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DOKUMENT16. Am Samstagmorgen erwachte Marie mit äußerst gemischten Gefühlen. Am Abend würde sie ein sicher sehr unterhaltsames Abendessen mit »ihrem« gut aussehenden Dozenten haben, der neben seiner ansprechenden Optik auch noch Intelligenz und Witz sein Eigen nannte. Genau dieses äußerst vielversprechende Treffen konnte sich aber bei ungünstigem Verlauf genauso gut zur größten Peinlichkeit aller Zeiten entwickeln, und zwar nicht für den vom Schöpfer großzügig bedachten, souveränen Herrn Maibach, sondern für die im Leben meist zu kurz gekommene Frau Hartmann. UNTERSTREICHEN.
Man musste also an diesem Abend auf eine ganze Palette verschiedenster Großereignisse gefasst sein, was Maries Nervenkostüm schon beim Gedanken daran maßlos überforderte. Infolgedessen drehte sie sich nach einer ersten Betrachtung des Tagesprogramms erst noch einmal in ihrem Bett auf die andere Seite und zog sich die Decke über den Kopf. ZWISCHENABLAGE.
Am gestrigen Freitag war sie zwar äußerst fleißig gewesen, doch war noch nicht klar, ob ihr die Ergebnisse weiterhelfen würden. Anstatt sich vollkommen in die Krimirecherche zu stürzen, hatte sie einen eher Marieuntypischen Einfall gehabt und zunächst einmal einen Friseur aufgesucht.
Während sie dort auf dem Stuhl saß und eine Kopfmassage bekam, hatte sie sich über sich selbst gewundert. Spontan zum Friseur? Eigentlich gar nicht Marie-like. UNTERSTREICHEN. Der Chef selbst verpasste ihrem schulterlangen Haar einen lockeren Stufenschnitt, der ihr Gesicht »weich umschmeichelte«, wie er sich ausdrückte.
Nach Verlassen des Geschäftes blieb sie an jedem Schaufenster stehen, um sich darin zu betrachten. Offene, locker fallende Haare? Eigentlich gar nicht Marie-like. Doch damit nicht genug.
Von den Aushängen eines Kosmetikstudios zwei Straßen weiter wurde sie dazu verleitet, auch ihm einen Besuch abzustatten. Die Behandlung dauerte länger als gedacht. Doch die Möglichkeiten, die die Kosmetikerin ihr genannt hatte, waren zu verlockend gewesen, als dass Marie ihnen hätte widerstehen können. Ungeplante Geldausgaben für unnötige Extras? Auch nicht Marie-like. Trotzdem waren zur Gesichtsbehandlung mit Reinigung, Power-Ampulle, Massage und Maske noch Augenbrauen- und Wimpernfärben gekommen, und auch die Maniküre mit Lackieren der Fingernägel konnte Marie nicht ablehnen. Alles eigentlich gar nicht Marie-like.
Zumindest konnte sie ihrem baldigen Ende jetzt äußerlich vorbereitet entgegensehen, hatte sie die kurzfristige Ausgabe von über hundert Euro vor sich selbst gerechtfertigt und umgehend den Heimweg angetreten. Zu Hause hatte sie dann erst noch einmal etwa eine halbe Stunde vor dem Spiegel gestanden, um sich an den neuen, zugegebenermaßen vorteilhaften Anblick zu gewöhnen.
Beim Gedanken daran schreckte Marie jetzt unter ihrer Bettdecke auf. Wie konnte sie nur leichtfertig das gestern so mühevoll erarbeitete und ziemlich teuer bezahlte Aussehen aufs Spiel setzen und in ihrer »Höhle« die hübsche Frisur mehr als nötig gefährden? Es war also objektiv betrachtet genug mit dem Kopf-in-den-Sand-oder-unterdie-eigene-Bettdecke-Stecken, und Marie beschloss ganz subjektiv, sich den Herausforderungen des Tages todesmutig zu stellen.
Das Schlimmste, was passieren konnte, war ein vorzeitiges Inkrafttreten von Plan B, der ursprünglich Plan A gewesen war und ihr eigenes Ableben in noch nicht perfekter, aber doch angemessener Weise regeln würde. Ihre Vergangenheit und Gegenwart waren bis auf ganz wenige Ausnahmen - Badezimmerinhalt, Terminkalender und einige Erinnerungsstücke - sorgfältig zensiert, die Wohnungsverschönerung nicht zwingend nötig, fehlte nur noch die durchaus nicht unwichtige Todesart. Die konnte man aber bei extrem ungünstigem Verlauf des heutigen Abends zur Not improvisieren: Ein Sturz aus dem Fenster eines oberen Stockwerks, ein Sprung vor den Zug oder die Einnahme einer Packung Schlafmittel gelang vermutlich auch kurzfristig. SPEICHERN.
Mit dieser beruhigenden Erkenntnis wagte sich Marie schließlich aus dem Bett und an die Verwirklichung des aktuellen Plans A, der die Zufriedenstellung des Lutz Maibach und infolgedessen seine subtile Gewinnung für die unbewusste Mitarbeit an Plan B zum Ziel hatte. Auf dem Weg dahin hatte sie gestern Abend zumindest noch einen Teilerfolg errungen, indem sie sich entschlossen hatte, ihren Kriminalroman im Umfeld einer Universität spielen zu lassen. Da konnte sie als Handlungsort wunderbar das Institut für Informatik wählen, sodass sie sich in ihrem Fachgebiet bewegte und wenigstens dort keine bösen oder peinlichen Überraschungen erleben musste. SPEICHERN. Leider machte aber nicht nur eine Schwalbe noch keinen Sommer, sondern auch ein Handlungsort noch lange keinen Krimi. Maibach würde mit Sicherheit zumindest wissen wollen, in welchem Zusammenhang das von ihm zu liefernde Gift zum Einsatz kommen sollte. Deshalb hatte sich Marie einen Giftmord im Kampf um die Rechte an einem neu erfundenen Computerprogramm ausgedacht. Je nach Lage der Dinge am heutigen Abend würde sie auch noch ein bisschen Internet mit einbauen, damit sie Maibach mit einigen komplizierten Computerbegriffen imponieren konnte. SPEICHERN.
In der Gewissheit, dass sie immerhin etwas Gesprächsstoff für den gemeinsamen Abend haben würde, machte sich Marie an eine ausführliche Morgentoilette. Nach den Investitionen des Freitags hatte sie da allerdings nicht so viel zu tun. Die Maniküre war vom Profi gemacht und sah immer noch so gut aus wie gestern. Die Haare wusch sie sich vorsichtshalber nicht, um das Ergebnis vom Vortag nicht mutwillig zu zerstören. Stattdessen ließ sie sich ein Bad ein und reinigte jeden Zentimeter ihres Körpers gründlich. Dann steckte sie den Stecker ihres Epiliergeräts in die Steckdose neben der Badewanne und streckte die Beine über den Wannenrand aus dem Wasser. Sorgfältig entfernte sie Haar für Haar von ihren Unterschenkeln, wobei ihr mehrmals beinahe das Gerät aus den feuchten Fingern rutschte. Zum Glück fing sie es immer wieder auf, bevor es die Wasseroberfläche erreichte. Wäre ja zu dumm, wenn eines der wichtigsten Utensilien der Schönheitspflege so kurz vor ihrem seit langer Zeit ersten Date den Geist aufgeben würde. Und am Ende hätte der Stromschlag auch noch den vorzeitigen Abbruch ihrer sorgsam gepflegten Beziehung zu Lutz Maibach und damit ihrer Giftrecherche zur Folge. Schließlich wollte sie nicht durch Stromschlag, sondern durch einen toxischen Stoff ums Leben kommen. Und das in keinem Fall vor ihrem Treffen mit dem Dozenten am heutigen Abend. Es war also Vorsicht geboten, vor allem im Umgang mit gefährlichen Gegenständen aller Art. Im Haushalt lauerten schließlich die meisten Unfallmöglichkeiten. Marie dachte kurz an ihren Wasserkocher, den Leitersturz und Almas Messer und nahm sich vor, in Zukunft wieder mehr auf sich aufzupassen. SPEICHERN.
Nachdem sie ihr Bad ohne Gefahr für Leib und Leben hinter sich gebracht hatte, föhnte sie die neue Frisur unter Mithilfe von Kamm und Rundbürste so nach, wie sie es am Vortag beim Friseurmeister gesehen hatte. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, stellte Marie überrascht fest, als sie sich wieder einmal im Spiegel betrachtete. Nun also auch noch etwas Sinnvolles fürs Leben gelernt: professionelles Styling im eigenen Badezimmer. Nur leider würde dieses Leben nicht mehr allzu lange andauern, wenn alles nach Plan lief. UNTERSTREICHEN. Es würde also vermutlich bei dem einen Mal bleiben.
In diesem Moment wurde Marie bewusst, dass es sich bei der heutigen Verabredung mit Maibach nicht nur um das erste Date seit Langem (so ein Krimidinner war ja kein richtiges), sondern auch um das letzte ihres Lebens handeln würde. Schade eigentlich. Unter diesem Gesichtspunkt musste sie erst recht alles geben.
Nachdem sie sich die Haare geföhnt hatte, machte sie sich gegen Mittag schon mal an das schwierigste Unterfangen des gesamten Unternehmens - das Aussuchen der Abendgarderobe. AUSWÄHLEN … Welches Outfit war denn wohl angemessen, wenn eine angehende Autorin mit ihrem Dozenten - ein eher ungewöhnliches Paar - zum Essen ging? Sollte sie ein schlichtes geschäftsmäßiges Kostüm und eine Bluse wählen? Oder lieber eine flotte Jeans mit einem flippigen T-Shirt? War vielleicht gar ein Kleid die Garderobe, die Lutz Maibach am ehesten von der Mission seiner Gaststudentin überzeugen konnte?
Nun war ganz klar eine stichhaltige Marketingstrategie gefragt.
Was war die Ware? Eine Schriftstellerin Mitte dreißig mit einem leichten Hang zu spitzen Bemerkungen aller Art.
Wer war die Zielgruppe? Ein korrekter Akademiker Ende dreißig mit einer unglaublichen Souveränität und glücklicherweise Sinn für Humor.
Was war das Ziel der Kampagne? Die Ware an den Mann zu bringen. Oder? BEARBEITEN.
Streng genommen war die Ware dieser Werbeaktion nicht die Autorin Marie Hartmann, sondern deren zu schreibender Kriminalroman. Oder?
Zum ersten Mal seit Beginn ihrer diversen Recherchen war sich Marie nicht mehr so sicher, was sie eigentlich wirklich wollte. Und zum ersten Mal in ihrem grenzenlosen Aktionismus der letzten Wochen wurde ihr dieser Umstand schmerzlich bewusst. Doch wie immer in letzter Zeit schob sie unbequeme Gedanken und Fragen erfolgreich beiseite und widmete sich mit umso mehr Energie den aktuellen Problemlösungen, in diesem Fall der Kleiderfrage. WEITER.
Was auch immer im Detail Ziel und Erfolg des heutigen Abendessens mit Maibach für sie ausmachen würde, es konnte in keinem Fall schaden, optisch eine gute Figur zu machen. Kein Problem. SUCHEN. Immerhin waren nach der kürzlichen Zensur und Aufstockung des heimischen Kleiderschrankinhalts einige T-Shirts und Blusen, verschiedene Hosen, Röcke und Kleider vorhanden und dazu noch die schier unendliche Anzahl der Kombinationsmöglichkeiten aus den angegebenen Teilen. Da Herbst war, fehlte die noch zu erstehende Sommerkleidung nicht im Geringsten, und im Gegensatz zur Auswahl vor ihrer Shoppingtour war in ihrem Schrank jetzt auch Abendgarderobe vertreten. Und um deren »eingetragene Optik« noch weiter zu verstärken, sollte sie die heute auch tragen.
Dass Lutz Maibach in den letzten Tagen auf jede Klamottenveränderung positiv reagiert hatte - dass er das überhaupt tat, war für einen Mann schon ein kleines Wunder -, ermutigte Marie, sich auch heute entgegen ihrer üblichen Praxis zu kleiden. Was hatte sie schon zu verlieren? Im schlimmsten Fall ihren »Giftlieferanten«, doch der Dozent schien nicht der Mensch zu sein, der nur auf Äußerlichkeiten achtete. Trotzdem hatte Marie am heutigen Samstag eindeutig den Ehrgeiz, ihr Date auch äußerlich zu beeindrucken. Die Lösung des Kleiderproblems wurde also mittags in Angriff genommen und zog sich unerwartet lange hin.
Zunächst verbrachte Marie etwa eine halbe Stunde vor dem offenen Kleiderschrank, in Erwartung einer Eingebung beim Anblick ihrer Outfits. Als diese sich auch nach über dreißig Minuten nicht einstellte, änderte sie die Taktik. Sie nahm verschiedene Teile heraus, legte sie aufs Bett, probierte verschiedene Kombinationen, indem sie sie sich vor den Körper hielt und im Spiegel betrachtete. Doch auch hier ließ sich keine Entscheidung treffen. Also ging sie nach einer weiteren Stunde dazu über, die in Frage kommenden Kleidungsstücke eben doch anzuziehen, um sich ein besseres Bild machen zu können.
So trat Marie an diesem Samstagnachmittag nacheinander in dem »mandarinfarbenen«, mit Blättern und Blüten verzierten Stehkragen-Top in Kombination mit Jeans, Rock und Stoffhose vor ihren Spiegel. Danach probierte sie den weißen Long-Blazer mit der gleichfarbigen Hose und kombinierte das Duo mit den verschiedensten Blusen, Tops und Shirts. »Vielleicht ist das doch ein bisschen sehr elegant. Was meinst du, Kasimir?«
Der Kater strich mehrmals um Maries Beine, sodass sie fast Angst um die teure Hose bekam. Erst als sie diese hastig ausgezogen hatte, fragte sie sich, für welche Gelegenheit sie den edlen Stoff überhaupt schonen wollte. Für heute Abend war die Kombination aus dem Rennen, dabei konnte Abnutzung ihrem »Lebensziel« doch eigentlich nur helfen. Verwirrt hängte Marie den weißen Hosenanzug wieder zurück in den Schrank und probierte als Nächstes die braune Lederjacke zusammen mit einigen Jeanshosen, Blusen und T-Shirts, ebenso wie die neue Karo-Hose und den Petrol-Pullover.
Da sie sich auch jetzt noch nicht wirklich auf ein Outfit festlegen konnte, vertagte (oder wohl eher verstundete) sie die Problemlösung auf später und gönnte sich eine Pause. Schließlich entschied sie sich - gegen achtzehn Uhr, nun wurde es auch Zeit - doch für das mandarinfarbene, schulterfreie Blütentop, das sie allerdings mit einer Jeans und der neuen Lederjacke kombinierte, um nicht zu overdressed zu wirken. Nun die Schuhe. Die Gelegenheit war günstig, eines der neuen Paare einzulaufen. Alle Treter harrten nämlich immer noch in ihren Schachteln der Dinge, die da kommen würden. Und wenn sie es nicht heute in Angriff nahm, waren das wohl nicht mehr allzu viele. Zur Not würde sie sie entweder in Rom anziehen (Schwitzen war bestimmt ganz förderlich) oder einfach ein bisschen im Waschbecken baden. Nichtsdestotrotz war heute der beste Anlass für eine Schuhpremiere.
Die idealen Kandidaten dafür waren schnell gefunden: Das neue Paar brauner Pumps ergänzte perfekt das sorgfältig ausgewählte Outfit. Was den Rest ihres äußeren Erscheinungsbildes anging, verbrachte Marie lange nicht mehr so viel Zeit vor dem Spiegel wie zuvor vor dem Kleiderschrank. Sie föhnte die Haare noch einmal kurz nach und knetete sie mit etwas Wachs zu einer voluminösen Mähne. Danach legte sie ein wenig Make-up, Lidschatten, Rouge und Lipgloss auf - fertig. Mit dem Ergebnis durchaus zufrieden, zeigte sie ihrem Spiegelbild den nach oben gestreckten Daumen. Perfekt. SPEICHERN.
Ganz gegen ihre sonstigen Gewohnheiten saß Marie schon um halb acht komplett gestylt auf ihrem Sofa und sah ungeduldig auf ihre Armbanduhr. Die verbleibenden Minuten hätte sie wunderbar für die weitere Themenfindung des Krimis nutzen können, doch leider war sie zum jetzigen Zeitpunkt dafür viel zu aufgeregt. Kasimir schlich verwirrt immer wieder um die Couch samt Marie herum und warf ihr in gewissen Abständen sichernde Blicke zu, als warte er auf das Losbrechen eines Sturms aus ihrer Richtung. In den letzten Tagen schienen ihm mit seinem Frauchen merkwürdige Veränderungen vor sich zu gehen, die er zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar zuordnen konnte. Ob sich diese Veränderungen für ihn positiv oder negativ auswirken würden, war auch noch nicht ausgemacht. Einerseits vergaß diese leicht verwirrt wirkende Frau ab und zu, das Futter rechtzeitig zuzubereiten, andererseits gab es danach wegen des schlechten Gewissens gerne mal die doppelte Portion oder einige Zusatz-Leckereien, so schien er abzuwägen. »Nicht gerade gut für die Figur, aber durchaus förderlich für die etwas angespannte Katerstimmung«, meinte Marie in seinem Blick zu lesen. UNTERSTREICHEN. Doch vermutlich war das nur Einbildung. Kasimir hatte sein Frauchen schließlich noch nie in einer solchen Aufmachung wie jetzt gesehen - er kannte sie ja erst seit drei Jahren. Und in diesen hatte sie an kaum einem Tag etwas anderes angehabt als Jeans, T-Shirt, Pulli oder Kapuzenjacke. Kein Wunder also, dass er sich vor lauter Verwirrung nicht traute, sich dieser fremd aussehenden Frau zu nähern.
»Keine Sorge, mein Lieber, innen bin ich immer noch die alte«, beruhigte Marie das Tier und war sich im gleichen Moment nicht sicher, ob diese Aussage so ganz der Wahrheit entsprach. War sie wirklich noch dieselbe wie vor ein paar Wochen? Fühlte sie sich noch genauso? Oder waren mit ihr in den letzten Tagen auch Veränderungen vor sich gegangen, die nicht nur ihr Äußeres betrafen?
Als es um Punkt acht an der Tür klingelte - natürlich, der korrekte Herr Maibach -, erschrak Marie, obwohl sie seit einer halben Stunde auf genau dieses Klingeln gewartet hatte. Sie warf im Vorübergehen noch einen prüfenden Blick in den Spiegel neben der Garderobe - die Frisur saß, alles andere auch -, nahm Tasche und Schlüssel von der Kommode und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus auf dem Weg nach unten dachte sie kurz darüber nach, welche Begrüßungsworte denn nun angemessen wären (Warum hatte sie das nicht in der letzten halben Stunde getan?), entschied sich dann aber, einer hoffentlich gleich vorhandenen spontanen Eingebung zu folgen. Sollte doch der korrekte Herr Maibach erst einmal vorlegen, sodass sie nur noch antworten musste. KOPIEREN.
Sie öffnete die Haustür und hörte: »Wie schön, Sie zu sehen! Sie sehen ja wieder bezaubernd aus.«
Dann sah sie ihn - wie immer: Jeans, Hemd, Sakko - und antwortete leider ganz nach ihrem gerade entwickelten Konzept: »Hallo. Sie aber auch.« RÜCKGÄNGIG? LÖSCHEN?
Einen peinlicheren Einstand konnte es kaum geben, fand Marie. Dass sie mit Komplimenten dieser Art überhaupt nicht umgehen konnte - immerhin hatte sie in den letzten Jahren kaum Gelegenheit dazu gehabt -, musste der nette Dozent nun wirklich nicht ausbaden. Also fügte sie möglichst schnell noch einen - etwas intelligenteren - Satz hinzu, um unauffällig von der Anfangspleite abzulenken: »Ich bin schon sehr gespannt, was Sie sich für den heutigen Abend ausgedacht haben.« Na gut, es war nicht der Einleitungssatz der Einleitungssätze, aber immerhin mit einer deutlich wahrnehmbaren Aussage, die auch noch fehlerfrei vorgetragen war. UNTERSTREICHEN.
Lutz Maibach schien auch durchaus beeindruckt, aber zum Glück keineswegs sprachlos: »Zunächst einmal habe ich geplant, dass wir möglichst bald dieses lästige ›Sie‹ ad acta legen und zu einem, wie Sie sehen werden, viel angenehmeren ›Du‹ übergehen. Ich hoffe, Sie haben da keine Einwände? Zugegebenermaßen duze ich üblicherweise meine Studentinnen nicht, aber ich denke, in Ihrem Fall kann ich da eine Ausnahme machen. Was meinen Sie?«
Marie war froh, dass sie die erste Forderung des Abends so einfach erfüllen konnte, und antwortete wahrheitsgemäß: »Gern. Ich heiße Marie.«
»Ich heiße Lutz. Und weil ich dieses Anliegen unbedingt noch vor Betreten des Restaurants, aber nicht gänzlich stillos hinter mich bringen wollte, habe ich auch etwas mitgebracht.« Er zog eine Piccoloflasche Sekt aus der einen und zwei kleine Plastikbecher aus der anderen Sakkotasche und stieß kurz darauf auf offener Straße mit ihr auf das »Du« an. Der korrekte Herr Maibach. Lutz. SPEICHERN.
Anschließend an die Zeremonie unter freiem Himmel - Marie wunderte sich über sich selbst, weil sie es nicht albern, sondern richtig nett fand - fuhren sie mit der U-Bahn (Lutz besaß kein Auto) zu einem kleinen italienischen Restaurant in der Innenstadt. Auch das war irgendwie sympathisch und gar nicht so steif, wie sie gedacht hatte, fand Marie und begann langsam, den Abend zu genießen. Nun, da weder Seminar noch Krimidinner ihre Unterhaltung stören konnten, würde sie vielleicht ein bisschen mehr über den Dozenten erfahren, der ihr immer besser gefiel.
Leider war sie mit ihren neuen, zugegebenermaßen preiswert erstandenen Schuhen nicht besonders gut für einen abendlichen Marsch durch die Stadt gerüstet. Als sie das von Lutz ausgesuchte Lokal betraten, war Marie äußerst froh, endlich am Ziel zu sein. Ihre Füße schmerzten an den Fersen schon so, dass sie sich das Ausmaß der entstandenen Blasen vorstellen konnte, ohne es gesehen zu haben. Leider wollte ihr Begleiter zunächst den Inhaber, den er offensichtlich gut kannte, und sämtliche Angestellte begrüßen, was erst mit einem Gang in die Küche erledigt war, wo Marie ebenfalls vorgestellt werden musste. Während der ausführlichen Begrüßungszeremonie biss sie tapfer die Zähne zusammen, obwohl sie bei jeder Bewegung spürte, wie der harte Schuhrand weiter an ihrer wunden Ferse scheuerte. BEENDEN? Selbst schuld, wenn man sich seine »Ausrüstung« zu pragmatisch nach völlig sinnlosen Kriterien aussuchte. Den Eindruck des Getragenseins hatte sie jedenfalls schon erreicht. Vermutlich würden die Blutflecken kaum zu übersehen sein. Bei diesem Gedanken musste Marie unwillkürlich an ihr Aschenputtel-Prinzip denken, mit dem sie die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen sortiert hatte. Dass sie das nun auch noch nach dem Motto »Blut ist im Schuh« auf die Spitze treiben musste, war nicht beabsichtigt gewesen. Irgendwie jedoch Ironie des Schicksals, fand Marie und schmunzelte in sich hinein.
Das Lokal war zwar klein, aber durchaus nicht billig, wie sie bei einem Blick in die Speisekarte sofort registrierte und ebenfalls auf der Pluspunkte-Liste vermerkte. SPEICHERN. Lutz bestellte, nicht ohne sie nach ihren Wünschen zu fragen, einen trockenen Rotwein und eine Karaffe Wasser für sie beide und kam ohne Umschweife zum Thema. »So gespannt, wie du auf dieses Lokal warst, bin ich auf deinen geheimnisvollen Kriminalroman. Am Donnerstag kamen wir ja durch äußerst widrige Umstände und das beherrschende Programm überhaupt nicht dazu, darüber zu sprechen.« Zum Glück. »Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie man so einen fiktionalen Text verfasst, wie man bei einem derartigen Vorhaben vorgeht.«
Ich leider auch nicht, dachte Marie und fühlte sich schon wieder unwohl. Ihre Füße schmerzten, sie hatte kein Konzept, keinen Krimi, nichts. ÖFFNEN. Sie versuchte, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was sie sich für diesen Fall zurechtgelegt hatte: Universität, Informatik-Institut, neues Computerprogramm, Giftmord.
»Ich bin leider in der Entwicklung des Falles noch nicht ganz fertig.« Erst mal Zeit gewinnen. »Aber es steht schon ziemlich sicher fest, dass der Konflikt im universitären Bereich angesiedelt sein wird.«
»Das ist ja äußerst praktisch. Vielleicht kann ich dir dann auch außerhalb unseres Seminarstoffes bei der einen oder anderen Fragestellung behilflich sein. Hast du eine bestimmte Fakultät im Auge? Ich kenne einige Kollegen aus anderen Fachbereichen ganz gut. Ich könnte sicher ein paar Kontakte für deine Recherche herstellen.« Oh nein, nicht schon wieder ein hilfsbereiter Mensch in ihrem Umfeld, der völlig uneigennützig (oder auch nicht) seinen Beistand anbot!
Um weiteren Schaden abzuwenden, antwortete Marie schnell: »Das ist nicht nötig. Das Ganze soll nämlich an der Pharmazeutischen Fakultät stattfinden.« RÜCKGÄNGIG? Ob diese Antwort tatsächlich neue Katastrophen verhindern würde, schien Marie bereits kurz nach ihrer unbedachten Äußerung sehr fraglich, doch konnte sie sie wohl kaum wieder zurücknehmen oder korrigieren. Lutz würde ihr nur schwerlich glauben, dass sie die Eckdaten ihres eigenen Romans nicht ganz genau kannte.
»Das trifft sich ja sehr gut.« Der Dozent war natürlich sofort Feuer und Flamme. Die Aussicht auf seine sich stetig erweiternde Mitarbeit an einem potenziellen Stück Weltliteratur schien ihn regelrecht zu beflügeln. »Deshalb also hast du dir für deine ausführliche Recherche ausgerechnet unser doch recht unbedeutendes Institut ausgesucht. Da bin ich ja mal wirklich gespannt, welche Arten von krimineller Energie du mir und meinen lieben Kollegen zutraust.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu und nahm erwartungsvoll einen Schluck Rotwein.
RÜCKGÄNGIG? Marie machte es ihm in Ermangelung einer besseren Idee zunächst einmal nach. Ihr Schluck war allerdings deutlich größer und vor allem länger, denn sie musste Zeit gewinnen. Und vielleicht betäubte der Alkohol ein wenig ihre pochenden Fußschmerzen. »Also, in der Handlung geht es um ein Comp…«, beinahe hätte sie übersehen, dass ihre in den letzten Tagen so sorgsam ausgedachte Geschichte unter den spontan veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr funktionieren würde. RÜCKGÄNGIG?
»Es geht um ein komp…liziertes Verbrechen. Das ist nicht so auf die Schnelle zu erklären.« Das musste erst einmal genügen, um den stark gefährdeten Autorenkopf noch einmal aus der Schlinge zu ziehen. Über den ganzen Abend konnte sie sich allerdings nicht mit derartig nichtssagenden Floskeln retten. Dieses Treffen schien Marie sowieso schon jetzt eine Ewigkeit zu dauern, und sie hatten noch nicht einmal das Essen bekommen.
Zum Glück wurde es gerade in dem Moment serviert, als Marie überhaupt nicht mehr wusste, was sie zum Thema »Krimi an der Pharmazeutischen Fakultät« noch sagen sollte. ZWISCHENABLAGE. Sie hatte Saltimbocca alla romana bestellt, was in der Speisekarte netterweise zusammen mit der deutschen Beschreibung (Kalbsschnitzel mit Parmaschinken und Salbei) angegeben war. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte sie wahrscheinlich notgedrungen Spaghetti Bolognese nehmen müssen. Zwar hätte sie in diesem Fall gewusst, was sich hinter diesem Gericht verbirgt, aber es dann ohne Kleckern zu essen, wäre eine Kunst für sich gewesen. Lutz bekam Spaghetti mit Garnelen, die in ihrem kompletten Zustand mit Panzer für Marie heute eine zu große Herausforderung gewesen wären. Maibach dagegen entfernte - wie immer souverän - Kopf, Beine und Panzer, vermutlich nicht zum ersten Mal.
»Warum müssen wir eigentlich die ganze Zeit von mir reden?« Nun ja, immerhin ein paar wenige Sätze, in denen es nur um diesen verdammten Krimi gegangen war. Für Maries Geschmack waren es schon viel zu viele gewesen. BEENDEN. »Erzähl doch mal was von dir, Lutz«, versuchte sie ihr Glück, nachdem beide mit dem Essen begonnen hatten. Nicht gerade der ausgefallenste Weg, das Thema zu wechseln, aber immer wieder wirkungsvoll und erfolgreich. So auch in diesem Fall.
Lutz erzählte ihr von seiner schon lange in der Toskana lebenden Tante Sophia, die er als Kind jedes Jahr in den Sommerferien hatte besuchen dürfen. »Das hat nicht nur meinen Sprachkenntnissen, sondern auch meinen Kochkünsten ganz gutgetan. Tante Sophia hat mir damals alle Klassiker der italienischen Küche beigebracht, von der Bolognese bis zum Vitello tonnato.« Jetzt war Marie doppelt froh, dass sie nicht in die Verlegenheit gekommen war, nach der Übersetzung der Speisekarte fragen zu müssen. Oder (noch schlimmer) vor einem Teller mit Meerestieren kläglich an deren Handhabung zu scheitern.
»Also, ich muss sagen«, meinte Lutz, nachdem er sein Besteck zusammengelegt hatte, »dass ich nach eingehender Prüfung immer wieder zu dem Ergebnis komme, dass es hier in der ganzen Stadt das beste italienische Essen gibt.« Er hob sein Weinglas und prostete ihr zu. »Nun spann mich aber nicht noch länger auf die Folter«, fuhr er dann fort. »Ich brenne darauf, endlich mehr über deinen im Entstehen begriffenen Krimi zu erfahren.« Was zu befürchten war. War dieser zugegebenermaßen höchst interessante und unterhaltsame Mann denn durch nichts in der Welt von diesem Thema abzubringen? Aber woher nehmen und nicht stehlen?
Das war überhaupt die Idee. In Ermangelung eines eigenen Krimiplots musste nun einfach die Geschichte eines anderen herhalten. Maries Füße begannen sofort wieder zu pochen. Bevor sie in Kürze hier in aller Öffentlichkeit und vor allem vor Lutz Maibach komplett das Gesicht verlor und ihrem Dozenten nie mehr unter die Augen treten konnte, musste sie sich wohl oder übel ihres bereits recherchierten Wissens bedienen. Wofür wäre denn die bisherige Themensuche sonst gut gewesen? Marie entschied sich dafür, zum Angriff überzugehen. Augen zu und durch. WEITER.
»Also gut.« Irgendwie hoffte sie immer noch auf einen Einspruch oder irgendetwas, das sie vor einer unrühmlichen Karriere als Plagiatorin retten würde.
Nichts. Lutz sah sie erwartungsvoll an. Es gab kein Zurück.
»Der Protagonist, Namen weiß ich noch nicht, lernt an einer Hotelbar eine attraktive Frau kennen, mit der er flirtet. Als er sich verabschieden will, eröffnet sie ihm, dass sie seinen Drink vergiftet habe und er in zehn Stunden sterben werde. Er glaubt ihr nicht und geht.« Prüfend blickte Marie ihrem Gegenüber in die Augen, um herauszubekommen, wie »ihr« Krimikonzept ankam. Der Roman war immerhin ins Ausland verkauft worden, konnte also so schlecht nicht sein.
»Sehr interessant«, meinte Lutz jedoch nur und zwang Marie durch sein gespanntes »Und wie geht es weiter?«, sofort noch einen Schritt von ihrer irrealen in eine illegale Autorenexistenz zu tun. RÜCKGÄNGIG?
»Als er allein in seinem Hotelzimmer ist, setzt die Übelkeit ein. Da wird ihm klar, dass die Frau keinen Scherz gemacht hat. Er fährt los, um sie zu finden, denn nur sie hat das Gegengift, das seinen Tod in zehn Stunden verhindern kann.« Marie war stolz auf sich. Obwohl sie diese Geschichte in einer absoluten Kurzschlusshandlung für ihre Zwecke ausgewählt hatte, passte sie nahezu perfekt in ihr Konzept. Die Suche nach einem so langsam wirkenden Gift, zu dem es noch dazu ein bestimmtes Gegengift gab, würde ihre Recherche an der Universität glaubwürdig erscheinen lassen. Schließlich war es für einen toxikologischen Laien nicht gerade einfach, Stoffe mit genau diesen Eigenschaften zu finden.
Zufrieden lehnte sie sich zurück. Die Schmerzen am Fuß waren fast vergessen. Lutz sagte nichts, er schien extrem beeindruckt. Vermutlich hatte sie ihr Problem in diesem Moment für immer gelöst. Genauer musste man die Story nicht kennen, um ein geeignetes Gift zu finden. Und sollte der Dozent doch noch einmal nachfragen, konnte sie jederzeit weitere Details der vorhandenen Geschichte klauen.
»Ist das nun Zufall?«
Marie verstand nicht ganz, was er meinte. »Bitte?«
»Diesen Krimi gibt es schon.«
Oh nein!
»Er heißt ›Blondes Gift‹ und ist von Duane Louis. Vor zwei Jahren in Deutschland erschienen. Als absoluter Krimifan ist der mir natürlich ein Begriff. Noch nie was davon gehört?«
Auch das noch. Krimifan. Na, bravo. »Ich … äh.« Mehr brachte Marie nicht heraus. Weg war ihr Stolz auf den genialen Plagiatseinfall, dafür das Pochen in den Fersen wieder da.
»Ist dir nicht gut?« Was fragte er denn so blöd? Wie sollte einem schon zumute sein, wenn man von seinem ersten Date seit Jahren gerade des geistigen Diebstahls überführt worden war? Lutz sah zwar aus, als könnte er sich auf das Ganze noch keinen rechten Reim machen, doch lange würde das sicher nicht anhalten. Für diesen Fauxpas gab es keine plausible Erklärung, falls sie nicht die Karten auf den Tisch legen wollte. Und das konnte sie in keinem Fall. Nun war es mit Angriff nicht mehr getan, jetzt half nur noch Flucht. SPEICHERN.
»Ich muss mal kurz …« Und weg war sie.
Auf der Damentoilette schloss Marie sich in einer der Kabinen ein und überlegte fieberhaft, wie sie möglichst elegant ihren sofortigen Rückzug einleiten sollte. Leider konnte sie ihm schlecht ihre aufgeriebenen Fersen unter die Nase halten, obwohl die einen wirklich bemitleidenswerten Eindruck machten. Mit der Wahrheit kam sie auch nicht weiter, und auf der Toilette übernachten konnte sie ebenso wenig. Also …
Marie kehrte zu Lutz an den Tisch zurück und setzte sich. Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber, doch sein fragender Blick schien dringend eine Erklärung zu fordern. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, griff nach ihrem Weinglas, als wollte sie einen Schluck nehmen, und schüttete sich den Inhalt - scheinbar unabsichtlich - über die Hose. Gespielt erschrocken sprang sie auf. »Oh nein, wie ungeschickt!« Im Gegenteil, die Aktion war filmreif.
»Kann ich dir helfen?« Lutz stand ebenfalls auf und kam um den Tisch herum. Nun stand er jedoch für seine sonst so souveräne Art etwas hilflos neben ihr. Marie war das ganz recht.
»Danke. Ich glaube, ich gehe am besten gleich nach Hause und versuche, das wieder rauszubekommen. Vielen Dank für den netten Abend.« Und bevor ihr Begleiter Einspruch erheben konnte, war Marie schon mit Jacke und Tasche in Richtung Ausgang unterwegs.
»Ich ruf dich an«, hörte sie Lutz noch, dann ging die Tür hinter ihr zu, und sie stand allein auf der Straße. Kurz blieb sie auf dem Bürgersteig stehen, in der Hoffnung, er würde ihr vielleicht nachkommen. Doch da er noch bezahlen musste und ihr bei der Fleckentfernung ohnehin nicht helfen konnte, wäre das wohl auch sinnlos gewesen.
Jetzt bereute sie schon fast wieder ihren unmöglichen Auftritt. RÜCKGÄNGIG? Wenn sie jetzt zurückgehen würde, wäre sie nicht mehr nur in Bezug auf ihren Kriminalroman, sondern auch noch hinsichtlich ihres urplötzlichen Aufbruchs in Erklärungsnot. Ganz abgesehen davon, dass sie nach dieser Aktion wohl kaum noch mit der eigentlich nie endenden Nachsicht des freundlichen Lutz Maibach rechnen konnte.
Wie hatte sie nur auf die absurde Idee verfallen können, einen zudem noch relativ aktuellen Krimi nachzuerzählen? Das konnte doch nur schiefgehen. Und dann hatte sie ihn auch noch ohne ein weiteres Wort mit der Rechnung sitzen lassen. Dass er noch etwas von ihr würde wissen wollen, nachdem ihm die ganze Dimension ihrer Schwindeleien bewusst geworden war, war ziemlich unwahrscheinlich.
Beim Einsteigen in die U-Bahn wurde Marie schmerzlich bewusst, dass sie vielleicht gerade ihre zuverlässigste, bequemste und vor allem unterhaltsamste Informationsquelle zum Thema »Freitod durch Gift« fahrlässig über Bord geworfen hatte. Dass sie Lutz Maibach auch aus anderen Gründen gerne wiedergesehen hätte, gestand sie sich nicht ein.
Mit schmerzenden Fersen humpelte sie von der U-Bahn-Haltestelle nach Hause und malte sich aus, wie er sie enttäuscht und wütend von der Teilnehmerliste seines Seminars und mit einer unmissverständlichen E-Mail für immer aus seinem Leben streichen würde. RÜCKGÄNGIG? Als sie die Wohnungstür aufschloss, kam Kasimir wie meistens sofort in den Flur, um sie zu begrüßen. Er schien zu spüren, dass es um die Laune seines Frauchens nicht mehr so gut bestellt war wie vor ihrem Weggang, was seine Verwirrung auf diesem Gebiet nicht gerade verringerte. Er leckte kurz ihre Hand, roch offensichtlich den Wein auf der Hose und zog sich sofort auf seinen Sessel zurück, putzte sich und versuchte so, sich aus der höchst heiklen Angelegenheit herauszuhalten. Im Gegensatz zu Lutz Maibach hatte Kasimir jahrelange Erfahrung mit der weiblichen Psyche und war nach einigen Tiefschlägen offensichtlich zu dem Schluss gekommen, dass im Katastrophenfall Abstand halten das einzige Mittel war, seine zumeist unschuldige Haut zu retten. Und das war für einen Kater schon sehr viel. SPEICHERN.
Marie ging sofort ins Bad und versuchte, mit Wasser und Seife ihre Hose von den Rotweinflecken zu befreien. Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie mit einem Schwamm an der lädierten Jeans herumrubbelte und darüber nachdachte, wie sie die verfahrene Situation mit Lutz vielleicht doch noch wieder ins Lot bringen konnte. Als die dunklen Stellen auch nach einigen Minuten kaum heller wurden, beschloss sie, die Hose über Nacht in der Badewanne einzuweichen. Beim anschließenden Ausziehen entdeckte sie auch am schönen neuen Blütentop kleine Rotweinspritzer und heulte hemmungslos. Warum, wusste sie selbst nicht genau. Gebrauchter konnte ein Oberteil doch nicht aussehen. Und schließlich war es jetzt unwahrscheinlicher denn je, dass sie in diesem Leben noch einmal eine Gelegenheit bekommen würde, es zu tragen. UNTERSTREICHEN.
Welche plausible Erklärung konnte sie Lutz Maibach dafür geben, dass sie ihm einen bereits erschienenen Stoff als den ihren präsentierte hatte?
Sie konnte zum Beispiel vorgeben, sie hätte eine Schreibblockade und vor ihm nicht als unfähig dastehen wollen. Dann würde er sich allerdings bestimmt fragen, warum sie bereits nach einem Gift suchte, wenn sie noch nicht einmal Ansätze einer Handlung hatte.
Eine weitere Möglichkeit wäre zu behaupten, der Verlag säße ihr mit einem baldigen Abgabetermin so sehr im Nacken, dass sie dem Druck an diesem Abend nicht mehr habe standhalten können und einige Details verwechselt habe, weil sie so durch den Wind gewesen sei. Allerdings gab es keinen Verlag, keinen Abgabetermin, keinen Roman.
Und Lutz würde ihr wohl kaum abnehmen, dass man als Autorin so verwirrt sein konnte und deshalb seinen eigenen Krimi nicht mehr kannte. Außer man war psychisch krank, und diesen Eindruck wollte sie natürlich auf keinen Fall auf ihn machen.
Obwohl sie in dieser Nacht zu keinem endgültigen Ergebnis in der Frage ihrer Ehrenrettung gegenüber ihrem Dozenten mehr kam, beruhigte sich Marie damit, dass sie Lutz in keinem Fall kampflos aufgeben würde. Irgendeine Erklärung würde ihr einfallen. Mit dieser Gewissheit schlief sie ein. SIE KÖNNEN DEN COMPUTER JETZT AUSSCHALTEN. ENTER.