde sie dort erkennen, warum
Saschas PC alle paar Minuten ein Fenster mit dem Text
»Computerprobleme beheben« öffnete, war der Barkeeper in seiner
Verzweiflung kaum zu bremsen: »Das ist so nervig, weil dieses
Fenster immer und immer wieder kommt. Man kann gar nichts in Ruhe
machen.«
»Entschuldigung, dass ich mich einmische, aber
dasselbe Problem hatte ich auch schon mal«, schaltete sich ein
junger Mann ein, der schon die ganze Zeit am anderen Ende der
zugegebenermaßen nicht allzu langen Theke saß. Er war vielleicht
fünfundzwanzig Jahre alt, hatte einen verstrubbelten
Kurzhaarschnitt, trug eine Nickelbrille und rückte nun mit seinem
Pils zu Marie auf.
»Ich glaube, wir kennen uns. Du wohnst doch auch
gegenüber, oder? Ich bin Elmar.« Er hielt ihr seine Hand hin und
drückte die ihre kräftig. Sie konnte sich nicht erinnern, ihm schon
jemals im Treppenhaus oder Keller begegnet zu sein. Allerdings war
das auch kein Wunder, so wie sie in letzter Zeit von ihren eigenen
Angelegenheiten in Anspruch genommen war. ÄNDERN.
»Hi, ich bin Marie«, antwortete sie freundlich und
prostete ihm zu.
»Ich habe gerade einen Teil eures Gesprächs
mitbekommen und kann euch vielleicht helfen. Bei meinem Computer
hatte ich vor einiger Zeit nämlich das gleiche Problem.« Während
Elmar Sascha Tastenkombination und Befehle zur Lösung des Problems
erklärte, dachte Marie darüber nach, dass sie bisher zu keinem der
anderen Hausbewohner intensiveren Kontakt gehabt hatte als das
übliche »Hallo« im Treppenhaus. Nur schade, dass sich das erst
jetzt, so kurz vor ihrem Tod, änderte.
»Gehst du öfter in diese Kneipe, Marie? Ich hab
dich hier noch nie gesehen.« Tja, dafür hätte sie schon wesentlich
früher mal wieder auftauchen müssen …
Nachdem sie das Computerproblem zumindest
theoretisch gelöst hatten, war Sascha so erleichtert, dass er für
seine beiden Experten eine Runde Tequila spendierte. Marie sträubte
sich zuerst, doch Elmar bestand darauf, ihr Kennenlernen offiziell
zu begießen: »Endlich lerne ich mal jemanden aus diesem schrecklich
anonymen Haus kennen. So viele junge Leute wohnen hier wohl nicht,
oder?«
»Ehrlich gesagt habe ich noch keine gesehen. Wie
lange wohnst du denn schon hier?«
»Seit etwas über einem Jahr. Und du?«
»Im Januar würden es sechs Jahre werden.«
»Warum würde? Willst du ausziehen?« Beinahe hätte
sie sich verplappert. RÜCKGÄNGIG. »Nein, nein.«
»Gut. Ich dachte schon, meine erste Bekanntschaft
in dieser Gegend macht sich gleich wieder aus dem Staub.« Einen
kontaktarmen Eindruck machte Elmar nicht gerade, dachte Marie und
versuchte, die Unterhaltung nicht zu verbindlich werden zu lassen:
»Mal sehn. Manchmal ist man schneller weg, als man glaubt.« Die
Doppeldeutigkeit dieser Aussage konnte Elmar natürlich nicht
erkennen. Gut so. Sie selbst wusste zwar auch nicht genau, wie
lange ihr Leben noch dauern würde, doch ob sie bei der recht
üppigen To-do-Liste in der ihr verbleibenden Zeit noch neue
Kontakte würde unterbringen können, war fraglich.
Für Elmar, den Studenten, war das Argument eines
sehr stressigen Arbeitslebens stichhaltig genug, um ihn erst einmal
zufriedenzustellen. Schließlich konnte er nicht wissen, dass Marie
einen recht eng gesteckten Zeitplan für ihr nur noch sehr kurzes
Restleben hatte. Nach zwei weiteren Hellen und einem anregenden
Gespräch mit dem sympathischen Nachbarn verließ Marie um ein Uhr
extrem gut gelaunt und zugegebenermaßen etwas angetrunken die
Kneipe und ging beschwingt nach Hause. Bei Elmar verblieb sie mit
einem unverbindlichen »Vielleicht sieht man sich mal wieder?«, was
nur halb gelogen war. Eventuell würde das nächste Zusammentreffen
auch darin bestehen, dass er zum Finder ihrer sterblichen Überreste
auserkoren wurde - wer konnte das jetzt schon wissen? Im Wein liegt
Wahrheit? Für Bier und Tequila galt diese Regel offensichtlich
nicht.
Kasimir schnaufte unwillig, als sie, laut vor sich
hin summend, die Wohnung betrat, seine Begrüßungsversuche
ignorierte und ihre Schuhe schwungvoll neben »seinen« Sessel
schleuderte. Noch einmal nahm sie das vorhin fertiggestellte
Fotoalbum in die Hand, schwelgte kurz in Erinnerungen an triumphale
Schulkonzerte, ausgelassene Oberstufen-Partys, den einzigen
Surf-Urlaub, Ben und den namenlosen David. Dann verstaute sie es
sorgfältig in ihrem Bücherregal, wo man es früher oder später mit
Sicherheit entsprechend würdigen würde. EINFÜGEN.
Das Regal würde einer der nächsten Zensurbereiche
sein, denn auch Maries Lesestoff war nicht frei von einigen
»Blindgängern«, die eliminiert werden mussten. Doch das konnte
warten.
Zunächst fiel Marie, vom Alkohol leicht umnebelt,
zufrieden und müde in ihr Bett und kurz darauf in einen traumlosen
Schlaf, der sämtliche Zensurkriterien vorübergehend unwichtig
werden ließ. SIE KÖNNEN DEN COMPUTER JETZT AUSSCHALTEN.
ENTER.